Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Zweites Kapitel

Die Phantasie Schloimales, die ihn aus T-z fortgerissen hatte, schwand sofort nach seiner Ankunft wie ein Rauch dahin und die bittere Wirklichkeit enthüllte sich ihm in ihrer schrecklichen Macht. Seine Träume verflogen und er sah sich einsam und elend.

Wie wehe ist dem Unseligen zumute, der nie in seinem Leben eine frohe Stunde hatte, der sein Leben lang einsam und elend wie ein Stein und fremd in der Welt war. Trotzdem noch viel schlimmer ist die Qual der Entfremdung. Außer der Bitternis, welche das Fremdsein in sich trägt, hat das Fremdwerden eine noch größere Schärfe – eine fürchterliche Bitterkeit, die sich immer mehr verschärft, da man das Elend mit der glücklichen Zeit in der Vergangenheit vergleicht.

Und das war die Einsamkeit Schloimales!

Das Haus, in dem er einstmals so gut gelebt hatte, sah verwahrlost und öde aus. Dort, wo zu Lebzeiten seines Vaters Menschenlärm geherrscht, wo man Versammlungen über Stadtangelegenheiten abgehalten, wo am Schabbes und Jontew in jedem Winkel die Freude geleuchtet und gestrahlt, wo man Thora-Worte und göttlich-jüdische, herzrührende Gesänge vernommen hatte, war es heute still und traurig wie auf einem Friedhof. Die Wände trauerten, jeder Winkel weinte, verwaist lag das Zimmer des Vaters, alles war voll Elend und Einsamkeit. Niemand von den früheren Besuchern war zu sehen, Bekannte, Freunde, die Leute zum Festtagswunsch waren verschwunden. Die Mutter, die Witwe, seufzte, die kleinen Kinder, die Waisen, darbten und in alle Winde verstreut waren die älteren, verheirateten Kinder.

Und dieses Haus, das ganze Vermögen des Vaters, das einzige Stücklein Erbe, die einzige Stütze der armen Waisen, sollte öffentlich zur Deckung der Schulden des Vaters verkauft werden. Der Selige war nämlich in einer bösen Zeit stecken geblieben und hatte die Rate für die Fleischsteuer, die er gepachtet hatte, nicht weiter zahlen können. Böse Zungen, die zu Reb Chajems Lebzeiten stumm gewesen waren und Respekt gehabt hatten, fielen nach seinem Tode häßlich über ihn her, wie es niedrige Seelen und gemeines Volk überall zu tun pflegen, die vor dem Stärkeren knien, sich bücken, wie ein Wurm vor ihm kriechen, ihn loben und preisen und seinen Ruhm singen – so lange er da ist, so lange sie seine Macht fühlen, und die sich erheben, den Nacken gerade biegen, den Mund auftun und bellen, wenn er seine Stellung verloren hat oder gestorben ist.

Man kennt allerdings die Natur der Beller. Das Gebell ist ungefährlich. Doch schadete es nichts, ihnen den Stock zu zeigen: »Fort mit euch! Das Bellen tut den Ohren weh und reizt die Nerven. Weg!«

Roscheschune, das Fest, nach dem Schloimale von ferne so große Sehnsucht gehabt hatte, indem er es sich in seiner früheren Gestalt vorstellte, war in Trauer verwandelt. Um diese Zeit hatte es gewöhnlich mächtig viel Lärm daheim gegeben, das ganze Haus war in Aufruhr. Chune Mühldorfer kam zu den Ungeheuern Tagen mit seiner Familie vom Dorf zum Fest, groß und klein saßen auf einem großen Wagen voll Bettzeug, Säcken Kartoffeln, Säcklein großer, roter Möhren für Zimmes, Bottichen mit zappelnden, frischen Hechten aus dem Fluß, für sich und für Reb Chajems Haus. Die alte, greise Mähre gab sich Mühe und schleppte den dickbauchig vollgepfropften Wagen, auf dem Wege blieb sie von Zeit zu Zeit stehen, aber in die Stadt kam sie voll lärmenden Stolzes hineingetänzelt, wedelnden Schweifes und tänzelnden Fußes, während die Räder knarrten, quietschten, pfiffen. Sie hob die Beine, hoppste und sprang mit erhobenem Halse und Zuzik, der Hund, eilte ihr mit eingeklemmtem Schwanz voran und verkündete die Botschaft: »Sie kommen, sie kommen! Wir sind schon da!« – So war es einstens gewesen, aber in diesem Jahre kam Chune Mühldorfer nicht zu Gast. Ein Bruder war vom Land in die Stadt gezogen, in ein eigenes Haus, und so stieg er bei diesem ab.

Daß Chune Mühldorfer und seine Familie nicht kamen, machte sich sehr bemerklich. Traurig und verlassen fühlte sich jeder im Haus ohne den Lärm der Dorfleute, die zum Fest gefahren kamen. Keine lebende Seele, nicht einmal ein Hund, war den ganzen Tag zu sehen. Aber das war kein Wunder, sondern ganz natürlich: Stadthunde haben eben einen scharfen Geruchssinn, sie erschnuppern den Ort, wo es hoch hergeht, wo sie was erschnappen und einen fetten Bissen kriegen können – wozu sollten sie zum Hause der Witwe Ssure eilen, wo man nichts schmorte und nichts briet und keine Feiertagsfische kochte? Umsonst rührt sich ein Hund in der Stadt nicht vom Fleck. So ist er schon von Natur aus. Er weiß, wo ein und wo aus, wo man zu bellen und wo man zu schweigen hat und wo man fürs Stillbleiben einen Knochen bekommt.

Schloimale suchte das alte Machser hervor, aus welchem sein Vater jahrelang gebetet und über dem er an bestimmten Stellen heiße Tränen vergossen hatte, die bis zum heutigen Tage gelbe Flecken hinterlassen hatten. Aus diesen Flecken tönte die weinende, aus tiefstem Herzen dringende Stimme seines Vaters in die Ohren Schloimales, besonders an der Stelle »Höre unsere Stimme«. Er vernahm sein Weinen, wie er die Hände flehend zum Herrn hochreckte, bei den Worten: »Al taschlechejni milfuneechu«, verstoße uns nicht von Dir, o Gott, »werieech kodschechu al tikkech mimenni«, und nimm Deinen Heiligen Geist nicht von uns! Und daneben war wieder ein Fleck, ein größerer – wieder ein Schrei, ein bitterliches Aufweinen: »Al taschlechejni le-ejß siknu«, verstoße uns nicht im Alter, o lieber Gott, »kechlois koichejni al taswejni«, wenn uns die Kräfte schwinden, verlaß uns nicht! Schloimale war außer sich. In seinen Ohren dröhnte, in seinem Gehirn wirbelte es. Er schloß das Machser, nahm es unter den Arm und machte sich, mit einem schnellen Blick nach der Mutter, auf den Weg zur Schiehl. Sie bedeckte bei der Weihe der Kerzen mit beiden Händen das Gesicht, ihre Lippen zitterten vor verhaltenem Weinen, ihr Kopf war gebückt und ihre Schultern zuckten.

Schloimale ging im Beßmeddresch nach vorne. Aber kaum hatte er sich auf den Platz des Vaters gesetzt, da kam ein dicker Mensch daher und verjagte ihn. »Rück dich, Bub«, sagte er, »rück dich bitte weiter, der Platz gehört mir, ich habe ihn gekauft.« Schloimale blieb eine Weile verwirrt stehen, als habe ihn der Blitz getroffen. Als er sich ein wenig erholte, sah er den Flegel, der nicht einen Nagel seines Vaters wert war, stolz auf dessen Platze sitzen, mit zornigem Blick und hochmütiger Art. Seine Sprößlinge umringten das Pult, stießen mit den Händen, traten mit den Füßen und ließen Schloimale kein Flecklein Platz zum Stehen. Schloimale wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte, vor Scham und Schande schoß ihm das Blut ins Gesicht. Er irrte wie ein blinder Bettler herum und erhielt von allen Seiten böse große Blicke wie ein Ungeheuer und verirrte sich schließlich hinter den Balemmer ganz hinten bei der Tür.

Traurig und gesenkten Hauptes kam Schloimale heim. Sein Jontew-Gruß klang wie die Kinnes zu Tischebuww, leise, mit dumpfer Stimme. Das Mutterherz fühlte den Grund für den Kummer ihres Kindes, sie verstand sehr wohl, was er bedeutete, wie entsetzlich es für das arme Kind sein mußte, einen Fremden auf dem Platze seines Vaters zu sehen und von einer so heiligen und teuren Stelle vertrieben zu werden, sich neben irgend jemanden hindrücken zu müssen, als dränge er sich auf. Ja, heilig ist für Kinder der Platz des Vaters, die Stelle, wo die Eltern beteten, wo jahrelang aus ihrem Herzen und ihrer Seele das Flehen zu Gott dem Herrn emporstieg. Was aber hätte die unglückliche Witwe tun können, als die Not sie zwang, den Platz aus Erbarmen mit den Kindern zu verkaufen, damit die Ärmsten nicht hungerten und wenigstens eine Zeitlang ihr Leben fristen konnten. Schloimale wiederum fühlte, was im Herzen seiner Mutter vorging, und begriff, daß sie es unter dem Druck der Not getan hatte. Und so sehr er sich auch abquälte, um die Schwermut zu besiegen, ein frohes Gesicht zu zeigen und daheim den Feiertag nicht zu zerstören, es half nichts. Im Gegenteil, es wurde noch schlimmer – sein Ausdruck war unangenehm, lakritz-süß und essigsauer zugleich, wie der Kampf eines Sonnenstrahls im Winter, der durch die häßlichen Farben des grauumwölkten Himmels durchdringen will.

In der Gesellschaft früherer Bekannter und Freunde fühlte sich Schloimale nicht frei, alles war anders als früher. Sie verhielten sich merkwürdig gegen ihn – so schien es ihm wenigstens –, es war nicht unzweideutig, war weder Entfremdung noch innige Herzlichkeit so wie früher. Sie sahen ihn bedauernd an, als ob sie sagten: »Es ist zum Erbarmen! Eine Waise!« Und das konnte Schloimale nicht ertragen. In der Fremde hätte er sich nichts daraus gemacht, aber daheim, wo ihn alle kannten, beleidigte es ihn tief. Er war von Natur aus sehr stolz und selbstbewußt. Der Sturz hatte seinen Stolz nicht gestürzt. Im Gegenteil, er ließ den eigenen Wert in sich noch höher steigen. So geht es in der Welt – gefallene Größen, die alles verloren haben, tragen die Nase noch höher.

Unheimatlich war Schloimale die Heimat. Zuwider war ihm alles, was es da gab; er verbrachte lange Stunden in völliger Einsamkeit auf den Feldern, an den Plätzen, wo er einst spazieren zu gehen pflegte. Das Wetter war damals gerade schön, blauer, klarer Himmel, wie es manchmal an den warmen, geschenkten Tagen am Ende des Sommers vorkommt. An manchen Stellen steht noch bräunlichreifer Buchweizen und bittet eingebracht zu werden; an den Stäben klettern die Bohnen hinauf; große, schwere Kürbisse und Melonen schauen zwischen ihren weit kriechenden breiten Blättern hervor; grün-gelbe Gurken, Kartoffeln, Kraut halten sich noch in den Gärten; Büschel von Nüssen winken aus biegsamem, verschlungenem Walddickicht hervor. Rinder und Ziegen weiden in kleinen und großen Gruppen auf den abgemähten Feldern, die sich weit in die Ferne erstrecken. Pferde mit gefesselten Vorderbeinen hüpfen und wiehern auf den Wiesen.

Irgendwo von einem Zweige tönt das Stimmlein des Zeisigs, und der Stieglitz und seine Schar lassen laut und süß ihre Kehlen erschallen. Das ist ein Singen und eine Munterkeit – und in der Luft schweben Trauer, Schwermut, Versonnenheit, und verleihen der Natur einen besonderen Reiz, liebliche, seelenerregende Schönheit. Das ist die göttlichbezaubernde, ernstschöne, herzerfassende Schwermut, die in dem ausgebreiteten Schatten wie ein Gaze-Schleier auf dem samtgrünen Grase eines Feldes im Sommerabend liegt, wenn der Tag dahinstirbt. Das ist die gute, erbarmungsvolle Schwermut, die den Leidenden tröstet und seinen Schmerz lindert, wenn er sein Herz ergossen und sich ausgeweint hat. Das ist die Schwermut des Heiligen Geistes, die auf der naiv-einfachen Erzählung Ruth liegt, welche bezaubert und das Herz ergreift, wenn man das Gespräch der Witwe Noemi mit ihren Schwiegertöchtern, den Witwen, liest, das sie auf dem Wege von den Gefilden Moabs nach Beth-Lechem führten. Die Schwermut, diese Schwermut ist es, die dem Buche Ruth den Geschmack des Paradieses verleiht, süßduftenden Geruch des Korns, der Feldblumen, ewig frisch und lieblich in allen Zeiten. Das ist die Schwermut, die von der in Nebeln versonnenen und verborgenen Gottesglorie stammt und wie ein leiser Saitenton ohne Worte durch die ganze Natur geht und der versonnenen Seele des Dichters vernehmbar wird. Das ist die Seele, die Ewigkeit, das Geheimnis der Schönheit.

Die Natur, in der Schloimale früher bloß eine geputzte Schöne mit hübschem, lächelndem Gesicht gesehen hatte, enthüllte sich jetzt als schöne, ernste Frau mit nachdenklichem, schwermütigem Antlitz, gerade wie sein Herz es begehrte, und das verdoppelte ihre Schönheit, linderte seine Schmerzen, regte seinen Geist an, flößte ihm Lust zum Handeln ein, aus voller Kraft zu arbeiten, Ziele zu erreichen und etwas zu werden.


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