Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Fünftes Kapitel

Mit dem Monat Tischri beginnt die Reihe der Feste, an den beiden ersten Tagen des Monats ist Roscheschune, am zehnten ist Jomkipper, das sind die »Ungeheuren Tage« oder die »Tage des Gerichts«, furchtbare Tage, und sie heißen auch zusammen mit den dazwischenliegenden: »Zehn Tage der Umkehr« – Zehn Tage Zeit, um Sünden zu bereuen, zu weinen, zu flehen und ein glückliches Jahr zu erbitten. In dieser Zeit geht es im Himmel hoch her, da gibt es ein schreckliches Getümmel. Darüber läßt sich das Machser vernehmen:

»Und des Tages gewaltige Heiligkeit
Wollen wir künden zu dieser Zeit.
Denn furchtbar und schrecklich ist er zugleich,
An ihm erhebt sich hoch Dein Reich.
Auf Gnade, Gott, ist Dein Thron gestellt,
Mit Wahrheit richtest Du auf ihm die Welt.
Ja, wahr, Du bist es, der richtet und anklagt,
Der da weiß und Zeugnis sagt.
Du schreibst und Du siegelst, zählst und rechnest an,
Und alles Vergessene bringst Du heran.
Das Hauptbuch öffnest Du; da tönt's ans Ohr
Und jedes Wort liest sich selber vor;
Seine Unterschrift sieht jeglicher jetzt:
Denn die eigene Hand hat sie hingesetzt.
Da wird gestoßen in die große Posaune
Und – still! es ertönt ein zartes Geraune.
Zitternde Engel jagen
Gleich Winden
Von Schreck gepackt, umher, sagen
Und künden:
Siehe, das ist der Tag des Gerichts,
Zu mustern das Gewimmel
Der Heerschar'n hier im Himmel!
Denn sie können nicht sein
Vor seinen Augen im Gerichte rein.
Und alle, die da weilen auf der Erden,
Die ziehn an Dir vorbei wie Lämmerherden.
Und wie der Hirte seine Herde überblickt
Und unter seinem Stabe sie vorüberschickt,
So führst auch Du an Dir vorbei alle Geschöpfe,
Rechnest, zählst und musterst alle Köpfe.
Du setzt Bestimmung jeglichem Wesen
Und läßt jeden sein Urteil lesen.
Am Roscheschune schreibt man es auf,
Am Jomkipper kommt Siegel und Unterschrift drauf:
Wieviel hinwegzuraffen sind
Und wie viele erst zu schaffen sind.
Wer leben und wer sterben soll,
Wer bleiben und wer verderben soll.
Wem schwerer Tod im Wasser bestimmt
Und wen das Feuer von hinnen nimmt.
Und wem der Tod durchs Tier beschert
Und wem das Ende durchs scharfe Schwert.
Wen Hunger und Durst zu vernichten hat,
Wen Sturm und Pest zu richten hat.
Wem Erwürgen den Hals abschnüren soll
Und wen der Stein aus dem Leben führen soll.
Wer ruhig im Hause mag bleiben
Und wen's in die Fremde soll treiben.
Für wen die Tage still zu stehen haben
Und wem sie in toller Wirrnis zu vergehen haben.
Wem Friede beschert
Und wen Strafe verzehrt,
Über wen Armut zu kommen hat
Und wem der Reichtum zu frommen hat.
Wer sich darniederbeugen soll
Und wer zur Höhe steigen soll.«

Und gleich dem Getümmel und Jahrmarktslärm im Himmel ging es auch hier auf der Erde zu. Schon einen Monat vorher erschallte der Schoifer in den Synagogen und mahnte: »Juden, der Tag des Gerichtes naht!« Und die Juden fingen beizeiten an, sich über alle ihre Taten während des ganzen Jahres Rechenschaft zu geben und alle Mittel anzuwenden, um das bevorstehende Gericht als unschuldig zu bestehen: sie sagten Sslieches und suchten sich an Wohltun und altem Väterverdienst gute Advokaten, die ihnen Fürsprecher vor seinem heiligen und erhabenen Throne sein sollten:

»Umkehr, Gebet und Wohltun darauf
Heben das schlimme Urteil wieder auf.«

Die Pächter aus allen Dörfern ringsherum kamen mit Kind und Kegel und Sack und Pack in die Städte, um zusammen mit ganz Israel vor Gottes Richterstuhl zu treten und für sich und für alle Menschen der ganzen Welt ohne jeden Unterschied ein glückliches Jahr und Erlösung von allem Übel zu erflehen.

Das Städtlein Armleuten war nicht mehr das Städtlein des ganzen Jahres, in dem man keinen neuen Menschen sah und wo das Leben gewöhnlich wie ein stilles Bächlein ruhig und ein wenig verschlafen dahinrann. Einige Tage vor dem Fest erwachte es und wimmelte von neuen Menschen, die aus den Dörfern kamen. Wagen, mit Frauen und Kindern auf ganzen Gebirgen von Kissen und Betten, Lebensmittelsäcken und Hühnerkäfigen vollbeladen, zogen reihenweise durch die Straßen, Männer und Kinder, die wilden Rangen, gingen und liefen ihnen entgegen, jeder zu seinem Pächter, der das Fest bei ihm verbrachte, um ihn zu begrüßen. Von beiden Seiten ein Wortstrom in allerlei lauten Stimmen – derben, feinen, tiefen, hohen, heisern; von der einen Fragen: »Warum so spät? Warum das und warum dies?« Und von der andern Berichte von großen Wunderdingen: Eine Achse war unterwegs gesprungen, ein Pferd gefallen, eine Brücke weggeschwemmt, eine Schwangere hatte es sich plötzlich einfallen lassen, Wehen zu bekommen, ein Wagen war gestürzt, man sei kaum mit dem Leben davongekommen und müsse die Rettungsbenediktion sagen. Die Dorfhunde, die da mit ihren Herren kamen, erregten alle Stadthunde zu einem gegenseitigen Gebelle und Gebeiße, als seien sie nicht Brüder vom Hundestamm, mit dem gleichen Hundemaul und gleichen Hundezähnen. In Wirklichkeit ist ja auch ein großer Unterschied zwischen ihnen: Der Dorfhund ist das, wozu ihn Gott geschaffen hat. Er weiß nichts von Politik, kennt außer dem Herrn und dem Hause niemanden, bellt jedermann gleich an, er sei arm oder reich. Gibt ihm einer einen Knochen, packt er ihn zwar, er packt ihn – aber er bellt doch weiter, mit der eigenen, unverstellten Stimme; er ist einfach und ohne List. Der Stadthund dagegen hat schon Kunst in sich, er ist verfeinert, ein wenig falsch und fürchtet den Stock – der bellt den Armen an, den, der sich nicht wehren kann. Vor dem Starken hat er Respekt, vor dem Reichen und Gutgekleideten eine ganz schreckliche Ehrfurcht. Ein Stücklein Brot als Bestechung stopft ihm den Mund – still bleibt's und ruhig. Gibt ihm einer von der andern Seite, ein ganz Wildfremder, ein größeres Stück, ist er willig und gehorcht jedem Befehl. Er geht viel spazieren, schnuppert nach einem Festlein, wo er einen Bissen erwischen kann, macht Bekanntschaften, wedelt, stellt sich auf die Hinterpfoten und bellt manchmal mit ganz ungewöhnlichen Tönen, bloß um mal in Erinnerung zu bringen, daß es einen Hund gibt, daß er Zähne hat und im Notfall auch mal von hintenher zubeißen könne.

Diese beiden Arten von Hunden können einander nicht riechen. Die ganze Zeit über, wenn die feindlichen Brüder im Städtlein waren, herrschte ein Gebell, Gekläff und Geheul, Hundekampfforderungen, ununterbrochener Streit und Krieg, daß einem fast der Kopf toll wurde! Knurr zum Beispiel, ein ungekünstelter Dorfhund, der nichts anderes kannte, als das Haus seines Herrn zu hüten, lag ausgestreckt vor der Tür des Hauses, wo sein Herr jetzt wohnte, blickte teuflisch-böse aus blutunterlaufenen, halb geschlossenen Augen, rieb und kratzte den Bauch an der Erde, indem er dabei vor Vergnügen winselte. Plötzlich kam Braun, ein großer magerer Stadthund, einer von den feinen Bürgers-Gesellen daher. Von ferne war ihm ein Duft von jüdischen Fischen, für die er sehr eingenommen war, in die Nase gedrungen, auch Duft von Braten, der da im Hause zu Ehren des Festtags schmorte. Da machte er sich natürlich nahe heran, schnupperte und schnüffelte umher, ob ihm das Glück vielleicht hold sei und ihm etwas zu erwischen gebe. Aber Knurr gefiel die Sache nicht: »Wie kannst du da so frech in mein Gebiet hereinkommen? Und was ist das denn überhaupt für eine Art und Weise, du Schweinehund, in den Häusern herumzustrolchen und die Schnauze in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen?! Schau, daß du zu deinem Misthaufen kommst, du Hund, wer hat dir erlaubt, in den Straßen spazieren zu gehen!« Er sprang ihn plötzlich von hinten an, versetzte ihm einen Biß und riß ihm ein Büschel Haare aus. Braun erstarrte fast vor Schreck, zog rasch – um Vergebung – den Schwanz ein, nahm im Nu die Beine auf die Achseln und sauste, heidi, quäkend davon.

So ging es auch Ball, einem kleinen schwarzen Hunde mit verbogenem Rücken und einem lahmen Bein, der aus der Armenkasse – von jüdischen Mülleimern – lebte. Er machte sich nichtsahnend an ein jüdisches Haus heran, wie er es immer zu tun pflegte. Aber plötzlich kriegte ihn Schatz zu fassen, ein fester, zottiger Dorfhund und ging ihm an die Knochen, so daß er fast vor Schmerzen umkam und Reißaus nahm, das lahme Bein in der Luft schleppend, das Hinterteil zur Seite gekrümmt, in stöhnenden Tönen heulend und jammernd. Das gleiche Schicksal erlitten auch noch andere Stadthunde. Das Leben wurde ihnen zur Last – sie fanden keinen Weg mehr zu jüdischen Häusern! Erwischten sie aber einen Dorfhund irgendwo bei sich, dann durfte er vom Leben Abschied nehmen. Von allen Seiten fielen sie über ihn her, wetzten ihre Zähne an ihm, zerrten, rissen und bissen und zahlten es ihm tausendfach wieder heim. Es entstand ein unerträgliches Gekläffe und Gelärme. Dann mengten sich auch noch die Kinder auf der Straße in den Streit, hetzten die Hunde und schmissen Steine, die Mütter standen in den Türen, riefen, schrien und fluchten. Vorübergehende Juden begannen zu zittern, flüchteten und liefen atemlos mit festgehaltenen Schößen davon.

Mit einem Worte, es gab Lärm und Unruhe, das Städtlein war munter, es ging, wie man zu sagen pflegt, hoch her. Das Städtlein war lebendiger, es erschien wie ein Bach, der sonst steht, im Frühling aber anschwillt und rasch und rauschend strömt.

Während dieses Lärmens zeigte sich von ferne ein langer, von der Familie Chune Mühldorfers dichtbesetzter Wagen. Die alte Mähre, die unterwegs abwechselnd gegangen und stehen geblieben war, tat sich jetzt Gewalt an, um aufgereckt, stolz und paradierend auf dem Marktplatz vorzufahren. Zu Ehren der Stadt und zu Ehren der Passagiere, die auf dem Wagen saßen, hob sie den Schweif, spitzte die Ohren, ließ die Beine spielen und trabte lustig und munter, daß die Räder lärmten und klapperten. Zuzik trug die Nachricht voraus: »Wir kommen! Macht Platz, Chunes Haus kommt!« So sehr er dieser Beschäftigung hingegeben war, nahm er gleichwohl bei den Begegnungen mit seinesgleichen seine Knochen sehr in acht, um nicht in der Hunde Mund zu kommen! Die andern berochen ihn: »Willkommen!« und er beroch sie: »Ich grüß euch!« Aber er machte es schnell, nur so pflichtgemäß ab, kehrte sich gleich wieder weg und lief weiter, die »Alte« hinter ihm drein, hopp-hopp, bis zum Hause Reb Chajems, wo Chune der Müller mit Frau, Söhnen, Töchtern und Schwiegersöhnen – unberufen, eine große Gesellschaft! – schon seit Jahren abstiegen.

Für Schloimale begann dann eine unendliche Fülle neuer Tätigkeiten. Dann gab es gottlob zu tun, zu schauen und zu beobachten. Gott mochte da oben schreiben, was er wollte, solange man lebte, wußte man zu leben.

Vor allem, gleich nach der Ankunft Chunes, sprang Schloimale auf den Wagen hinauf, ein paar Rangen mit ihm, einige standen und hielten sich hinten an die Räder – und los! Sie zogen an den Zügeln, knallten mit der Peitsche, schnalzten, schrien laut auf einmal: »Hü – Hü!« und fuhren ein paar Schritte am Haus vorüber. Dann untersuchten sie den Schweif der Mähre, jeder zog sich soviel Haare heraus als er konnte. Hernach kam Zuzik an die Reihe. Man unterhielt sich mit ihm in einer besonderen Sprache, trat in höhere Sphären ein und prüfte seine Kenntnisse, anfangs von weitem und respektvoll, indem man ihm Brotstücklein hinwarf, später immer vertrauter, bis man die Ehrfurcht verlor und die Sache mit einem Stein und einem Gekläff zu Ende ging.

Schloimale interessierte sich auch sehr für die neuen Dorfleute. Alles an ihnen kam ihm so merkwürdig vor. Die Mädel in ihren neuen dicken Schuhen und Strümpfen; in neuen Zitzkleidern von unbeschreiblicher Farbe mit großen roten Blumen, stierten und glotzten aus großen Kalbsaugen mit dem Finger im Mund. – Die Buben in Chalatten, in neuen krachenden Arbekanfes und Leinwandhosen waren verlegen, schämten sich, bohrten in der Nase – sie brachen plötzlich in Lachen aus, in die Faust hinein, und wischten sich dabei – um Vergebung – mit Ärmel oder Schoß die Nase. Und nun gar ihr Reden und ihr Essen, das war so täppisch – es klang nach Sprache, war aber doch eine Art Gestotter, es sah nach Essen aus – war aber ein rechtes Fressen. Wie das kaute! Es war nicht zu sagen, wie das mit den Backen arbeitete und laut schlürfte! Sie schienen ein Menschengesicht zu tragen und aus Menschenfleisch zu bestehen, es war aber doch anders wie bei Stadtleuten – es roch förmlich nach Dorf. Die Wildgans zum Beispiel und die Hausgans sind ja gleich, sie haben das gleiche Fleisch, und doch ist es etwas anderes – anders der Geschmack und anders die Farbe. Chune selbst war eigentlich kein derber oder roher Mensch, trotzdem war zwischen ihm und Reb Chajem gar kein Vergleich. Der Unterschied zwischen beiden war für Schloimale in die Augen fallend – Chune trat gegen seinen Vater so sehr zurück!

Auch war ein großer Unterschied zwischen Toube-Ssosche, der Frau Chunes, und seiner Mutter. Toube-Ssosche war breithüftig und drall und voll; ihre Hände und ihr Gesicht waren so materiell, so sonnverbrannt und -gebraten. Wenn sie ging, war das ein rechtes Gehn, man fühlte, daß sie die Füße auf den Boden setzte; wenn sie sprach, dann sprach sie aus vollem Munde, mit Lippen und Kinn. Sie war gut, aber gewöhnlich. Sie war fromm, weinte beim Lichtbentschen und schluchzte, sobald sie nur ein Wort von der Vorsagerin hörte, obwohl sie keinen Buchstaben verstand. Ssure, seine Mutter, dagegen, war zart und schwach, sie hatte kleine, weiße Hände mit dünnen blauen Äderlein, ein gottesfürchtiges, blasses Gesicht mit schmalen Lippen. – Wenn sie ging, schien sie zu schweben, sie war wie ein Stücklein Geist. Sie war sehr gebildet, kannte alle Tchinnes aus dem Lande Israels, kannte den »Reinen Quell«, alle Frauengesetze und las die »Zennerenne«, den »Leuchter des Lichtes« und ähnliche Werke. Sie zeigte den Frauen in der Schiehl, was sie zu beten, wann sie sich zum Dreimalheilig zu erheben hätten, las ihnen auch vor und hatte in der Frauenabteilung eine Zitrone oder Tropfen bei sich verwahrt, um sich oder andere Frauen aus einer Ohnmacht zu wecken.

Und es war auch wahr: wenn Ssure las, konnten die Frauen wirklich ihre Sinne verlieren! Ihr Lesen war so voll innigen Gefühls, ihr Tonfall rührte und riß an der Seele, selbst ein Fels wäre von ihren Tränen geschmolzen. Es lohnt sich, wenigstens ein Stücklein der Tchinne zu bringen, die sie am Rüsttag des Jomkipper beim Anfertigen der Wachskerzen sagte: Eine Kerze für die Schiehl, das »Seelenlicht«, und eine Kerze für das Haus, das »Licht des Lebens«.

Sie zog die Dochte. Nachbarinnen umstanden sie mit zerknirschtem Gemüt. Bei jedem Faden las sie ihnen in Tränen und Inbrunst mit tief aus dem Herzen kommender Stimme vor:

»Weltenherr, barmherziger Gott! Mögen die Kerzen, die wir hier um Deines heiligen Namens und um der heiligen reinen Seelen willen für die Schiehl machen, die heiligen Erzväter und Erzmütter erwecken. Mögen sie aus ihren Gräbern für uns flehen, daß kein Unglück, kein Leid und kein Übel über uns komme und daß unser Licht und das Licht unserer Männer und Kinder nicht vor der Zeit erlösche, behüte . . . So wie ich den Faden der Dochte für unseren Vater Abraham lege, den du aus dem Feuer des Kalkofens errettet hast, so reinige uns von Sünden. Möge unsere Seele rein von Schuld zu Dir kommen, so wie sie rein in unseren Leib gekommen ist. – Um dessentwillen, daß ich den Faden für unsere Mutter Sara lege, möge Gott, er sei gepriesen, uns das Verdienst ihres Leides anrechnen, als man ihren lieben Sohn Isaak zur Opferung führte. Möge sie eine gute Fürsprecherin sein, auf daß man uns nicht unsere Kinder entreiße, daß man sie uns nicht nehme und sie uns wie verirrte Lämmer in die Fremde verschlagen werde.«

Bei diesen Worten weinten die Frauen laut auf, da sie daran dachten, wie man kleine Kinder bei Nacht aus ihren Bettlein im Elternhause riß und sie unter fremde Menschen zu fremdem Volke brachte, wo sie viel Leid und Qual erduldeten. Die einen starben vor der Zeit, die anderen wurden in alle Winde verstreut oder im Kriege erschlagen. Die Übriggebliebenen gingen in dem fremden Volke auf und kehrten nie zu ihrem Volk und ihrer Familie wieder. Die Frauen jammerten und benetzten die Dochte mit ihren Tränen. Da weinten beraubte Witwen, der Kinder beraubte Mütter, als sie sich des Augapfels erinnerten, den man ihnen entrissen hatte. Ihr Wehegeschrei spaltete die Tore des Himmels. Ssure legte die Fäden weiter und erhob ihre Stimme zu lauter Klage:

»Um dessentwillen, daß wir den Faden für unseren Vater Isaak legen, erbarme Dich unser, daß wir unsere Kinder erziehen, und sie bei einem Lehrer halten können, damit die Augen unserer Kinder wie Lichte strahlen, damit sie in der lieben Thora lernen . . . Um des Fadens willen, den wir für unseren Vater Jakob legen, den Du vor Feinden beschützt hast und dem Du in seinen Nöten beigestanden bist, schütz' uns vor jedem Satan und Vernichter, daß sie nichts Böses über uns sagen und Verleumdungen ersinnen können, unseren Namen zu beflecken . . . Ach, daß wir doch am Tag des Gerichts ein gutes Urteil hätten, mit Mann und Kindern, daß wir, behüte, keine Witwen und unsere Kinder keine Waisen werden! . . . Um des Verdienstes Salomos willen, der das Heiligtum erbaute und betete, daß jedermanns Bitte erhört werde, selbst wenn ein Mann aus fremdem Volke ins Heiligtum käme, um Dich anzuflehen – um dieses Verdienstes willen, Weltenherr, verschließ das Tor des Himmels nicht meinem Flehn und denke meiner und meines Mannes und meiner Kinder und aller Menschen zum Segen im neuen Jahre. Amen!«

Lache danach, wer das tun kann, und sage, wenn sich sein Mund dazu auftun will, daß das Dummheiten seien. Lichte her, viel solcher reiner Seelenlichte her! Viel solcher flammender Gefühle her, solch reiner Worte aus dem Herzen, heißer Tränen, Flehen, Liebe zur Thora und zur Weisheit und Liebe zu den Menschen, zu allen Menschen der Welt! Und all das – wo gibt es das alles? Bei Frauen, bei jüdischen Frauen aus dem Volk, die man beim Ansehen für gewöhnliche und einfältige Geschöpfe, die man auf dem Markt für gewöhnliches rohes Volk hielte. Wollte Gott, es gäbe viel solcher Frauen mit solchen Gefühlen und solchen Worten!

Das mögen jene, jene hören und mögen wissen, was ein jüdisches Herz bedeutet, sie mögen es hören und stumm bleiben!


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