Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Drittes Kapitel

Es war ein Winterabend, nach Schabbes-Ausgang. Auf der »Pfanne« unter dem kleinen Kamin flackerte ein lustiges Feuer, das von Zeit zu Zeit mit dünnen, trockenen Spänen genährt wurde. Vor dem Feuer saß die Familie an einem zum warmen Ofen gerückten Tisch. Eine Nachbarin aus dem nächsten Haus war auch da und von Neuigkeiten, wie eine Trommel, zum Bersten voll. Man wechselte Worte und schliß dabei Federn, während gleichzeitig eins der Kinder die Geschichte von Josef in Jiddisch vorlas. Man freute sich, bewunderte Judas Stärke – »wenn er ein Geschrei ausstieß, ging schier ganz Ägypten zugrunde«. Die Katze saß an den Ofen geschmiegt, leckte ein wenig ihr Pfötlein, bewegte die Ohren und freute sich. Im Herde brannte es, da kochte das Abendessen, aber vor allem siedete hier ein Topf mit Kartoffeln, die man derweilen zu sich nehmen wollte. Reb Chajem ging in der Stube auf und ab und sang mit tiefem Gefühl das Lied vom Propheten Elia. Als er zu Ende war: »Bald komme er zu uns«, öffnete sich die Tür und angesehene Leute kamen herein:

»Gute Woche!«

»Gutes Jahr!«

Es war ja selbstverständlich, daß feine Leute einander beim Eintreten respektvoll behandelten und die Tür selbst im Winter eine Stunde offen ließen, so daß man in der Stube vor Kälte umkommen konnte. Ebenso ging es beim Platznehmen. Es verging hübsch viel Zeit mit Rücken und Winken und Bitten und Einander-auf-die-Füße-Treten, bis die feinen Leute endlich alle Platz genommen hatten. Ssure wartete den Gästen freundlich mit »Spezien« auf – einem Blüten- und Kräutertee, gegen den Tee ein Hund ist – und mit Stücklein Kandiszucker, gegen den der heutige Zucker ein Hund ist. Man saß, trank und schwieg voll Anstand, blies und trank in kleinen Schlücklein ein wenig und machte nach jedem Schlücklein eine Pause. Einer steckte seine Pfeife an, einen Porzellankopf mit silbernem Deckel und langem, geflochtenem Rohr. Einige husteten sich ein wenig aus, strichen sich Nase und Bart und man begann sich zu unterhalten. Ein wenig über dies und ein bißchen über das, bis man nach einigem Hin und Her endlich auf folgenden Gegenstand kam.

»Ach – cha – cha! Das Kleidergesetz ist doch eine ganz böse Sache!« sagten alle seufzend. »Juden sollen fremde Kleidung antun! Eine Schirmmütze! Furchtbar ist das, ganz schrecklich! Und wozu denn, Gott, ach, wozu?! Was können ›sie‹ denn davon haben, daß die Juden sich ›deutsch‹ kleiden? Es muß doch alles einen Sinn haben.«

»Man sagt, daß da eine List dahinter steckt«, nahm der mit der Pfeife das Wort, die Stirne in Falten und mit heftig verzogenem Gesicht, indem er Rauchkringel ausstieß. »Es soll gar von – na, von wem meint ihr, soll es kommen? Von Montefiore!«

»Um Gottes willen, Reb Beer! Was sagt ihr da?«

»Das, was ihr hört. Darf man Reb Burech Hillels vielleicht nicht glauben? Er kommt eben erst von den Jahrmärkten und hat dort mit eigenen Ohren –«

»Ich habe auch so was gehört«, fiel ihm ein lebhafter, zappliger Mann ins Wort und biß die Lippen aufeinander: »Nun, wartet mal, was habe ich nur gehört?«

»Unterbrecht nicht, Reb Jossel«, verlangten die Leute. »Still! Nun, Reb Beer!«

»Also, man erzählt es so«, begann Reb Beer gelassen und langsam und zerkaute jedes Wort, bevor er es aus dem Munde tat. »Draußen in der Welt, das heißt, bei den Leuten auf den Jahrmärkten, sagen sie: Montefiore sah, daß es schlimm stand. Da kam er mit folgendem Projekt: ›Majestät‹, sagte er, ›verkaufe mir deine Juden. Ich werde für sie so und so viel Millionen geben.‹«

»Hunderttausend, habe ich gehört, hunderttausend Millionen!« fiel ihm Reb Jossel wieder ins Wort. Es war ihm nicht so sehr um den Betrag zu tun, als darum, den Leuten zu zeigen, daß er auch so gut wie einer wisse, was in der Welt vorgehe.

»Na, was hat das zu sagen«, sagte Reb Beer, zog die Nase kraus und erzählte weiter. »›Meinetwegen‹, sagte der Kaiser kurz, sie verpflichteten sich durch Handschlag, und Montefiore gab inzwischen eine Anzahlung.«

»Ach, behüte, hunderttausend Millionen in bar, sofort in bar«, begann Reb Jossel loszuschaukeln, als ob er mit jemandem beim Talmud diskutierte.

»Aber, bitte, Reb Jossel, stille!« baten ihn alle höflich um Schweigen.

»Kurz, er gab inzwischen eine Anzahlung«, erzählte Reb Beer ruhig und gelassen weiter und kümmerte sich nicht um Reb Jossel, »und die Restsumme verpflichtete er sich, zum Termin beim Empfang der Ware, der Juden nämlich, zu begleichen. Damit verabschiedeten sie sich: ›Lebewohl!‹ – ›Glückliche Reise!‹ Nach dem Frühstück ging der Kaiser, wie es der Brauch ist, in den Senat und war sehr guter Dinge. ›Majestät‹, fragte ihn der Minister, ›was gibt es, warum bist du heute so guter Dinge?‹ – ›So und so ist die Geschichte‹, antwortete ihm der Kaiser lächelnd, ›ich habe ein gutes Geschäftchen gemacht, ich habe meine Jüdchen für so und so viel verkauft.‹ – ›Majestät!‹ fuhr der Minister sehr erschrocken auf, ›was hast du getan?! Das war ein irriger Handel!‹ Und er bewies ihm sofort aus den Rechnungsbüchern, daß die Zinsen einer solchen Ware – der Juden nämlich – in einer bestimmten Anzahl von Jahren den Preis der ganzen Ware um eine sehr hübsche Summe und noch um einen Batzen drüber überschreiten. ›Was ist zu tun?‹ fragte der Kaiser. ›Gesagt ist gesagt, und das Wort des Kaisers ist doch Gesetz. ›Bitte, sag doch, du hast ja einen staatsmännischen Kopf auf den Schultern, schaff vernünftigen Rat!‹ – ›Majestät!‹ meinte der Minister, nachdem er sich eine Zeitlang besonnen hatte. ›Es gibt einen Ausweg. Erlaß einen Befehl, aber gleich, daß die Juden ›deutsche‹ Kleidung zu tragen haben.‹ – ›Reim dich oder ich freß dich!‹ sagte der Kaiser. ›Was hat das eine mit dem andern zu tun?‹ – ›Ist schon gut‹, antwortete der Minister mit halben Andeutungen blinzelnd, und mit dem Finger beweisend: ›In fremder Kleidung, verstehst du, das ist schon ganz was anderes! Für dich ist ja ein Wink genug.‹ – ›Oh, oh, schlau!‹ verstand ihn der Kaiser plötzlich. ›Du verdienst eine goldene Medaille für den Rat!‹ – Nun hört, meine Herren, das Ende«, sagte Reb Beer und begann die Pfeife mit einem Draht von der Asche zu reinigen. »Genau zur bestimmten Zeit kam natürlich Montefiore.«

»Nein, anders, er kam nicht, er ließ vorher sagen –«, konnte Reb Jossel nicht an sich halten, schaukelte los und fiel ihm wieder ins Wort.

»Still, bitte! Haltet ein wenig an euch und unterbrecht nicht, Reb Jossel«, baten die Leute, die sehr gespannt auf den Schluß waren. »Nun, Reb Beer, nun, nun.«

»Also er kam«, begann Reb Beer wieder seine Erzählung, dehnte die Worte, als wollte er Reb Jossel ärgern, und grinste vor Vergnügen, »also er kam, wie ich's euch hier erzähle, zum Termin und sprach folgendermaßen: ›Majestät! Hier hast du das Restgeld und laß mich gemäß dem Depositarschein die Ware – die Juden nämlich – nehmen.‹ – ›Oh‹, sagt der Kaiser, ›gerne! Geh' bitte und wo du einen Juden sehen wirst, da nimm dir nur deine Ware, im Namen des Gottes Israels.‹ Montefiore ließ sich nicht lange bitten und ging. Er ging in eine Stadt – nichts zu finden, in eine andere – wieder nichts. Schließlich nach Dümmingen? auch nichts. Keine Spur von einem Juden. Alle Juden trugen ›deutsche‹ Kleidung – es waren ›Deutsche‹.«

»Oh – ach – ach – oh«, sagten die Leute verwundert. »Also, das erzählt man sich, sagt ihr! Da muß was daran sein, wenn's alle erzählen.«

»Bah!« sagte Reb Chajem und lächelte. »Es ist nicht immer wahr, was in der Welt herumgeht. Es ist Rederei . . .« An seinem verzogenen Gesicht war zu sehen, daß ihm das Gehörte nicht zusagte. »So oder so – aber vorläufig steht's schlecht«, sagte man und stöhnte. »Das Gesetz ist ja da! Meinetwegen, der Kaftan mag schon hingehn, man wird einen Spalt dran machen, und der Rock wird von dem Schlitz hinten auch nicht zum Teufel gehen. Aber eine Schirmmütze, um Gottes willen, eine Schirmmütze! Reb Chajem, habt ihr keinen Rat, nun, was meint ihr, Reb Chajem?«

»Ich denke«, antwortete Reb Chajem, nachdem er einige Minuten geschwiegen und sich die Stirn gerieben hatte, »ich denke, was haben denn die Weisen in ihrer Weisheit nicht alles im Notfall für Maßregeln getroffen. Zum Beispiel darf man am Schabbes doch nicht tragen: da lassen sie eine Schnur spannen – und man kann tragen. Man darf keine Zinsen nehmen – da haben sie die ›Zinserlaubnis‹ geschaffen – und man kann's tun! Es gibt einen Ausweg, Leute! Sagt mir, meine Herren, was ist ein Klappenhut?«

»Wie meint ihr?« fragten alle erstaunt zu gleicher Zeit. »Ein jüdischer Klappenhut ist ein Klappenhut. Wer kennt denn den Klappenhut nicht, den jüdischen Wochentagshut?!«

»Bitte, Reb Jossel, gebt uns euern Hut als Muster!« sagte einer, streckte die Hand aus und nahm ihm wie im Scherz den Hut ab.

»Euer Hut ist neu und schön. Schaut: Der Hut da hat von beiden Seiten aufgestellte, mit Werg ausgestopfte Klappen aus Maulwurffell, und von vorne über der Stirn ist er von der einen Klappe zur andern mit einem schmalen Pelzstreifen belegt, der unten und oben gut festgenäht ist.«

»Nun also«, lächelte Reb Chajem mit einer Falte im Gesicht, »was soll die Aufregung? Wo steht denn geschrieben, daß der Streifen vorne von oben und von unten an den Hut genäht sein muß? Man wird ihn eben nicht an den Oberteil, sondern bloß unten festnähen, so daß man ihn hinunterklappen kann. Wenn man will, so ist's dann ein richtiger ehrlicher jüdischer Hut von heute – und wenn man will, so klappt man den Streifen hinunter, dann wird er ein Schirm – und man ist allen gerecht worden. Und was kann man einem Juden mit einer solchen Mütze anhaben? Er ist ja ein ›Deutscher‹!«

»Ja, ›wo die Thora ist, da ist auch Weisheit‹. Lange mögt ihr leben, Reb Chajem!« sagten die Leute sehr zufrieden und wünschten ihm den Kopf voll.

Diese Art Hut mit dem klappbarem Schirm fand hernach in ganz Israel Eingang und ist noch heute bei allen frommen Juden als »Napoleonshut« üblich. Aber die Welt soll es erfahren, daß diese Mütze im Städtlein Armleuten geboren wurde und die Geschichte soll es auf den Namen des Reb Chajem verzeichnen, des ersten, der sie ins Dasein rief. – Es ist möglich, daß Napoleon einen Hut von dieser Form getragen hat. Ganz sicher ist es aber, das kann man beschwören, daß Reb Chajem mit Napoleon in gar keiner Beziehung stand und seinen Hut niemals vor Augen hatte.

Man pflegte auch in Krankheitsfällen zu Reb Chajem zu kommen. Einen Arzt gab es in der Stadt nicht, bloß einen Bader, der von der Heilkunde nicht mehr verstand, als zur Ader lassen, Blutegel ansetzen, schröpfen, rasieren und scheren. War da irgend eine Krankheit, kam er gleich mit seinem ganzen Handwerkzeug daher und begann aus Leibeskräften zu arbeiten: Zerbläute einem Rücken und Lenden, Hals und Nacken, und wünschte dabei noch irgend so was »Teutsches«: »Zu Genäsung!« Wenn sein Segen nach all den Mitteln nichts half und es dem Kranken noch schlechter ging, kam man allerdings zu Reb Chajem und bat ihn, er möge so gut sein und den Kranken »untersuchen« kommen. Was hätte Reb Chajem tun können? Er ging, um ihn zu »untersuchen«. Man war davon überzeugt, daß er ein Eingeweihter und ein bedeutender Kenner der Medizin sei. Er selbst hielt sich auch wirklich für einen ziemlichen Kenner. Woher kam das? Das hatte seinen Grund. Reb Chajem war von Natur aus ein schwacher und kränklicher Mensch. Außer dem jüdischen Leiden, den Hämorrhoiden, einem Erbe der Väter, mangelte es ihm während seines Lebens auch nicht an anderen Schmerzen: Stechen im Kreuz, Zug und Kopfweh, Bruch und Mattigkeit in den Gliedern – was ja heute »Nerven« heißt. Bei Gelegenheit beriet er sich irgendwo mit berühmten Ärzten, meistens aber stellte er sich, als wüßte er nichts davon – »bah, es ist nichts, ein bloßes Unwohlsein, es wird schon so vorübergehn«. Doch einst erkrankte er heftig und mit Fieber, so daß man einigemal einen berühmten Arzt aus der Gegend – den Hofarzt des Herzogs selber, glaube ich – zu ihm holen mußte, und sein Davonkommen war ein so offensichtliches Wunder, als sei er vom Tode auferstanden. Durch all dieses erwarb Reb Chajem Erfahrung und erhielt das Recht, als Fachmann für Krankheiten zu gelten. Dabei sei schon ganz von Volksbüchern für Medizin geschwiegen, in denen er zu blättern pflegte, und allen Rezepten, die sich im Lauf der Zeit bei ihm angesammelt hatten. »Frag nicht den Arzt, frag den Kranken«, sagt ein Sprichwort – und Reb Chajem war in seinem Leben sehr oft krank gewesen. Und schließlich, es ist ja wahr, warum soll die Medizin denn weniger sein als die Advokatur, zum Beispiel? In einer nahen Stadt gab es einen Mann namens Reb Aren, der war nicht sehr thoragelehrt und hatte auch nicht an den fremden Schulen studiert – trotzdem galt er in der ganzen Gegend für einen ungeheuren Juristen! Gab es irgend eine häßliche Geschichte, ein unangenehmes Geschwür, wandte man sich an ihn, nur deshalb, weil er in seinem Leben schon viel Gefängnisse kennen gelernt hatte, für Unterschlagungen und Diebstähle, falsche Denunziationen, Meineid und ähnliche Vergehen – Gott schütz'! So kam es, daß er mit der Obrigkeit sehr vertraut wurde, daß er wußte, was man zu tun, zu schreiben und zu sprechen hatte und alle Wege, Kniffe, Listen und Tücken kannte.

Aber Reb Chajems Medizin erstreckte sich nur auf Krankheiten, durch die man im Bett liegen muß oder gar schon liegt und keine Kraft hat, sich zu rühren. Für andere gewöhnliche Krankheiten gab es wieder andere Leute im Städtlein; jeder war Fachmann auf seinem Gebiet. Für Augenschmerzen zum Beispiel gab es Reb Fischel. Er hatte das Geheimnis einer Mixtur, von der er ein paar Tropfen als Medizin gab, und zwar umsonst, nur um der Mizwe willen. Gegen Magerkeit und Abzehrung gab die alte Christin Petrucha verschiedene Kräuter. Gegen Epilepsie, Trübsinn, Rauschen im Kopf war Jasch, der Tatar, ein wahrer Meister. Den bösen Blick wegzuhexen, Zahnschmerzen wegzusprechen, Wachsguß zu machen, mit Eiern ausrollen – das verstand Gietel, die Vorsagerin, ausgezeichnet. Bei Fieber, Mai- und viertägigem Fieber pflegte der Melammed Lippe Riewens zu helfen, der auch wirklich ein ganz besonderer Mensch war, einer, den man in der ganzen Welt nicht wieder finden konnte.


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