Walter Serner
Der Pfiff um die Ecke
Walter Serner

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Die schwarze Serie

Eines Morgens war es Kencim beim Erwachen, als müsse er miserabel aussehen. Da er höchst seltsamer Weise abergläubisch war, sprang er mit einem Satz aus dem Bett und auf den kleinen Handspiegel zu, der auf dem Tisch lag. Kencim hatte sich nicht getäuscht: aus dem Spiegel grinste ihm ein eingefallenes grünliches Gesicht entgegen, in dem die Augen gleich schwarzfettigen Oliven hingen.

Kencim schleuderte den Spiegel auf den Divan und machte sich, überzeugt, einen schlechten Tag vor sich zu haben, mißmutig an die Toilette, mitunter resigniert innehaltend, so sehr quälte ihn das Bewußtsein seines reduzierten Exterieurs, das er gerade an diesem Tage zu einer gewissen Unternehmung in seinem normalen Glanze dringend benötigt hätte.

Und siehe da, bereits in der Portierloge fing es an: von den drei Zeitungen, die er abonniert hatte, fehlte der Figaro. Und als er das Hotel verließ, sprach ihn so unvermittelt, daß er fast erschrak, ein ziemlich schlecht gekleideter Mann an, der das Französische auf eine Weise radebrechte, die keiner fremden Sprache zu entsprechen schien. Erst nach wiederholtem Fragen und auch dann nur, weil er es erriet, vermochte Kencim ihm die Auskunft zu erteilen, die er wünschte.

Nervös und verstimmt begab Kencim sich in das gegenüber befindliche Café Biard. Der Kaffee stand kaum vor ihm, als er auch schon wieder auf die Straße lief, um sich den Figaro zu kaufen. Seine Nervosität steigerte sich noch, als bei seiner Rückkehr von den beiden Zeitungen, die er auf dem Tisch hatte liegen lassen, die Humanité verschwunden war.

Voll Ärger darüber, daß seine üble Voraussicht sich bestätigte, durchflog er die Zeitungen nur und wollte eben aufbrechen, als er an dem dunkelblauen Trotteur einer draußen vorübereilenden Dame Suzanne zu erkennen glaubte. Sofort rannte er zur Tür: es war Suzanne, die ihm doch so oft gesagt hatte, sie frühstücke ausnahmslos im Café Louis in der Avenue Kléber. Diese Lüge beschäftigte Kencim augenblicklich zwar weniger als Suzannes auffallendes Benehmen, das so gar nicht zu ihrer sonstigen Gemessenheit paßte; aber auch dieses war ihm nur insoferne wichtig, als es ihm wiederum bewies, daß er die schmerzliche Entdeckung, welche ihm über einen bis dahin geschätzten Menschen die Augen öffnete, just an diesem Tage machen mußte.

131 Mehr als übellaunig stieg er zur Metro hinunter. Während der Fahrt erinnerte er sich des ersten Zusammenseins mit Suzanne im Bois bei ›d'Armonville‹ und jener kleinen blauen Plüsch-Chaiselongue, wo er zum ersten Mal . . . und daß Suzanne nachher an der Porte Dauphine plötzlich behauptet hatte, die Métro nehmen zu müssen. Er hatte sich nach einigen Minuten umgewandt und gesehen, wie Suzanne die Treppe der Métro-Haltestelle wieder heraufkam. Er war ihr sogleich nachgeeilt, hatte sie aber nicht mehr erblicken können und war schließlich der Meinung gewesen, sich geirrt zu haben, als sie tagsdarauf bei ›Fauchon‹ auf seine diesbezügliche Frage neckisch geantwortet hatte: »O, il m'aime, ce n'est pas original!« Und nun . . .

Nach mehreren geschäftlichen Visiten, die infolge seiner Nervosität oder der Abwesenheit der erforderlichen Herren ergebnislos gewesen waren, nahm Kencim, da er sich um mehr als eine halbe Stunde verspätet hatte, ein Taxi und fuhr zu ›Royal-Topsy‹ hinter der Madelaine. Adèle, mit der er sich zum Déjeuner verabredet hatte, war nicht da. In blindem Zorn nahm er an, sie würde überhaupt nicht mehr kommen, und eilte in das unweit gelegene billigere Restaurant ›Bernard‹. Zu seiner maßlosen Überraschung sah er Adèle an einem Tisch mit drei Herren, die nicht eben einen sehr soignierten Eindruck machten. Als sie ihn endlich erblickte, schien sie die Herren an ihrem Tisch plötzlich nicht mehr zu kennen und erhob sich langsam. Sobald er mit ihr allein an einem Ecktisch saß, erklärte sie ihm alles sehr plausibel, so daß er beinahe beschämt schwieg, war aber ebendeshalb derart kratzbürstig, daß er es vorzog, sie im Taxi nach Hause zu schicken, ohne sie zu begleiten.

Da Kencim nach all dem nichts hätte bewegen können, seinen Tag in der gewohnten Weise zu beenden, zündete er sich, sehr zufrieden mit seinem Entschluß, bis zum Abend spazieren zu gehen, eine Zigarre an und schlenderte über die großen Boulevards. Vor der Olympia-Taverne grüßte ihn ein Herr, den er nicht kannte, und etwa zwanzig Schritte weiter ein zweiter. Kencim kam gar nicht dazu, darüber nachzudenken, welchem Umstand er dies verdanke, da ihn miteins Madame Mildred begrüßte, die Besitzerin eines mondänen Modesalons, in dem er letzthin, sonderlich für Suzanne, mancherlei gekauft hatte. Er hatte dieser stadtbekannten Modegröße stets außergewöhnlich hofiert, so daß er, als sie wie scherzhaft seinen Arm nahm, es sich nur zu gerne gefallen ließ. Madame Mildred war bei sprudelnder Laune und schnatterte gerade den neuesten Potin herunter, als sie von zwei jungen Herren unterbrochen wurde, welche sie sofort Kencim vorstellte. Sie 132 sprachen jedoch nur mit Madame Mildred und verabschiedeten sich rasch wieder. Mit einem Mal hemmte Madame Mildred ihren neuerlichen Redestrom brüsk, stieß Kencim den eigenen Arm gegen die Rippen, lief quer über das Trottoir und verschwand in einem Haustor. Kencim hatte kaum Zeit, sich darüber zu wundern, als ein Herr ihm in den Weg trat und steif grüßend äußerte, es sei ihm sehr angenehm, nun zu wissen, mit wem seine Nichte ihren Mann betrüge. Ohne zu antworten oder auch nur zu grüßen, ließ Kencim den Herrn stehen.

Auf der Place de l'Opéra bestieg er, vor Wut fast außer sich, ein Taxi und befahl dem Chauffeur zu fahren, wohin er wolle. Aber bereits nach fünf Minuten hielt er es nicht länger aus und rief durch das Hörrohr die Adresse seines Hotels. Als der Wagen endlich in der Rue Mozart hielt, atmete er befreit auf: in seinem Zimmer würde er wohl geborgen sein. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe empor und warf sich erschöpft auf den Divan. Er war jedoch kaum einige Sekunden gelegen, da klopfte es.

»Je vous salue, mon cher Kencim.« Gizzé tänzelte über die Schwelle. »Ça va toujours?« Er lehnte sich, seinen Körper leise wiegend, an den Tisch, drehte sein Rohrstöckchen zwischen den zu sehr beringten Fingern und näselte: »Ça va, ça va, ça va.«

»Ça va pas du tout.« Kencim stemmte sich ruckweise in den Sitz.

»O, o, o, o.« Gizzé spitzte neugierig die leicht geschminkten Lippen. »Aber dein Aussehen ist ganz befriedigend.«

Kencim riß es herum. »Was? Willst du damit sagen, daß ich gut aussehe?«

»Mais oui. Du siehst aus wie ein konkurrenzloser Rosenstock.«

»Niederträchtig!«

Gizzé zuckte mit seinem Rohrstöckchen und wunderte sich weiter.

»Was ist denn nur los mit dir.«

Kencim flog empor und rannte im Zimmer auf und ab. »Was los ist?« rief er kieksend, »Pech, nichts als Pech! Ich kenne das ja. Aber so schlimm wie heute war es noch nie.« Und er begann, auf Gizzés interessiertes Fragen hin, die wechselvollen Schicksale des Tages zu berichten. Als er zu Ende war, ohne daß Gizzé sich zu äußern beliebte, schrie er ungeduldig: »Nun? Sprich doch! Was sagst du dazu?«

Gizzé setzte sich sorgfältig und schnupperte hierauf nachdenklich an seinem Stockknauf.

»Die schwarze Serie!« schrie Kencim bebend. »Meine schwarze Serie! Und vor Mitternacht wird schwerlich Schluß mit all diesen Widerwärtigkeiten sein.«

133 »Das glaube ich ja nun eigentlich auch«, meinte Gizzé eigenartig zurückhaltend. »Aber deine schwarze Serie hat meiner Auffassung nach mit deinem blödsinnigen Aberglauben nicht viel zu tun.«

»So. Nun, zugegeben. Womit dann aber . . .?« Kencim stand da, als wäre er jeden Augenblick bereit, den Revolver zu ziehen.

»Silence, mon cher Kencim!« beschwichtigte Gizzé graziös. »Die Sache ist vielleicht doch ernster, als sie scheint. Sag mir aufrichtig, René, hast du Grund dazu, ein schlechtes Gewissen zu haben?«

Kencim lachte affektiert. »Dazu hat man immer Grund.«

»Gewiß. Aber ich meine – speziellen Grund.«

Kencim biß sich, weil es ihm dazu gehörig schien, auf die Unterlippe. »Man hat auch immer einen speziellen Grund. Jeder macht doch Geschäfte.«

»Mon cher René, sag mir bitte ganz offen, ob du in letzter Zeit etwas getan hast . . . Ich will ja nicht wissen, was . . . etwas getan hast, das dich, wenn es bekannt würde, mit dem Gericht in Konflikt bringen könnte.«

»Das ist aber doch stark!« Kencims Empörtheit brach jedoch vor Gizzés listig lauernden Augen schnell zusammen.

»René! Unter uns ist das doch wirklich nicht nötig.«

Kencims Schultern gaben bei. Und da seine Unruhe inzwischen sehr gestiegen war, lächelte er entgegenkommend. »Also gut. Nehmen wir an, es sei so.«

Gizzé schlängelte sich an seinem Rohrstöckchen hoch. »Das genügt mir. Und nun antworte mir auf alle meine Fragen absolut aufrichtig! War es heute das erste Mal, daß dir auf unerklärliche Weise etwas abhanden kam? Eine Zeitung, ein Papier, eine Notiz?«

Kencim dachte nach.

»Es ist mir allerdings erst heute aufgefallen. Aber es könnte wohl auch sein . . .«

»Das genügt mir. Wurdest du schon öfter in jüngster Zeit auf der Straße von zweifelhaft aussehenden und ebenso sprechenden Individuen um eine Auskunft ersucht?«

»Ja. Gerade heute hat mich einer . . .« gab Kencim unwillig zu. »Aber . . .«

»War die Veränderung, welche du heute morgen an Suzanne bemerktest, so – abrupt, daß die Vermutung naheliegend wäre, ihr früheres Verhalten könnte Verstellung gewesen sein?«

»Ja«, mußte Kencim abermals zugeben. »Sie ging heute schleifender, aufmunternder, frecher und trug den Schirm in ordinärer Weise unterm Arm, während sie sonst . . .«

134 »Bist du sicher, sie erkannt zu haben, als sie die Métro an der Porte Dauphine wieder verließ?«

»Ganz sicher.«

»Hast du beobachtet, daß man dir folgte, wenn du einen Laden betratest?«

»Nein.«

»Hast du auf deinem Rock Kreidespuren, Kreidezeichen bemerkt? Oder vor deiner Tür Wachstropfen?«

»Nein.« Kencim untersuchte seinen Rock.

Gizzé öffnete schnell die Tür, sah nach und kam ebenso schnell wieder zurück. »Hast du die drei Herren, die mit Adèle bei ›Bernard‹ aßen, zuvor schon einmal gesehen?«

»Nein. Keiner von ihnen kam mir bekannt vor.«

»Waren sie tadellos gekleidet?«

»Im Gegenteil.«

»Wo hast du Adèle kennengelernt? Hast du sie angesprochen?«

»Eigentlich sie mich. Es war bei ›Latinville‹. Du kennst doch diese reizende Confiserie in der Rue de la Boëtie.«

»Das genügt. Haben dich schon öfter Leute gegrüßt, die du dich nicht erinnern konntest zu kennen?«

»Vielleicht . . . Ja, doch . . .«

»Genügt. Hat Suzanne dich gebeten, ihr bei Madame Mildred Hüte zu kaufen? Oder hast du diesen Modesalon aus anderen Gründen gewählt?«

»Madame Mildred ist Suzannes Modistin. Sie kauft bei ihr bereits seit Jahren.«

»Warst du oft mit ihr dort?«

»Etwa fünf oder sechs Mal.«

»Hast du dort Herren . . . Männer angetroffen?«

»Ja. Sehr oft sogar. Aber es waren immerhin Herren.«

»Genügt. War der Mann, dem Madame Mildred auf dem Boulevard de la Madelaine dich überließ, tadellos gekleidet?«

»Mit übertriebener lächerlicher Eleganz.«

»Ich wußte, daß ich mich nicht geirrt hatte.« Gizzé ließ sich langsam nieder, senkte die Augen, die bis dahin streng in die Kencims geblickt hatten, und überließ sein widerstrebendes Gesicht einer gewissen Feierlichkeit. »Die Polizei!«

Kencim setzte sich, schlaff vor Erstaunen.

Gizzé richtete seine unbarmherzig gewordenen Augen fest auf ihn. »Deine schwarze Serie ist nichts weiter als eine Serie von Polizei-Manövern, die dir erst heute aufgefallen sind, weil dein zufällig erwachter Aberglaube dich scharfsichtiger machte.«

135 »Aber du selber hast mich doch verhöhnt . . . ich sähe aus wie ein . . .« Kencim sprang plötzlich auf den Tisch zu und griff nach dem Handspiegel. »Tatsächlich! Ich sehe tatsächlich blühend aus . . . Ja, aber . . . Das ist ja ein ganz anderer Spiegel! Der von heute morgen war in braunes Holz gefaßt. Der hier ist schwarz. Das Stubenmädchen hat ihn jedenfalls vertauscht. Ja, dann ist aber doch . . .«

Gizzé betrachtete ihn wie einen Verrückten. »René, ich bitte dich!«

»Ja, aber dann habe ich mich ja doch geirrt! Der andere Spiegel hatte eben grünliches Glas!« Kencim hatte Kopf und Arme nicht mehr in seiner Gewalt.

Gizzé begriff jetzt. »Richtig. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß . . .«

Da krachte die Tür auf: Suzanne brauste ins Zimmer, ordinär mit ihrem Schirm fuchtelnd. »Du Lump du! Was hast du heute morgen für Gaunereien vorgehabt? Schweig, du hast mich ganz genau erkannt, als ich vor dem Café vorbeiging. Warum hast du so getan, als hättest du mich nicht erkannt? Ich habe genau gesehen, daß du mir ein Stück nachgingst. Leider hatte ich keine Zeit, um dir auf deine Schliche zu kommen. Was sind das für Gaunereien? Antwort, du Lump!«

»Bon jour, Mademoiselle Suzanne.« Gizzé gelang es nicht, ihr die Hand zu küssen. »Bitte, gestatten Sie mir eine kleine Frage. Warum frühstückten Sie heute ausnahmsweise nicht im Café Louis?«

»Was geht das Sie an, Sie Carrotier? Aber das ist ja unglaublich!« Suzanne schwang sich auf den Tisch und legte ihren Schirm schlagbereit über die Knie.

»Du betrügst mich«, rief Kencim wütend, aber schon ein wenig unsicher geworden.

»Ah . . . weil du mich damals bei ›d'Armonville‹ gesehen hast . . .«

»Ja«, log Kencim, sofort wieder überzeugt.

Suzanne schwenkte drohend ihren Schirm. »Telefoniere doch Madame Mildred. Sie wird dir sagen, warum ich damals wieder umkehrte. Um mein Handtäschchen zu holen, das ich vergessen hatte. Es lag auf dieser blauen Chaiselongue, die übrigens viel zu kurz war.«

Kencim machte ein überaus verdutztes Gesicht, das sich freilich bald einem Lächeln näherte.

Suzanne zog den Schirm ein. »Telefoniere aber nicht in ihre 136 Wohnung. Ihr Mann hat sie nämlich hinausgeworfen. Schließlich begreiflich. Ein Geliebter – wer sagt da etwas? Aber gleich ein Dutzend auf einmal? Und sogar ein Lappländer ist darunter, den kein Mensch verstehen kann.«

Gizzé blickte hochnäsig auf die Straße hinunter. »Jedenfalls keine sehr glaubwürdige Zeugin.«

»Trotzdem scheint es, mon cher carrotier«, höhnte Kencim ihm zu, »als ob alle diese Widerwärtigkeiten doch noch vor Mitternacht . . .«

Suzanne, die einen ungeheueren Triumph ahnte, entschloß sich zu einem erbitterten Gesicht.

Kencim packte sie an den Schultern. »Mit dem Resultat meiner Gaunereien werde ich dir jetzt die beiden Ringe kaufen, die du schon immer . . .«

Suzanne schnellte sich mit einem Schrei auf seine Lippen.

Gizzé benützte die Gelegenheit, um sich zu drücken. 137

 


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