Walter Serner
Der Pfiff um die Ecke
Walter Serner

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Faule Zeiten

Stenglewski, der vor Jahren einmal die Arbeit der Polizei an sich hatte ergehen lassen müssen, erinnerte sich dieser Zeit der holdesten Beobachtungen und aufregenden Gegenzüge nicht ohne leise Wehmut. Da ihm zum wirklichen Verbrecher zwar nicht der Geist, leider aber das erforderliche Quantum Nervenkraft fehlte, er andererseits jedoch auch nicht zu einer geregelten Tätigkeit hinneigte, stand er somit seit langem vor der unerquicklichen Alternative, entweder seine kleinen Betrügereien fortzusetzen und sich dabei zu langweilen, oder zu Großem überzugehen und so, vielleicht sein Leben wagend, jene Sensation sich zu verschaffen, deren Vorgeschmack er dereinst im Geplänkel mit der Polizei genossen hatte.

Dennoch war diese Alternative eigentlich niemals so recht in den Vordergrund seines Bewußtseins getreten. Stenglewski langweilte sich und ging jeden zweiten Monat von einem kleinen Schwindel zum andern über. Da geschah es, als er eines Abends vor einem opalenen Apéro auf der Terrasse des Café de l'Epoque saß, daß Titin, den er lange Zeit nicht mehr gesehen hatte, sich zu ihm setzte und seine verwitterten Wangen rieb:

»Faule Zeiten, Stenglewski. Kein Geschäft und kein Féz.«

Stenglewski schnaufte zustimmend durch die Nase, pendelte müde das Haupt, spie schließlich, der wegen seines Halsleidens nicht rauchen konnte, eine Gewürznelke auf den Asphalt und setzte sich hierauf achselzuckend eine neue an das Zahnfleisch.

Titin sah ihm interessiert zu. »Geschmack ist eine Bedürfnisfrage. Davon war ich schon immer überzeugt.«

Stenglewski sog genießerisch an seiner Nelke. »Man ändert sich nicht. Ich lutsche immer noch Vögelchen und du machst deine faden Witze. Aber die Zeiten sind oberfaul, das ist richtig.«

»Was willst du.« Titin, dem ein Windstoß das Ende seines Halstuchs auf Nase und Mund drückte, entfernte es mit der Hand. »Das Leben ist ein einziger Cafard, manchmal unterbrochen von angenehmen Empfindungen, welche zu verhindern die Polizei da ist.«

»Sag das nicht. Wie wunderbar wars, als sie mich für den Juwelenräuber in der Rue Tronchet hielten. Bloß weil ich einen großen Hammer mein eigen nannte.« Stenglewski schlug sich mit der flachen Hand auf den rechten Biceps und ließ dabei die Finger vielversprechend in der Luft zucken.

73 Titin lächelte ein Fragezeichen. »Nicht so blumig! Ich habe mir sagen lassen, daß die Flics Sporteln schätzen und deshalb die Felder ihrer Tätigkeit, wenn sie mangeln, sich einfach fabrizieren. Wunderbar kann ich das nicht gerade finden.«

Stenglewski wischte sich mit dem Mittelfinger neugierig die Lippen. »Du glaubst also, daß sie auch an miesen Fährten arbeiten, nur um . . .«

»Ohne Zweifel!« Titin beschmierte das Mundstück einer kurzen dicken Zigarre mit Vaseline, das er in einer schmalen Büchse in der Westentasche trug. »Wenn sie pfeifen, kommt noch lange niemand. Aber wenn wir pfeifen, – wettgerannt kommen sie.«

»Vaseline?«

»Was denn.«

»Warum?«

»Nina.«

»Also immer noch.«

»Kein Vergnügen mehr.«

»Pfeifen wir doch.« Stenglewskis Augen erglühten miteins in seltsamem Enthusiasmus.

Titin vollführte auf seiner Stirn mit dem Zeigefinger einen kleinen Kreis. »Für den Féz danke ich.«

»Sag das nicht, Titin.« Stenglewski bohrte aufgeregt in der Nase. »Es ist ein Féz. Und sogar ein Geschäft, wenn mans versteht.«

Titin roch mit geschlossenen Augen an seiner Zigarre. »Triffst du Vorkehrungen für meine Heuerung zu einem Coup?«

»Vielleicht.« Stenglewski säuberte seinen Zeigefinger an der Hose. »Wenn man sich richtig gefährlich macht, lassen sie was springen.«

Titin lehnte mit der Zigarre ab. »Das ist eventuell für einen Separatgenießer wie dich ein Féz. Ein Geschäft ist es auf keinen Fall. Da würde ich schon lieber gleich zur Polizei gehen.«

Stenglewski wog grübelnd allerlei in sich ab. Und plötzlich strichen seine dürren Hände langsam die Hüften hinab. »Titin, das wäre . . . unter Umständen . . . vielleicht sogar . . . Das könnte . . . Man müßte . . .«

Titin senkte seine Zigarre. Seine Lippen spitzten sich.

Stenglewski preßte beide Hände auf seinen Arm und begann, mit wilder Mimik, zu detaillieren . . .

Schon am nächsten Vormittag begab Stenglewski sich zum Polizei-Kommissariat des XVII. Arrondissements auf der Place Chatillion und berichtete mit dampfenden Lungen und völlig zerschlagener Stimme, daß bei ihm eingebrochen worden sei. Worauf drei 74 Beamte unverzüglich ihre Taschen sattelten und, mit Stenglewski an der Spitze, an den Tatort eilten. Daselbst, einem länglichen düsteren Hofzimmer in der Rue des Fleurs, bot sich ihnen ein ziemlich primitiver Anblick: auf dem zerwühlten Bett lag eine kleine Eisenkassette, wie Geschäftsleute sie im Ladentisch zu halten pflegen, mit offenem Deckel und leer. Daß das Schloß forciert worden war, unterlag keinem Zweifel. Mehr schon, ob der Betrag von fünfzehntausend Francs, dessen Stenglewski beraubt worden sein wollte, auch tatsächlich sich darin befunden habe. Als die Beamten, auf das ärmliche Logis hinweisend, diesbezügliche Äußerungen fallen ließen, stieß Stenglewski verzweifelt die Fäuste gen Himmel, jammerte von zehn Jahren schwerster Arbeit, mühsamster Existenzgründung, von unsäglichen Entbehrungen und schwierigen Ersparnissen, warf überhaupt mit trist illustrierenden Vokabeln nur so um sich und erreichte nach einer Viertelstunde, daß man wenigstens willig wurde, ihm zu glauben. Dies umsomehr, als er, infolge dieser Erfahrung mit der Passivität der Polizei scheinbar konsterniert, daran ging, sich selbständig zu machen: er drehte das Licht an, untersuchte die Fensterrahmen, die Wände, die Tür, den Fußboden; und wies schließlich, zum nicht geringen Ärger der erstaunt assistierenden Beamten, auf Wachsspuren im Türschloß hin und auf ein Stückchen hellroter Leinwand, das er unter dem Bett aufgelesen hatte. Während die Wachsspuren für sich selber sprachen, blieb das Stückchen Leinwand stumm. Umso beredter jedoch wurde Stenglewski. Er behauptete, die Anwesenheit dieses Stoffrestes in seinem Zimmer, in dem kein wie immer gearteter Gegenstand dieser Stoffsorte sich befunden habe, dürfte sehr wahrscheinlicher Weise von größtem Nutzen für die Auffindung einer Spur sein, dankte den Beamten für ihre Bemühungen mit bitterer Miene und der Versicherung, daß er nun selbst der Sache nachgehen wolle, und ersuchte lediglich darum, ihn erforderlichen Falls zu unterstützen. Die Beamten, beinahe verlegen, sagten dies selbstverständlich zu, nahmen ein Protokoll auf und stiegen hierauf mit Stenglewski hinab, der vor der Portierloge halt machte, um die Concierge zu inquirieren. Kaum war diese aus der Tür getreten, als Stenglewski mit einem halb unterdrückten Aufschrei vorstürzte, das Stückchen hellroter Leinwand aus seiner Tasche riß und auf ein kleines Loch drückte, das sich in dem Leinwandkittel befand, den die Concierge trug. Die Beamten wunderten sich indigniert, stellten Fragen und erfuhren, daß der Leinwandkittel, zum großen Ärger seiner Besitzerin, einen ganzen Tag lang verschwunden gewesen wäre. Stenglewski, sichtlich der 75 Situation gewachsener, verabschiedete die Concierge dankend und trat mit seinen Begleitern auf die Straße, wo er ihnen, mit bereits deutlich einsetzender Arroganz, mitteilte, er halte die Concierge nicht für schuldig, das habe er, lediglich psychologisch, an der Art ihres Reagierens erkannt, sondern neige dazu, an einen Zufall oder eine seltene Komplikation zu glauben, deren Aufhellung ihm schon noch gelingen werde. Und an der Ecke der Avenue de Clichy verließ er, auf einen Pauschal-Gruß sich beschränkend, die drei Beamten, welche, vor ihren Vorgesetzten zurückgekehrt, so Erstaunliches berichteten, daß dieser nicht umhin konnte, Stenglewskis Umsicht zu rühmen und ihn per Rohrpostkarte für den folgenden Nachmittag zu sich zu bestellen.

Stenglewski erschien bereits drei Stunden früher. Und zwar mit der Mitteilung, daß er dem Täter hart auf der Spur sei; er bitte um Sukkurs. Dieser wurde ihm sofort zugesagt, aber erst dann gewährt, als er berichtet hatte, daß er nach seiner Rückkehr die Concierge abermals verhört und herausbekommen habe, ein dicker junger Mann mit einer braunen Mütze wäre am Tage vor dem Einbruch von ihr gesehen worden, wie er, nicht unverdächtig, vor dem Hause und einmal sogar vor der Loge sich zu schaffen gemacht habe; daß er, Stenglewski, den Zusammenhang daraufhin bereits vag konzipierend, sich den Leinwandkittel ausgebeten und, wie wenn er verloren worden wäre, in die Ecke neben der Haustür geworfen habe, jedoch so, daß jeder Vorübergehende ihn sehen konnte; auf diese Weise habe er, Stenglewski, nachdem er hinter einer Laterne sich auf die Lauer gelegt hatte, nach stundenlangem Warten beobachten können, wie ein junger Mann, auf den die Beschreibung der Concierge genau paßte, vor der Haustür stehen geblieben wäre und mit einem schnellen scheuen Griff den Leinwandkittel unter seinem Mantel versteckt hätte, schneller als er gekommen war mit ihm davoneilend; er sei ihm vorsichtig gefolgt und habe ihn in der Impasse Bilcoq im letzten Haus rechts verschwinden sehen. Der Kommissär lobte Stenglewskis Geschicklichkeit und Voraussicht und gab ihm zwei seiner besten Beamten mit.

Als diese nach zwei Stunden zurückkehrten, konnten sie berichten, daß der Leinwandkittel in einem versteckten Winkel des Schnürbodens sich vorgefunden habe, der Täter selber leider nirgends zu entdecken gewesen und auch von niemandem gesehen worden sei; Stenglewski aber habe sie auf dem Rückweg in der Rue Ordener plötzlich wortlos verlassen und sei auf eine in der Richtung La Chapelle vorbeifahrende Tram gesprungen.

76 Von nun an erschien Stenglewski fast täglich im Kommissariat, meldete die neuesten Ergebnisse seiner Spürarbeit, holte sich Rat und löste immer neue Rätsel. Nachdem er herausbekommen hatte, daß der Täter den Leinwandkittel der Concierge weggenommen hatte, um sie verdächtig zu machen, es aber für vorsichtiger gehalten hatte, ihn gänzlich aus dem Weg zu räumen, nachdem er seine Schuldigkeit getan hatte, stellte Stenglewski fest, daß der Mann, den er in der vorbeifahrenden Tram erkannt hatte, der Bruder des Täters war und in der Rue Doudeauville wohnte. Er wußte die Bekanntschaft dieses Bruders zu machen, durch ihn die Geliebte des Täters kennen zu lernen und durch sie dessen Gewohnheiten und schließlich ihn selber, den er geschickt umgarnte, indem er ihn veranlaßte, einen neuen Einbruch zu unternehmen. Während jedoch Stenglewski bei all diesen Recherchen und Lockspitzeleien die Mithilfe der Polizei mit der Begründung ablehnte, es ginge allein auch und mache ihm so weit mehr Vergnügen, bat er sich, als er zum letzten Schlag ausholen wollte, drei Beamte aus. Der Schlag ging fehl. Angeblich sollte der Täter dadurch, daß einer der Beamten zu früh vor der Schenke sich gezeigt hatte, mißtrauisch geworden und plötzlich spurlos verschwunden sein und mit ihm sein Bruder und seine Geliebte.

Stenglewski war über das Mißlingen seiner zeitraubenden Anstrengungen so niedergeschlagen, daß er den Kampf aufgab. Und da auch die Polizei nicht sonderlich darauf hielt, die Angelegenheit weiterzuverfolgen, inzwischen aber konstatiert hatte, daß Stenglewski bereits einmal ungerechtfertigter Weise unter Aufsicht gestellt worden war, gedachte sie dieses in zwiefachem Betrachte bedauernswerte Opfer dadurch schadlos zu halten, daß sie ihm vorschlug, in ihre Reihen zu treten. Stenglewski tat es nach einer viertägigen Bedenkzeit. Nicht ohne zuvor Titin zu konsultieren, der über die einzelnen Stadien des gesamten Vorgehens Stenglewskis selbstverständlich bis ins Kleinste orientiert worden war. War er es doch, der in vielerlei Verkleidungen den Flics, wenn es sich nicht hatte umgehen lassen, vorgeführt worden war und durch seinen Rat nicht wenig dazu beigetragen hatte, Stenglewski bis zu diesem Ziel zu bringen.

»Nun wären wir also so weit.« Stenglewski ergriff die eigene Hand und schüttelte sie.

Titin steckte das Ende seines Halstuchs sich in den Mund und biß es sorgenvoll. »Ob es aber auch wirklich ein Geschäft werden wird?«

»Sag das nicht.« Stenglewski knallte überzeugt mit zwei Fingern.

77 »Es wird ein Geschäft werden. Wir ziehen, nach Schema Rue des Fleurs, mehrere schwere Sachen auf und treiben wochenlang eine Streife nach der andern dahinter her.«

Titin lehnte mit einem Bleistift ab. »Die Sporteln und Spesen sind, wie du ja bereits bemerkt hast, doch viel unbedeutender, als wir annahmen.«

Stenglewski sog mißmutig an seiner Nelke. »Wir müssen eben ganz schwere Sachen aufziehen.«

»Auch die Arbeit ist größer, als ich dachte.« Titin zog mit dem Bleistift einen beschwörenden Kreis auf das Tischchen. »Wir müssen den ganzen Truc umbauen.«

Stenglewski vergaß seine Nelke, so dékonzertiert war er.

Titin lächelte plötzlich überwältigend. »Wir führen die Sachen eben aus. Und sollte schon die erste uns edel machen, ziehen wir uns zurück.«

Stenglewski packte Titins obersten Rockknopf und sprühte los: »Das wäre . . . das wäre . . . Roulant wäre das! Wir brechen eine fette Kiste auf. Du gehst mit dem Gummi auf Sommerfrische und ich bearbeite unsern Verduft. Sollst sehen, wie miserabel ich hinter uns her bin! Wie großartig wir entkommen werden! Denn ich werde wieder heftige Beweise meines Scharfsinns und meiner Geschicklichkeit liefern und . . .«

» . . . und eventuell einen falschen ans Messer.«

»Wozu?«

»Zeitgewinn! Und man fixt es so, daß sie ihn später doch wieder laufen lassen müssen.«

»Das wird ein Féz!« Stenglewskis Augen faszinierten sich selber.

Titin zog, eine sanft wuchtende Selbstzufriedenheit in den Zügen, die schmale Büchse mit Vaseline aus der Westentasche und hierauf eine kurze dicke Zigarre aus dem Rock.

Stenglewski ließ ein wallendes Grinsen über sein Gesicht hereinbrechen. »Wird sich bald ausgeschmiert haben.«

»Was denn.«

»Nina.«

»Warum?«

»Vaseline!«

»Was willst du . . . Es ist zwar kein Vergnügen mehr, aber sie hat sich so an mich gewöhnt, daß ich . . .«

»Das könnte . . . Man müßte . . .«

»Stenglewski, das werden faule Zeiten.«

»Für Ninas Portemonnaie, ohne Zweifel.«

»Auch. Aber hauptsächlich für die Polizei.« 78

 


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