Walter Serner
Der Pfiff um die Ecke
Walter Serner

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Der berühmte Zedde

Er hatte zu kurze Beine und einen zu langen Oberkörper und war klein, von gelblicher Gesichtsfarbe und überhaupt häßlich. Das Häßlichste an ihm jedoch war seine Freundin, die ihn um mehr als Haupteslänge überragte, eine behaarte Warze am Kinn trug und darüber eine hexenhaft ausladende Nase. Sie hieß Magdalena, hielt sich für schön und Zedde für ein Genie.

Zu dieser Auffassung war sie langsam, aber zielbewußt von Zedde bewogen worden, der darin das angenehmste wie auch sicherste Mittel sah, sie zu veranlassen, ihren Monatslohn mit ihm zu teilen.

Nachdem Zedde, was nicht schwierig gewesen war, Magdalena zu Fall gebracht hatte, begann er immer deutlicher unter dem Leben zu leiden und über mysteriöse körperliche Beschwerden zu klagen, um sowohl das schärfste geistige Symptom des werdenden großen Mannes aufzuweisen als auch das diesem stets anhaftende Pathologische, das überdies den Vorteil hatte, Mitleid zu erregen. Als Magdalenas Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht genügend eingesponnen war, ging Zedde zu dumpfen Reden über, welche, da Magdalena allmählich von ihnen bewegt wurde, zu nächtelangen verbissenen und konfusen Debatten führten, die Zedde vorsichtiger Weise in jenem Augenblick, da Magdalena zu ermüden begann, mit einem sexuellen Überfall zu beenden pflegte. Bald schätzte Magdalena diese Debatten nurmehr um des sie unweigerlich abschließenden Überfalles willen, ja hielt sie halb unbewußt für überflüssige Hinausschiebungen jenes holden Endes. Zedde bemerkte diese Wendung und beeilte sich, zu handeln. Er zwang Magdalena, die es bisher aus Gründen der Wohlanständigkeit vermieden hatte, sein Zimmer zu betreten, es dennoch zu tun, indem er in der Nähe des Hauses, in dem er wohnte, einen Schwächeanfall simulierte. Magdalena schleppte ihn unter Tränen in sein Zimmer hinauf und hätte ihn beinahe fallen lassen, so sehr war sie von der grenzenlosen Unordnung, die daselbst herrschte, perplexiert. Alles lag kunterbunt durcheinander. Tisch, Stühle, Sofa, ja selbst der Fußboden waren dicht mit alten Büchern, Papieren, Briefen und Manuskripten bedeckt. Während Magdalena, den kranken Freund völlig vergessend, über die ausgestreuten Schätze sich hermachte, beobachtete Zedde sie zwischen halb geöffneten Lidern hervor, höchst zufrieden mit sich und seiner so wohl arrangierten genialen 105 Unordnung. Plötzlich stieß Magdalena einen kleinen Schrei aus: »Was, Otto, du dichtest?« Zedde, der nur auf dieses Stichwort gewartet hatte, fuhr stöhnend empor, ließ sich aber, als hätte er nicht die Kraft, ihr das Manuskript zu entreißen, verzweifelt wimmernd aufs Bett zurücksinken.

Von dieser denkwürdigen Stunde an begann Magdalena ihren Freund nicht nur mit den Augen der Liebe zu betrachten, sondern bereits mit denen einer Frau, die den ihr gebührenden Anteil an seiner Biographie sich sichern will. Und als Zedde kurz darauf zum ersten Mal seine finanziellen Bedrängnisse gequält vor ihr entrollte, lächelte sie bloß ein stilles Frauenlächeln und legte ihm ihr Portemonnaie in die Hände. Nach vierzehn Tagen, die sehr redselig und begeistert verliefen, bat sie ihn schüchtern, doch die Hälfte ihres Monatslohns annehmen zu wollen. Zedde wehrte sich eine Stunde lang gewissenhaft. Dann wurde er schwach und gab unmutig nach.

Nach zwei Monaten aber begann Magdalena, ohne es sich freilich einzugestehen, sich zu langweilen. Die dumpfen Reden Zeddes, seine seltsamen, regelmäßig wiederkehrenden Anfälle, seine expressionistischen Gedichte, die sie nicht verstand, und die malerische Unordnung, in der er lebte, hatten ihren Reiz eingebüßt. Auch war es immerhin verwunderlich, daß ein Genie wie Zedde nicht den geringsten äußeren Erfolg zu verzeichnen hatte. Und so kam es, daß Magdalena eines Abends, als Zedde gerade besonders dumpf daherredete, etwas Präziseres zu hören wünschte, Weltanschaulicheres. Und als Zedde daraufhin nur noch dumpfer orakelte, warf sie ihm einen Polster an den Kopf, so daß er seinen krummen Zwicker verlor, und rief ihm barsch zu, er sollte zu ihr ins Bett kommen. Als nun aber gar die am nächsten Tag fällige Zahlung des halben Monatslohns in ziemlich unfroher Weise erfolgte, war es Zedde klar, daß er Gegenmaßnahmen treffen mußte.

Er traf sie in Gestalt eines jungen Russen, namens Pluchin, der gleichfalls über keinerlei Einkünfte verfügte, dafür jedoch über große Pfiffigkeit und eine ans Unwahrscheinliche grenzende Frechheit. Zedde, der ihn vor allem als pfiffig kannte, erzählte ihm im Café Odeon, verzweifelt wie er war, seinen schwierigen Fall, vorerst allerdings in der Einkleidung einer Novelle, die er zu schreiben gedenke, und bat, bezüglich eines packenden Schlusses, um sein literarisches Urteil. Pluchin, der Zeddes unklare Liebschaft kannte, ahnte, daß dieser Geschichte Lebendiges zugrundeliege, und bediente sich des nahezu nie versagenden Kniffs, es ihm auf den Kopf zuzusagen. Zedde gab es verärgert zu und bat um Rat. 106 Angesichts der Möglichkeit, Zeddes Notlage auszubeuten, ließ Pluchin sich herbei, für die Angelegenheit sich zu interessieren, und versprach, nachdem er zehn Franken gepumpt hatte, eine wiederherstellende Lösung zu finden.

»Aber es ist unbedingt nötig«, säuselte Zedde unruhig, »daß Magda in ihrer Meinung über mich . . . ich meine, was das Genie betrifft, sehr gekräftigt wird.«

Pluchin zog sich animiert die Hose zurecht. »Daß Sie ihr eine neue Weltanschauung servieren, ist ebenso unmöglich wie unnötig. Erstens ist alles schon dagewesen und zweitens kann man auch andersrum das sexuelle Interesse für Sie neu beleben.« Er glotzte auf ein Wasserglas und erst hierauf auf Zeddes glanzlose Äuglein.

Zedde kratzte sich den verschwitzten Kopf. »Andersrum?«

Pluchin glotzte auf einen Pfeiler. »Man müßte etwas Bewegtes bringen. Etwas Wucherndes.« Und mit einem Mal zuckte sein Kopf weit nach vorn. »Hollah, nichts einfacher als das! Ich werde Sie beobachten.«

»Sie . . . beobachten . . . mich . . .?« Zeddes Oberkörper verschwand bis zu den Lippen hinter dem Tischrand.

»Spielerei. Neunzehnhundertfünf war ich in Moskau. Bei der Bombengruppe. Daß man bei dieser Beschäftigung seine Erfahrungen sammelt, wird Ihnen einleuchten.«

»Aber . . . das . . . wieso . . .« Zeddes Äuglein schienen durch den Zwicker hüpfen zu wollen.

Pluchin lächelte unverschämt. »Spielerei. Unsereiner hat Übung in Masken. Ich werde Sie persönlich beobachten. Und vor allem Sie darin unterweisen, auf welche Auffälligkeiten in Ihrer Umgebung Sie Magda hinzuweisen haben.«

Zedde begriff endlich. »Das ist originell.« Über seinem Näschen aber entstand gleichwohl eine düstere Grube, die von Sekunde zu Sekunde sich vertiefte. »Aber doch nicht das Gewünschte. Sie will Genie, Ruhm. Nicht bloß Gefährlichkeit. Das liegt ihr nicht.«

»Spielerei,« behauptete Pluchin kaltstirnig. »So machen wir eben Ruhm. Was ist Ruhm? Aber nur ein Kalkül. Also, es bleibt dabei.«

»Es bleibt dabei?« Zeddes Grube über dem Näschen zersprang.

Pluchin hustete despektierlich. »Selbstverständlich. Ich mache trotzdem dieselben Sachen, als würden Sie wie ein gefährlicher Verbrecher beobachtet. Sie weisen Magda auf mich hin und auf die Auffälligkeiten. Das alles sieht auch glatt aus wie Ruhm. Ich garantiere für diesen Effekt.«

»So erklären Sie es doch deutlicher!« Zedde errötete vor Besorgnis, es könnte ein Hereinfall sein.

107 Pluchin installierte sich introduktiv. »Wenn Sie mir schriftlich ein Viertel von Magdas Monatslohn für den Fall des Erfolges aussetzen.«

»Ein Viertel ist viel«, stotterte Zedde erbleichend.

»Zaudern Sie nicht!« Pluchin gröhlte frech. »Sie sind bei der Geburt Ihres jungen Ruhms dabei. Also schreiben Sie!«

»Ein Viertel ist sehr viel.« Zedde sah sich jedoch bereits von den langen Armen seiner Magda neuerdings innig umschlungen. So siegte schnöder Ruhm über gutes Geld. »Topp. Ich bin dabei. Aber so erklären Sie es doch nur genauer!«

Pluchin erklärte es. Sehr genau. So genau, daß Zedde schon an dem auf diese sonderbare Unterhaltung folgenden Abend seine Magda in das Kabarett Bonbonnière führte, woselbst er sie sogleich darauf aufmerksam machte, daß vor ihnen ein Herr säße, der allzu häufig in sein Handspiegelchen blicke. Magdalena mußte dies nach kurzer Zeit der Beobachtung zugeben und wunderte sich. Worauf Zedde betreten meinte, er müsse wohl annehmen, daß dies ihm gelte. Magdalena zuckte die Achseln und äußerte gänzlich nebenhin, das begreife sie nicht. Zedde erinnerte sie daran, mit welcher Dienstbeflissenheit der Boy in der Garderobe ihm beim Ablegen des Mantels behilflich gewesen wäre und mit welch ungewohntem Schwung der Saaldiener die Tür vor ihm aufgerissen hätte. Magdalena, welche diese Beobachtungen zwar ebenfalls gemacht zu haben sich einbildete, ohne jedoch etwas Außergewöhnliches in jenen Dienstleistungen zu erblicken, zuckte abermals, diesmal schon unwillig, die Achseln und fragte gleichgültig, was das alles denn heißen solle. Zedde hielt es für verfehlt, jetzt schon darauf zu antworten, und verwies ablenkend auf die eben beginnende Vorstellung und auf die Pause. Als diese kam, stieß er plötzlich ein verblüfftes »O!« aus. Magdalena fuhr herum. Ihre Augen fragten zornig. Zedde wies mit dem Kopf in eine bestimmte Richtung. Magdalena folgte ihr und sah an der Wand einen Herrn stehen, der mit einem Fernglas Zedde auffällig fixierte und, als er daran sich Genüge getan, einen neben ihm stehenden Herrn auf Zedde aufmerksam machte. Als auch dieser Herr sein Fernglas hob, hielt es Magdalena nicht länger. Sie ergriff Zeddes Ärmel und flüsterte erregt: »Was soll das alles?« Zedde drehte sich etliche Sekunden hin und her, um ihr schließlich gequält mitzuteilen, daß man ihn hier wohl allgemein zu kennen scheine.

»Was? Man kennt dich?« Magdalena zerrte, während ihre Stimme zwischen Zweifel und Hoffnung bebte, aufgeregt an seinem Ärmel.

108 »Ja«, sagte Zedde ernst.

Magdalena dachte zwei Minuten schweigend nach. Dann schien sie sich zu entsinnen. »Otto, bist du wirklich schon so berühmt?«

Zedde senkte die Lider und vermied es feinfühlig, zu antworten.

Magdalena verhielt sich während des folgenden Teils der Vorstellung äußerst reserviert. Zeddes vorsichtig kontrollierenden Blicken aber entging es nicht, daß sie mit einer Genugtuung rang, die immer wieder der Regung sich näherte, seine Hand zu ergreifen.

Als nun aber gar beim Verlassen des Kabaretts eine vor dem Portal wartende Dame Zeddes wegen einen Herrn anstieß und wenige Sekunden später hinter Magdalena die Worte fielen: »Das ist er ja doch!«, da riß Magdalena Zeddes Arm an sich, schleifte ihn fast über das Trottoir und beförderte ihn in eine Droschke, in der sie, kaum daß der Kutscher losgefahren war, ihren berühmten Geliebten mit Liebesbeteuerungen überhäufte und schließlich sogar, ungeachtet der grellen Straßenbeleuchtung, leidenschaftlich abküßte.

Diese Nacht wünschte Magdalena nichts Weltanschauliches zu hören, sondern begnügte sich mit den festlichen Hingerissenheiten ihres Zedde und ihrerseits mit ausgefallenen Innigkeiten. Und am folgenden Morgen erfolgte, in beinahe beschämend verlegener Weise, die Zahlung des seit vierzehn Tagen fälligen halben Monatslohnes.

Die versprochene Hälfte dieser Hälfte seinem Helfer Pluchin zu geben, dazu vermochte Zedde, dem der Erfolg, wie stets, nicht so viel wert zu sein schien, leider sich nicht zu entschließen. Leider. Denn Pluchin, welcher, einmal in Bewegung, Geschmack an seinem neuen Metier gefunden hatte, war am Abend zuvor Zedde und seiner Magda, allerdings mehr neugierig als mißtrauisch, gefolgt, hatte an deren Tür in der Spiegelgasse etwa eine Stunde lang gehorcht und war darum, als Zedde im Café Odeon behauptete, die Sache mache sich zwar wieder, sei aber durchaus noch nicht in der gewünschten Ordnung, so wütend, daß er darauf verzichtete, Zedde eine herunterzuhauen, sondern beschloß, fürchterliche Rache zu nehmen.

Er tat, als ginge er in die Telefonzelle. In Wirklichkeit aber trat er auf die Straße und resolut auf einen Polizisten zu, dem er in sich überstürzenden Worten mitteilte, im Café Odeon sitze der langgesuchte Anarchist und Schwerverbrecher Jusmalin.

Der Polizist, ohnehin ein Exoten-Fresser, fiel auf Pluchins vorzügliches Theater hinein, stürzte ins Café und schleppte Zedde, 109 der, halb besinnungslos, kaum zu gehen vermochte, zum Kommissariat auf der Schipfe.

Pluchin hatte zwar dem Polizisten versprochen, er werde sofort nachkommen, eilte aber schnurstracks in die Spiegelgasse. Er hatte die Chance, Magdalena in tiefstem Negligé und singend vorzufinden.

Magdalena erzitterte beim Anblick Pluchins, den sie nicht kannte, und als er mit fast versagender Stimme hervorstammelte, daß ihr Freund . . . er habe sie öfter mit ihm gesehen . . . Zürich sei ja nicht so groß . . . und soeben im Café Odeon . . . wie man ihn . . . verhaftet . . . – da röchelte sie: »Verhaftet . . .« und sank, sich völlig abhanden gekommen, auf das Kanapee.

Pluchin, der bei dieser Gelegenheit die Abwesenheit sämtlicher weiblicher Reize hatte konstatieren müssen, schluckte etwas nieder. Dann versicherte er wie außer sich: »Er ist sicherlich unschuldig. Beruhigen Sie sich. Man wird ihn wieder freilassen.« Er bemühte sich um sie, wobei er die unerfreulichsten Gegenden mied und nur dort massierte, wo es nicht allzu hoffnungslos war, Angenehmes zu empfinden.

Magdalena fand sich erst wieder, als diese Betätigungen nachließen. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Daß Sie es mir erspart haben, es unvorbereitet zu erfahren.« Sie entwand sich keusch seinen Händen.

Pluchin, als hätte er ihre Ohnmacht keinen Augenblick bezweifelt, lächelte teilnahmsvoll; doch auch ein wenig ratlos: er wußte nicht, wie er nun seiner wahren Absicht zuschwenken könnte.

Magdalena erhob sich geschmeichelt und lehnte sich an einen Stuhl, betörend an ihrer Warze zupfend. »Zedde ist ja ein bißchen pathologisch. Er schwatzt dann immer so konfuses Zeug. Es könnte wohl sein, daß er irgendein unüberlegtes Wort . . .«

Pluchin, perfid grinsend über diese so rasch erschienene Gelegenheit, tat einen Schritt nach vorn. »Vermutlich. Denn man sagte mir, daß die Polizei ihn bereits seit Wochen beobachtet.«

Magdalena reckte sich unnatürlich. »Ja, ich habe . . . ja, ich war . . . ja, ich hätte . . .« Bei jedem ›Ja‹ zog sie am Tischtuch und weinte mit den Lippen. Mit einem Mal aber stieß sie einen langgezogenen Ruf aus, der schauerlich durch die immer noch offen stehende Tür das dunkle Treppenhaus entlanglief. Dann brach sie auf den Stuhl nieder. »Also das war es! Das also! O, dieser gemeine Komödiant!«

»Meinen Sie seine geniale Unordnung? An die habe ich nie geglaubt. Ebenso wenig wie an seine mysteriösen Anfälle.«

110 Magdalena tobte mit den Armen. »Auch das noch! Auch das noch! Aber das Gemeinste war das gestern in der Bonbonnière!«

»Nun, wie wars?« fragte Pluchin lauernd.

Magdalena faßte sich erstaunlich schnell. »Nicht sehr berühmt.«

Pluchin, seiner Rache nunmehr gewiß, verließ unverzüglich Magdalena, welche an dieser zweideutigen Haltung erkannte, daß sie wohl daran getan hatte, ihre ärgste Schmach nicht preiszugeben. 111

 


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