Walter Serner
Der Pfiff um die Ecke
Walter Serner

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Eros vanné

Henriette war eine von jenen Frauen auf dem Montmartre, die gegen neun Uhr morgens sich auf den Heimweg machen, unterwegs aber in ein Bistro treten, um für die nachtsüber zu sehr übermüdeten Nerven in Gestalt eines Chauffeurs, eines Negers oder eines sonstwie vakanten Costaud das letzte Tonicum zu finden. Dabei liebte sie es zu erzählen, daß sie ihre Stute vor der Vorstellung mit Champagner wasche, deshalb aber diesen Wein als Drogue empfinde.

Als Béschof, ein Raté undefinierbarster Art, das gehört hatte, bestellte er eine halbe Flasche Mumm brut und reichte Henriette, die am selben Tisch ein Beefsteak aß, ein volles Glas.

Henriette griff hastig danach und goß den Inhalt in einem Zug hinunter.

Béschof, der daraufhin auch den Zirkus ernstlich bezweifelte, fragte nun, von ihrem grünlich schillernden Unterarm dazu bewogen: »Salben Sie Ihren Leib?«

»Nur vor der Vorstellung.« Henriette raubte seine Zigarillo.

»Médrano?« Béschof las eine Paranuß vom Boden auf.

Henriette, ohne auch nur eine Sekunde sich zu besinnen, nickte.

»Ich bin dort Habitué.«

»Jedenfalls in den Ställen«, meinte Henriette gelassen.

»Wo waschen Sie denn Ihre Stute, wenn nicht . . .« Béschof steckte die Paranuß in den Mund und zerbiß sie vergnügt.

Henriette untersuchte die Haltbarkeit ihres Gebisses.

Béschof verlangte es erklärlicher Weise, in ihre schwärzlich unterwühlten Augen zu sehen. Aber es glückte ihm nicht. Deshalb äußerte er herausfordernd: »Wissen Sie, daß die Araber die Pferde höher schätzen als die Frauen?«

»Das beweist noch gar nichts für Sie.« Henriette schlug ein Bein so schwungvoll über, daß dessen violette Kniescheibe oberhalb des heruntergerutschten Seidenstrumpfes sichtbar wurde, und schmiß das Ende der Zigarillo, das sich zu entblättern begann, einem Stummelsammler durchs offene Fenster an den Kopf.

Béschof dauerte die Ouvertüre bereits zu lange. Er neigte sich schnell vor, packte routiniert Henriettes Kopf und küßte sie lange und detailliert.

Als Henriette sich ihm endlich entwand, bekundete alles an ihr beträchtliches Wohlgefühl. »Hierher kommst du also auch immer erst nachher?«

112 »Nachher – das ist nicht das richtige Wort. Mein Minimum sind drei Damen. Dann erst bin ich auf der Höhe.«

»Ah . . .« Henriettes Bein fiel unter den Tisch. Ob es bloß ausgeglitten war oder hinunterreflektiert, blieb zweifelhaft. »Du suchst dir also hier eine, die es noch brauchen kann.«

»Pas la blague!« Béschof zwickte skeptisch sein Kinn. »Aber ich liebe Damen mit der äußersten Müdigkeit.«

Henriettes halb entrougte Lippen schmatzten langsam. »Spuck doch endlich diese gräßliche Nuß aus!«

»Du willst also?«

Henriette preßte ihren Leib geil an das Tischbein. »Ja. Wenn du mir glaubst, daß ich es noch . . . gut . . . sehr gut . . . brauchen kann.«

Béschof verteilte die inzwischen Purée gewordene Nuß auf der Zunge, so daß seine Worte breiig wurden. »Ich glaube es dir, wenn du es au pair machst.«

Henriette ließ das Tischbein pikiert los, kam sich nun jedoch wie verwaist vor. »Ich esse aber stets noch ein Aloyau, zwei Millefeuilles und einen Brie.«

Béschof blickte auf die Uhr über der Bar. »Bist du in einer halben Stunde damit fertig?«

»Pour sûr.« Henriette trommelte mit ihrem enormen Tourmaline an das Glas und wies, nachdem sie schleunig zu Ende getafelt hatte, den Kellner mit einer stolzen Geste an Béschof . . .

In der Rue Gabrielle zog Henriette Béschofs Hand sich auf die Brust, schob sie unters Kleid und flüsterte, dergestalt zu beseligen anhebend: »La poitrine urf, hein?«

Béschof, keinswegs dieser Auffassung, ließ es dabei bewenden, weil es ihn, solchem hingegeben, eines Gesprächs enthob. Spleenig Straßen hassend, wünschte er, rasch anzukommen.

An der Ecke der Place du Calvaire und der Rue Berthe entfernte sich Henriette mit einer schnellen Körperwendung Béschofs müde knetende Hand und schritt, seiner ganz sicher, voraus ins Haus.

Béschof lächelte ob dieser Sicherheit: es hätte nur eines kleinen Entschlusses bedurft, um ihn sofort umkehren zu lassen. Wenige Sekunden lockte ihn sogar diese Möglichkeit als neues Plaisir. Als er aber erkannte, daß er es konzipierend schon genossen hatte, folgte er Henriette nur noch vergnügter.

Im fünften Stock, gegenüber der Treppe, stand eine Tür offen, hinter der, als Béschof sich ihr näherte, Henriettes orientierende Stimme erscholl: »Passe par-là, mon coco.«

Béschof betrat ein unaufgeräumtes Zimmer, auf dessen 113 verbogenen Dielen zerbrochene Näpfe, schmierige Tücher, Haarnadeln und Papierfetzen herumlagen. An der streckenweise in langen Streifen herunterhängenden Tapete klebten zerquetschte Wanzen. Auf dem unsauberen Bett schlief eine kleine gelbliche Katze. In der Mitte auf einem frisch gestrichenen Tisch gärten die Reste einer Mahlzeit. Über dem ganzen Ensemble hing eine säuerliche Schlafstuben-Atmosphäre.

Béschof Sinne soffen selig diese Details. Mit gierig gehendem Atem schlich er zu einem Stuhl, ließ sich, vor Wonne zaghaft, nieder und betrachtete eben die schweinisch bemalte Tür, als Henriette sie mit einem Fußtritt schloß.

»Me voilà.« Henriette, die ihre Abendrobe mit einem Schlafrock vertauscht hatte, darauf unterhalb des Nabels japanische Funktionäre auf den Steinschenkeln einer Pagode sich berieten, setzte sich auf eine niedrige Chaiselongue dicht neben der Tür und strampelte mit den Füßen.

Béschof wiegte sich auf dem Stuhl. »Dieses Möbel schätze ich nicht. Leg dich ins Bett!«

Henriette schlenkerte sich hoch, ließ den Schlafrock fallen, knöpfte das bis zu den Knien reichende fleckige Hemd an den Schultern auf und streifte es mit berechneten Zwischenakten ab. Als sie nackt dastand, postierte sie die Hände mit gespreizten Fingern auf die fetten Hüften und drehte sich odaliskenhaft im Kreise. »Hein, sagt dir das etwas?«

»Du hast unterm Hals schmutzige Schatten.« Béschofs Augen umschossen kundig ihren Akt. »Neben den Brüsten auch. Und dort . . . eine wüste bläuliche Röte . . .«

Henriette stellte ihre Drehungen mit einem schnellen Blick auf ihre ungewaschenen Füße ein. »Was sind das für versaute Beobachtungen?«

»Im Gegenteil, profundeste Wahrnehmungen!« Béschof hatte Mühe, seine Hände zu beherrschen. »Das linke Knie ist arg zerschlagen. Heb das rechte Bein!«

»Quelle pitié!« Henriette tat es aber doch.

Béschof hustete, heiser vor Wollust. »Komm her!«

Henriette trippelte auf ihn zu.

Béschof schlang sie sich mit beiden Armen zwischen die Knie. Seine Nase wanderte, nacktselig schnüffelnd, über Henriettes wogendes Fleisch, während deren Rechte seinen Hals umspielte und ihre Linke den eigenen.

»Da . . . da . . . da . . .« Béschofs Hände waren außer sich, tollten über Haut und Wülste. Es schien, als sammelten sie 114 habsüchtig etwas ein und hielten es immer wieder der Nase hin. »Wie eine Mischung von Heu, Safran und Moder.«

»Warum nicht gar Teer und Schlamm, hein?« Henriette gluckste unbestimmt.

Vor Béschof dampfte alles. Er schwamm. »Dich müßte man mit Champagner waschen.«

Henriette fing an, sich verhöhnt vorzukommen. Sie stieß Béschof zurück und hüpfte zur Chaiselongue.

Béschof rächte sich sofort. »Von einer Salbe keine Spur.«

»Prahler!« Henriette gelang es zu rülpsen.

»Schade, daß deine eklatanten Fähigkeiten unter dem Mangel an Regie leiden.«

»Du hast weder Fähigkeiten noch . . .«

»Talg!«

»Was . . .?«

»Bade wieder einmal!«

Henriette stürzte wie tobsüchtig auf ihn zu. Ihre Hand traf aber nur in die Luft, da Béschof rechtzeitig entwichen war. Von hinten her packte er ihre schwappigen Arme und schlug seine Zähne ihr zischend zwischen die Schultern.

Henriette schleuderte sich geschickt zu Boden, derart sich befreiend. »Assez!« schrie sie aufspringend. Das rote Mal seiner Zähne leuchtete auf ihrem Nacken.

Béschof fühlte, daß er, wollte er nicht zu kurz kommen, sofort einlenken mußte. »Weißt du übrigens schon . . .«

»Ich will nichts wissen«, heulte Henriette und fuchtelte mit ihren Fäusten.

» . . . daß Clemenceau sich heute früh um sechs erschossen hat?«

Henriette blieb sekundenlang ohne Atem. Dann aber krümmte sie sich vor Lachen. Der ganze Bauch war eine Falte.

Woraufhin Béschof mit rekordähnlicher Geschwindigkeit sich auszukleiden begann.

Und während Henriette noch lachend sich hin und her bog, griff Béschof nach ihren Händen und zog die über seine stürmische Nacktheit erregt Kreischende bettwärts. Beide achteten nicht der kleinen Katze, die fauchend über sie hinwegsprang und auf einer Stuhllehne einen zornigen Buckel machte.

Béschof proponierte sofort sehr diffizile Nuancen, so daß Henriette, von so viel Kenntnissen und Elan gleicherweise impressioniert, ihr Allerletztes hergab, die erlesensten Erschöpfungen genießend . . .

115 Beide waren eben im Begriffe einzuschlafen, als an der Tür gepocht wurde.

Henriette fuhr hoch.

»Wer ist da?«

»So mach doch auf!« krächzte eine häßliche Männerstimme.

»Ah, der von der Polizei.« Henriette ließ sich aus dem Bett gleiten. »Ich muß ihn hereinlassen. Steh auf und setz dich hierher! Es dauert nicht lang.« Sie warf einen Polster hinters Bett, schob, nachdem Béschof leise fluchend dahin gefolgt war, einen Stuhl davor und verhängte ihn mit Kleidungsstücken. Dann öffnete sie.

»Warum läßt du mich so lange warten?«

»Keine Litanei!« befahl Henriette gelassen. »Sei froh, daß ich dich nicht hinauspfeffere.« Da diese Behandlung zu den Bedürfnissen des Klienten gehörte, fügte sie hinzu:

»Ich habe heute keine Minute zu verschenken, du Drecksau!«

»La ferme! Ich lasse mich nicht mehr abspeisen. Jetzt mußt du das Ganze machen.«

Henriette, die vor Schläfrigkeit taumelte, hätte sich am liebsten entrüstet. Doch dazu fehlten ihr die Argumente. Zur Zustimmung aber die Gewißheit der – Möglichkeit.

Der Klient erriet, was in ihr vorging. Seine Hand verließ die Hosentasche und stellte ein Fläschchen, auf dem ›Purgativ Pink‹ zu lesen war, hämisch vor sie hin auf den Tisch.

Béschof vernahm die Vorbereitungen, die ihn höchst merkwürdig däuchten. Und plötzlich hörte er die häßliche Männerstimme wieder: »Ah und gestern hab ich die Anezka Tritt gehabt. Weißt du, das ist die kleine Polin, die wir vor ein paar Tagen bei ›Peignen‹ beobachteten, Boulevard de Belleville . . . Noch, noch, Henriette . . . Jack hat sie aufgespürt, als er die alte Flouche abholte. Anezka wollte aus dem Klosettfenster springen. Das war ein guter Fang. Nihilistin und Hure und Kupplerin und weiß der Kuckuck was noch alles in einer Person. In der Präfektur schimpfte sie herrlich. Da kannst du mit deiner Gueulerie einpacken. Sogar Lépine staunte. Ich war direkt ergriffen. Aber dann sprang sie doch aus dem Fenster. Eine tolle Katze . . . Bitte hierher, Henriette, hierher . . . War sofort tot. Aber glücklicherweise habe ich meine Beziehungen zum Lariboisière. Gestern nacht war ich dort. Und so bekam ich mein Täubchen doch noch. Durch den Leichendiener. Und noch was ganz Besonderes . . . Ah, so ists recht, Riette, Riette . . . So konnte ich sie ausnehmen. Mit diesen Händen da. Mit diesen Fingern. Und haute den ganzen Salat in die Pfannen. Herrlich! Ah, es war . . . Aber nachher hatte ich entsetzliche 116 Angst wegen des Leichengifts, wie der Diener sagte. Ich nahm sofort ein Sublimatbad. Zwanzig Francs! Billiger tat ers nicht, der alte Falot. Schließlich, die Sache war es wert. Es war ganz herrlich!«

»Du Dreckspitzel!« heulte Henriette, wirklich angewidert.

Béschof, der atemlos gelauscht hatte, überwand sich erst jetzt, so sehr hatte seine eigene Phantasie ihn gefesselt: er hob den Kopf und sah . . .

Dann sank er wie benommen zurück, unfähig, etwas zu denken oder zu tun. Es war ihm, als wäre bereits viel Zeit vergangen, als er miteins Henriettes Gesicht über sich erblickte.

»Das Schwein ist schon fort. Kannst aufstehen.«

Béschof kroch todmüde hervor. Alles roch in übelster Weise. Sein Kopf drehte sich. Er zog sich hastig und unbeholfen an und vergaß, als er aus der Tür eilte, zu grüßen.

Henriette blickte ihm verächtlich nach. Dann machte sie das Fenster weit auf und nahm ihre schwierige Coiffure vorsichtig auseinander. 117

 


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