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*

Sie sprachen noch einige Worte, sahen ins Wetter, standen ein Weilchen schweigend am Wagen.

Dann stieg der Nachbar auf.

Meister Freilich ging in die Schmiede zurück.

Der Schlag seines Hammers klang kurz und hart über die Strasse.

Die Stadt in der Ebene ist von Blumenfeldern umgeben. Im Sommer ist es eine grosse Pracht. Jetzt im späten Herbst blühten noch Georginen.

Die Gärtner fuhren mit Eselsfuhrwerk über die Felder. Überall standen leere Körbe.

Weiterhin arbeitete eine Schar Mädchen, sang und lachte.

Der Planwagen fuhr über die Brücke, unter der nun breit und behäbig die wilde Hanne hinfliesst. Sie hat hier in der Stadt ihren Namen verloren, sie führt einen fremden, wie er auch auf den grossen Landkarten verzeichnet steht.

Nein, hier heisst sie nicht mehr die wilde Hanne.

Der Planwagen ist in die Strasse eingebogen, die nach dem Bahnhof führt.

Auf einem geräumigen Platz ist Wochenmarkt. Nun, um die Mittagsstunde sind die Stände schon abgegrast. Es liegt viel Papier und Gerümpel auf dem Pflaster.

Dann taucht der Planwagen unter in eine grosse Anzahl anderer Wagen. Sie gehören den Marktleuten. Um diese Stunde bilden sie eine Gasse am Rande des Platzes.

Da hindurch fährt der Nachbar.

Dann hat der Planwagen wieder die Strasse frei, zieht ruhig und bedächtig dahin.

Das Pferd geht mit grossem Gleichmut.

Wer dem Wagen nachsieht, sagt wohl: »Das ist ein behagliches Leben, so den Tag über im warmen Wagen. Ein Händler ist es aus den Bergen. Er wird Leinewand verkaufen. Ja, der Wagen hat einen grünen Plan. Es ist ein Leinenwarenhändler.«

Wenn der Plan blau wäre, würde er Holzwaren verkaufen. So ist alles eingeteilt und alles hat seine Ordnung.

Mancher wünscht wohl, auf so einem Wagen zu sitzen und jetzt an diesem schönen Tage durch die Sonne zu fahren.

Dann, zum Bahnhof hin, nimmt der Verkehr zu. Viele Menschen kommen und gehen, tragen Gepäckstücke, Koffer, Blumen, sind lustig, sind traurig, gehen gleichgültig ihres Weges. Manche stehen unschlüssig am Portal.

Der Nachbar sieht ein wenig erschrocken nach der Uhr.

Nein, es ist noch Zeit.

Er lässt das Pferd etwas abseits von dem Gebäude halten, hängt ihm den Futtertopf um, löst den Zugriemen.

Er steht dann eine Weile unentschlossen neben dem Wagen.

Ein Gepäckträger, der nichts zu tun hat, beginnt ein kleines Gespräch. Dann kommt ein Bahnschaffner vorüber und der Mann wendet sich an diesen. Er beachtet den Nachbar nicht weiter.

In der Schalterhalle geht es hastig und unfreundlich zu. Die Menschen haben keine Zeit. Sie lösen Karten. Sie schleppen ihr Gepäck. Der Zug muss bald einlaufen.

An der Sperre steht der Nachbar eingekeilt zwischen Missgestimmten. Eine Frau hat ihre Karte verloren. Sie muss zurück. Sie weint.

Dann steigt der Nachbar eine Anzahl Stufen hinunter, ist zu langsam dabei, wird angerempelt und stolpert weiter.

Er geht durch den halbdunklen Tunnel, steigt wieder ans Licht.

Er steht auf dem Bahnsteig, blickt die Geleise entlang. Sie sind blank gefahren von den vielen Rädern. Wo sie scheinbar ineinander laufen, blinken Signale.

Es ist nicht mehr viel Zeit. Ein Mann mit einer Klingel geht schon den Bahnsteig entlang und kündigt den Zug an.

Dann ist, weit fort noch, eine kleine weisse Wolke. Es ist Dampf, Rauch. Die Wolke wird grösser, schwebt näher. Der Bug der schwarzen Lokomotive wird unter ihr sichtbar. Der Zug rollt heran.

Die Menschen drängen nach vorn. Eine Stimme ruft drohend:

»Zurücktreten!«

Der Nachbar ist weit zurückgetreten. Das alles verwirrt ihn. Er steht weit hinten.

Dann ist das gewaltige Halten des Zuges.

Der Nachbar ist plötzlich voll Angst. Er möchte sich verstecken. Er schiebt die Hand über die Augen hin. Hinter seiner Stirne, widerhallend, ist noch das Geräusch der Räder.

Er blickt starr in das Durcheinander der vielen Menschen.

Der Zug hat nur wenige Minuten Aufenthalt. Die Abteile leeren sich umständlich und füllen eilig sich wieder.

Es ist viel Lärm. Viele Rufe, dann das Zischen, Prusten, es dröhnt in den Ohren. Der Zug verlässt die Halle.

Ein Menschenstrom flutet langsam zur Treppe, verschwindet mählig in dem halbdunklen Gang.

Der Nachbar hat sich gefasst. Er ist einige Schritte vorgegangen. Er kann nun den Bahnsteig übersehen.

Eine Frau steht noch da. Sie hat einen Koffer neben sich gestellt. Sie blickt sich um.

Der Nachbar setzt sich in Bewegung. Er atmet schwer. Er ist auf einmal wie zerschlagen an allen Gliedern. Er geht mühsam.

Die Frau hat sich an einen Bahnbeamten gewandt. Sie fragt etwas. Der Beamte zeigt auf die Türe des Wartesaals.

Der Nachbar ist jetzt dicht herangekommen. Er sieht die Frau an, er senkt den Blick, geht vorüber, zaudert, kehrt um und nähert sich wieder.

Die Frau hat den Koffer aufgehoben. Er ist nicht schwer. Sie hat keine Mühe damit. Sie geht auf den Wartesaal zu.

Ihr Gang erscheint etwas schwerfällig. Es ist ein derber Gang, wie Landfrauen ihn haben.

Sie trägt einen dunklen Mantel.

Der Nachbar folgt ihr.

Als sie die Türe zum Wartesaal öffnen will, ist er dicht an ihrer Seite. Sie sehen sich an.

Es ist nichts Besonderes an ihrem Gesicht. Es ist nicht schön, es ist nicht hässlich. Es ist eines der unzähligen Gesichter, die täglich aneinander vorübergehen.

Aber für den Nachbar ist es herausgehoben aus aller Umwelt. Es ist nichts da für ihn als dieses Gesicht.

Er möchte fragen: »Was hast du? Du siehst traurig aus. Du kannst mir alles erzählen.«

Er möchte, dass ein Lächeln über dieses Gesicht ginge, dass es erkennend sich zu ihm beugte.

Er möchte wohl, dass diese Lippen sagten: »Da bist du.«

Aber der Mund bleib stumm, und es trifft ihn nur ein fremder Blick.

Er greift verlegen an die Mütze, und er hört verwundert, wie seine Stimme ihren Namen nennt.

Sie sieht ihn bestürzt an.

Er nickt. Er sagt: »Die Grossmutter schickt mich. Ich bin der Handelsmann. Ich habe in der Stadt zu tun.«

Die Frau hat ihn prüfend angeblickt. Sie hat Vertrauen gefasst. Sie hört ihn an.

Ja, sie ist froh, dass sie nun einen Bekannten in der fremden Stadt hat.

Sie muss mehrere Stunden warten. Es geht erst am Abend ein Zug nach Juliusbad. Sie muss auch noch einmal umsteigen in Erwinsrode. Ach, sie ist ja ganz fremd hier.

Er sagt: »Ich habe meinen Wagen draussen. Man kann inzwischen zu Hause sein.«

Die Frau überlegt.

Der Nachbar sagt: »Es wäre eine schöne Fahrt durch die Berge. Man sieht vom Wagen mehr als vom Zug. Es ist auch gutes Wetter.«

Die Frau bekommt Lust zu der Fahrt.

»Die Bahn macht müde«, sagt sie.

Der Nachbar hat ihren Koffer genommen. Sie gehen zum Wagen.

»Es ist ein Planwagen«, sagt er entschuldigend.

Er legt alle Decken, die er im Wagen hat, auf den Sitz, der für sie bestimmt ist.

»So ist es bequemer«, sagt er, und wartet, dass die Frau aufsteigt.

Sie zögert ein bisschen, sieht den Nachbar noch einmal überlegend an, dann beginnt sie auf den Wagen zu klettern. Er ist ihr behilflich. Sie lächelt befangen.

Ja, nun lächelt sie.

Sie hat gute Augen, denkt der Nachbar, und sein Herz ist ganz ruhig, als er nun neben ihr sitzt.

Sie fahren langsam zur Stadt hinaus.

Sie haben das freie Land vor sich, in einiger Entfernung die Berge.

Er zeigt mit der Peitsche auf verstreute Ortschaften und nennt ihre Namen.

Er sagt: »Da hinten liegt Juliusbad.«

Nein, es ist von hier aus nicht zu sehen. Der Wald ist dazwischen.

Sie fahren durch ein kleines Dorf. Es ist Sonnabend, und überall werden die Höfe gesäubert.

Morgen ist der erquickende Tag der Ruhe.

Die Frau ist nach all den Aufregungen der Reise in einen leichten Schlaf gefallen.

Sie wacht auf, weil ein Bauer mit lauter Stimme dem Nachbar ein gutgemeintes Wort zuruft.

Sie wacht auf und entschuldigt sich. Sie sagt:

»Ich bin schon viele Stunden unterwegs.«

Ja, das ist wohl ein weiter Weg von Thorde bis Juliusbad.

Der Nachbar weiss Bescheid. Die Grossmutter hätte ihm alles berichtet.

»Wir kennen uns schon lange«, sagt er, und er setzt nachdenklich hinzu: »Wir sind gut Freund.«

Es sind nicht allein die Anstrengungen der Bahnfahrt.

Es waren auch sonst noch viel Aufregungen, gesteht die Frau.

Sie hat in der letzten Zeit viel durchgemacht. Sie hat kurzerhand den Entschluss gefasst, sich zu der Grossmutter zu flüchten. Sie hat alle Entscheidungen selber treffen müssen. Ach, sie hatte keinen Menschen, zu dem sie sich aussprechen konnte.

Als sie in Thorde abgefahren ist, wusste sie noch, was sie wollte. Aber die eintönige Fahrt hat sie müde gemacht. Ihre Hoffnung ist ausgelöscht, ihre Kraft gelähmt. Sie denkt immer nur: fremdes Land, fremde Menschen. Wer weiss, was die Zukunft bringt.

Sie sagt zu dem Nachbar:

»Ich fürchte mich etwas. Ich habe die Grossmutter jahrelang nicht gesehen.«

Sie zögert. Sie gesteht, dass sie die Grossmutter seit ihrer Kindheit nicht wiedergesehen hat.

Sie sagt leise:

»Ich weiss nicht einmal, ob wir uns erkennen.«

Ach, das Herz des Nachbar ist nicht mehr ruhig. Er fühlt seinen dumpfen Schlag. Seine Stimme ist nicht mehr fest. Sie hat einen fremden brüchigen Klang.

Warum sie denn zur Grossmutter gehe, fragt er, und erstarrt, weil er seine Stimme nicht erkennt.

Die Frau seufzt tief, wie ein Lastträger, wenn er eine allzu schwere Last niederstellt.

Sie sitzt weich in Decken gehüllt. Sie sitzt neben dem Mann, der von der Grossmutter kommt. Sie weiss nichts von ihm. Sie kennt seinen Namen nicht. Der Bauer, der ihn ansprach, hat ›Nachbar‹ zu ihm gesagt.

Es genügt ihr auch, dass sie Vertrauen zu ihm hat. Ja, vom ersten Augenblick an hat sie ihm Vertrauen geschenkt.

Er hat gute Augen, denkt sie. Sie fühlt sich geborgen in seiner Nähe.

Lange schon hat sie sich nach einem Menschen gesehnt, dem sie ihr Herz ausschütten konnte.

Nun darf sie ihre Last einmal abstellen. Sie seufzt tief.

Sie beginnt zu erzählen. Sie spricht so, als müsste dieser fremde Mann mit allem vertraut sein. Sie scheut sich nicht, das Letzte auszusprechen.

Nein, sie wälzt alles von ihrem Herzen.

Da ist das Logierhaus in Thorde. Es gehörte dem Vater. Er war Seefahrer und ist seit langen Jahren verschollen.

Es ist kein Zweifel mehr, dass er ertrunken ist.

Die Mutter hätte wieder heiraten können. Der Kompagnon ihres Vaters, ein Herr Daudat, trug ihr seine Hand an, aber sie hat es ausgeschlagen, denn sie wollte ihren Mann nicht totschreiben lassen.

Darauf wäre Herr Daudat ärgerlich geworden, hätte die Mamsell geheiratet und sein Geld aus dem Logierhaus gezogen.

Da hätten sie nun da gesessen, und es wäre schwer gewesen für die Mutter, den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Sie war immer dafür, dass die Tochter frühzeitig einen Mann bekäme, denn sie glaubte wohl, dass dieser ihr manche Sorge um das Logierhaus abnehmen könnte. Eines Tages sei dann auch Otto gekommen, der Sohn des Friseurs Moeb. Er war Kellner und hatte ein paar Jahre lang auf Schiffen serviert.

Sie wäre damals noch ein junges Ding gewesen, erzählte die Frau, und er hätte mit seinen Allüren Eindruck auf sie gemacht. Die Mutter war überzeugt, dass es keinen besseren Geschäftsführer als ihn für das Logierhaus geben könnte.

Da hätten sie dann geheiratet, und zuerst wäre alles auch gut und schön gewesen.

Aber in Thorde gäbe es ein altes Weib. Das hiesse Bieke. Ihre Tochter wäre mit einem Lehrer in der Stadt verheiratet. Aber sie kümmerte sich nicht mehr viel um die Mutter. Sie wollte wohl ihr glückliches Leben nicht durch Zänkerei sich vergällen lassen.

Die alte Bieke musste mit ihrer Missgunst immer allein bleiben, und darum verfiel sie auf allerlei Ränke.

So lange Boom Garde noch lebte – das wäre ein alter Mann mit einem Holzbein gewesen –, sei es noch gegangen. Er hätte Bieke sogar die letzte Zeit in sein Haus genommen, das er von einer Frau Gloddes geerbt hatte. Aber dann wäre er leider gestorben.

Bieke ist dann in dem Haus geblieben und hat die Fremdenpension, die Frau Gloddes eingerichtet hatte, weitergeführt.

Da hat sie dann immer schon am Dampfer die Gäste abgefangen. Das gab zwar viel Ärger, aber es sei nicht das Schlimmste gewesen.

Viel schlimmer war, dass sie Otto aufhetzte. Wo sie ihn ergattern konnte, hielt sie ihn an und gab ihm spitze Worte, dass er sich als Geschäftsführer abspeisen liesse, wo er doch eigentlich der Besitzer sein könnte.

Mit der Zeit hätten solche Sticheleien ihre Wirkung nicht verfehlt.

Er sei aber auf Widerstand gestossen, denn die Mutter wollte ihre Rechte nicht aus der Hand geben. Auch sollte das Logierhaus einmal für die Tochter bestimmt sein, man kann ja nie wissen, wie eine Ehe ausgeht.

Nein, anfangs hatte Otto kein Glück gehabt. Er wurde misslaunig und zänkisch, und die Ehe litt darunter.

Dann hätte er sich eine Schwäche der Mutter zunutze gemacht. ›Wir wollen uns wieder vertragen‹, hat er gesagt, ›es mag alles so bleiben, wie es ist.‹

Darauf hätten sie das neue gute Einvernehmen tüchtig gefeiert. Otto hätte Musik bestellt, und die Nacht über sei getanzt und getrunken worden.

Seit des Vaters Weggang wäre zum ersten Male wieder so buntes Leben gewesen. Ja, es waren wieder Feste gefeiert worden im Logierhaus. Otto sorgte dafür, dass die Musik nicht aufhörte zu spielen. Er sorgte dafür, dass die Gläser nie leer wurden.

Die Gäste, die in all den Jahren sich in Herrn Daudats Tanzzelt amüsiert hätten, wären nun wieder in das Logierhaus gekommen.

An einem solchen Abende sei es dann Otto gelungen, die Mutter zu beschwatzen.

Sie habe ihn zum Teilhaber genommen und vor gut einem Jahre ihm dann das Logierhaus überschrieben und für sich das Altenteil ausbedungen.

Ja, das hätte endlich Otto erreicht.

Nun brauchte er nicht mehr den Duckmäuser zu spielen. Er konnte als Herr auftreten. Er schaffte sich auch ein Mädchen an, ein junges Ding, die Tochter von Herrn Daudat und der Mamsell.

Er fing an, seine Frau zu drangsalieren. Ja, er wusste schon, was er wollte. Er ging glatt auf sein Ziel los.

Er erreichte, dass Dorothee sich scheiden liess, und es steht nun für ihn nichts mehr im Wege, das junge Ding zu heiraten.

Wie früher läuft Herr Daudat jetzt wieder in dem Logierhaus ein und aus, und die Mutter sieht das alles mit an. Ja, die gibt der Tochter die Schuld, dass sie es nicht verstanden hätte, den glatten Ehemann an sich zu fesseln.

»Ich bin fortgefahren. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben«, sagt Dorothee.

Sie ist voller Vorwürfe.

»Sie hat mich um alles gebracht«, klagt sie. »Warum hat sie sich nicht in Zaum halten können?« Ach, man hätte sie sehen müssen, wie sie betrunken im Logierhaus gelegen hätte. Otto, und immer nur Otto.

»Ich habe mich geschämt«, sagt Dorothee.

Sie beginnt zu weinen. Sie weint haltlos.

»Ich fahre auch nicht wieder zurück«, jammert sie.

Tränenüberströmt blickt sie den Nachbar an. Sie hofft, dass er ein helfendes. Wort findet.

Warum sagt er gar nichts? Warum antwortet er nicht? Warum lässt er sich alles erzählen?

Sollte er gar kein Herz haben?

Ja, er muss ohne Gefühl sein. Wie könnte er sonst so da sitzen, das Gesicht leer, die Augen starr auf den Rücken des Pferdes, ohne Wort, ohne ein einziges Wort für die schluchzende Frau.

Rührt ihn denn gar nichts?

An einer Biegung springt ein Reh auf.

Es ist das erste Reh, das die Frau in ihrem Leben sieht. Sie blickt ihm atemlos nach.

Ein Reh ist es, das Tier aus dem Märchen. Weihnachts steht es im Schnee vor dem erleuchteten Fenster des Försterhauses. So kennt es Dorothee aus dem Kinderbuch.

Sie sagt wie aus einer Erinnerung:

»Mein Vater hätte nicht sterben sollen.«

Ja, er ist fortgegangen, als sie vier Jahre alt war. Sie weiss nicht einmal, wie er aussah.

Wenn er leben geblieben wäre, würde alles anders geworden sein.

»Ich bin fertig mit dem Leben«, sagt sie leise.

Der Nachbar fährt mit dem Ärmel über die Augen. Er wagt nicht, seine Blicke zur Seite zu heben. Nein, er wagt nicht, die Frau anzusehen.

Er denkt: Was habe ich damals geschrieben? Ihr braucht mich nicht, ich fahre wieder auf See.

Ach, wie sehr hätten sie ihn gebraucht.

Der Stamm war gefällt, nun waren die Äste verdorben.

Wo war die Wurzel?

Tot, verschüttet lag sie irgendwo. Geröll darüber, Erde und Steine, ach, und keiner wusste ihre Stätte.

Ich wollte eine Brücke bauen, denkt der Nachbar. Ich glaubte, dass Melitta darüber schreiten könnte. Ich wäre glücklich gewesen, wenn es diesen Weg zueinander gegeben hätte.

Aber nun ist die Tochter da. Sie klagt diese Mutter an. Oh, wenn man ihr zustimmen würde, könnte sie sich hinreissen lassen, diese Mutter zu verfluchen.

»Was habe ich von meinem Leben gehabt?« sagt Dorothee. »Ich habe meinen Mann geliebt. Ja, anfangs habe ich ihn geliebt. Ich habe keinen Halt gehabt an meiner Mutter. Nachher dachte sie nur an sich. Sie ist schuld, dass unsere Ehe entzweiging.«

Jeder, der klagt, ist ungerecht.

Ja, Dorothee war ungerecht zu Melitta.

Ach, wie ungerecht sind wir alle!

Auch ich bin es gewesen, denkt der Nachbar, nein, ich habe kein Recht, ihr Vorhaltungen zu machen. Sie hat einen grossen Schmerz. Ich weiss nicht, was ich ihr sagen soll.

Wie strahlend könnte eine Heimkehr sein. Man ist viele Jahre fort gewesen, weit fort. Die man zurückliess, waren in Sorge und Trauer all die Zeit. Was sie vollbrachten, taten sie in seinem Gedächtnis. Alles war vorbereitet auf seine Rückkehr. Nun kehrt der Verschollene heim. Es sind die alten Gesichter. Sie sind älter geworden, aber sie sind lieber geworden. Die Zeit, die dazwischen lag, wird wie ein Stein weggerollt. Es ist alles wie einst.

Ja, solche Heimkehr könnte wohl strahlend sein.

Hier aber ist alles aufgewühlt. Das Haus ist zerbrochen, es steht keiner an der Pforte, der einem entgegenblickt. Das Schiff ist versunken, sein Segel treibt zerstört auf den Wellen. Der Vogel, der darüber kreist, krächzt ein trostloses Lied.

Nein, da ist keine Brücke zu schlagen.

Eine solche Heimkehr wäre ein Entsetzen. Ach, sie würde das Letzte im Herzen zerreissen.

Was kann man tun? Nichts weiter, als die zertrümmerten Steine zusammensuchen und notdürftig ein paar Mauern errichten, die kein Haus mehr sind und kein Heim.

Ich hoffte, Melitta wiederzufinden. Ja, der Kantor hat wohl recht gehabt. Die Liebe ist alt wie die Welt.

Aber die Tochter, die neben ihm auf dem Wagen sitzt, klagt diese Liebe an. Sie klagt Melitta an. Sie hat mein Leben zerstört, sagt sie. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben.

»Ich fürchte mich auch vor der Grossmutter«, sagt sie. »Ich möchte am liebsten weit fort, irgendwohin, keinen hören und keinen sehen. Ja, am liebsten möchte ich wohl ein neues Leben anfangen.«

Das neue Leben?

Der Nachbar schluchzt plötzlich. Er muss das Taschentuch herausziehen, er schneuzt sich, er muss auf einmal seine Tränen trocknen.

Die Frau an seiner Seite beugt sich zu ihm. Sie fühlt seine Ergriffenheit. Ja, dieser Nachbar, ach, er hat ein Herz. Da ist zum ersten Male ein Mensch, der über sie weint.

Sie beugt sich zu ihm und streichelt seine Hand.

Der dumpfe Schlag seines Herzens wird linder. Die Stirne wird sanft. Von allen Seiten strömt eine grosse Ruhe.

Ach, es ist die Hand seines Kindes, die ihn streichelt.

In diesen Augenblicken versinkt sein Weg. Nein, Melitta wird nicht über die Brücke kommen. Sie wird zurückbleiben in ihrer Dunkelheit. Er wird sie nicht rufen.

Ja, in diesen Augenblicken versinkt sein Weg. Er wird zurückkehren in die Dunkelheit. Es wird keine Stimme sein, die nach ihm ruft.

Ja, er ist zum anderen Male gestorben.

Wieder hat er seinen Namen verloren. Er wird nichts sein als der Nachbar.

Und er rafft sich auf und er sagt zu Dorothee:

»Es geht alles vorüber. Das eine Leben geht hin und das andere. Man soll nichts aufhalten. Aber man soll sich nicht fortschwemmen lassen. Es hat alles seine Zeit. Was leben will, soll leben.«

Dorothee hielt noch immer seine Hand. Sie drückte sie und sagte zaghaft: »Ach ja, Nachbar, ich will so gerne leben.«


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