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Vom Schloss führte ein schmaler Pfad mit Weissdornhecken und buschigen Birken bis dicht an den reichen Winkel. Einer der Grafen von Erwinsrode hatte ihn anlegen lassen, um nicht immer in Pracht und Gloria auf der breiten Strasse in das Städtchen einreiten zu müssen. Auf diesem Fusssteig konnte er, sooft es ihm beliebte, unbeachtet, im unscheinbaren Jägermantel, seine Schritte in die Gasse lenken und in dem alten Bäckerhaus verschwinden, vor dem öfters in der Dämmerung ein Reisewagen hielt, eine zierliche Person absetzte und nach einigen Tagen mit dieser lächelnden Freundlichkeit wieder davonrumpelte.

Solcher Begebenheiten wegen nannte man diesen Steig den Grafenpfad, und da die Liebe, dem Himmel sei Preis, durch ein hochherrliches Dekret noch nicht verboten werden konnte, pflegte an Frühlingsabenden und in Sommernächten auf diesem Grafenpfad vielerlei heimliches Getuschel zu sein.

Das alte Bäckerhaus, das jetzt trübselig in morschen Balken hing, denn die gräflichen Liebestaler hatten andere längst in alle Welt getragen – und der arm Mann, der nun in dem zersprungenen Backofen im Hausflur verdrossen die langen Brote sich bräunen sah, hörte in der Zugluft nicht mehr den leisesten Widerhall eiliger süsser Schwüre – dieses Bäckerhaus, eine Niederlage verstorbener Liebe, war der grämliche Freund, an dessen Seite Alines kleines schmuckes Haus sich in Positur setzte.

Aline hatte am Morgen ihren Bruder mit einer Bestellung zu Tante Riekchen geschickt. Da war er vorderhand gut aufgehoben.

Sie selbst fuhrwerkte in aller Herrgottsfrühe mit Schrubber und Besen durch die Stuben und nicht dem winzigsten Staubkorn gelang es, sein jämmerliches Dasein vor ihren flinken Augen zu verbergen. Sie hatte die Grude aufgeschüttet und auf der verhaltenen Glut stand die braune Kaffeekanne bereit, sie hatte Kartoffeln gerieben, Zwiebeln und Fett daran getan und die knusprigsten Puffer dufteten bald durch das Haus.

Sie hatte sich zurechtgemacht, als müssten die Sonntagsglocken gleich zu läuten beginnen, und als sie nun zum abersten Male aus dem Fenster blickte, sah sie den Nachbarn, einen Packen unter dem Arm, den Grafensteig hinunterkommen.

Aline stand hinter den weissen Gardinen und liess kein Auge von dem Näherkommenden. Sie hätte wohl gewünscht, dass er schneller ausschritte, aber sie musste sich eingestehen, dass ein Mann, der mit einem ernsten Entschluss umgeht, den Weg nicht hinter sich bringen kann wie ein unbeschwerter Liebhaber. Dennoch glaubte sie, dass er sich getrost ein wenig mehr beeilen könnte, und dass es nicht nottäte, des öfteren stehen zu bleiben, wenn das leckere Kartoffelgebäck auf der Pfanne schon bruzzelte.

Ja, der Nachbar ging langsam.

Die Tage sind vollgepackt mit Erinnerungen. Er wohnt mit Stiwenhack Tür an Tür, und schon der Morgengruss des Malers leitet die Träume, die Pagel beim Erwachen abschütteln will, in das geschäftige Leben des Tages hinüber. Dieser Gruss, mit schallender Stimme vorgetragen, ist die Fanfare für neue vorwurfsvolle Gedanken.

Pagel hatte überlegt, ob es nicht besser wäre, Stiwenhack abzuschütteln, in die Krone überzusiedeln oder Erwinsrode für dieses Mal zu verlassen. Aber während er versuchte, mit einem Schritt davonzukommen, führten zweie ihn tiefer zurück in den verwirrenden Kreis, der, nun einmal hervorgezaubert, seinen unruhvollen Schein über alles Fühlen und Trachten hinhuschen liess, dem Licht eines Leuchtturms vergleichbar. Pagels Schiff aber schwebte, magisch angezogen, zwischen See und Himmel, zu hoch, um mit starkem Entschluss sich die Wellen dienstbar machen zu können, zu niedrig, um sorglos in der Gemeinschaft luftiger Wolken dahinzusegeln.

Ja, der Nachbar ging langsam.

Er trägt einen Packen unter dem Arm, in ein grünes Plantuch geschlagen. Zuweilen bleibt er stehen. Wo das Birkengebüsch weiter auseinandertritt, verweilt er länger.

Dicht unter ihm ist das rote Mansardendach der Kirche, der schwerfällige Turm, die graue Glocke hinter dem offenen Schalloch. Es ist keine demütige Kirche. Über dem Portal klagt in Stein gehauen eine gramvolle Frau den unendlichen Himmel an. Sie hält einen zerbrochenen Leichnam auf den mageren Knien. Das ist der Heiland.

Ein matter verwehrender Schleier scheint über das Städtchen gebreitet. Pagel fühlt, wie dieser Schleier emporsteigt, sich verdichtet und nun eine Träne ihm das Auge füllt.

Er beeilt sich nicht, die Träne fortzuwischen.

Ach, in einem Kinderlachen wurde sie geboren.

Als er aus dem Schlosstore trat, war ein kleines Mädchen auf ihn zugelaufen, hatte mit glucksender Fröhlichkeit seine Beine umklammert und ihn aus rundem Mäulchen in ihrer Sprache begrüsst.

Die ältere Schwester rief es erschrocken zurück.

Pagel hatte sich zu dem Kind gebückt.

»Wie heisst du?«

Aber ein Kauderwelsch war die Antwort gewesen.

Die Schwester war hinzugekommen, nahm die Kleine an der Hand und sagte verlegen: »Komm, Wieschen!«

Die Kleine sträubte sich mit Händen und Füssen. Sie machte sich frei und zerrte Pagel am Rock. Sie wies in die Büsche und wollte ihn mitziehen.

Ein Reh hätte da gestanden, erklärte die Ältere, aber nun sei es schon fortgelaufen.

»Du heisst also Wieschen?« hatte Pagel gefragt.

Die Kleine plapperte ihren Namen nach, zeigte auf die Schwester und radebrechte: »Olch.«

»Olga«, verbesserte die Ältere.

Sie ermahnte Wieschen artig zu sein und mitzukommen, doch die Kleine verspürte wenig Lust.

Die Schwester trug einen verschlossenen Korb am Arm. Sie wollte dem Vater, der bei einem Köhler im Walde half und die Nacht als Wache am glimmenden Meiler verbracht hatte, das Essen bringen.

Der Vater hatte früher auf der Eisenhütte gearbeitet, aber der Betrieb war mit der Stillegung der Grube unrentabel geworden, und Olgas Vater hatte mit vielen anderen das Brot verloren. Er war nun froh, hin und wieder eine vorübergehende Beschäftigung zu finden.

Die Kinder hatten schon einen langen Marsch hinter sich.

»Wo ist denn eure Mutter?« erkundigte sich Pagel.

Er erfuhr, dass sie als Botenfrau jeden Morgen in die Stadt fahren musste und erst abends mit voller Kiepe zurückkäme.

Darum musste Olga das Essen tragen und, weil man das kleine Wieschen nicht allein lassen konnte, hatte es den weiten Weg so gut es ging mitzutrippeln.

Die Kleine fasste Pagel an die Hand und ging neben ihm her. Olga fürchtete, sich zu verspäten und bekam über die Selbständigkeit der Kleinen ängstliche Augen.

Nun redete auch Pagel dem Kinde gut zu.

»Du musst artig sein«, sagte er zu Wieschen.

Das hörte die Kleine den ganzen Tag über und es machte wenig Eindruck auf sie.

»Atig, atig«, drohte sie.

Es fehlte nicht mehr viel, dass Olga anfangen würde zu weinen. Wenn der Nachbar nicht dabeigewesen wäre, hätte sie die Sache mit einer Ohrfeige wieder ins Lot gebracht, aber sie merkte zu gut, dass er Gefallen an Wieschen gefunden hatte.

Pagel überlegte, wie er die Kleine bewegen könnte, der Schwester zu folgen. Er liess den Packen, den er unter dem Arm trug, auf eine Bank gleiten und sagte:

»Wenn ich dir was Schönes schenke, musst du aber mitgehen.«

Er begann die Schnur aufzuknoten.

Wieschen drängte sich gegen sein Knie und auch Olga schien für ein Weilchen den Weg zum Vater vergessen zu haben.

Aus der grünen Umhüllung holte der Nachbar eine blaue Kinderschürze hervor, auf der ein springender Hase mit bunten Stichen dargestellt war.

Er band Wieschen die Schürze um.

Die Kleine betrachtete wortlos die Pracht. Sie strich mehrere Male vorsichtig darüber, streichelte das Häschen, knipperte an den Bändern und seufzte dann tief auf vor Glückseligkeit.

Olga stand mit begehrlichen Augen dabei.

Pagel ging daran, den Packen wieder zu verschnüren, aber ihr bettelnder Blick liess seine Hände stocken. Er öffnete das Tuch noch einmal und nahm eine zweite Schürze heraus, die er Olga zusammengefaltet hinreichte.

Das Mädchen stellte den Essenskorb an die Erde, breitete die Schürze aus und legte sie behutsam wieder in die Kniffe. Sie nahm aus dem Korb ein Zeitungsblatt, das der Vater beim Essen zu lesen pflegte, und wickelte die Schürze ein.

Die Freude hatte sie so verwirrt, dass sie dem Nachbar, der sich bereits entfernte, kaum einen Dank nachzurufen vermochte. Sie hob den Korb auf, und das teuere Päckchen fürsorglich in der Hand, lief sie schnell den Steig hinein in den Wald, während Wieschen mit gesenktem Kopf, um ja keinen Blick von der Schürze zu lassen, langsamer hinterher trollte.

Der Nachbar sah sich nicht nach ihnen um.

Die Kinder sind fort. Er hat ihre Gesichter vergessen. Es ist nichts geblieben als ihr helles sprudelndes Lachen.

Ja, ein Kind lachte auf seinem Weg. Es hatte seine Händchen um ihn geschlungen und lachte.

In all den Jahren haben viele Kinder den grünen Planwagen umstanden. Sie haben lustig gerufen: »Der Nachbar ist da!«

Er hat auch dieses Kind oder jenes oft auf den Wagen gehoben und ein Stückchen Weg mitfahren lassen.

Die Kinder hatten ihn gern und freuten sich, wenn er in den Ort kam. Das alles hat ihn nie sonderlich berührt. Es war wie eine heitere Wolke gewesen, die leicht über den täglichen Himmel schwebte.

Heute aber hat das Lachen eines Kindes sein Herz getroffen.

Es sind fahle Tage der Erinnerung, alle Schuld wird noch einmal abgewogen, jeder Entschluss noch einmal gefasst.

Ja, es sind trostlos fahle Tage.

Auf einmal lacht in solchen Tag ein Kind.

Ein kleines Mädchen, das Wieschen heisst, schenkt ihm ihr fröhliches Stammeln.

Aber es ist ein anderes Lachen, das Pagel hört, irgendwoher aus versunkenen Tiefen, irgendwoher aus verschwundener Zeit.

Er ist ein Seefahrer und heimgekommen nach langen Monaten. Er nähert sich seinem Hause und ein Kind springt ihm jauchzend entgegen. »Dole!«

Sie klammert sich an seine Beine und lässt ihn nicht weitergehen. Er muss den Koffer öffnen und sein Geschenk herauskramen.

Sie läuft singend vor ihm her.

»Dole!«

Er ist kein Seefahrer mehr, der heimkommt. Das Segel ist eingezogen. Brach liegt das Schiff am Strand.

Ein Wanderer ist er geworden, ein Fahrender, dem sich fremde Türen nun öffnen. Er hat keine Heimfahrt mehr, aber ein Wort ist in ihm aufgesprungen wie eine Türe: »Dole!«

Als er von ihr fortging, war sie nicht grösser als Wieschen, stand in dem Saal zwischen Wein und Gelächter und tanzte. Aller Augen waren auf sie gerichtet, ja, die Kleine tanzte vor dem bunten Stuhl, der einmal eine Wiege gewesen war, von wrackem Schiff angeschwemmt in stürmischer Nacht. In dem bunten Stuhle wiegte sich Melitta. Sie liess keinen Blick von Dole. »Liebling, mein Engel«, schluchzte sie glücklich. Welch reizendes Kind, ja, ein tanzender Engel.

Zwischen Wein und Gelächter machte sie zierliche Schritte. Das war das Letzte.

»Ich fahre wieder auf See«, hatte Pagel geschrieben.

Über dem stillen Städtchen auf schmalem Pfad steht er nun, unter ihm wie erstarrte Wellen falten sich die roten Dächer. In den Tiefen ihrer Gassen bewegen sich fremde Menschen und zuweilen rollt die Schwerfälligkeit eines Gefährtes wie ein ferner Wolkenton durch das Tal.

Grundlos hingesunken scheint dies alles vor einem Kinderlachen.

Aber es ist nicht mehr das selige Glück eines kleinen Mädchens, das Wieschen gerufen wird, es ist das Leben Doles geworden, die zurückgeblieben ist in dem Hause am Strand von Thorde.

Unfassbar wie ein Mensch, der vor Zeiten vorübergegangen ist, aber sichtbarer als der Baum am Wege, schwebt dieser Name vor den erschütterten Blicken, verweht für Sekunden, um stärker hereinzubrechen, felsenhaft aufzusteigen und Himmel und Erde mit seinem Bild zu umfassen.

Pagel lehnt sich für Augenblicke an einen Birkenstamm, der höher und weisser aus anderen hervorragt.

Das Schmeichelwort, mit dem einmal ein Kind umhegt wurde, hat sich aufgetan wie eine Lichtung und für eine Minute fragenden Erschreckens schweift über diese Himmelsferne der helle Schatten einer fremden, wohlvertrauten Gestalt.

Pagel senkt die Stirne.

Dorothee.

Wie viele Jahre, denkt er, und hindert die Träne nicht, die, eine sachte Liebkosung, die Wange netzt.

Wie viele Jahre! Die Kinderschuhe sind abgestreift, das Mädchenkleid ist fortgetan, das tanzende Haar ist gebunden.

Wie lange, denkt Pagel, ach – lange.

Ja, die Tage sind vollgepackt mit Erinnerung.

Die Luft trägt Fragen und Klagen heran.

Die Blätter zittern.

Der Sand stöhnt.

Der Wind weint.

Langsam geht der Nachbar. Er trägt einen Packen unter dem Arm, in ein grünes Plantuch geschlagen.

Zuweilen bleibt er stehen.

Aline am Fenster wartet mit Ungeduld.

Nun sind es noch die zwölf Stufen vom Grafenpfad in die Gasse.

Sie tritt in die Türe und sieht ihm entgegen. Sie nickt einer Nachbarin zu, die vorübergeht. Sie streichelt ein spielendes Kind, sie schubst mit dem Fuss nach einem Hund.

Sie begrüsst den Nachbar.

Sie bittet ihn herein. Sie geleitet ihn in die Stube.

Er muss Platz nehmen. Nicht da auf der Bank, hier im Lehnstuhl, dicht am Fenster. Ein schönes Plätzchen, nicht wahr? Besonders Sonntages, wenn man seine Ruhe hat.

Den Packen legen wir vorläufig auf die Bank. Das eilt nicht so. Du hast doch Zeit, Nachbar? Ein halbes Stündchen wenigstens. Der Kaffee ist fertig. Es sind auch Puffer gebacken. Du darfst nicht nein sagen.

Siehst du, schon ist der Tisch gedeckt.

Aline bewirtet den Nachbar.

Er kommt aus trüben Erinnerungen und nun ist eine freundliche Stube geöffnet.

»Mach dir keine Umstände«, bittet er, aber Aline fühlt, wie es ihm wohltut, als sie ihm jetzt die Tasse füllt und den Teller zurechtstellt.

»Das sind keine Umstände«, lächelt sie.

»Ich bin froh, wenn ich ein bisschen Gesellschaft habe«, sagt sie nach einem Weilchen. »Sonst muss ich meinen Kaffee allein trinken.«

»Nun ja, manchmal ist mein Bruder da. Er besucht heute Tante Riekchen. Ich gehe öfter zu ihr und frage wegen Forellen. An der Schneidemühle sind sie am besten, und der Weg wird ihr immer ein bisschen weit.«

Ja, die Schneidemühle.

Aline macht kein Hehl daraus, dass sie von dem Plan des Nachbarn unterrichtet ist.

»Du willst dich also in Erwinsrode niederlassen?« sagt sie. »Du willst wohl gar in der Schneidemühle wohnen? O weh, das ist ein altes Gemäuer. Ich würde mich da fürchten. Nein, was für ein altes Haus. Gottwald, der jetzt dort wohnt, klagt auch immer. Er hat Reissen bekommen und Gicht. Auch kein Wunder, die Stube ist feucht vom Bachwasser. Aber was soll er tun? Er ist froh, dass er den Posten hat. Und die Wohnung oben erst. Da pfeifts durch alle Fenster.«

»Das musst du dir reiflich überlegen, Nachbar«, rät Aline.

»Nun, das ist alles noch nicht so weit«, antwortet Pagel.

Aber Alines Schwatzen tut ihm wohl. Es führt ihn auf einen sachten glattgeharkten Weg.

Sieh an, der Wind ist still geworden, die Blätter wehen sanft und der Sand zu Füssen gibt weich dem Schritte nach.

Ja, Alines Geplauder ist ein gutes Vergessen.

Auf dem Tisch steht die bauchige Kanne, die Tassen und Teller sind mit dicken Rosengirlanden bemalt. Die Gardinen sind blitzsauber. Auf der Kommode liegt eine Häkeldecke und vor dem Spiegel steht eine Stutzuhr. Im Fensterbrett blühen ein paar Geranientöpfe und an der Wand, in goldenen Rahmen eingefangen, jubiliert mit buntesten Farbtönen ein webender schwebender Feenreigen.

»Willst du dir nicht mal das Haus ansehen?« fragt Aline.

Nein, das Haus ist wahrlich keine Nussschale. Es ist grösser, als es von aussen den Anschein hat. Handliche Stuben sind es, und in der Küche steht neben der Grude ein komfortabler Herd.

»Ich habe ihn erst vor ein paar Jahren setzen lassen«, sagt Aline. »Potinecke war gar nicht teuer damit. Jetzt hat sich allerdings der Russen verstopft. Ich habe Potinecke schon Bescheid gesagt. Er wollte mit vorbei kommen.«

Natürlich, immer fällt einem eine Fliege ins Essen.

Als Aline den Nachbar die Treppe heraufführen will, – »ich schlafe oben«, erklärt sie, »parterre könnte doch mal was sein«, – justament in diesem Augenblick knarrt die Haustüre und der Töpfer Potinecke stolpert mit seinen Gerätschaften in den Flur.

»Wo ich hinkomme, rauchts nicht!« ruft er schallend.

Das ist seit Jahren sein Gruss.

»Justament jetzt«, sagt Aline ärgerlich. »Ich komme gleich.«

Sie kann dem Nachbar das obere Geschoss nur in Eile zeigen.

»Nun, du kommst wohl bald einmal wieder«, tröstet sie sich.

Der Töpfer rumort schon unten am Herd.

»Ich muss zu ihm«, sagt Aline, »er macht mir sonst zuviel Wirtschaft.«

Für Potinecke ist die Töpferei das wichtigste Handwerk auf Erden. Was würde die Welt anfangen, wenn alle Öfen rauchten? Es ist schon genug Schwalch und Rauch überall.

»Die Menschen täten dran ersticken«, sagt Potinecke. »Wir Töpfer machen Luft, damit alles seinen richtigen Abzug hat!«

»Die Hexen müssen zum Schornstein hinaus«, kichert Potinecke. »Darum sauber das Herdloch, Aline, sonst kommst du schwarz auf den Blocksberg!«

»Die ist nämlich schon oft durch den Rauchfang gefahren«, ruft er lachend in die Stube.

»Jaja, unsere Aline«, sagt er und will sie vor die vier Buchstaben hauen.

Aber er kommt heute an die Unrechte. Sie versetzt ihm einen Stoss, dass er stöhnend mit dem Knie gegen die Fleischermolle stösst, darin er seinen Lehm hat.

Sie kommt pustend in die Stube.

»Er ist dreckig wie sein Gewerbe«, sagt sie wegwerfend.

Pagel hat inzwischen seine Schürzen ausgebreitet. Aline lässt sich Zeit bei der Auswahl.

Manchmal wirft sie einen Blick in die Küche. Sie wünscht, dass der Töpfer schneller als sonst mit seiner Arbeit fertig sein möchte, aber er weiss, dass Aline gern zu einem Schwatz aufgelegt ist und beeilt sich nicht sonderlich.

Endlich packt er sein Handwerkszeug zusammen.

»Oft kommt er auch gar nicht von der Stelle«, sagt Aline tadelnd zu Pagel.

Sie will ihn im Flur abfertigen, doch Potinecke drängt sich schon zur Türe herein.

Er macht keine Umstände, er setzt sich an den Tisch und schiebt die ausgebreiteten Schürzen beiseite.

»Du kannst mir ein Tässchen geben«, sagt er zu Aline.

Sie ist wütend und überhört es. Sie nimmt eine Schürze nach der anderen in die Hand, reibt die Ränder zwischen Daumen und Zeigefinger und legt sie aufeinander.

Es sieht aus, als wollte sie vorläufig keine Entscheidung treffen.

Potinecke lässt sich durch ihre Unfreundlichkeit nicht stören. Er hat sich selber die Tasse bis zum Rand gefüllt und schlürft vorsichtig, um einen Fleck auf der Decke zu vermeiden.

»Bitter«, sagt er und holt die Zuckerschale heran.

Er beginnt ein Gespräch mit dem Nachbar. Es fällt ihm ein, dass er wieder ein blaues Arbeitshemd gebrauchen kann.

»Das nächste Mal«, sagt er. »Was Preiswertes, aber haltbar. Unsereiner strapaziert seine Sachen.«

Er ist Witwer. Seine Frau ist vor drei Jahren gestorben.

»Ja, drei Jahre rackere ich mich alleine ab«, erzählt er.

»Meine Frau verstand sich auf alles. Sie konnte dir einen Kachelofen setzen, Nachbar. Erst wenn der Speck zu Ende ist, weiss man, was man gehabt hat.«

Potinecke wirft einen wohlgefälligen Blick auf Aline.

»Wir sind alte Freunde«, sagt er. »Manchmal bring ich ihr was zu stopfen. Sie ist eine gute Seele.«

Der Töpfer ist ein pfiffiger Kerl. Er ist längst dahinter gekommen, was Aline im Schilde führt.

»Ich habe Augen im Kopf«, sagt er. »Ja, Aline ist eine Person mit Herz und Hand.«

Vielleicht meint er es gut und will Alines Plan unterstützen, denn der Nachbar hantiert mit seinen Schürzen und scheint nichts merken zu wollen.

Vielleicht aber will er ältere Ansprüche anmelden. Schliesslich könnte auch er noch einmal ans Heiraten denken. Er sieht sich in der Stube um. Warum nicht? Er streift über den roten Plüschbezug des Sofas, prüft mit kräftigem Druck die Federung, probiert den Stuhl auf seine Festigkeit. Nichts dagegen zu sagen. Alles solide, dauerhaft, gut im Stand.

Potinecke schenkt sich eine zweite Tasse Kaffee ein.

Warum nicht?

Sein Blick gleitet über den Nachbar.

Also den hat Aline jetzt in ihre Rechnung gezogen.

Ein harter Knochen. Sieht nicht gerade wie ein Freier aus, wenn er seine Schürzen gewissenhaft zusammenlegt.

Aline kann sich in ihrer Verdriesslichkeit nicht beherrschen.

»Manch einer hat ein faules Leben«, sagt sie und blitzt Potinecke an.

»So ist es«, antwortet er. »Was der Schimmel nicht ziehen will, kriegt der Braune aufgepackt. Ich kann mich kaum über eine leere Fuhre beklagen. Heute früh musste ich schon auf der Schneidemühle sein. Leisegang will neue Anlagen machen.«

»Ist er denn schon zurück«, erkundigte sich Pagel. Er hatte gestern bereits auf der Mühle nachgefragt, denn er wollte die Angelegenheit nun bald besprochen haben. Die acht Tage waren um.

»Heute früh war er da«, erwidert Potinecke. »Ich hab ihn gesprochen. Er stand allerdings auf dem Sprung. Er wollte nach Juliusbad. Der Graf will ihm hier kein Land verkaufen. Da will er sich wohl nun da drüben umsehen.«

Pagel wurde auf einmal ungeduldig. Er fürchtete, dass; Leisegang ihm wieder vor der Nase wegfahren könnte.

»Such in Ruhe aus«, sagte er zu Aline. »Behalte, was du gebrauchen kannst. Den Rest hole ich ab oder schicke den Gesellen.«

»So eilig?« fragte der Töpfer.

Aline war über den plötzlichen Aufbruch ganz verdutzt.

»Er fährt mir sonst wieder davon«, erklärte Pagel.

Da ahnte sie, um was es sich handelte. Sie drängte nun selber den Nachbar.

»Dass du ihn bloss noch erwischst«, sagte sie.

Pagel ging eilig davon.

Aline setzte sich zu Potinecke.

»So, also nach Juliusbad will er mit der Fabrik?« fragte sie. »Aber die Schneidemühle hier wird er doch, wohl behalten?«

»Juliusbad«, antwortete Potinecke geringschätzig. »Wer wird sich als Geschäftsmann nach Juliusbad setzen. Hier ist die Residenz!«

Aline war zufrieden über diese Ansicht des Töpfers, aber sie wollte es noch einmal bestätigt haben.

»Warum nicht Juliusbad?« sagte sie, »reich, Geld, wohlhabende Leute.«

Potinecke nahm eine dritte Tasse.

»Da laufen die Hunde auch barfuss«, antwortete er und bewegte die Hand, als gälte es, eine Herdplatte abzufegen.

Pagel kam rechtzeitig nach der Schneidemühle. Herr Leisegang hatte noch ein Stündchen Zeit. Er legte die Uhr vor sich auf den Tisch.

»Zwanzig Minuten«, sagte er.

Pagel berief sich auf Meister Freilich.

»Ich bin im Bilde«, sagte Herr Leisegang. Er musterte Pagel.

»Sie gefallen mir«, erklärte er. »Aber –«

Ja – dieses Aber. Der Graf hatte endgültig abgelehnt. Es war nicht ausgeschlossen, dass er zeigen wollte, wer die Macht hatte, denn die rebellischen Reden des Brandmajors waren ihm haarklein hinterbracht worden.

»Der Brandmajor«, sagte Leisegang ärgerlich. »Er hat mir alles verpatzt. Schwadroniert in den Kneipen herum und tut, als wäre ich mit meiner Stuhlfabrik der Heiland von Erwinssrode. Freut mich, wenn er dem Grafen zusetzt. Aber bei solchen Leuten ist man sich nie sicher, gegen wen sie morgen den Spiess kehren.«

Nun ist es also so, dass Herr Leisegang versuchen wird, in Juliusbad Land zu bekommen. Allerdings müsste man das Holz dann von Erwinsrode dorthin transportieren. Unpraktisch, aber nicht zu ändern.

»Juliusbad«, wiederholt Pagel nachdenklich.

»Ja, die Badeverwaltung will Land abstossen, ausserhalb des Ortes, an der Chaussee nach Erwinsrode. Die guten Leute haben sich verkalkuliert. Der Kurpark hat einen Haufen Geld gekostet, und so weiter. Wie eben solche Idealisten sich verrechnen, wenn sie glauben, dass ein paar Berge die Fremden gleich in Hülle und Fülle anlocken. Und die Stahlquelle? Mein Gott, wo gibt es heutzutage keine Quelle.«

Herr Leisegang sieht nach der Uhr.

»Wir wollen so verbleiben, dass Sie sich in drei Wochen nochmal bei mir melden«, sagt er. »Ich bin nicht abgeneigt, aber Sie müssen selber sagen, so wie die Dinge im Augenblick noch liegen, kann ich mich absolut auf nichts einlassen. Also, wir behalten die Sache im Auge.«

Herr Leisegang steckte die Uhr ein.

»Sie sollen wenigstens sehen, wohin Sie Ihr Geld geben wollen.« Er stand auf und rief einen Namen über den Hof.

»Gottwald wird Ihnen die Mühle zeigen. Mich müssen Sie jetzt entschuldigen.«

Er machte eine kurze Verbeugung und übergab Pagel dem eintretenden Mühlenmeister.

Der alte Gottwald bemächtigte sich des Besuchers mit grosser Geschäftigkeit.

Er hauste alleine in dem Fachwerkbau neben der Mühle und seine Tage gingen gleichförmig hin. Da war nun eine willkommene Gelegenheit, das Mundwerk einmal wieder in Gang zu bringen.

Gottwald war früher auf verschiedenen Mühlen im Lande beschäftigt gewesen, auch auf der Hasenmühle, einer nur noch als Gaststätte dienenden Wassermühle, in welcher vor Zeiten der Pumphut umging, jener bis an die Ewigkeit wandernde Müllergeselle, der in allen Mühlen Bescheid wusste und in der Stunde um Mitternacht ohne Dank und Lohn alle Vorräte vermahlte. Am Morgen fand man nichts weiter von ihm, als in der Mühlenstube den weissen Abdruck seines Stiefels, daran das Mehl hängengeblieben war.

»Ich habe es selber erlebt«, sagte Gottwald. »Es war eine teure Zeit und wir mussten mit wenig Korn und wenig Wasser gutes Mehl mahlen. Ja ja, man hat auch seine Kenntnis vom Irdischen. Aber man muss viel erleben, bis man den Haferbrei nicht mehr beissen kann.«

Der Alte gab auch Erklärungen über die Verschiedenart der Mühlenbetriebe, über die Mahlmühlen, wo Roggen und Weizen zu feinem Mehl gemahlen wurden, über die gröberen Schrotmühlen, in denen man Gerste zerschrotete, die Malzmühlen, die Braugerste vermahlten und die Dörrmalze wieder schroteten, die Graupmühlen, darin man die grossen Graupen aus Gerste gewann, oder die Ölmühlen, die den Mohn schlugen und den Samen von Rübsen und Raps und aus Flachs das schmackhafte Leinöl herausholten.

Von vergessenen Lohmühlen konnte Gottwald erzählen, wo man die Rinden von Eichen und Erlen zu Gerbstoffen verarbeitete, von den Papiermühlen, den grossen Zauberinnen, die Holz und Lumpen in kostbares Papier zu verwandeln vermochten, von den schwefligen Pulvermühlen, die grau und düster am weichen Gehölz des Wassers lagen, und von den lustigeren Walkmühlen, in denen die Tuchmacher, Seiler und Gerber die mitgebrachten Stoffe, Wolle und Hanf, Zeug und Felle in grossen Kesseln durchwalkten.

»Ja, es ist ein fleissiges Land«, sagte Gottwald, »aber für einen Taler kann man heutzutage viel Fleiss kaufen.«

Er ging mit dem Nachbar bis zu dem Stauweiher, zeigte ihm den Mühlgraben, der das Wasser über das Gerinne zum Mühlrad leitete, er setzte ihm auseinander, wie das grosse hölzerne Rad mit eichener Holzwelle das Räderwerk der Mühle beschleunigte, wie die schmalen und breiten Sägen, die runden und eckigen die Stämme zerschnitten und in der Fläche und in der Breite nach Belieben teilten.

Diese Schneidemühle hatte früher den Grafen von Erwinsrode gehört, aber der alte Herr hatte sie kurz vor seinem Tode an ein Konsortium verkauft, das die verschlafene Mühle zu einem rentablen Betrieb umwandeln wollte. Hier waren jedoch die Worte auch geschäftiger als die Hände, und die Gesellschaft war froh, als Herr Leisegang sich bereit fand, das Sägewerk allein zu übernehmen.

»Er wird die Räder schon in Schwung bringen«, sagte der alte Gottwald.

Er war froh, dass er in der Mühle nun sein Unterkommen hatte.

»Es ist überall gut Brot schneiden, wenn man's hat«, meinte er geduldig.

Er geleitete den Nachbar auf die Strasse. Sie hörten das gleichmäßige Kreischen der Sägen, und das Wasser, das über die wilde Flut zum Bache ablief, rollte polternd vorüber.

Pagel beschloss, noch am gleichen Tage mit seinem Planwagen weiterzufahren, doch der kleine Kantor hielt ihn zurück.

»Einen Tag vor meinem Geburtstag«, sagte er. »Davon steht nichts drin. Dieses Mal musst du bleiben.«

So gab Pagel noch einen Tag zu.

Als er am Abend zu Demuth kam, berichtete ihm die Schlachtersfrau vergnügt, dass Aline schon dagewesen wäre.

»Sie wollte die Schürzen abgeben«, uzte Frau Demuth.

Eigentlich hatte Aline sich geschworen, das Haus des Schlächters nicht wieder zu betreten. Dann aber entsann sie sich, welche Vorteile ihr Bruder Jakob sich von einem handfesten Gerede versprach, und da ihr der Nachbar doch noch nicht genügend weichgeklopft erschien, so machte sie sich mit den Schürzen auf den Weg.

Frau Demuth hatte ihr verständnisvoll zugeblinzelt.

»Er ist nicht da«, sagte sie.

»Dann komme ich wieder«, antwortete Aline.

Die beiden Frauen sahen sich gedankenvoll an. Dann seufzten sie beide.

Ach ja, was hat eine Weibsperson oft für Schererei um einen Mann. Man hat ein weiches Herz und will nur das Beste.

Frau Demuth denkt daran, dass es auch seine Mühe gekostet hat von der Nähstube bis zu den goldenen Zähnen nun an ihrer Seite. Sie sagt freundlich zu Aline.

»Er wird heute abend in seiner Stube sein.«

Das ist ohne Falsch gesagt. Aline fühlt es und errötet.

»Es bleibt unter uns«, verspricht Frau Demuth.

Aline gibt es einen kleinen Stich.

»Ach –«, sagt sie zögernd.

»Ich schwörs in die Hand«, erklärt Frau Demuth.

Nun wird' es nichts sein mit einem Gerede. Aline kennt die Schlächtersfrau. Was sie einmal versprochen hat, hält sie.

»Ach –«, seufzt Aline.

Sie wird also wiederkommen.

Doch am Abend stellte sich Wieschens Mutter ein. Sie wollte sich bei dem Nachbar für die Schürzen bedanken.

»Diese Freude«, sagte sie.

Unter dem Tuch holte sie ein kleines Päckchen hervor.

»Das schickt Ihnen Olga. – Wieschen ist noch zu klein«, fügt sie entschuldigend hinzu. »Vier Jahre erst. Da müssen wir das Messer noch verstecken. Aber die Grosse, ja, die versteht es schon.«

Pagel hat das Päckchen geöffnet.

Ein Löffel ist es. Ein Holzlöffel, ungeschickt geschnitzt. Ein Löffel, wie die Waldarbeiter ihn mitnehmen. Ein Löffel, von dem die Köhler essen. Ein Löffel, wie er auf dem Wachstuch des Grubenfahrers liegt. Ein armer nackter mühselig ausgehöhlter Löffel.

»Den sollte ich Ihnen geben«, sagt die Frau. Sie steht vorgebeugt an Pagels Tisch. Sie hat es abgelehnt sich zu setzen. Man fordert sie wohl zu selten auf, Platz zu nehmen.

»Es soll ein Andenken sein«, erklärt sie befangen. »Ja, das war eine grosse Freude mit den Schürzen. Wieschen wollte mit ihrer ins Bett gehen. Sonst schläft sie immer schon, wenn ich komme. Aber heute war sie noch munter.«

Sie möchte gerne noch mehr erzählen, aber der Nachbar muntert sie nicht dazu auf. Er hat den hölzernen Löffel in der Hand.

»Sie kann auch schon nähen, die Olga«, sagt die Frau.

Ja, sie wird längst schon nähen können, denkt Pagel. Von was für Löffel wird sie essen. Sie war vier Jahre alt, als ich fortging. Sie wird eine junge Frau sein. Wie mag sie aussehen?

Er legt der Löffel auf den Tisch.

Die Frau glaubt, dass sie nun gehen muss. Sie nickt und schliesst leise hinter sich die Tür. Dann etwas später schlägt eine Uhr.

Wo ist der Nachbar geblieben? Er war eben noch da. Er hat mit einer Frau aus dem Dorf gesprochen, mit der Botenfrau. Sie ist schon ein Weilchen fort.

Ja, wo ist der Nachbar geblieben?

Da hängt noch seine Mütze.

Er ist ohne Mütze gegangen.

Auf dem Tisch liegt ein Holzlöffel. Er will doch nicht etwa mit solchem Löffel jetzt essen.

Nein, er ist wirklich nicht da. Auch draussen nicht. Auf dem Hof nicht und nicht in der Remise oben auf dem Boden.

Das Pferd steht ganz still.

Vielleicht schon in seiner Stube.

»Nein, da ist er auch nicht«, sagt Aline.

Sie legt den Packen, der in ein grünes Plantuch geschlagen ist, unschlüssig auf den Stuhl.

Sie setzt sich zu Frau Demuth in die Küche.

Sie warten.

Der Schlachter hat heute sein Kartenspiel in der Krone.

Vielleicht ist der Nachbar dort?

Der Geselle kommt zurück.

Nein, der kleine Kantor sitzt allein am Tisch.

Sie hören Stiwenhack pfeifend durchs Haus gehen. Nun wird der Kantor bald Gesellschaft haben.

Ach ja, die Männer, sagen die Frauen.

Sie sprechen wenig.

Es fängt gar an zu regnen. Der Regen klopft gegen die Scheibe.

Manchmal denkt man, es kommt wer.

Aber das ist der Regen.

»Ich will bloss die Husche vorbeilassen«, sagt Aline.

»Er muss doch wohl auch jeden Augenblick kommen«, antwortet Frau Demuth.

Sie sitzen sich gegenüber und lauschen auf jedes Geräusch.

Graue Wollfäden huschen im Lampenlicht über blanke klappernde Nadeln.

»Schön warm«, sagt Aline.

»Ja, er braucht Pulswärmer. Auf einmal ist der Winter da«, erwidert die Schlachtersfrau. »Im vorigen Jahre wurden im August Erbsen und Bohnen taub. Solche Kälte war es.«

Aline zeigt die Schürzen.

»Dieses Muster, denke ich«, sagt sie.

Frau Demuth lobt es. Aber auch das andere. O ja, der Nachbar hat gute Sachen.

Ach ja, der Nachbar.

Sie erzählen von ihm. Bald spricht nur noch Frau Demuth. Aline möchte ihr jedes Wort gleich vom Mund weg holen.

Ja, so ist er, akkurat so. Reell wie kein zweiter. Nein, gegen ihn kommt keiner an.

»Wenn es bloss was wird mit der Schneidemühle«, sagt leise Aline.

Der Regen ist vorüber. Nur aus der verbogenen Dachrinne fällt nachklappend hin und wieder ein Tropfen.

Frau Demuth reibt die Augen. Sie ist müde. Sie muss morgen früh wieder zeitig auf sein.

Es ist niemand gekommen.

»Mit Demuth dauert es noch ein Stündchen«, sagt die Schlachtersfrau.

Aline weiss nicht, was sie tun soll.

»Nun ist es doch zu spät«, sagt sie endlich.

Sie steht auf.

»Dann komme ich morgen vormittag. Gib ihm die Schürzen.«

»Ja ja, lass sie da liegen. Ich werde dran denken. Nein, bin ich müde.«

Aline steht noch ein Weilchen in der dunklen Gasse vor der Tür, aber von keinem Schritt klingen die Steine auf.

Sie tappt langsam nach Hause. Es ist kein Wunder, dass der Mond einen finsteren Schleier hat.

Aber der Schleier zerfliesst und der Mond steht in grosser Pracht am Himmel.

Wie ein Triumphator schreitet Stiwenhack durch die Gassen. Er hat dem kleinen Kantor die Hand gedrückt. Er hat ihm die Schulter geklopft. Er hat seine Hände wie Fahnen vor ihm geschwungen.

»Freund, edler Freund!« hat er ihn genannt.

Sie haben Tränen in die Augen bekommen. Ja, ein gerührtes Schluchzen ist in ihren Kehlen gewesen.

Freund, edler Freund!

So süss wie heute klang nie ein Flötenspiel. So heiter war nie noch ein Menuett.

»Kann ich in diesem Anzug zur Audienz?« hat Stiwenhack gefragt.

Ja, so wie er ist, solle er kommen.

Das hat der Graf durch den Kantor bestellen lassen.

Jawohl, Stiwenhack geht zum Grafen.

Morgen wird er im Schlosse empfangen werden.

Der kleine Kantor hat von dem Maler erzählt. »Wenn er in dem staubigen Archiv zu tun hat, stellt sich manchmal der Graf ein.

»Na, Kantor? Was wispern die Regenwürmer?«

Der kleine Kantor ist vorsichtig. Die Bibliothek ist sein Ein und Alles. Er will nichts aufs Spiel setzen. Darum hält er sich fern von politischen Dingen.

»Der Brandmajor? Guten Tag, guten Weg. Ich kümmere mich nicht weiter um ihn.«

»Er sollte die Augen etwas offenhalten, Kantor.«

Der kleine Kantor ist froh, dass er das Gespräch ablenken kann.

»Es ist ein Künstler nach Erwinsrode gekommen«, sagt er wichtig. »Ein Kunstmaler, Professor Stiwenhack.«

»Ein Kunstmaler?« fragt der Graf gelangweilt.

Sein Interesse für Kunst geht mehr auf Tanz und Akrobatik. Er betrachtet die verstaubten Ölgemälde an der Wand. Er tut sie mit einem Blick ab.

»Schrecklich«, sagt er.

Der kleine Kantor nickt. Er liebt den zerschossenen Hirsch auf dem einen Bild und den gehetzten Eber auf dem anderen auch nicht. Er hat sich schon oft gefragt, warum die Gemälde in dem Bibliothekzimmer ihren Platz fanden. Offenbar, weil man ihnen dort am wenigsten begegnet.

Nein, er scheint nicht viel Glück zu haben mit seinem Kunstmaler.

Der Graf wendet sich auch schon zur Türe. Aber dann bleibt er stehen und fragt:

»Doch nicht etwa –?«

Er vollendet den Satz nicht. Der kleine Kantor weiss dennoch, was er meint.

»Ein harmloser Mensch, ein echter Künstler, weltfremd.«

»Na ja«, antwortet der Graf zweifelnd.

Der kleine Kantor benützt die Gelegenheit und berichtet, was er von Stiwenhack weiss.

»Verrücktes Huhn«, amüsiert sich der Graf.

»Ja, so sieht er aus«, schwört der kleine Kantor. »Ein Wolkenhut, ein richtiger Wolkenhut.«

»Das muss ich sehen«, lacht der Graf.

Der kleine Kantor zittert ein wenig. Jetzt, vielleicht jetzt, ein Gewinn, ein kleiner Gewinn für seinen Freund, den Maler.

Ja, er nennt ihn im stillen schon Freund, diesen Hergewehten, diesen Lärmenden, diesen Schluchzenden, diesen von allen Strassen Hereingeschneiten.

Dann fällt das Wort.

»Schicken Sie ihn zu mir, morgen.«

Der Graf verlässt belustigt das Archiv. Was laufen doch für Menschen in der Welt herum. Seltsam. Äusserst seltsam.

»Aber so wie er geht und steht, nicht etwa in Frack und Binde.« Das sagt der Graf noch in der Türe.

Frack und Binde, denkt der kleine Kantor und lächelt.

»Jawohl, Durchlaucht, wie er geht und steht.«

Sterne am Firmament. Der Mond blütenweiss im bläulichen Haus. Gesang in der Gasse.

Horch, ein Triumphlied!

Schmetternd, eine Fanfare.

»Der Bäcker ist tot! Hallelujah!«

Stiwenhack zerstört mit seinem Lied die kleinen engen Träume. In ihren Betten horchen die Menschen auf. Über dem dürren Feld ihres Schlafes singt eine gewaltige Lerche.

Auf der Kutteltreppe, in der Hundenische, steht Tzigane. Sie hört die prahlende Stimme.

Ein Hifthorn stösst sich der Gesang nun die Treppe empor.

Tzigane bekommt ängstliche Augen. Sie drückt sich dicht an die Wand. Sie zittert.

Die Stimme singt an ihr vorbei.

»Hallelujah!«

In dieser Nacht klopfte Tzigane nicht an das Dachgebälk. Sie kauerte, das Gesicht in den Händen verborgen, auf den Steinen.

Sie sah auch nicht den Mann, der barhäuptig um die Mitte der Nacht heimkehrte. Sie hörte nicht seine Schritte, die zögernd die Stufen nahmen, vor der Pforte verweilten und dann in den Flur zauderten, als hätten sie Furcht, in der Enge der Wände verhallen zu müssen.

Um die Mitte der Nacht kam der Nachbar heim. Er sass noch lange auf in dem dunklen Zimmer.

Ein Name ist in seinem Herzen wach geworden. Was durch Jahre und Jahre versunken schlief, hat sich aufgereckt, aus der Tiefe jäh stösst es hervor, drängt und zersprengt. Ungestüm hat es ihn fortgerissen.

Jedes Haus zu eng. Jeder Mensch zu nah.

Einsam die Strasse entlang. Einsam, ach diese weite Strasse. Diese Dunkelheit, die alle Grenzen fortwischt. Der Himmel nichts anderes als der Rücken der Erde und der Mensch schreit seine Schritte mitten hindurch, weinende Luft, weinende.

Dunkel tropfen Tränen. Dunkel tropfen sie.

Ja, der Schmerz des Menschen hat den Himmel zerrissen. Graue Wolken, fröstelnde, sinken hernieder.

Lange noch weint es von matten Sternen.

Achtlos ist der Nachbar vorwärtsgeschritten. Sein Herz jammert, seine Stirne schmerzt, aber sein Schritt ist mächtig.

Er greift aus, als wollte er in dieser Nacht eine Welt hinter sich bringen.

Aber die Welten sind gewaltiger, als wir vermeinen.

Mutlos bleibt der Mensch stehen, fassungslos.

Der Himmel hat alle Tränen ausgeweint. Die Dunkelheit weicht zurück. Alles bekommt Gestalt.

Die Strasse ist keine Unendlichkeit mehr. Was der Mensch hinter sich brachte, sind sieben Meilen.

Müde wendet er sich. Ferne nun vor ihm, unsichtbar im Dunkel, aber gewiss und sicher liegt das Haus.

Der Weg zurück ist ohne Gedanken. Nur ein Gewirr wie von Stimmen, aber allzu verworren, um eine Deutung zu haben.

Erst in der Stille des Hauses wieder schluchzt das Herz.

Am Morgen in aller Frühe schon fuhr Pagel ab.

Meister Demuth war verwundert, als er ihn so zeitig das Tor an der oberen Gasse öffnen hörte.

Frau Demuth brachte ihm schnell noch den Packen, den Alina dagelassen hatte. »Hier ist auch der Löffel«, sagte sie.

»Ja, der Löffel«, antwortete der Nachbar und steckte ihn zu sich.

Der Planwagen rumpelte auf der Strasse nach Sorgenstein davon. Frau Demuth sah ihm hilflos nach.

Aline hatte Tränen in den Augen, als sie hörte, dass der Nachbar bereits fort wäre. Dann trat sie zornig mit dem Fuss auf.

»Er wird wiederkommen«, sagte die Schlachtersfrau freundlich.

Aline schüttelte den Kopf.

»Ich nehme an, er hat Ärger gehabt«, beteuerte Frau Demuth.

Ärger, was soll ein Mensch schliesslich anderes haben?

»Hören Sie den an!« tuschelte sie.

Stiwenhack stand singend auf dem Hof. Er hatte das Bild beiseite geworfen und pinselte mit schwarzer Farbe an den Kappen seiner verbeulten Schuhe.


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