Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

*

In dieser Nacht kam Pagel zu dem Entschluss, selber nach Juliusbad zu fahren, um sich Gewissheit bei Emita zu holen, denn was der Maler ihm zu berichten gehabt hatte, war unklar und wenig geeignet, sich ein Bild zu verschaffen, wie es um Melitta und Dorothee bestellt wäre. Dazu beunruhigte ihn die Nachricht von Dorothees möglicher Ankunft. Er war sich noch im Zweifel, in welcher Weise er vor Emita hintreten würde, aber er vertraute darauf, dass ihm ein schicklicher Vorwand noch einfallen und ein guter Zufall zu Hilfe kommen würde. Jedenfalls galt es für ihn, keine Zeit zu verlieren.

Er wollte frühzeitig von Montbrillant aufbrechen, aber der Maler bat ihn, noch einen Tag zu bleiben. Sie wollten noch über Thorde sprechen. Darüber gäbe es ja viel zu erzählen. Stiwenhack hatte sich ihres Gespräches entsonnen.

»Du musst mir noch Aufklärung geben, woher du das alles weisst«, sagte er zu dem Nachbar. »Wenn das Fräulein wieder fort ist, setzen wir uns zusammen und plaudern von damals.«

Er sah übernächtig aus und war von einer sonderbaren Unruhe.

Herr Dachs, der Kastellan, schob es auf die Aufregung über den bevorstehenden Besuch. Frau Dachs hatte noch einmal alle Räume im Jagdhaus inspiziert. Sie war zufrieden.

»Das Fräulein kann kommen«, sagte sie.

»Sie ist eine freundliche Natur«, tröstete Herr Dachs den Maler. »Und pikfein. Schneidig, elegant, aber wie gesagt, gutartig. Sie hat ein Herz von Haus aus mitbekommen. Es heisst, dass der Graf sie heiraten wird. Soll er tun, gute Idee.«

Herr Dachs hatte die letzten Worte wieder über den Handrücken vernehmbar geflüstert. Nun hob er beschwörend den Zeigefinger.

»Soll er tun«, sagte er noch einmal mit Bedacht.

Zeitig in den Vormittagsstunden kam das Fräulein angeritten. Ein Jagdbursche begleitete sie. Wie ein junger Mann kam sie daher, in Lederhosen und knapper Jacke und das Haar offen und ohne Hut.

Frau Dachs knixte und Herr Dachs dienerte. Er trug den schwarzen Rock mit den blanken wappengeschmückten Knöpfen.

Die Kinder hatten den strengen Befehl bekommen, sich nicht aus der Stube zu rühren, damit sie während des hohen Besuchs kein Unheil anrichteten.

Der Nachbar hatte versprochen, sie so lange zu beaufsichtigen. Er wollte nun in der ersten Nachmittagsstunde aufbrechen.

Er sass bei den Kindern und erzählte ihnen kuriose Geschichten, wie er sie unterwegs zuweilen hörte. Er erzählte auch von dem grossen Wasser und von den Schiffen darauf.

Bald aber beherrschte die rothaarige Kleine das Gespräch. Sie war auf Pagels Schoss geklettert und berichtete von dem Zwerg Hütchen weg, dem ein Windstoss einmal die weisse Kappe in einen Faulbaum entführt hatte. Der Zwerg wäre zu klein gewesen, um sie wieder herunterzulangen, und hätte dem Strauch zehn Fuhren Sonnenschein geboten, wenn er ihm die Mütze herunterwerfen würde. Aber der Faulbaum sei zu bequem dazu gewesen, und so wäre dem armen Zwerg nichts anderes übriggeblieben, als jeden Tag nach seiner Kappe zu schauen und ob ein gütiger Wind sie noch nicht wieder heruntergeblasen hätte. Schliesslich habe er sich eine Mooshütte unter dem Faulbaum gebaut, um ja die Stunde nicht zu verpassen, wo der Strauch überdrüssig der fremden Kappe diese aus seinen Zweigen hinaustun würde. Da sässe nun der Zwerg heute noch, denn der Faulbaum sei noch hundertmal fauler als der Müllerknecht Machemehl, der schon so faul gewesen sei, dass er das Maul nicht mehr zutat, wenn er ein Stück Brot hineingeschoben hatte. Darum fiel es immer wieder hinaus, und er wunderte sich, warum er von Tag zu Tag weniger wurde.

Die Kleine musste den Nachbar oft ermahnen, auch ja gut zuzuhören, denn sie merkte wohl, dass er seine Gedanken woanders hatte.

Inzwischen geleitete Stiwenhack das Fräulein durch das Jagdhaus. Er führte seine Skizzen vor, erläuterte die begonnenen Malereien an den Wänden, entwickelte seine Ideen.

»Signora«, sagte er zu dem Fräulein und sie nannte ihn Meister. Sie fand Gefallen an seiner Galanterie. Wenn sie sein Gesicht betrachtete, glaubte sie bei einem alten Zauberer zu Besuch zu sein, einem Alchimisten, der sich auf geheime Künste verstünde.

Er sah sie mit Wohlgefallen an. Sie hatte einen festen jungen Körper, ihre Bewegungen waren heiter und sorglos, ihr Gang federte.

Auch sie ist Tänzerin. Eine Reiterin ist sie, eine Jägerin. Sie zeigt auf ein stürzendes Reh an der Wand und sagt:

»Schlecht gezielt.«

Sie erklärt, wie man das Wild waidgerecht treffen muss. Nun sprachen sie von der Jagd überhaupt.

Stiwenhack will einmal in den Abruzzen einen Wolf erlegt haben. Er holte den armen Hirten die Lämmer fort. Es waren wunderschöne Lämmer, schneeweiss und mollig.

Der Wolf war ein mächtiges Tier. Sein Fell wurde den Hirten geschenkt.

»Es ist schade, dass die Wölfe hier ausstarben«, sagt das Fräulein und ihre Augen blitzen vor Jagdleidenschaft.

»Es ist schade«, sagt Stiwenhack.

»Ich werde den Grafen bitten, Sie zur Jagd einzuladen«, sagt das Fräulein und Stiwenhack verbeugt sich.

»Ich werde ihm überhaupt sagen, dass Sie öfter auf das Schloss kommen sollen, Meister. Sie können gut plaudern.«

Und Stiwenhack verbeugt sich.

Dann hat das Fräulein alles in Augenschein genommen. Sie ist mit den Skizzen zufrieden. Sie reicht dem Maler die Hand.

Der Jägerbursche kommt mit den Pferden.

Das Fräulein springt in den Sattel.

»Wie wäre es, wenn Sie mich begleiteten«, fragt sie den Maler.

»Grosse Ehre, Signora«, antwortet Stiwenhack und will neben ihrem Pferde hergehen.

Sie aber lässt den Burschen absteigen und befiehlt ihm, das Pferd dem Maler zu überlassen.

»Steigen Sie auf, Meister«, lächelt sie freundlich.

Der Maler sieht sie ungläubig an. Er dankt verlegen. Er zögert.

»Bitte«, sagt das Fräulein.

Er verbeugt sich. Unsicher diesmal, beinahe linkisch. Das Fräulein lächelt ihm aufmunternd zu. Ihr Pferd tänzelt. Sie ist gar nicht ungeduldig.

Stiwenhack sieht sich um.

Da stehen der Kastellan und seine Frau. Wenn das Fräulein zu ihnen herübersieht, machen sie ehrerbietige Diener.

Da steht auch der Jägerbursche. Stiwenhack sieht ihm mitten in das Gesicht. Der Bursche ist unbeweglich.

Nein, es findet wohl keiner etwas dabei, dass der Maler zu Pferde steigen soll. Sie deuten sein Zögern als Höflichkeit.

Stiwenhack verzieht seinen Mund. Er lächelt. Er verneigt sich noch einmal.

Er legt seine Hand auf das Pferd.

Der Bursche ist nahe herangetreten. Er will dem Maler behilflich sein.

Stiwenhack stellt den Fuss in den Bügel. Er hebt sich ein paarmal vom Boden. Er stösst sich energisch ab. Alle Überlegung hat er zusammengenommen. Er schwingt sich auf den Rücken des Pferdes. Der Bursche half nur leicht nach.

Stiwenhack sitzt auf dem Pferd.

Es macht die ersten Schritte.

Er sitzt. Er klopft den starken Hals des Pferdes. Welch zuverlässiger Hals, welch geduldiges Tier.

»Gutes Tier«, sagt Stiwenhack und reitet neben dem Fräulein her.

Ach, vielleicht dachte er in diesem Augenblick, dass er der Herr von Montbrillant wäre.

Der Nachbar ist aus der Stube herausgekommen. Die Kinder sind es. Sie starren dem Maler nach.

Wahrhaftig, er reitet. Langsam reitet er hin. Das Fräulein hält ihr Pferd zurück. Sie hat wohl gemerkt, dass er nicht gut im Sattel sitzt. Aber sie übersieht es. Sie lächelt. Sie plaudert.

Pagel hat plötzlich eine grosse Angst um den Maler. Er läuft einige Schritte auf den Waldweg hinaus. Er hört einen Schrei.

Er sieht, wie das Pferd des Malers hochsteigt.

Er sieht – er sieht, wie der Maler – – –

Er stürzt hin.

Der Jägerbursche hält das widerspenstige Tier schon am Zügel. Das Fräulein hat Mühe, das eigene Pferd zu beruhigen.

Aber der Maler –

Er liegt am Boden.

»Verfluchte Tattersch«, sagt der Bursche.

»»Was ist?«

Ein Zigeunermädchen wäre über den Weg gelaufen.

Zigeuner –?

Ja. Davon sei das Pferd wohl erschrocken.

Der Maler liegt bewusstlos am Boden. Es ist dünnes Blut an seinen Lippen.

Die Kastellansleute kommen hinzugelaufen.

Sie heben den Maler auf. Sie tragen ihn in das Haus.

Das Fräulein reitet mit zurück. Es sitzt bleich auf dem Pferd.

Der Bursche führt das ledige Tier.

Das Fräulein ruft plötzlich:

»Ich schicke sofort den Arzt«, dreht und reitet davon. Sie sieht sich nicht um. Sie reitet fort.

Sie haben Stiwenhack in der Stube gebettet. Sie stehen alle um sein Lager. Sie haben ihm lindernde Tüscher aufgelegt. Sie warten, dass er zu Bewusstsein kommt.

Der Bursche beschreibt das Zigeunermädchen. Es ist kein Zweifel, dass es Tzigane war. Der Nachbar entsinnt sich des Lockrufs der Waldtaube. Nachts hatte der Maler noch von ihr gesprochen. Vielleicht hatte er sie in der Nacht im Gesträuch erkannt.

Die Kastellansleute glauben, dass es noch lange dauern kann, bis er die Augen aufschlagen wird. Sie gehen wieder an ihre Arbeit. Sie haben auch die Kinder hinausgeschickt. Der Jägerbursche, der weiter nicht helfen kann, ist mit dem Pferd nach dem Schloss davon.

Der Nachbar hält bei dem Kranken Wache. Ab und zu blickt Frau Dachs durch die Türe und sagt, dass der Arzt wohl bald kommen müsse. Der Nachbar ist in grosser Sorge. Kaum merkbar sind die Atemzüge des Malers. Sein Gesicht ist eingesunken. Es ist überhaupt, als läge dort nur ein Schatten. Immer wieder ist Blut an seinen Lippen.

Der Nachbar ist froh, als der Arzt kommt. Wenn man den weiten Weg bedenkt, ist es erstaunlich, wie schnell er zur Hand ist. Das Fräulein war persönlich bei ihm. Er solle nur keine Zeit versäumen.

Der Arzt untersucht den Kranken. Er hat Arzneien mitgebracht. Er macht wenig Hoffnung.

Man müsste die Angehörigen benachrichtigen, sagt er.

Es stellt sich heraus, dass keiner etwas von Stiwenhack weiss. Auch der Nachbar weiss nicht viel von ihm.

»Wir waren Freunde«, sagt er, aber er kann nicht einmal den Vornamen nennen.

Wie wenig weiss man doch von dem andern.

Der Arzt gibt seine Anordnung. Er schärft Frau Dachs ein, wie sie den Kranken zu behandeln hätte.

Frau Dachs ist eine umsichtige Frau. Die alte Gräfin ist in ihren Armen gestorben.

»Ich habe sie bis zum letzten Atemzuge gepflegt«, sagt sie zu dem Arzt.

Dann ist der Arzt fort und Frau Dachs hantiert wieder in der Küche. Es ist bei dem Kranken vorläufig nichts weiter zu tun. Wenn er die Augen aufschlägt, soll der Nachbar sie rufen.

Der Maler schlägt die Augen nicht auf, aber seine Lippen bewegen sich. Wenn man das Ohr dicht über seinen Mund hält, kann man sein Flüstern verstehen.

»Er wird doch nicht kommen«, flüstert er. »Ich hab keine Zeit. Der Schatz. Sag's ihm doch.«

»Kannst du ihn nicht fortschicken?« fleht der Kranke.

Er meinte wohl den Tod. Er war auf einmal unruhig, bewegte sich heftig, und der Nachbar musste ihn niederdrücken. Er sprach zu ihm. Er hatte seine Stimme gedämpft.

Es gelang ihm, den Maler zu beruhigen. Er flösste ihm die Tropfen ein, die der Arzt dagelassen hatte.

Dann lag der Kranke tief in Schlaf bis an die Nacht.

Der Nachbar war nicht von seinem Lager gewichen. Frau Dachs wollte ihn ablösen, aber er bat, bleiben zu dürfen.

»Er ist mein Freund«, sagte er. »Ich werde Sie rufen, wenn etwas ist.«

Aber der Nachbar schlief am Lager ein. Er war erschöpft von all dem Erlebten, von all den Tagen zuvor, von den Nachrichten und von den Entschlüssen.

In den Stuhl gesunken, schlief er bis in den Morgen.

Um irgendeine Stunde war der Maler in der Nacht gestorben.

Als Frau Dachs am Morgen in die Stube trat, sagte sie zufrieden:

»Er hat also eine gute Nacht gehabt?«

Der Nachbar ermunterte sich schwer.

»Ich war tatsächlich etwas eingeschlafen«, gestand er.

Dann sahen sie, dass der Maler tot war.

Ja, der Maler war tot.

Man wusste nichts von ihm. Er hatte zu Lebzeiten viele Worte gemacht. Ein ganzes Meer von Worten konnte er aufschütten.

Ach, wie stille hatte ihn der Tod genommen.

Nein, man wusste nichts von ihm. Kaum kannte man seinen Namen. Aber er hatte die Welt in eine Fuhre Worte gepackt, eine bunte, verwunschene Ernte war es gewesen. Doch das Zauberwort, sie zu lösen, war ihm nicht mit in die Wiege gegeben worden.

Arm war die Wirklichkeit, die Hoffnung ein flüchtiger Vogel und jeder Wunsch töricht.

Ach, man wusste kaum seinen Namen.


 << zurück weiter >>