Willy Seidel
Der Tod des Achilleus
Willy Seidel

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VI

Achilleus lauschte auf; es klang herüber wie ein großer Schrei – und dann wie ein fernes Donnern.

»Was ist das?«

»Es ist der Fels des Sisyphos. Er entgleitet ihm. Du wirst es wieder hören und wieder. Er ist es, der diesen Schrei ausstößt, wenn er jedesmal seine keuchende Arbeit vergeudet findet.«

»Wie lange noch«, fragte Achilleus schaudernd, »wälzt er den Stein?«

»Immer«, erwiderte Patroklos. – Dann, nach einer Pause, wie erklärend: »Es gibt hier keine Zeit. – Es ist die ewige Gegenwart.«

»Kein Wechsel von Tag und Nacht?«

»Nichts. – Nur wir stehen drin, solange unser Gedenken dauert ... Solange die Erinnerung dauert an das, was wir getan ...« Plötzlich, verzweifelt und wild ausbrechend: »... was wir getan! ... Sprich doch, Pelide! Sprich! Wühl es auf, mein Gedächtnis! Du kannst es!«

Achilleus faßte den Taumelnden brüderlich um die Schultern. Patroklos war wie ein Kind geworden; er lallte. Achilleus zog ihn auf den Abhang nieder. Nun schloß auch er die Lider, und in seinem Hirn entstanden brennende Bilder, gewaltsam hervorgerufen vom letzten formenden Willen.

»Unsere Taten, mein Freund Patroklos? Unsere Taten? Warst nicht du es, der mich und den Haufen meiner Myrmidonen zuerst in den Kampf trieb, als Hektor den Protesilaos erschlagen? Peitschtest du mich nicht auf, da ich dem Telephos das Geleite gab und meiner Pflicht vergaß? Warst du das nicht, der mir zuschrie, als zum ersten Male das Skäische Tor aufbrach und sie herausströmten wie eine Koppel Hunde? ... Und beim Zeus ... Ich begann zu mähen damals; zu mähen ...« Seine großen Hände ballten sich langsam um Schwertgriff und Scheide ... Doch er empfand nichts zwischen den Fingern als ein Gefühl von Leere. Dann aber rollte es weiter ab, als sei ein Band am Webstuhl vorübergehend gerissen und nun neu geknüpft: »... und dann erwürgte ich den Kygnos. Den Okeaniden.«

»Sprich weiter«, flüsterte Patroklos. »Ich weiß, er war unverwundbar wie du, doch du zerhämmertest ihm die Schläfe mit dem Buckel deines Schildes ...«

Achilleus faßte nach dem Schild. »Ja. – So! – Sieh her! So tat ich es!« Doch ihm war, als greife er in ein Spiegelbild des Schildes, heraufschimmernd aus dunklem Pfuhl. »Was bedeutet dies, Patroklos?« stöhnte er. »Alles zerrinnt mir ...«

»Denke nicht daran«, zischelte Patroklos schier unmutig. »Was du jetzt greifst, ist Abbild und Schein. Was unterbrichst du dich? ...« Er legte das Gesicht in die Hände. – »Störe mich nicht; ich sehe den Kygnos fallen ... Ich sehe ihn ... Rede weiter ... Rede ...«

Achilleus sann nach, bis die leuchtende Spule wieder lief. Die Taten tauchten auf wie ein endloser Fries voll zuckenden Lebens.

»Ich erzähle ... Höre, Patroklos. Ich eroberte Lyrnessos. Und dort fing ich die Astymome. Und die – Briseïs. Und dann erschlug ich den Eetion, den Kilikier. Und seine Söhne; es waren sieben.« Er zählte an den Fingern nach; dann fuhr er übers Gesicht, als wolle er ein Spinnweb hinwegwischen. »Seltsam«, unterbrach er sich heiser. »Wieder stockt mir die Zunge ...«

»Sie waren jung, als du sie erschlugst«, flüsterte Patroklos. »öffne die Augen nicht, Pelide. Öffne sie nicht. Sie stehen vor dir. Sie betasten dich...«

Grauen schüttelte den Peliden; doch trotz der Warnung des Freundes blinzelte er. Eine Gruppe von sieben Schatten, mit zerrissenen Leibern, gespaltenen Köpfen, wogte vor ihm auf und ab und zog, da er sie anstarrte, zögernd davon. Während sie schieden, blickten sie verrenkten Halses nach ihm zurück, als hätten sie etwas sagen wollen und könnten nicht ...

Patroklos streichelte ihn. »Sie tun dir nichts. Sie wissen nicht einmal mehr, daß du sie erschlugst. Du nanntest sie, und sie kamen.«

»Sie wissen es nicht mehr?«

»Nein.«

»Was – ist – dann – Tat?«

»Wir wissen es noch ... Laß dir genügen. Und droben sagt und singt man davon ... Droben.« Wieder faßte ihn Patroklos an. »Entsinnst du dich noch – des Knaben Polydoros? Des Jüngsten des Priamos?«

»Kommt auch er«, fragte Achilleus schaudernd, »da du ihn nennst?«

»Siehst du dort drüben den kleinen grauen Fleck, an der Stelle haftend ... bei jenem entblätterten Strunk?«

»Ja ...«

»Das ist er. Du sprangst übel mit ihm um. Er wurde gesteinigt. Um Helenas willen. Er war schön.«

»Um Helena starben viele. Sie war es wert, daß so viele starben.«

»Und Briseïs war es wert, daß du grolltest. Briseïs ...« Patroklos ließ den Namen schwingen, als zupfe er die Kithara. »Um ihretwillen faßtest du den Groll. Auf Agamemnon. Viele, viele Nächte lang saß ich bei dir im Zelt, beim Fackelschein, und wir unterredeten uns über deinen Groll.«

»Er nahm mir die Briseïs. Wo ist er?«

»Er ist nicht hier.«

»Wo ist er? Wo?«

»Schließ die Augen wieder, Pelide. Du hast recht, zu grollen.« Sie redeten nun beide erregt mit dunklen Stimmen; sie überboten sich gegenseitig in aufreizenden Bildern. »Ich redete dir schon damals zu, als du stöhntest. Du wälztest dich auf dem Lager; du erschlugst mich fast, als ich mich weigerte, sie dem Agamemnon wieder wegzunehmen ... Er hatte sie in seinem Purpurzelt; da blieb sie ... Er lachte deiner.«

»Und doch war die Beute mein gewesen«, keuchte Achilleus. »Mein. – Er hatte kein Recht. Er tat es in die Zähne der Ältesten hinein: des Odysseus, des Ajax und aller ...«

»Er war zu stark«, sagte Patroklos. »Vielleicht ist er jetzt noch stärker als du.«

»Er war nicht stärker als ich ... Warum habe ich ihn nicht erschlagen ...?« Sein unendlicher Grimm brach wieder auf wie eine Wunde. »Er war es, der die Fackel legte an meinen Scheiterhaufen ... Der Verfluchte ...«

»Ja. Du hättest ihn erschlagen müssen«, sagte Patroklos mit einem matten Anflug von List. »Und mich dann auch.«

»Dich?«

»Ja, mich... Ich führte dir seine Herolde zu, den Thalthybios und den Eurybates, und sie holten sie dir aus dem Zelt. Ich beschwatzte dich sogar« – Patroklos beugte sich vor –, »es zu tun. Die Briseïs ihm zu geben; ihm, dem Agamemnon. Sie wollte nicht gehen, du erinnerst dich? Sie zerkratzte sich das Gesicht; man schleppte sie.« Er spähte in das Gesicht des Achilleus; es war zerklüftet von Gram; eine Träne fiel.

»Sieh, nun weinst du, und du hast recht, Pelide. Du hast recht, zu grollen ... Denn er ist noch dort, ist noch oben, bei Briseïs. Er lebt ja noch und ist ja noch bei ihr ...«

Achilleus warf sich plötzlich nach vorn, aufs Gesicht, und legte die Hände ins Gras.

»Er erfreut sich ja noch an ihr! Er hat die Hälfte der Beute genommen – und nun fiel ihm auch die andere Hälfte zu!«

»Hör auf!« schluchzte Achilleus. »Hör auf!«

»Du grollst ihm nicht?«

»Oh, Patroklos, dies ist wie eine Wunde. Sie hört nicht auf zu brennen.«

»Um der Briseïs willen?«

»Nein.« Achilleus erhob sich wieder. »Nein. Was ist mir nun Briseïs? Was ist mir Agamemnon?«

Die Miene des Patroklos wandelte sich. Er zog die Stirnhaut, die so glatt gewesen wie Elfenbein, in zahllose feine Falten. Er war überrascht.

»Um wessentwillen brennt sie denn ... deine Wunde ?«

»Patroklos«, sagte Achilleus eintönig, »weißt du noch, wie es sich zutrug, als du von dort oben scheiden mußtest?«

»Euphorbos durchstach mich«, murmelte Patroklos und öffnete sein Gewand. Langsam drehte er sich und wies auf Brust und Rücken zwei klaffende Löcher. »Und dann Hektor. Sieh hier ...«

»Diese beiden hätten allein dich nicht bewältigt. Zudem hattest du ja die Hengste Xanthos und Balios: ich hatte sie dir gegeben. Sie trauerten sehr, als du fielst. Ein anderer war dir feind, ein Stärkerer. Dieser andere hatte dich vorher betäubt, mit einem Schlag. Es war derselbe, der mir in die Ferse schoß.«

»Wer?« fragte Patroklos hastig und hob die Augen, die auf einmal völlig glanzlos schienen. »Wer war mir feind? Und wer schoß dir in die Ferse?« Er fuhr sich über die Stirn, als wolle er mit Gewalt etwas zurückrufen, und es war ein großes Erschrecken plötzlich in seinen Zügen.

»Phoibos«, flüsterte Achilleus.

Zwischen diesem Namen und dem, was folgte, dehnten sich Einöden von Grübelei.


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