Willy Seidel
Der Tod des Achilleus
Willy Seidel

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II

Ihm war, als fühle er sich plötzlich höher gehoben. Der Tote in seinem herrlichen Waffengeschmeide lag wie eine Gemme fern auf dem Grunde: in jedem Stück erkennbar und doch als etwas, das nicht mehr ganz zu ihm gehörte. Der purpurne Fleck unter der Ferse leuchtete wie ein verlorenes Mohnblatt zu ihm herauf.

Nur noch diese Gefühle beherrschten ihn: Zorn und Neugier und äußerstes Erstaunen.

Dies, was vor sich gegangen, hatte nur eine kurze Weile gewährt; doch sie hatte sich gedehnt, war sie doch voll gewesen von gehäufter Qual. Nun schien die Zeit wieder ihr Recht zu fordern. Was ihn Stockung gedünkt auf der Sonnenuhr und aussetzender Herzschlag, während Phoibos den Pfeil entließ, geriet nun wieder in Bewegung. Aus dem Trojanerhaufen löste sich ein einzelner Helmbusch, unter dem es golden schimmerte: Paris. Er eilte auf den Toten zu. Andere folgten ihm, eilig wie Insekten. Doch da war schon, von der Danaerseite, einer da, der umkreiste mit zwei Speeren den Gefallenen: das war der Telamonier; er erkannte ihn am Schild.

Wie auf einem Spielbrett floß das auseinander und drängte sich wieder zu rieselnden Haufen: Geschrei stieg hervor wie Zirpen. Zuweilen purzelte einer und lag; rote Tupfer sprenkelten das Blachfeld.

Plötzlich lösten zweie sich los von der Gegend der Schiffe; zwei größere Figuren: Führer. Sie hoben den zierhaft Blinkenden vom Grunde empor und zerrten ihn, auf den Schultern, aus dem Schwarm heraus. Dort fuhr Ajax noch umher wie ein Irrwisch, den Rückzug deckend ...

Ein Zwang kam über den Schwebenden; er fühlte sich unwiderstehlich nun herabgezogen. Entsetztes Erstaunen, peinvolle Neugier trieb ihn, darauf achtzuhaben, was mit dem mächtigen Körper geschehe, von dem er die Augen nicht wenden konnte ... Sie wuchsen ihm entgegen: Menelaos mit dem leidenschaftzerpflügten Gesicht und der braune Odysseus mit Kräuselbart und dunkelblitzendem Blick, der keuchend und ausschreitend das Gewicht des Toten dahinschleppte ... Haltlos pendelte der Kopf mit stummem Grimmschrei aus gefallenem Kiefer, perlmutternen Auges, staub- und blutbesudelt das Ringelhaar. Auf dem Brustpanzer schwankte der Helm; sein Roßhaar hing verfilzt. So kroch das Paar dahin mit dem Leichnam, und der Entkörperte setzte sich federleicht auf die tote Form, eulenrund die Augen vor Erwartung. Er tastete nach dem Mund des Toten im irren Bestreben, sich hineinzudrängen, hineinzuschmiegen ... doch eng war die Öffnung und fremd und der Zugang zu sich selbst verrammelt. Er ergriff mit klammernden Fingern das pendelnde Haupt; es war kraftloses Zupfen. Er blies, doch sein Blasen fruchtete nichts; unmutig ließ er ab. Und doch schrie dieser Mund ständig nach ihm; »komm und fülle mich!« schrie er; und im Gependel der schweren Muskelstränge war ein Winken; ein unablässiges Betteln um Belebung ... Nichts wollte da helfen, nichts.

Nun hörte er, als falle ihm Werg aus den Ohren, den schnaufenden Austausch von Frage und Antwort zwischen Menelaos und dem Sohn des Laertes; einmal ließen sie die Last nieder, und dabei wischte der kunstvolle, silbern durchflochtene Bart des Odysseus über die erstarrten Züge, wischte zart, und der an seinen Leib noch flatternd Geheftete empfand dies als Liebkosung und schier als Mahnung, nun müsse er besänftigt lächeln ... Doch während er selbst lächelte, spähte er nach einem Widerschein dessen dort drunten und spähte vergebens. Jenes Gesicht blieb in Gram versteint. Inzwischen, eintönig wie Regen, brauste das endlose Geschrei am Skäischen Tor; heisere Rufe; Dreinhau'n wie von Äxten in Holz und das Läuten der Schwerter.

Das Tor zur Brustwehr tat sich knarrend auf. Über gefällten Stämmen vom Ida querten sie den Graben. An einem Felsblock des Gestades betteten sie ihn und entledigten ihn der Rüstung, die sie neben ihn an die natürliche Ruhestatt lehnten. Es war Mühe, den Schildgriff von der eisernen Umklammerung zu lösen. Noch war der Krampf des »Zu früh!« in die Züge gemeißelt. Sein Kopf fiel nach vorn, indes sie ihm den Panzer nahmen, die Beinschienen losbanden und seinen von Phoibos versengten Fuß so behutsam der Sandale enthoben, als sei er eine beschädigte kostbare Urne ...

Ein Greis trat herzu und schob die Arme um die edle Form, die nun auch des Rocks entkleidet dort lehnte wie in Schlaf ertränkt. »Phoinix ...«, sprach der Betrachter. »Was willst du von diesem Ding dort? Von dieser Schale? Flüsterst du, Phoinix? Ich weiß, Peleus hat mich dir ans Herz gelegt, und du brachtest mich an deiner Hand in dies ungeheure Abenteuer ... Sprich lauter, denn ich will dich verstehen ...« Und er lauschte mit angespanntem Gehör, wie die Lippen in dem grauen Bart sich regten, und sah, wie die rings Umstehenden die Arme hoben im Beifall des Jammerns ... und dennoch geschah kein Laut, der ihm über unverständliches Flüstern hinauszuhallen schien ... Angestrengt krauste er die Stirn; er fühlte, daß er das tat; doch auf jener des Toten rührte sich nichts, saß starre Erschöpfung.

Endlich ließ Phoinix ab, erhob sich und trat zurück. Nun näherten sich andere und legten ihm der Reihe nach die flachen Hände um den Kopf, wobei sie rauh klagten; doch die strömenden Wortfolgen fielen zwischen ihm und seinem Körper ins Leere. Er vernahm sie nicht; er fühlte sie nur, als fließe etwas an ihm herab wie warmer Balsam.


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