Willy Seidel
Der Tod des Achilleus
Willy Seidel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Die Sonne war im Untergehen. Rotgoldene Brunst lagerte über dem Hellespontos.

Der Glanz sammelte sich in dem hingelagerten Schild; alles erblaßte, und nur der Schild blieb gleichsam zurück als ein Juwel, aufglimmend in der Dämmerung. Nun aber erlosch er, denn einer war vor das schlaftrunkene Auge des Phoibos getreten und hatte den Schild verdeckt. Es war ein sehr großer kahler Mann; er trug einen Stirnreif; sein Antlitz war ein blasser, verwischter Fleck – kaum war der scharfe Mund darin erkennbar. Machtlos krümmte sich der Geist des Peliden und suchte die eine der Lanzen zu heben, um sie hineinzuschleudern in das weiße Gesicht des großen dunklen Mannes, auf daß er den Schild nicht fürder verdüstere ... doch der scharfe Mund lächelte kaum merkbar im Hohn und unangefochten ... der Mund Agamemnons. Und die Geste des Angriffs war schier schwächer noch als das Lüftchen, das nun den Mäanderrand an seinem Chiton leis zum Wallen brachte.

Eine Weile noch stand der schwarze Riese dort vor der in süßem Grün erbleichenden Helle und spähte. Dann hob er die geöffnete Hand wie im Gruß und in spottender Abbitte ... Im selben Augenblick sank der Leichnam des Peliden im Felsenstuhl auf die Seite. Alle sprangen sie wie entsetzt hinzu und stützten ihn.

Agamemnon aber ging fern vorbei. –

Das Grün vertiefte sich; Hesperos erschien hinter fernem Wolkensaum und führte sein glitzerndes Heer herauf. Aus Troja kam Summen wie aus einem Bienenkorb; Wachtfeuer loderten auf den Zinnen. Achilleus war tot, und die Stadt murmelte Dank zu den Göttern, die zu ihr hielten.

Die Stammesfürsten der Danaer betteten den Leib nun auf eine Tragbahre, und während sie ihn zum Zelt trugen, fühlte der Entkörperte sich unwiderstehlich mitgezogen im Takt ihrer Schritte. Drinnen wuschen sie den Leib mit erwärmtem Wasser und salbten ihn mit Öl. Dann hüllten sie ihn in die farbigen Gewänder, die golddurchwirkten, die sie der Truhe entnahmen. Beim Schein der Fackeln und tönernen Lampen, überhuscht von Schatten, glich der Leib völlig einem Schlafenden. Der Krampf der Glieder war natürlich und gefällig gelöst; nur im Antlitz wohnte noch die große Verfinsterung, und aus dem Mund brach noch der stumme Schrei. Der Platz vor dem Zelte wurde schwarz von Kriegern, die sich herzudrängten. Viele wichen zurück, schlugen sich an die Brust und heulten wie herrenlose Hunde.

Da geschah, hinter dem Sieden des kochenden Harzes, den Wehelauten und dem Stimmengewirr, ein großes Geräusch, das anschwoll. Als man nach dem Ursprung spähte, gewahrte man, wie unter dem bleichen Abendhimmel eine einzelne große Woge über den Hellespontos glitzernd einherwanderte. Staunen schlug sie alle in Bann, war es doch windstill. Die Woge brach sich mit einem ruhigen, fast zögernden Zischen und entsandte ihre Schaumsäume bis hoch auf den Strand. Als sie sich glättete und zurückebbte, stand dort eine reglose Gruppe von Gestalten, grün gewandet.

Nun hob die vorderste und auch größte dieser Gestalten muschelweiße Arme und ließ sie rhythmisch auf und nieder fallen; auf dieses Zeichen bewegten sich auch die anderen, und Möwenschreie, schrill und klagend, erfüllten die Luft. Und während die hohen Vogelschreie zitterten, trat die Anführerin auf den Strand und überquerte ihn.

Sie ging tappend, und ihr Gewand schleifte hinter ihr drein; ein Gewand, ganz aus dem Schimmer von Schäumen gewebt. Triefend kam sie heran; ihre Haut hatte den Glanz eines Fischleibes. Und trotz höchsten Ebenmaßes der Glieder ging sie wie ein altes Wesen, die Hände vorgestreckt, als gewärtige sie von Schritt zu Schritt einen Sturz; als sei sie ihrem Element entrissen und taste sich zurecht. Ihre von Nässe zusammengeklebten Strähnen waren von großen Perlen durchwunden, die beim Näherkommen leise klapperten. – Plötzlich hob sie den Kopf; ihr Antlitz ward den Männern nun erkennbar ...

Es leuchtete im eigenen Licht; die Augen waren wie heller Bernstein mit kaum erkennbaren Pupillen. Alles wich scheu zurück; kaum wagte man zu atmen; ein Unheimliches zog an ihnen vorbei, mit leise klatschenden Sohlen noch immer wie vorwärts fallend ... Hinter ihr das Möwengeschrei klang jetzt, als bildeten sich Worte ...

Die Fackeln prasselten.

Achilleus sah sie ins Zelt treten ...

»Thetis!« stammelte er ... »Mutter!«

Doch die Bernsteinaugen sahen ihn nicht; sie richteten sich schier leer auf den prunkvoll aufgebahrten Leib des Sohnes, auf die geputzte Schale, die dort lag; und indes ihre Nüstern sich krausten, die im Innern rötlich schimmerten wie die Höhlung einer Konchylie, betrachtete sie ihn witternd und stürzte dann auf ihn zu. Das ganze Zelt roch nach Meer. Und ihre Hand, wie die einer Halbblinden, tastete über den Toten und senkte sich dann auf sein grimmverzerrtes Gesicht. Als sie die Hand wegnahm, waren die Falten fort, war der lautlos schreiende Mund geschlossen, lag Frieden darüber wie Meeresstille.

»Mutter!« schrie es wieder in dem, der sie unablässig belauerte ...

»Thetis! – Mutter!«

Hatte sie etwas gehört? Neigte sie das Ohr zur Seite? Ja: jetzt sah sie ihn an; sah ihn an mit ihren Augen, die wie Edelsteine waren. Doch es war, als zweifelten, als suchten diese Augen ... Nein; sie sah ihn nicht. Es war ein umherirrender Blick. Noch einmal betastete sie die Leiche; und dann stieß sie, mit geblähtem Hals, einen jähen, gewaltigen Vogelschrei aus ... so entsetzlich schrill und schneidend, daß die stumm sich wieder Herzudrängenden draußen zurückfuhren, ja zum Teil wie weggeweht und stolpernd zur Seite hasteten.

Da sie sich in ihrem großen Jammer mit diesem einzigen Schrei erlöst, lag sie lange reglos auf dem Sohn und umhüllte ihn mit ihrem silbergrauen Gewand. Dann erhob sie sich. Wiederum war sie taub und blind für die Qual des wahren Sohnes, der so Unnennbares litt. Er folgte ihr. Er sah sich selbst, sah die eigenen schattenhaft nach ihr greifenden Hände und wunderte sich dumpf, daß das Zeltgemach durch seine Gliedmaßen hindurchschimmerte. Was war das? Die Göttin zuckte zusammen. Der Kopf fuhr herum. Und indes ihre Augen sich weiteten, blickte sie ihm geradeswegs ins Gesicht ... noch nie hatte er dies Gesicht, dies muschelweiße, holdgeschnittene, so nah gespürt; von salziger Luft umhaucht aus der Heimat der Delphine ... Doch sie gab nur einen gurrenden Laut äußerster Ratlosigkeit von sich, als schwebe er gar nicht vor ihr, noch verhaftet mit seinem prangenden Leib, sondern als dämmere sein Bild nur vor ihr auf, gewoben aus trauerndem Gedenken ... Als Abdruck ihres eigenen Leides ... Einmal wandte sie sich noch und blickte starr nach den Zügen auf der Bahre, die schier unverweslich dort ruhten in Greifbarkeit. Dann, ganz anders als sie gekommen, mit fliehenden Schritten und aufrecht, eilte sie zum Ufer nieder.

Das große sprühende Rauschen hatte sich wieder erhoben; eine erneute Woge war herangewandert; und indes das Geschrei der Nereiden sich mengte mit dem Platzen des Gischtes aus dem berstenden Schaumkamm, ward sie weggespült, mit ihrer Gefolgschaft, unter dem Sternenlicht.


 << zurück weiter >>