Willy Seidel
Der Tod des Achilleus
Willy Seidel

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V

Das Grau blieb. Es durchdrängte den Umkreis. Und da war Geflüster verdorrten Schilfes.

Töne trieben vorbei wie von irrenden Mücken. Nur selten von flauem Wind gelockert, schwebte Schwüle, als sei ein Gewitter im Anzug, das sich dennoch nie entladen könne.

Der Lauf eines träg ziehenden Flusses, erkennbar am Saum grauer Weiden, schlängelte sich in schilfene Ferne. Am Ufer stand Achilleus. Vor ihm dehnte sich ein heller Weg einem flachen Hügel entgegen, der zwischen Felsenkuppen dunklen Wald hegte. Der Mückenton und des Gewässers Gurgeln plagten sein Herz mit Einsamkeit. Irgendwo verhallte das Plätschern einer Ruderstange. Aus dem Anfang dieses seines letzten Traumes war ihm ein trüb forschendes Auge erinnerlich, ein schilfähnlicher Bart, ein gigantischer erdfarbener Leib. Das war Charon gewesen, der das Fahrzeug hierher gelenkt. Der Kokytos floß im Kreis, Charon war längst fern hinter umbuschter Biegung.

Dem Ausgesetzten blieb keine Wahl, als den hellen Weg entlang zu schreiten, dorthin, wo das bleiche Schilf dunklerem Gras wich. Fast gewichtslos, sah er dennoch seine Füße in den prächtigen Sandalen wechselnd den Grund treten, als ob er leisen Druck nach vorwärts spüre, wie ein Segel vor sacht atmender Brise. Ihm war so, als sei er nackt; als sehe er Brust und Geschlecht matt glimmend ... Doch während er dies noch dachte, sprossend gleichsam aus seiner Überlegung, formten sich an ihm Beinschienen, Panzer und Schwertgehenk, und an der Linken schwebte des Schildes dunkle Höhlung ...

Unbeweglich, wie ein schlanker Strauch, hatte am Eingang jenes Haines eine helle Gestalt gestanden. Plötzlich rührte sie sich nun und kam ihm entgegen auf dem Pfad; sie trug einen Chiton und hatte die eine Hand in die Hüfte gestützt, während die andere, wie bei geruhsamem Schlendern, lose pendelte. Sie ging mit zurückgeworfenem Kopf; die Blicke voll starrer Erwartung auf den Näherkommenden gerichtet ... Dann war es auf einmal, als wolle eine leere Quinte sich wandeln zum Zweiklang ... Er brauste, er stieg ... Beide schritten schneller aus, liefen, stürzten aufeinander zu, als dränge es sie, einen Leib zu bilden und untrennbar sich zu umklammern ... Denn der, der geharrt hatte am Hain, war Patroklos.

Mit Gier trank Achilleus die geliebten Züge. Der Freund schien nicht verändert; nur trug er statt der Rüstung ein Gewand von sehr dünnem Stoff, das jeder seiner Bewegungen wallend folgte. Er war kleiner als der Pelide, doch seine Stirn war hoch und glatt und die Bildung seines Leibes schlanker. Er lächelte, und ein gütiger Faltenkranz bildete sich an seinem dunklen Auge. Dies Lächeln behielt er lange bei, als sei es wie in Wachs gegraben. – »Komm«, sagte er und faßte den Freund unter den rechten Arm wie ein Gastgeber, der seine Domäne weisen will ... »Komm, Pelide; verlassen wir dies Feld und gehen in den Hain ...« Seine Stimme war nicht viel mehr als ein heftiges Flüstern; seltsam tonlos. »Ich habe auf dich gewartet. Immer stand ich hier und blickte nach dem Fluß. Ich erkannte dich; aufrecht saßest du im Kahn ... Sag, kämpft man noch um Ilion? Selten sah ich Charons Fähre nur befrachtet mit einem einzigen ... Doch dieser eine wiegt Dutzende auf ... Ich erkannte dich am Helm; am Schild ...«

»Mir war, als träte ich nackt ans Land.«

»Deine Waffen waren sehr deutlich um dich, wenngleich« – er spreizte die diaphane Hand und führte sie durch den Schild hindurch – »dies alles nur Abbild ist. Noch nickst du grauenhaft mit dem Roßschweif. Zuerst wirst du die anderen schrecken ... Doch dann wird dies Rüstzeug schwinden, und du wirst gleich mir gewichtslos wie eine Motte. Du, der Sohn des Peleus ...« Sein leises Kichern klang auf wie das Glucksen einer Quelle im Laubmoder. »Die wenigen wirst du schrecken, die erst kurze Zeit hier unten sind; die noch nicht geschlürft haben ...«

»Wovon geschlürft?«

»Vom Vergessen«, sagte Patroklos leichthin. »Man schiebt es hinaus, bis man noch einmal alles, was war, rückschauend durchkostet hat. Vergangenheit ist wie ein Apfel der Hesperiden; immer und immer spendet sie noch Saft, bis die Schale wirklich leer ... wirklich ausgesogen ist aufs letzte. Und dann geht man zum dunklen Quell. Dann kommt der – Stillstand.«

Achilleus blieb stehen und sah ihn angstvoll an.

»Patroklos ...«

»Ja?«

»Ich – hasse den Stillstand ... Ich will ihn nicht.«

»Wir haben noch viel, viel zu besprechen«, sagte Patroklos ausweichend und beruhigend. »Denk nicht daran.«

Sie durchquerten den Hain. Der Weg schlängelte»sich ansteigend zu einer Lichtung, die von schwarzgrünen Zypressen gesäumt war. Zuweilen nahten sich Gruppen von Schatten – bald deutlich erkennbar mit erloschener Neugier in wimpernlosen Augen, bald vorübertreibend und dahinquirlend wie Qualm. Die Lichtung war übersät mit fahlvioletten Blüten. Jenseits bewegten sich Rosse mit Menschenleibern, und diese Rümpfe bückten sich und tasteten mit den Fingern im Gras, sinnlos rupfend. Manchmal verfielen sie in einen Trab ohne Ziel.

»Sie sind blind«, sagte Patroklos. »Sie brauchen kein Licht, deshalb wurden sie blind. Auch ich sehe schon alles wie verschleiert. Das ist gut; denn was man noch hier sieht, ist nicht wert, gesehen zu werden. Dich sehe ich noch, Pelide; das ist mir genug. Und wir haben ja die Erinnerung

»Warum nur die Erinnerung? Ist unsere gemeinsame herrliche Zeit denn zu Ende? Sind wir nicht wieder vereint, Patroklos? Bleiben wir nicht vereint?«

Patroklos hob die Brauen. »Es ist schön, was du sagst«, sprach er tonlos. »Ja; wir sind nun wieder vereint; für immer ...« Seine Augen hatten die Farbe des unbewegten Regenhimmels, der sich über die Landschaft spannte.


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