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Am Tage vor unserer Abreise suchten wir zum letzten Male Onkel Simonis auf und fanden ihn in seinem Garten zwischen den Frühlingsblumen, die in reichster Fülle und Abwechslung zwischen dem noch kahlen Gebüsch und an dessen Rändern einen farbigen Teppich bildeten. Alles zu besitzen, was im ersten Frühling aus Zwiebel, Knolle oder Wurzelstock mit schimmernden Sternen, Glöckchen oder Kelchen wie ein leuchtendes Wunder aus der schwarzen Erde hervordringt, war sein Ehrgeiz, und um das zu erreichen, studierte er beständig in botanischen Werken, Gartenbüchern und Gärtnerverzeichnissen und entdeckte immer neue Sachen. In jedem Herbst verschrieb er sich aus Erfurt oder aus Holland Sendungen neuer Zwiebeln und Knollen, und manche Seltenheit verschaffte ihm ein Studienfreund, der in Berlin am botanischen Garten angestellt war. Da nun darum in jedem Frühjahr neue Wunder aus der Erde drangen, die er noch nie gesehen hatte, sondern nur aus Büchern oder Beschreibungen kannte, so war er dann stets in einer angenehmen Spannung wie ein Kind vor Weihnachten, und oft sah man ihn lange gebückt stehen, die Hände auf die Knie gestützt oder auf dem Rücken zusammengeschlagen, wie er die hellen Keime betrachtete, die aus der schwarzen Erde geheimnisvoll hervordrangen, und wenn sich nun gar die Knospen zeigten und anfingen, sich sanft zu färben, da ward seine Spannung immer größer. Stand dann ein solcher Neuling in Blüte, so war es immer ein Fest für ihn, doch manchmal auch eine kleine Enttäuschung. »Das aber liegt einzig an mir,« sagte er dann. »Ganz und gar nur an mir. Was kann die Pflanze dafür, daß sie nicht so schön blüht, wie ich dachte. Gar nichts kann sie dafür. So eine kleine Zwiebel bleibt darum doch ein Wunderding, ein unvergleichliches zauberhaftes Geschöpf Gottes. Denkt euch, alles ist schon fertig darin, alle Blätter und Blüten, Stempel und Staubfäden, aber winzig und zierlich und fein fest verpackt wie in einem Reisetäschchen. Und was nicht schon drin ist, kommt auch nicht heraus. Das merkt euch, Jungs, und saugt mit den Wurzeln eures Geistes beizeiten tapfer Kenntnisse in die leeren Zwiebeln, die ihr eure Köpfe nennt. Platz habt ihr ja genug darin, denn Dickköpfe seid ihr beide, das muß man sagen, ganz beträchtliche Dickköpfe. Die Lokalität ist also ungemein geräumig. Fahret ein bei der Zeit, so habt ihr in der Not.«

In einem solchen Gespräche begriffen fanden wir ihn vor, denn er stand mit isern Hinrich zwischen seinen Frühlingsblumen und entwickelte diesem seine beliebte Zwiebeltheorie. Dieser tat ungemein pfiffig und verschlagen und sah uns an, als stünde die Eröffnung eines wunderbaren Geheimnisses unmittelbar bevor. Onkel Simonis unterbrach sein Gespräch mit isern Hinrich, und da er gleich sah, daß wir kamen, um Abschied zu nehmen, so schwieg er eine Weile und sah uns nur mit einer gewissen Wehmut an. Isern Hinrich aber konnte seinen Trieb nach Mitteilung nicht mehr bändigen, und plötzlich fuhr er heraus: »Ick gah nu doch up See.«

Wir wußten ja, daß dies in der letzten Zeit sein Wunsch gewesen war, wußten aber auch, daß sein Vater, der die Gastwirtschaft nur als Nebenberuf betrieb, ihn zum Nachfolger in seiner Schmiede bestimmt hatte und seinen Wunsch, zur See zu gehen, für »abbeldwatsches dummes Tüg« hielt. Er pflegte dann das trübselige Schicksal des früheren Matrosen Jochen Nehls, das diesen vom versoffenen Taugenichts bis zum Einbrecher und Zuchthäusler führte, als den natürlichen Abschluß eines solchen dem heimischen Gebrauch und aller menschlichen Gesittung hohnsprechenden Berufes mit Nachdruck hinzustellen.

Onkel Simonis aber sagte: »Heinrich Trilk, soeben habe ich dir erst eingeschärft, du sollst dich künftig in meiner Gegenwart des Gebrauches der hochdeutschen Sprache befleißigen. Wenn ich die Mängel deiner Bildung einigermaßen beseitigen soll, so ist dies notwendig, es ist nicht zu umgehen, sage ich, die Umstände gebieten es, und eine Ausnahme kann nicht stattfinden.«

Dann zeigte er mit einer schöpferischen, gleichsam modellierenden Handbewegung auf isern Hinrich und sagte zu uns: »Hier stelle ich euch euern Nachfolger vor. In der Zeit bis zum nächsten Ostern, wo er eingesegnet wird, will ich versuchen, die Zwiebel seines Geistes ein wenig mit zukünftigem Blühstoff anzufüllen; warum und wozu, das mag er euch nachher selber sagen. Wenn er es auf Hochdeutsch tun will, so mag er dies zugleich als eine nützliche und notwendige Übung betrachten, eine höchst notwendige Übung, wie ich mit Bedauern hinzufügen muß. Das darf nicht ungesagt bleiben. So, Heinrich, nun gib mir die Hand, empfiehl dich und bedanke dich für gütige Belehrung. Wie sagst du also?«

Isern Hinrich kam mit zwei gewaltigen Extraschritten zu seinem zukünftigen Lehrer, reichte ihm die Hand mit kraftvoller Gebärde, machte einen Diener, den er uns abgesehen haben mußte, als hätte er eine Schnappfeder im Genick, und einen Kratzfuß gleich einem rheumatischen Hahn und sagte mit bemerkenswerter Gewandtheit: »Ich empfehle mir Sie, Herr Simonis, und bedanke mir auch for gütige Belehrung.« Dieser bemerkte gütig: »›Mich Ihnen‹ heißt es und ›mich für‹, sonst ganz gut, es wird schon kommen. Adieu Heinrich.«

Als dieser sich, die Hände in den Hosentaschen und mit merkwürdig schwankendem Seemannsgang, den Gartensteig entlang davonschob, sah Onkel Simonis ihm mit einer gewissen Bekümmernis nach.

»O, ihr unsterblichen Götter,« sagte er, »wenn das Ungetüm erst deutsche Aufsätze bei mir macht, das wird ein Blutbad. Blut muß fließen knüppeldick. Ich fürchte, jede Seite wird aussehen wie ein Sonnenuntergang. Kinder, daß ich es nicht vergesse: ich muß gleich morgen rote Tinte kochen. An euch habe ich schon fast meinen letzten Tropfen verspritzt. Ich glaube gar, ihr denkt, es macht Spaß, wenn man so recht mit dem roten Saft herumfuhrwerken kann. Gar keinen Spaß macht es, im Gegenteil. Herzblut ist es, womit man schreibt. Doch das versteht ihr nicht und werdet's auch wohl nie verstehen lernen. Schulmeister werdet ihr alle beide nicht. Das liegt nicht in euch. Auch gehört es nicht zu euren Eigenschaften, es Schulmeistern leicht zu machen. Humaniora sind euch nur unter einem gewissen Druck beizubringen. Nur wenn euch was Spaß macht, wie dir, Reinhard, Deutsch und Naturwissenschaften und was damit zusammenhängt, und dir, Adolf – ja darauf muß ich mich erst besinnen, es fällt mir im Augenblick nicht ein –, wenn euch also was Spaß macht, da geht es.«

Damit hatte er den Übergang gefunden zu einer kleinen Abschiedsrede, auf die er sich offenbar vorbereitet hatte, und nahm uns mit in sein Studierzimmer, schenkte uns jedem ein Gläschen süßen Weines ein und bewirtete uns mit Apfelgelee und kleinen Mürbekuchen.

Es hatte ihn offenbar mit Stolz erfüllt, daß unser zukünftiger Direktor mit dem Maße unserer Kenntnisse zufrieden gewesen war, denn er kam darauf zurück und ermahnte uns, ihm auch ferner Ehre zu machen. Er habe es verhältnismäßig leicht gehabt, denn er habe uns allein vor sich gehabt und uns genau gekannt, und habe uns den wehrsamen Trank der Weisheit meistens so sachte eingeflößt wie Öl, so daß wir es gar nicht bemerkt hätten. Das würde nun anders werden, denn die Lehrer, die uns nun gegenübersitzen würden, könnten nicht jeden einzelnen so genau kennen, denn dazu wären es zu viele. Und diese vielen säßen ihnen mit wenigen Ausnahmen nicht gegenüber als dankbare Schüler, sondern als Feinde und Gegner von indianerhafter List und grausamer Gesinnung. Denn ob auch jeder einzelne am Ende ein ganz guter Kerl sein möchte, als Ganzes in ihrer Zusammenrottung gegen den vermeintlichen Unterdrücker, der die Macht hat, seine Meinung mit allerlei empfindlichen Mitteln durchzusetzen, seien sie ohne Erbarmen. Aber er wüßte, wir würden darin eine Ausnahme machen. Und dann fing er an, allerlei Lichtseiten in uns zu entdecken, die uns zum großen Teil selber unbekannt waren, so daß schließlich ein wahrer Glanz von uns ausging, als seien wir neu aufpoliert und blank gemacht und leuchteten nun wie frisch gewichste Stiefel. Dabei wurde er gerührt über so viel Vollkommenheit und fing an, sich bei uns zu bedanken für unser Entgegenkommen und die Selbstverleugnung und schöne Willigkeit, die wir ihm gegenüber bewiesen hätten, so daß uns bei diesem unvermuteten Überfall aus einem heimlichen und ungekannten Winkel butterweich zumute wurde und wir beide kurz davor waren, eine Männerträne in unseren Augen zerdrücken zu müssen. Dann ging er ein paarmal im Zimmer auf und ab, allerlei abgerissene Reden führend, die viel zu ehrenvoll für uns waren, als daß ich sie hier wiederholen möchte, und begann dann emsig zwischen seinen Merkwürdigkeiten zu kramen. Doch schien er unter diesen Dingen, die alle ein Stück Lebenserinnerung für ihn waren, nichts Geeignetes finden zu können. Ich sah, wie er ein prachtvolles Stück Bernstein mit Insekteneinschluß, das ich schon lange wie ein Heiligtum verehrte, eine Weile nachdenklich in der Hand hielt, und sah, wie er eine Schachtel öffnete, die eine von ihm im Laufe der Jahre zusammengebrachte Sammlung von Kuckuckseiern der verschiedensten Färbung enthielt, ein Anblick, bei dem Adolfs Augen anfingen gierig zu funkeln, allein er schien sich nicht entscheiden zu können, kramte emsig weiter herum und fuhr sich zuweilen wie verzweiflungsvoll in die Haare. Endlich schien ihm eine Erleuchtung zu kommen. Er schloß seinen Sekretär auf, ein schönes Birkenholzmöbel mit Messingbeschlägen, und klimperte dort eine Weile in seinem Silbergeldkörbchen. Dann kam er plötzlich zurück, schenkte jedem von uns ein Zweitalerstück und schob uns unter vielen Händedrücken und Segenswünschen zur Tür hinaus. Denn obwohl er so gerührt war, daß ihm die Tränen herabliefen, von irgend einer seiner Merkwürdigkeiten hatte er sich doch nicht trennen können.

Isern Hinrich hatte draußen in der Dorfstraße auf uns gewartet und begleitete uns noch eine Strecke bis zum Gutshofe, wohin wir jetzt gingen, denn ich hatte noch einen Abschiedsbesuch zu machen bei Adolfs Tante Malchen, die bei unserem gemeinsamen Familienabschiedsbesuch wegen Migräne nicht sichtbar gewesen war. Sie hatte sich dies extra erbeten, eine Ehre, die ich nur ganz wenig zu schätzen wußte.

Isern Hinrich erzählte nun und zwar in Nachwirkung von Onkel Philipps Ermahnungen in einem prachtvollen Hochdeutsch:

»Ich gehe nun also doch zur See. Der Alte wollte un wollte ja nich. Da hab ich mir nu aber achter Herrn Simonis gestochen, im der hat ihn breit gekriegt. Denn was Herr Simonis is, das is ein'n weltbefahrnen Mann un auch ein'n seebefahrnen Mann, un was der sagt, das glaubt der Alte. Un wo er ihm am meisten mit rum gekriegt hat, das is mich grad am wenigsten mit, nämlich, daß ich bei Herrn Simonis inne Schule gehn soll. Denn er hat gesagt, ich sollt doch am End nich ümmer so'n simplen Matrosen bleiben, der zwarst seine schöne Heuer kriegt, abersten doch meist nie nichs nich hat, weil er das schöne Geld ümmer gleich wieder verschwubbst, wenn er an Land kommen tun tut. Ne, wenn ich so weit wär, denn müßt ich nach Wustrow auf die Navigatschonsschul un mir da in die Nautik belernen un Algebra un allerhand sowas. Un der Navigatschonslehrer Peters in Wustrow, das wär sein alten Freund, den wollt er denn schreiben, un der würd schon auf mir aufpassen. Na, un wenn ich denn mein'n Exament gemacht hätt, denn könnt ich Steuermann werden, das wär doch'n andern Schnack, un wenn ich mir denn gut machte, könnt ich's zum Kaptän bringen un käm am End woll noch mal zu mein eigen Schiff. Na, un denn war ich schön raus. Jungedi, fein, wat?

»Aber, was das allens kosten tut? sagte der Alte. Abersten Herr Simonis meinte, das wär all nich so schlimm. Man bloß die erste Ausrüstung, das Seemannszeug un das Ölzeug, un was sonst noch all in sonne Seemannskist ein gehört, das kost ja'n bischen, abersten nachher, da verdient er sich as Schiffsjung schon seine schöne Heuer un braucht nichs mehr. Un das mit die Navigatschonsschul wär auch nich so gefährlich un würd sich woll finden, un wo der Alte doch die gangbarste Schmiede hätt inner ganzen Gegend un ein schön Stück Acker un denn noch die Krugwirtschaft zu, wenn einer das könnt, denn könnt er das. Un der Alte hat sich an'n Kopf gekratzt un ›Jeja, jeja‹ gesagt; Herr Simonis hat ihm aber doch rum gekriegt.

»›Abersten,‹ hat Herr Simonis gesagt, ›mein lieber Trilk,‹ hat er zu mein'n Alten gesagt, ›denn muß er nu schon düchtig was lernen. Denn for ein'n Matrosen, da langt woll sein bißchen Lesen, Schreiben un Rechnen, was Küster Vitense ihm mit viel Geduld und schöne schiere Haselstöcke beigebracht hat, un Hochdeutsch braucht er gar nich. Abersten ein Steuermann un ein Kaptän, das muß ein'n gebildeten Mann sein un hat es mit die Wissenschaften zu tun.‹

»Na, da soll ich ja nu 'n ganzes Jahr lang bei ihn inne Schul gehn un soll bei ihn Gegrafie lernen un Mattermatik un Hochdeutsch – na, das kann ich ja all ganz schön, nich? – un Engelsch un Französch un all son'n Kram. Un wenn ihr denn mal wieder herkommt, denn sprech ich man bloß noch Französch un Engelsch mit euch, hä? Kö wulewuh? Kartüffelschlu! Hau du ju du? Ahl reit!«

Wir waren unterdes am Hoftor angelangt und standen nun und wünschten isern Hinrich Glück zu der Wendung seines Schicksals, und dieser, nach seiner Meinung nun von der Last der ihm aufgezwungenen Bildungssprache befreit, gab auch uns Glückwünsche und Ratschläge mit auf den Weg. »Un lat't jug dat gaud gahn,« sagte er, »mang dei latienschen Keesgesichters. Un sett't jug kein Brillen up. Un kiekt jug nich dei Näs' lang, wenn ji mal'n olligen Kierl tau seihn kriegt, un seggt ›Pisang‹ tau em. Un wenn ji Adi Piepenbrink mal up dei Straat bigegent, denn känt ji em seggen, ji harrt em wat mitbröcht von mi. Un wenn hei dann fröggt, wat denn? Denn känt ji em düchtig eins afnüschen un em dei Oogen so verkitten, dat hei drei Dag lang nich seihn kann, wo bläurig sin Snut is.«

»Na,« sagte ich, »dat will nu'n finen Hochdütschen sin!«

Er antwortete: »Mein Harz is erfüllt mit Haß un Verachtung gegen ihm, wän kann da fein sein! Doch nun adschüs auch. A revoahr! God bei!« Wir konnten nicht verhindern, daß wir ihm trotz der feierlichen Gelegenheit laut ins Gesicht prusteten. Er aber streckte uns mit unerschütterlichem Ernst nach alter Gewohnheit seinen Oberarm entgegen: »Und nun zum letzten Male!« sagte er. Wir gaben ihm nach unverbrüchlichem Gesetz mit den Knöcheln der verwendeten Hand einen kräftigen Schlag auf den Bizeps.

»Fühl ich gar nich!« sagte der eiserne Heinrich und ging mit würdevollen Schritten seiner Heimat zu.

Adolf erwies sich als ein treuer Freund, der einen auch in der Not nicht verläßt, denn er begleitete mich zu seiner Tante, der er sonst wegen ihres kritischen Geistes und ihrer stark erzieherischen Tendenzen mit Vorliebe aus dem Wege ging. Das rechnete ich ihm hoch an. Aber Respekt hatte er vor ihr, das merkte ich daran, daß er sich ganz gegen seine Gewohnheit, ehe er in das Haus eintrat, mit großer Inbrunst seine Füße reinigte und auch mich zu dieser unsympathischen Tätigkeit strenge anhielt. Er zeigte mir sogar, wie ein Pferd, das beschlagen werden soll, seine Sohlen, wobei er selbst über die Schulter hinweg einen Blick auf diesen Teil seines Pedals zu gewinnen suchte, was ihm bei seiner steifen Bauart nur unvollkommen gelang. Vor meiner milden Kritik bestanden sie wohl, worauf er auch die meinen betrachtete und zu seiner Zufriedenheit fand. Dann schickte er das Stubenmädchen hin, um mich zu melden, und dieses kam bald zurück mit der Nachricht: Fräulein Säuberlich ließe bitten.

Tante Malchen empfing uns in ihrem Heiligtum, einem sonnigen Giebelzimmer des weitläufigen, aber wie meistens nur einstöckigen Hauses; dies war eine Ehre, die mir sonst noch niemals zuteil geworden war, und mein Herz war feierlich gestimmt und beklommen, als ich klopfte. Sie rief nicht herein, sondern kam an die Tür und öffnete sie vorsichtig, daß nur der längliche Kopf mit der schmalen, rötlichen Nase und den wohlgedrehten Hängelocken heraussah.

»Da seid ihr ja beide!« sagte sie, »habt ihr euch die Füße auch ordentlich abgetreten?«

»Ganz barbarisch!« sagte Adolf und nahm gewissenhafterweise wieder die Stellung eines Pferdes an, das beschlagen werden soll, wobei er sich naturgemäß bückte und seiner Tante die etwas völlige Rückseite zuwendete.

»Aber nein, was für Manieren, pfui!« sagte die Tante, deutete dann auf die Matte, die vor der Tür lag, und sagte: »Bitte, lieber noch einmal, es ist sicherer.«

Wir schrubbten nun eine Weile mit Feuereifer auf der Matte herum, bis sie uns endlich, immer noch mit mißtrauischen Blicken auf unsere Pedale, einließ. An jeder Seite der Tür stand ein Stuhl, dort durften wir uns setzen, weiter wurden wir in das Heiligtum nicht hineingelassen. Der größte Stolz der Tante war nämlich der aus schön gefugten astfreien und schimmernden Brettern hergestellte Fußboden, der durch oftmaliges Scheuern unter sträflichem Aufwande von Bolus stets in einem Zustande beleidigender Weiße erhalten wurde. Ein Fleck auf diesem Fußboden brannte ihr auf der Seele wie fressendes Feuer. Überhaupt waren Weiß, und was ihm nahe kam, Hellrosa, Mattblau und Blaßgelb, wohl ihre Lieblingsfarben, denn auch die Tapeten waren weiß mit silberner Borte und natürlich die schimmernden Fenstervorhänge. Das Zimmer war ausstaffiert mit Rokokoerbmöbeln, weißlackiert mit Gold, von wunderlichen, geschweiften Formen und mit Beinen versehen, die ein Bestreben, gleichzeitig X- und O-Beine vorzustellen, erfolgreich betätigten. Die Polstermöbel hatten Überzüge von einem blaßgelben Seidenstoff so zarter Beschaffenheit, daß uns die bloße Vorstellung, darauf sitzen zu müssen, schon mit Schauder erfüllte, der nur gemildert wurde durch die tröstliche Gewißheit, daß uns das nie gestattet werden würde. Dies Zimmer füllte unsere Seele mit Beklemmung, und wenn wir uns darin befanden, wußten wir nie, wo wir mit unseren Händen und Füßen bleiben sollten, die wir als täppische Endigungen rohester Körperlichkeit mit Bedrückung empfanden.

Dort war alles so ausdividiert und rührmichnichtan. In dem blitzenden Glasschrank stand weißes Porzellan, dünn und durchscheinend wie aus versteinertem Mondschein geformt, und Gläser waren dort, zart wie ein Hauch, daß man meinte, von einem bösen Blick müßten sie mit einem zimperlichen Seufzer zerspringen. Da war ein Meißener weibliches Figürchen in Schleier und Spitzen von durchbrochenem Porzellan gehüllt und mit frei schwebenden Schleifen und Bändern so dünn wie Postpapier geziert; das war offenbar ein Abbild der Göttin der Zerbrechlichkeit selber. Da war ein Spinnrädchen und ein Garnhaspel, die standen jedes unter einer Glasglocke vom rauhen Hauch der Welt geschieden, so zierlich und so fein, als hätten Mondscheinelfen sie in einer Sommernacht aus ihren eigenen Beinchen gedrechselt, und dazwischen lag eine Elfenbeinkugel chinesischer Arbeit, in deren äußerster papierdünner, mit schön durchbrochenen Mustern gezierten Hohlkugel noch andere sechs bewegliche steckten, alle mit verschiedenen Ornamenten durchbrochener Arbeit und das Ganze aus einem Stück gearbeitet. Dies Denkmal stumpfsinnigen Fleißes und ödester Zeitvergeudung war Tante Malchens höchster Schatz und für sie eine Art Heiligtum der Kunst. Jedoch kann ich nicht leugnen, daß es auch uns, wenn es uns einmal unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln und aus sicherem Abstand gezeigt und vorgeführt wurde, mit dem heiligen Schauer der Bewunderung erfüllte. Von den Silbersachen, die dieser Schrank enthielt und die teils mit funkelndem Glanz, teils mit sanftem Schimmer aus ihm hervorleuchteten, von den Silberfiligranarbeiten, deren feines Kräuselwerk wie aus Mondstrahlen gehämmert erschien, und von allerlei anderen zierlichen Kinkerlitzchen, die er barg, will ich schweigen, es möchte sonst zu viel werden, nur der Bilder muß ich noch gedenken, die die Wände zierten, und des Klaviers, weil dies das einzige Möbel war, das in die Ausstattung dieses Zimmers nicht ganz zu passen schien. Über dem Sofa um einen Spiegel mit silbernem Rahmen herum hing ein ganzes Familien- und Freundschaftsmuseum von Silhouetten, schöne Damen mit geschmeichelten Profilen und wunderlichem melonenförmigen Haaraufbau oder langen Hängelocken, und Herren desgleichen mit hohem Busen, aus dem ein zierliches Jabotgekräusel hervorsah, oder angetan mit hochkragigen Biedermeierröcken. An der Wand gegenüber, wo das Klavier stand, hingen aber einige farbige Kupferstiche, deren zimperliche Verschwommenheit sich gar wohl in den Ton des Ganzen fügte. Das tafelförmige Klavier aber, schön mit Birkenmaserholz furniert und reichlich mit Ornamenten von vergoldetem Messing verziert, hätte nun fast einen häßlichen Farbfleck in dieser Symphonie von Weiß und Blaß gebildet, wäre es nicht immer mit einer schneeweißen Decke verhängt gewesen und hätten seine Beine nicht zum Schutz gegen die Fliegen stets in weißen Florhöschen gesteckt, die mit blaßblauen Bändern zugebunden waren. Wenn man es öffnete und darauf spielte, sagte es: »Zimzerim pängerängpängpäng«, und alle die vergoldeten Ornamente, die im Laufe der Zeit lose geworden waren, und die blanken Messingstangen, die in der Pedallyra die Saiten vorstellten, klirrten sanft dazu und verstärkten seine anmutige Heiserkeit, so daß man sich kein besseres Klavier denken konnte, um zu seiner Begleitung zu singen: »Blühe, liebes Veilchen«, oder: »Als ich noch im Flügelkleide in die Mädchenschule ging.«

Die Besitzerin aller dieser Herrlichkeiten aber saß auf dem blaßgelben Sofa, und vor ihr auf dem Tische stand eine Kristallvase mit weißen Narzissen. Sie sah durch eine altertümliche Elfenbeinlorgnette eine Weile auf uns hin wie auf zwei Delinquenten, die auf den schimpflichen Tod am Galgen vorzubereiten waren, und betrachtete uns dann ebensolange mit bloßen Augen, was wohl am Ende nötig war, denn wie Adolf, der ruchlose Realist, behauptete, konnte sie durch diese Gläser gar nichts sehen und benutzte sie nur als ein stilvolles Ornament. Dann sagte sie: »Wie ihr euch da nun wieder hingesetzt habt, und wie ihr da nun wieder sitzt. Adolf macht erst einen tiefen Diener und dann läßt er sich rückwärts auf den Stuhl fallen, daß es knackt, und sitzt dann da mit breiten Füßen und die Hände auf den Knieen, wie so'n Viehkommissionär. Und du, Reinhard, gehst von seitwärts auf den Stuhl und wrümmelst die Füße umeinander, als wären sie von Gummi, und schiebst deine Brust und deinen Magen zusammen wie so'n Fernrohr, daß du nur halb so groß aussiehst, wie du bist, und wenn Adolf so steif ist wie so'n Holzbock, dann bist du, als wären dir die Glieder mit Zwirnsfaden zusammengenäht.«

Hierzu ist zum besseren Verständnis zu bemerken, daß der Mensch Tante Malchens weder einen Unterleib noch Beine besaß, denn auf Kopf, Hals, Brust und einen Magen von ungeheurer räumlicher Ausdehnung folgten bei ihr gleich die Füße.

Nun, ich wickelte meine Beine auseinander und schob mich in die Höhe und versuchte gerade zu sitzen, so gut ich konnte, und Tante Malchen fuhr fort:

»Ich danke deiner lieben Mama sehr, Reinhard, daß sie dich hergeschickt hat, denn daß du von alleine gekommen bist, mein Süßing, das bildest du dir doch wohl selber nicht ein.« Ich gab, in der Bemühung, das Gegenteil zu versichern, ein unbestimmtes Grunzen von mir, denn ein inneres Bewußtsein von der Haltlosigkeit meiner Sache und ein erfreulicher Rest von Wahrheitsliebe hinderten mich, deutliche Worte zu gebrauchen. »Ich danke dir aber doch, mein Liebling, daß du gekommen bist und mir Gelegenheit gibst, dir und Adolf einige recht notwendige Regeln mit auf den Lebensweg zu geben. Denn ich meine es gut mit dir, mein Herzing, wenn du dafür auch wohl am Ende gar nicht ein bißchen dankbar bist.«

Süßing, Liebling und Herzing sagte sie zu mir und mit einem Ausdruck, als sei jedes dieser Wörter aus vergiftetem Schmelzzucker, das konnte gut werden. Tante Malchen hatte unterdes in einen Handspiegel mit silbernem Rahmen gesehen, der stets auf ihrem Tische lag, und wohl bemerkt, daß sich ihr Schmerzenskind, ihre längliche Nase, vielleicht vor innerer Erregung mehr als gewöhnlich gerötet zeigte. Sie sagte: »Sitzt mal einen Augenblick recht schön still und gerade, ich komme gleich wieder«, und ging in ihr Schlafzimmer.

»Nun wäscht sie sich ihre Nase mit Lilienmilch«, flüsterte Adolf mir zu. Lilienmilch, Mandelkleie und Veilchenseife waren ihre Hauptverbrauchsartikel, wie uns der Kutscher des Herrn Martens, der diese Kosmetika aus der Stadt mitbringen mußte, einmal anvertraut hatte. Ich antwortete ebenso leise: »Paß mal auf, nun kommt sie uns gleich mit den beiden Köhnkes!« »Wollen wir ausritschen?« sagte Adolf schnell. Es war ein berauschender Gedanke, und die Gelegenheit war günstig; allein wir wagten es beide nicht und blieben wie das Kaninchen unter dem Bann der Schlange ruhig sitzen. Unterdes kam auch schon die Tante mit sichtlich blasserer Nase wieder herein und ergriff aufs neue den Vorsitz und mit fester Hand die Zügel der Unterhaltung.

Sie sagte, indem sie sich nach ihrer Gewohnheit in ihrer stets zu engen Schnebbentaille zurechtrückte: »Ich kann wohl sagen, Schatzing, daß ich mich freue, daß du und Adolf nun in die Stadt kommen, denn ich hoffe, ihr werdet da endlich etwas mehr Savoir de vivre annehmen. Herr Simonis hat viele Jahre nur in der besten Gesellschaft gelebt und ist ein feiner und galanter Mann, aber auf euch hat das nicht abgefärbt. Unregelmäßige Verba, so heißt es ja wohl, und den pythagorischen Lehrsatz mag er euch am Ende wohl ganz gut beigebracht haben, aber Politur der Welt – das kann man nicht sagen. Ich muß immer noch an die beiden jungen Köhnkes denken, die im vorigen Jahre bei Herrn Ökonomierat Varchentin zu Besuch waren. Gott nein, was war das für ein Unterschied. Und anstatt euch daran ein Beispiel zu nehmen, habt ihr sie immer ins nasse Gras geschubst, was ihnen gräßlich war. Ihr habt ein ruchloses Gemüt.«

Da waren sie schon, die Gebrüder Köhnke, und ich grinste in einem unbewachten Augenblick, ganz geschwollen über meine Prophetengabe, Adolf an. Diese Musterknaben waren, um den Eindruck ihrer Wohlerzogenheit zu verstärken, als Zwillinge auf die Welt gekommen und sich so ähnlich, daß nur Gott sie auseinanderkannte. Ja, es ging die Sage, sie seien schon in frühester Jugend miteinander verwechselt worden, so daß Alfons eigentlich Erwin und Erwin Alfons sei.

Man hatte sie dann genauer untersucht und gefunden, daß der, den man für Alfons den erstgeborenen hielt, ein ganz kleines Leberfleckchen auf der Hinterseite des rechten Ohres trug, und ehe sie sprechen konnten und ihre Namen selber sagen, ist wohl keinen Kindern in der Welt so viel hinter die Ohren gesehen worden wie diesen. Für ihre Körperlichkeit hatte der vorhandene Stoff nicht ganz gereicht, sie waren von Anfang an kleine, magere Geschöpfe mit zu großen Köpfen und welken Gesichtszügen, aber gebildet und wohlerzogen kamen sie schon auf die Welt und blieben es auch. Sie vertrugen sich friedlich um eine Amme und lagen das erste Jahr ihres Lebens einträchtig nebeneinander in ihrer Wiege auf dem Rücken, gleich Gottfried Kellers gerechten Kammachern, wie zwei Heringe unter einem Blatt Papier, und deuteten ihre Bedürfnisse und Gefühle nicht wie andere durch herzhaftes Zetergebrüll an, sondern nur durch ein leises, greinendes Zirpen. Als sie spät laufen und früh sprechen gelernt hatten, waren sie immer ungemein artig und verständig und das Entzücken aller Tanten beiderlei Geschlechts, die ihnen eine große Zukunft prophezeiten, und nur die frühere Amme, die ihre Wärterin geblieben war, unkte zuweilen beträchtlich, indem sie der Meinung war, so viel Tugend könne unmöglich zu hohen Jahren kommen.

Und was schier unmöglich erschien, sie wurden sich immer noch ähnlicher, so daß Onkel Päbke, den genügsame Leute für einen Witzbold hielten, steif und fest behauptete, sie verwechselten sich selbst miteinander, und es gäbe Zeiten, wo Alfons sich für Erwin und Erwin sich für Alfons hielte. Für die Kenner aber bildeten die klugen Knaben im Laufe der Zeit zwei Zeichen aus, die zur Feststellung ihrer Persönlichkeit dienlich waren, indem Erwin als der Jüngere stets an der linken Seite seines Bruders ging und Alfons die Gewohnheit angenommen hatte, dem aufmerksamen und zweifelnden Beschauer sofort die Hinterseite seines rechten Ohres zuzuwenden, wo ihm der Stempel seiner Erstgeburt aufgedrückt war.

Als wir diese beiden Musterknaben kennen lernten, die man sich einzeln gar nicht vorstellen konnte und auch nie so zu sehen bekam, waren sie zwölf Jahre alt, also etwas jünger als wir damals, aber von einer geistigen Reife, wie Tante Malchen behauptete, nach der wir noch jahrelang zu klettern hätten. Sie trugen ihre Haare glatt anliegend, in der Mitte gescheitelt, und ein sanfter Pomadenduft strömte von ihnen aus. Ihre abstehenden Ohren glichen, wenn das Licht hindurch schien, kleinen rosigen Flügelchen, und man konnte durch ihre Köpfe erinnert werden an jene anspruchslosen himmlischen Wesen, die sich ohne Körperlichkeit behelfen und auf unzähligen Bildern rumpflos ein gemaltes Dasein führen, und deren einziges Geschäft darin besteht, lächelnd durch Wolken zu flattern. Ihre länglichen, gelblichen Hamstergesichter zeichneten sich durch eine zu hohe Stirn und einen etwas wulstigen Mund aus, dessen zu kurze Oberlippe fast immer zwei große weiße Schneidezähne zeigte, die zu bedecken ihnen nur mit Anstrengung und nicht immer vorhandener Willenskraft gelang. Gekleidet waren sie damals in braune Samtanzüge mit roten Halstüchern, breit überfallende Halskragen und Spitzenmanschetten, und wenn sie bei gutem Wetter aus Gesundheitsrücksichten spazieren gingen, so trugen sie kleine, winzige Stöcklein in der Hand, mit denen man nicht einmal eine Distel köpfen konnte, und wandelten nur auf gebahnten Wegen und führten gebildete Gespräche miteinander über die Feinheiten des Cornelius Nepos und die Schwierigkeiten des accusativus cum infinitivo, oder hörten sich gegenseitig Vokabeln ab. Kurz, mit einem Wort, sie waren ganz und gar von Gott verlassen. Wir konnten darum auch nichts mit ihnen anfangen, und nur die Scheu vor der Heiligkeit des Gastrechtes, die Furcht vor einer rächenden Nemesis und am meisten das Mitleid mit ihrer dürftigen Körperlichkeit konnten uns abhalten, ihnen auf handgreifliche Art zu Gemüt zu führen, daß wir sie für Kubikaffen hielten. Wir hatten uns redliche Mühe gegeben, ihr Herz durch alle ländlichen Sehenswürdigkeiten des Gutes zu erfreuen und ihren Geist dadurch zu bilden, allein in die Viehhäuser waren sie nicht zu bringen, weil sie sich fürchteten. Es war ihnen nicht möglich, durch eine Doppelreihe behaglich linksum kauend ihr Grünfutter verzehrender Kühe zu gehen, die alle mit großen Augen auf sie hinglotzten und zuweilen ein fürchterliches Muh von sich gaben. Auch beleidigte der kräftige landwirtschaftliche Duft, der dort herrschte, und der viele Schmutz, wie sie es nannten, ihre ästhetischen Gefühle. Als wir ihnen nun gar das neue Schweinehaus zeigen wollten, das Herr Martens hatte erbauen lassen, in dem es so sauber war, wie in einem Milchkeller, und wo Herr Martens seine in der ganzen Gegend berühmte Zucht von echten Yorkshire-Schweinen betrieb, da weigerten sie sich energisch und taten den Ausspruch: Schweine seien gräßlich. Als wir dann über den Hof gingen und der große Kuhnhahn über ihre roten Halstücher in sinnlose Wut geriet und sich aufblies und ein Rad schlug und mit lang herabhängendem Nasenzipfel und schrecklichem Kollern auf sie los ging, und als dann der streitbarste aller Gänseriche darüber zukam und, Anstoß nehmend an ihrer fremdartigen Erscheinung, sie mit vorgestrecktem Halse und grausigem Zischen verfolgte, da rissen sie aus, so gut sie konnten, häufig angstvolle Blicke rückwärts sendend, während wir gutmütig die Nachhut deckten und die furchtbaren Feinde vertrieben. Adolf, der dabei den Kunstgriff angewendet hatte, den Gänserich am Halse zu ergreifen und ihn ein paarmal um sich herumzuschwenken, wurde noch eine ganze Weile nachher von ihnen als ein Held, Sieger und Übermensch mit scheuen Blicken einer mit Furcht gemischten Bewunderung verehrt.

Wir gingen dann mit ihnen in den Garten und Park, wo dergleichen unliebsame Angriffe nicht zu fürchten waren, und als wir an das Seeufer kamen, machten wir ihnen den Vorschlag, sie ein wenig auf dem See spazieren zu rudern. Sie aber sagten, auf das Wasser dürften sie nicht, Tante Clementine hätte es verboten. Wir unterdrückten die Gefühle unsäglicher Verachtung, die in uns aufstiegen, so gut wir konnten, und sannen weiter nach, was ihre zartbesaiteten Gemüter wohl zu erfreuen vermöchte. Da fiel Adolf etwas ein, das er für eine glanzvolle Idee hielt. »Möchtet ihr wohl ein Vogelnest sehen?« sagte er, »mit Jungen?« Die Knaben sahen sich zweifelhaft an. »Sind es sehr große Vögel?« fragte Alfons. »Wie ist ihr wissenschaftlicher Name?« fügte Erwin bildungsbedürftig hinzu. »Die Alten sind nicht viel größer als Sperlinge,« sagte Adolf, »und der Vogel heißt auf lateinisch Lanius collurio und auf deutsch Neuntöter – hier sagen sie Dickkopp Nägenmüre zu ihm. Er kann wunderschön singen, das heißt von sich nicht, aber er macht alle Vogelgesänge um ihn herum ganz fein und richtig nach. Unserer kann singen wie eine Nachtigall und wie eine Mönchgrasmücke und wie eine Lerche und eine Rauchschwalbe und ein Karrekiekkiek und macht wohl noch fünf andere Vogelgesänge nach und alle möglichen Lockrufe, immer eins hinter dem andern weg.«

Die gräßlichen Namen dieses Vogels, die an grausamen Totschlag und gewohnheitsmäßigen Massenmord erinnerten, schreckten sie sichtlich ab, sie drückten beide mit dem Zeigefinger die Oberlippe herab, daß die großen Schneidezähne verschwanden, und blickten uns mißtrauisch an. Es war im Augenblick ganz windstill an diesem Ort, und kein Blatt flüsterte; auch der See lag spiegelglatt und rauschte nicht an sein Ufer. In dieser Stille tat sich plötzlich hinter den alten Weiden, wo am Rande des Rasenplatzes ein großer Dornbusch stand, ein lieblich dahinrieselnder Gesang hervor, und man konnte durch eine Lücke zwischen den Stämmen den Vogel sehen, der auf der obersten Spitze des Busches saß, um nach seiner Gewohnheit freie Umschau zu halten und dazu ein wenig Musik zu machen.

»Seht, da sitzt er, das ist er,« rief Adolf leise, aber aufgeregt, »seht da mal zwischen den beiden Baumstämmen durch, da oben in dem Dornbusch, da singt er. Klingt fein, nicht? Dies war eben ein Finkenschlag, und nun dies Mißing, Mißing, das ist aus dem Lied der Bastardnachtigall, und jetzt kommt ein bißchen vom Iritsch und so immer zu. Seht ihr ihn?«

Die beiden Knaben, mit ihren blöden Lesebuchaugen solcher Beobachtungen ungewohnt, konnten zuerst den Vogel nicht finden, wahrscheinlich auch darum nicht, weil sie sich dies Geschöpf mit den gewaltsamen Namen doch wohl trotz alledem mindestens so groß wie eine Krähe vorgestellt hatten; als sie ihn aber endlich entdeckten und sahen, wie klein er war, wuchs ihnen sichtlich der Mut, und sie zeigten Neigung, das Abenteuer zu bestehen, zumal da sie gestehen mußten, noch niemals ein Vogelnest, und nun gar eins mit Jungen, gesehen zu haben.

»Da brauchen wir man bloß hier über den großen Grasplatz zu gehen,« sagte Adolf, »da gegenüber in dem andern großen Dornbusch ist das Nest.« »Ja, dürfen wir denn über den Rasen gehen?« fragte Alfons ängstlich. »Bei uns im Schloßgarten ist es strenge verboten!« fügte Erwin hinzu. »Karl Eberhard hat es mal getan, und da hat ihn der Wächter gleich gegriffen und hat ihn geschüttelt und hat gesagt, er würde ihn bei den Beinen aufhängen, wenn er's noch einmal täte.«

»Hier dürfen wir überall gehen,« sagte Adolf würdevoll, »nur nicht auf die Beete, und das tut ja auch kein vernünftiger Mensch.«

Sie aber trauten der Sache noch nicht, denn sie fürchteten offenbar, es möchte doch am Ende eine wütende Gesetzesmacht aus den Büschen brechen und sie mit ihren mageren Beinchen an einen Baumast hängen. Wie sie denn alles gemeinsam taten, so traten sie mit ihren feinen, spiegelblank gewichsten, niedrigen Schnürschuhen hin und her und wagten sich nicht heran.

Um ihnen den Entschluß zu erleichtern, faßten wir sie an den Händen und zogen sie trotz ihres sanften Sträubens mit uns. Wir hielten ihre kraftlosen Finger, die den Eindruck von verwelkten Teltower Rübchen machten, fest umschlossen und brachten sie auch ein kleines Stück vorwärts. Nun aber hatte dieser Teil des Grasplatzes seit dem Morgen unter dem Schatten der benachbarten alten Weidenbäume gelegen, und Luft und Sonne hatten den starken, nächtlichen Tau noch nicht aufzehren können, zumal da das Gras gerade an dieser Stelle besonders hoch und dicht stand. Zuerst in der Aufregung dieses beängsterlichen Abenteuers merkten sie nichts, aber bald mußte wohl die Nässe durch ihre schneeweißen Strümpfe gedrungen sein, und sie sahen nun mit Entsetzen, daß ihre Füße klatschnaß waren und sich der spiegelnde Glanz ihrer triefenden Schuhe in einen matten Schimmer verwandelt hatte. Da verzerrten sich ihre Züge, und es überkam sie die Kraft der Verzweiflung. Sie rissen sich los und liefen am Seestrand entlang, bis an den Steig, auf dem wir gekommen waren, und trabten dann Hand in Hand dem Hause zu, nicht ohne sich zuweilen angstvoll umzusehen, ob sie auch nicht verfolgt würden. Sie liefen wie die fünfjährigen Kinder mit sehr hoch gehobenen Knieen, und ohne daß es besonders schaffte, aber sie ruhten nicht eher, bis sie in den sicheren Schutz des Hauses und unter die deckenden Fittiche ihrer Tante Clementine gelangt waren, die sie mütterlich begluckte und tröstete und ihnen mitgebrachte Reservestrümpfe und reizende Hausschuhe von rotem Leder anzog. Für uns waren sie dann nicht mehr vorhanden, sondern saßen meist in Tante Malchens Zimmer und ließen sich von dieser etwas auf dem Klavier vorzimpern und pängerängpängpängten ihr wie ein Doppeluhrwerk etwas Zweihändiges vor, oder sie hörten zu, wie die beiden Tanten von den Rosenhainen und Liliengefilden ihrer Jugend schwärmten oder durch liebliche Erzählungen von artigen Kindern ihren sittlichen Gehalt zu fördern und ihre in dieser Richtung doch schon ziemlich weitgehende Bildung noch zu vermehren trachteten. Dann wurden ihnen einige Bände von Weißes Kinderfreund und Bertuchs Bilderbuch gegeben, die, aus dem Nachlasse ihrer Großmutter stammend, zu Tante Malchens Erbschätzen gehörten, und darüber saßen sie dann stundenlang und bildeten ihr Gemüt.

Das waren also die Gebrüder Köhnke, die uns stets von Tante Malchen als Beispiele der Musterhaftigkeit und feinen Lebensart vorgehalten wurden. Hatten sie uns schon damals, als wir sie kennen lernten, nur mäßig gefallen, um einen zarten Ausdruck zu gebrauchen, so erschienen sie uns später dank diesem Verfahren als Ausgeburten der Hölle, nicht einer solchen, die nach Pech und Schwefel duftet, sondern einer noch schlimmeren, die nach dem Apothekerladen und nach Moschus und Patschuli stinkt. Ach, wenn die lieben Freunde und Verwandten wüßten, welches Martyrium und welche Last von Haß und Verachtung sie auf die zarten Schultern solcher angepriesener Musterknaben häufen, sie würden barmherzig sein und solches unterlassen.

Tante Malchen war nun aber in der Fahrt und wiederholte noch einmal: »Ja, ihr habt ein ruchloses Gemüt. Ihr habt keinen Adel der Gesinnung, und wenn euch jemand an Höflichkeit und feiner Lebensart übertrifft, so wißt ihr nichts anderes mit ihm anzufangen, als ihn ins nasse Gras zu schubsen. Wie gräßlich für sie, die sich immer so sauber halten wie aus dem Ei gepellt, und wo sie bei ihrer zarten Gesundheit von nassen Füßen doch immer gleich den Schnupfen kriegen. Aber ihr, ihr fühlt euch jawohl nur wohl, wenn ihr so ausseht, wie Adolf damals, als er von der Robinsonsinsel zurückkam, wo sein Zeug ganz voll Lehm und Blut und Fett und Teer war, daß man ihn nicht mal mit der Feuerzange anfassen mochte. Ja, an den kleinen Köhnkes könnt ihr euch noch manches Beispiel nehmen. Welchen feinen Diener machten sie, und wie gerade saßen sie, und wie manierlich konnten sie essen, und wie bescheiden waren sie. Und den Damen küßten sie die Hand. Ich glaube, dazu könnten euch zehn Pferde nicht bringen, lieber würdet ihr einen Frosch überschlucken. Und gingen alle Tage eine Stunde mit ihrer Tante Clementine spazieren und sprachen französisch mit ihr. Na, von Französisch will ich schon gar nichts sagen, aber wenn ihr mal mit mir spazieren gehen solltet – lieber sprängt ihr ja wohl in'n See. Und wenn ihre Tante Clementine sich mit ihnen unterhielt, da gähnten sie ihr nicht gerade ins Gesicht, wie du eben Reinhard, mein Liebling, und wenn man sie etwas fragte, was sie nicht ganz verstanden hatten, so sagten sie nicht: Waas? oder gar: Hä? wie Adolf neulich, nein sie sagten: Wie beliebt? Und wenn sie bei Tische gefragt wurden, ob sie noch etwas möchten, da sagten sie nicht bloß ja oder nein wie gewisse Leute, sie sagten auch nicht: Ich bitte! oder: Ich danke! sondern sie sagten: Ich danke ja! oder: Ich danke nein!«

»Das ist ihnen aber doch schlecht bekommen,« sagte Adolf plötzlich, »wenn sie wo zu Besuch waren, wo man sie nicht kannte. Denn sie sagten das ja so leise, daß die Leute immer bloß: Ich danke! verstanden. Und danke! heißt doch: ich mag nicht mehr, und da haben sie immer nichts mehr gekriegt und furchtbar hungern müssen. Als Mamsell Kallmorgen das gehört hat, da hat sie beinahe geweint.«

Tante Malchen beachtete diesen Einwurf nicht und fuhr unbeirrt fort: »Tanzstunde haben sie auch schon gehabt bei Monsieur Theophile Piedboeuf. Welche sagen ja, er sei gar kein Franzose und heiße eigentlich Gottlieb Kuhfuß, aber das ist ganz gleich. Wer so viel Grazie und seine Lebensart hat und das anderen beibringen kann, der darf sich nennen wie er will, und man muß ja auch sagen, daß man sich unter Gottlieb Kuhfuß nur schwer einen zierlichen Tanzmeister vorstellen kann. Ich habe ihn schon als junges Mädchen kennen gelernt. Nein, wie er ging, und wie er stand, und wie er sich bewegte. Es war, als hätte er überall noch Extragelenke, und einen Entrechat konnte er machen, daß einem schwindlig wurde, so zwitscherte er mit den Füßen. Und das soll er noch können – na, es ist ja am Ende auch noch gar nicht so lange her. Damals lebte meine liebe gute Großmama noch, die Frau Amtshauptmann Sagebiel. Die stammte noch aus der Zeit, wo Menuett getanzt wurde, und wenn sie alljährlich ihren großen Ball gab, da mußten sich die jungen Leute stets ein Menuett einüben, und das war dann immer der Höhepunkt. Monsieur Theophile Piedboeuf brachte uns das wunderschön bei, er schwebte und bewegte sich in dem feierlichen Tanze wie ein junger Gott, und alle Damen schwärmten für ihn. Ja, das war doch noch ein wirklicher Tanz.«

Über Tante Malchen kam das Feuer der Erinnerung, sie ging an das Klavier und öffnete es. Und nun »zimzerim pängerängpängpäng« fingerte sie ihr Lieblingsmenuett herunter mit verklärtem Angesicht, und die Glut der Begeisterung stieg, plötzlich stand sie da und trällerte die Melodie und tanzte mit feierlichen Schritten und Wendungen. Bald führte sie ein unsichtbarer Tänzer an der hocherhobenen Hand, bald verbeugte sie sich vor ihm, immer mit einer steifen, altertümlichen Grandezza, und wir amüsierten uns königlich über dieses Schauspiel. Es war damals die Zeit, wo in Paris die Krinoline aufgekommen war und sich natürlich, wie jeder Modenblödsinn, mit gewaltiger Schnelligkeit über die Welt verbreitet hatte. Tante Malchen, obwohl sie sonst in Sachen der Mode wegen ihrer Vorliebe für die gute alte Zeit ziemlich rückständig war, hatte sich dieser ihr sympathischen Tracht, sobald sie nur auftauchte, sofort bemächtigt und war zurzeit die fortgeschrittenste Dame der ganzen Gegend. Leider litten aber die ersten Krinolinen noch an mancherlei Mängeln, insonderheit verdrückten sie sich beim Sitzen und behielten hartnäckig die Form, die sie einmal angenommen hatten. Nun hatte sich die gute Tante in ihrem Feuer etwas von der Seite auf den Klavierstuhl geschoben, und als sie dann in ihrer schiefen Glocke, die an der einen Seite anlag und an der andern gen Himmel stand, so feierlich herumtanzte, sah das unbeschreiblich komisch aus. Sie mochte aber doch wohl endlich durch den Schleier der Erinnerungsfreude, der ihren sonstigen Scharfblick dämpfte, unser kraftvolles Grinsen bemerkt haben, denn plötzlich hörte sie auf, setzte sich auf das Sofa und betrachtete uns eine Weile durch ihre Lorgnette, was sofort den undurchdringlichen Ernst auf unsere Züge zauberte, der Küster Vitense bei einem Leichenbegängnis auszeichnete.

»So tanzte man zur Zeit, als meine Großmama jung war,« sagte sie dann, »mit Grazie und mit Bedacht und mit Feierlichkeit. Nicht so, wie heut, wo die jungen Leute im Galopp durch den Saal scheesen, als wollten sie eine Schanze stürmen, oder sich im Walzer düsig drehen. Aber an euch ist das alles weggeworfen. Wenn man euch mal was Schönes zeigt, dann grient ihr euch bloß. Ihr interessiert euch bloß für Wurst und Schinken und Kalbsbraten und abgerührten Pudding und Pflaumen und Klöße, und Pfannkuchen und so was. Neulich gab es mal wieder Pflaumen und Klöße, und da hat Adolf so viel davon eingepackt, daß allein die Pflaumensteine, mit der schmalen Seite aneinander gelegt, den ganzen Tellerrand bedeckten. ›Hannchen,‹ sagte ich zu meiner Schwester, ›er muß ja bersten.‹ Aber sie lachte bloß. Und was sagte der Herr Papa: ›Gib's ihm nur, sagte der Schneider zu seiner Frau, als der neue Geselle noch ein zweites Ei verlangte. Berscht er, so berscht er!‹ Und dann lachte er wie so'n Menschenfresser. Das nennt man nun Erziehung. Und du, Reinhard, mein Süßing, bist gerade so. Ihr steht ja wohl alle beide nicht eher vom Tisch auf, als bis ihr so voll seid wie 'ne Boa Constriktor, wenn sie 'n ganzen Ochsen übergeschluckt hat. Und seht mal, das tötet alle edleren Gefühle in euch. Wenn ihr bis an den Hals voll Klöße sitzt, wie kann da Platz sein für Bildung und feines Benehmen. Aber ihr kommt nun in die Residenz, wo der Hof den feinen Ton angibt, wo Monsieur Theophile Piedboeuf in den besten Familien seinen bildenden Einfluß ausübt und wo ihr zwei so musterhafte, wohlerzogene Knaben wie die beiden lieben Köhnkes stets vor Augen habt, denn wie mir meine teure Freundin Clementine schreibt, werden sie in einer Klasse mit euch sitzen. Davon will ich das Beste hoffen, und dazu gebe ich euch meinen Segen.« Damit ging sie an ihren Sekretär, den sie umständlich aufschloß, denn es war eins jener alten, künstlichen Möbel, bei denen man allerlei Pfiffe und Spitzfindigkeiten anwenden muß, um in ihr Inneres zu dringen, und fing an, mit Geld zu klimpern. Wir horchten auf wie hungrige Wölfe, wenn sie Schlittenglocken von ferne hören und sich davon ein gesegnetes Abendbrot versprechen, sahen uns aber doch verwundert an, denn Tante Malchen galt für sehr geizig und hatte uns noch nie was geschenkt. Adolf sorgte auch gleich für Abdämpfung, indem er mir zuflüsterte: »Wir sollen ihr gewiß Mandelkleie besorgen – oder Lilienmilch oder sonst so'n Kram.« Tante Malchen wickelte nun etwas in Papier, sehr sorgfältig und umständlich, kam dann feierlich zu uns zurück, und wir erhoben uns ehrerbietig und gespannt. »Bittet eure Eltern auch,« sagte sie, »daß sie euch manchmal in's Theater gehen lassen, in gebildete, vornehme Stücke, in denen sich Könige und Prinzessinnen und sonstige feine Leute edel und mit Anstand benehmen, und hier, den ersten Theaterbesuch, den schenke ich euch.« Damit drückte sie jedem von uns ein ziemlich großes, aber recht leichtes Papier in die Hand und sah ungemein gönnerhaft aus.

Adolf, der trotz seiner biederen und ehrlichen Miene stets ein wenig den Schalk im Nacken trug, hatte einen Einfall. Er klappte plötzlich wie ein Taschenmesser in einen rechten Winkel und drückte einen hörbaren Schmatz auf ihre Hand.

Zuerst erschreckt und dann schnell begeistert, ahmte ich diese heuchlerische Tat nach; dann standen wir beide mit etwas roten Köpfen da und erwarteten die Folgen.

Tante Malchen war sichtlich überrascht und zunächst noch etwas fassungslos. Sie betrachtete die Hand, auf die das Attentat ausgeführt wurde, wie ein Wunderding, das sie noch nie gesehen hatte, und sagte nur leise: »Für den Anfang ganz gut, nur zu hörbar, so ein Handkuß muß ganz subtil sein.« Darin mochte sie wohl recht haben, denn unsere Küsse waren etwas herzhaft gewesen und hatten wohl ähnlich so geklungen wie die, von denen es in einem alten Roman heißt: es hörte sich an, als ob ein Pferdehuf aus nassem Lehm gezogen würde. Dann ging sie wieder an ihren Tisch, betrachtete uns offenbar zu ihrer Erholung und Sammlung eine Weile durch die Lorgnette und deklamierte dann mit schönem Ausdruck:

»Tapfer ist der Löwensieger,
Tapfer ist der Weltbezwinger,
Tapfrer, wer sich selbst bezwang.«

»Das war doch schon ein Anfang! Nun will ich die Hoffnung nicht aufgeben, euch noch einmal als wohlerzogene Knaben wiederzusehen.« Dann winkte sie uns gnädig Entlassung zu.

Als wir außer Hörweite waren, mußte sich Adolf zuerst des explosiven Sachstoffes, mit dem sein Inneres geladen war, entledigen, und ich half ihm nach Kräften dabei. Dann öffneten wir mit Spannung die verheißungsvollen Papiere. Jedes enthielt acht Schilling (50 Pfennig). Nun, ein Stehplatz im Parterre war dafür am Ende zu haben, es war doch immer besser als nichts, und wir waren dankbar.

Am anderen Morgen vormittags fuhren wir ab. Herr Martens hatte uns seine große Familienkutsche zur Verfügung gestellt. In dem geräumigen Innern saßen meine Mutter und meine jüngeren Geschwister und zwei Mädchen, die uns in die Stadt begleiteten, wir beide aber natürlich neben dem Kutscher auf dem breiten Bock. Wir fuhren an der Kirche vorbei, die steile Dorfstraße hinauf, und auf der Höhe wandten wir uns links, um in einem Bogen nach rückwärts die Chaussee zu erreichen, die auf dem Hügelhang den See in seiner Längsrichtung begleitete. Von hier aus sahen wir noch einmal unsere Jugendheimat am Seeufer liegen mit ihren Stroh- und Ziegeldächern, der breiten Dorfstraße und den Grasgärten voll alter Obstbäume, von Reisighecken eingezäunt. Die Störche schwebten ab und zu oder standen auf ihren Nestern und klapperten, den Hals zurückgelegt, wie zum Abschied. Wir sahen weit über den blinkenden See hinaus mit seinen Inseln und bläulichen Waldbuchten, und ganz fern hinter ihm auf dem langgestreckten, blassen Höhenrücken dämmerte das Wahrzeichen der Gegend, die Kirche von Borna, herüber. Die Schauplätze unserer Freuden und Abenteuer lagen noch einmal vor uns, und wir schauten nach ihnen zurück, bis alles langsam versank, bis der Wald uns einschloß und sich die weißgraue Chaussee vor uns wie ein unendliches Lineal von Langerweile in die Ferne verlor.

Aber zuweilen öffnete sich der Wald zur Linken, wo sich eine Schlucht senkte oder eine Schonung zum Seeufer hinabstieg, und wir hatten einen Blick über den blitzenden See hinweg auf seine fernen, dämmernden Uferbuchten oder auf die Inseln, die wie riesenhafte Fahrzeuge mit uns zu schwimmen schienen. Wir winkten dem Rosenwerder, wo wir im vorigen Spätsommer vierzehn Tage lang ein freies Ansiedlerleben geführt hatten, einen letzten Gruß zu und vergaßen auch die Fischerinsel mit dem unheimlichen Hexenhause nicht, wo wir damals das greulichste Abenteuer unseres Lebens bestanden hatten, und dann kam wieder der Wald und verschlang alles. Doch noch einmal öffnete er sich kurz vor einer Senkung der Chaussee zu einem Quertale, das ein schneller Bach durchfloß, derselbe, der an jener Stelle in den See mündete, wo wir damals die Krebse gegriffen hatten und nachher im Gewittersturm gekentert waren. Auf diese Waldlücke hatten wir schon lange mit Spannung gepaßt, denn dort kam die Insel Uhlenberg in Sicht. Das erste, was wir sahen, war, daß an der Signalstange des kleinen Schlößchens, die über die höchsten Wipfel emporragte, die Flagge halbmast wehte. Hätten wir damals geahnt, was die Bescheidenheit uns verbot, daß dies uns zu Ehren ein Ausdruck der Abschiedstrauer war, so hätte uns das wohl mit Stolz und Rührung erfüllt, so aber erschraken wir anfangs ein wenig. Aber was war das da auf dem fernen Landungsstege, das kleine rundlich Behäbige, das plötzlich mit einer ungeheuren Parlamentärflagge zu wehen anfing, als wolle sich die Besatzung der Insel auf Gnade oder Ungnade ergeben, und wer stand dort in dem stattlichen Segelboot und ließ den Wimpel grüßend auf und nieder gehen? Das waren ja Mamsell Kallmorgen, die unablässig mit ihrer riesigen weißen Schürze wehte, und Herr Wohland. Sie mußten wohl um Tag und Stunde unserer Abfahrt gewußt haben und sandten uns nun die letzten Grüße zu. Wir rissen die Mützen ab und schwenkten sie wie wahnsinnig, und der Kutscher des Herrn Martens, der das besonders gut verstand und stets auf eine vortreffliche Zwutsche an seiner Peitsche hielt, knallte mit dieser, daß es wie Pistolenschüsse durch den Wald und über den See hallte, so lange, bis die Bäume uns wieder die Aussicht versperrten. Dies war der letzte Blick auf den See, und wir rollten nun munter durch den Wald die Senkung zum Bach hinab, der uns mit seinem grünen glasklaren Geriesel den letzten Gruß zublitzte, als wir über die Brücke donnerten, und dann wieder langsamer, die sacht ansteigende Höhe hinauf, entgegen anderen Schicksalen und einem neuen Leben, von dem wir ebenfalls allerlei vergnügliche Abenteuer erhofften.

* * *

Wir hatten an unserem neuen Wohnort einen Auftrag zu erfüllen, der allen anderen vorging, nämlich Herrn Mudrach die Grüße der Mamsell Kallmorgen und die dazugehörige Wurst der Erinnerung zu überbringen. Diese war offenbar dazu bestimmt, das Gedächtnis an diese ehrenwerte Dame tief in das Gemüt des Polizeibeamten zu graben, und solche heilige Pflicht litt keinen Aufschub. Aber Adolf wollte nicht mitkommen, und ich mußte allein gehen. »Ich hab ihn ja nie gesehen,« sagte er, »und er mich auch nicht, was soll ich da? Und ihr beiden seid ja, wie Mamsell Kallmorgen sagt, die eigentlichen beiden Retter von Gott gesandt, ich laufe nur so mit wie so'n Bimmelbammel. Nein, das macht nur unter euch ab.«

Ich machte mich also mit meiner sauber eingewickelten Wurst auf zum Stadthause, wo ich ihn zu treffen gedachte, fand dort aber nur seinen Kollegen Püttelkow mit dem Bulldoggengesichte und der beneidenswerten Glatze, die so schimmerte wie poliertes Elfenbein, der mir sagte, er sei zum Essen gegangen in seine Wohnung, würde aber in einer halben Stunde wieder kommen. Ich zog vor, ihn dort aufzusuchen. Er wohnte nicht weit davon in der Scharfrichterstraße, ein Name, der mir zu seinem Berufe in sinnreicher Beziehung zu stehen schien, und hatte dort ein eigenes kleines Haus mit einem Garten, welchen Umstand er seiner verstorbenen Frau verdankte, die, obwohl sie nach Mamsell Kallmorgens Meinung als ein Drache an ihrem eigenen Gift erstickte, doch eine sogenannte »Partie« gewesen war, wenigstens für einen Mann von Mudrachs bescheidenen Lebensgewohnheiten.

Als ich die Haustür öffnete, tönte eine Glocke, die etwas Plötzliches, Sprunghaftes an sich hatte und wie ein Schrei des Aufruhrs mit nachfolgendem Zetermordio durch das Haus schrillte. Ich wußte sofort, daß diese Glocke der Stolz ihres Besitzers war. Dann keuchte sie noch ein paarmal wie in tiefer Erschöpfung, und es war still. Auf dieser Vordiele führte links eine Treppe nach den oberen Dach- und Giebelräumen, und rechts sah ich zwei Türen. Ich wollte schon an der vorderen anklopfen, als ich hinter der zweiten Stimmen hörte und mich dorthin begab. Bei dieser Gelegenheit sah ich durch ein Hinterfenster auf den Hof, wo ein träumerisches Schweinchen spazieren ging und fruchtlos an der Küchengosse schnüffelte, dahinter leuchtete aus dem Garten das erste junge Grün der Stachelbeerbüsche. Als ich klopfte, rief Mudrachs bekannte Stimme: »Herein!« aber mit seltsam drohendem Ton, in dem die Warnung lag: »aber nur, o Fremdling, wenn du die Gesetze achtest und dein Gewissen rein ist.« Da ich zur Zeit in beiden Hinsichten keinen Mangel fühlte und zudem als ein Dokument wohlwollender und freundlicher Gesinnungen die Wurst aller Würste im Arm trug, mir auch der alte Spruch nicht unbekannt war, der da lautet: »Wer was bringt, ist immer willkommen!«, so öffnete ich furchtlos die Höhle des Löwen und trat in die Küche des Hauses ein. Gegenüber der Tür an der Wand stand ein Tisch, an dem Mudrach saß mit seiner Tochter und offenbar eben sein Mittagessen beendet hatte, denn sein Teller war zurückgeschoben, und vor ihm stand eine Flasche und ein Glas mit süßem Braunbier und daneben ein anderes Gläschen mit einer wasserklaren Flüssigkeit, die offenbar zum »Durchnähen« des harmlosen Getränkes bestimmt war. Er sah mit seinen berühmten Augen furchtbar auf mich hin mit dem Blick, der nach seiner Meinung geeignet war, eine schuldbeladene Seele im Innersten umzukrempeln. Gleicherweise blickte seine Tochter, die, nicht zu ihrem Vorteil, das Ebenbild ihres Vaters darstellte. Nur war der Ausdruck ihrer Augen, die wie zwei Hälften eines Hühnereies mit blauem Dotter aus einer Umrahmung von Sommersprossen blickten, weniger furchtbar als blöde und kam nicht über eine leere, wasserblaue Gedankenlosigkeit hinaus. Sie war schmalschultrig und hager und überall aus ihrer dürftigen Kleidung herausgewachsen. Ihr spärliches, rötlichgelbes Haar stand, in zwei putzige Rattenschwänzchen geflochten, von ihrem flachen Hinterkopfe ab.

Ich trat, meine Wurst unter dem Arme tragend, mit edlem Anstande einige Schritte vor und sagte: »Herr Mudrach, Sie kennen mich wohl noch? Wir haben uns früher schon mal gesehen.« Das Auge des Gesetzes ruhte eine Weile mit furchtbarer Kraft auf mir, dann sagte er: »Natürellemang, selbstverständlich. Wen ich einmal gesehen habe in meinem Leben, der ist sozusagen für ewig in mein Gedächtnis gegraben. Nämlich den kriminellen Blick muß man haben, der ist angeboren, und wer ihn hat, der hat ihn, und wer ihn nicht hat, der kriegt ihn auch nicht, und wenn er sich sozusagen die Augen aus'n Kopf kuckt. Du bist ...« hier machte er eine Pause, und seine Augen nahmen einen Ausdruck bedrohlicher Pfiffigkeit und durchbohrender Menschenkenntnis an – »Du bist ...« und seine Lippen schürzten sich zu einem ironisch bedauernden Lächeln, »na, das brauch ich Dir doch nicht erst zu sagen, das weißt du ja selbst am besten«.

Das leuchtete mir ein, und ich fuhr fort: »Ich komme aus Steinhusen und soll Ihnen einen Gruß bringen von Herrn Simonis, und ich komme« ... »Natürellemang«, sagte Herr Mudrach, und seine Augen leuchteten in einem fast diabolischen Erkenntnisfeuer, »ich hab es ja gleich gesehen, als du rein kamst, sozusagen stante pede. Nämlich Heinrich Trilk aus Steinhusen bist du, Sohn von Krüger Trilk, der auch zugleich Schmidt ist, beides sozusagen in einer Person. Herr Simonis ist ein würdevoller Mann mit einer gewissen Bewandtnis in Kriminalsachen. Ich danke sehr und fühle mich sozusagen geehrt.«

Ich erstarrte ein wenig über diese Verwechslung, denn isern Hinrich war ich so wenig ähnlich, wie ein Laubfrosch einem Wiedehopf, und stotterte verlegen: »Mein Name ist Reinhard Flemming, und ich sollte Ihnen noch einen Gruß ...«

Herr Mudrach machte eine großartige Handbewegung, als wolle er damit andeuten: »Mein Freund, du sagst mir nichts Neues«, trank dann sein Braunbier aus, durchnähte es nicht ohne technische Geschicklichkeit, die auf mannigfache Übung schließen ließ, mit dem wasserklaren Inhalt des kleinen Gläschens und stand auf. Dann stellte er mich seiner Tochter vor, die sich ebenfalls erhoben hatte und furchtbar, aber wohlwollend auf mich hinstarrte. »Liebe Alwine, dies ist mein junger Freund, von dem ich dir so oft erzählt habe, ein Knabe von krimineller Begabung, dem wir sozusagen die Entdeckung des furchtbaren Komplotts ›Driebenkiel-Nehls‹ zu verdanken haben. Concursus ad delictum sagen wir Kriminalisten dazu. Ja, nämlich sozusagen. Doch wir wollen dorthin gehen, mein junger Freund.« Damit komplimentierte er mich in das vordere Zimmer, das wohl die gute Stube vorstellte, denn es enthielt offenbar die besten Möbel des Hauses und trug Bilder an den Wänden. Auf das eiskalte Wachstuchsofa, das mit unzähligen funkelnden Nägelköpfen verziert war, warf Herr Mudrach einen scheuen Blick, als throne dort noch immer der Astralleib seiner Seligen mit den braungelben Basiliskenaugen ohne Brauen und den drohenden Haubenbändern. Wir setzten uns an den ovalen Mahagonitisch, der davor stand und von einer gehäkelten Decke mit einem Kettenpanzermuster bedeckt war, auf zwei verschossene Ripslehnstühle. Und obwohl ich nun dem größeren Teile des Zimmers den Rücken wendete, kannte ich doch alles, was darin war. Ich wußte, daß die Tapete mit zahllosen blassen Vergißmeinnichtsträußen bedeckt war, daß vor jedem Fenster ein Gummibaum stand, dessen Blätter gezählt waren, und daß dazwischen über einer Kommode ein in der Mitte gestückter Spiegel jeden, der hineinblickte, in zwei verschiedenartige Hälften zerteilte, daß aus einem Glasschrank in der Ecke unsagbare Versündigungen gegen die dekorative Kunst in Gestalt von Tassen und anderen Porzellangegenständen hervorstierten, daß auf ihm zwei himmelblaue Glasvasen mit Strohblumen standen und dazwischen eine Standuhr wie ein kleiner Sarg auf Alabastersäulen, deren Pendelchen unsägliche Eile hatte, mit der nie rastenden Zeit mitzukommen. Und über einer anderen Kommode befand sich eine Lithographie von Napoleon, der mit untergeschlagenen Armen und einem Mörderblick unter seinem kleinen Hute hervorschaute. Zur einen Seite hing ihm der Brand von Moskau, und es war nicht zu verkennen, daß es dem Maler gelungen war, durch schonungslose Verwendung von Gummigutt, Zinnober und Beinschwarz höchst schauerliche Wirkungen zu erzielen, während in dem Gegenstück auf der anderen Seite, dem Erdbeben von Lissabon, der Künstler durch berstende Häuser, stürzende Säulen, hereinbrechende Wasserwogen und zermatschte Menschenmengen nicht minder erschütternde Wirkungen erreicht hatte. Kurz, es herrschte in dem Zimmer eine solide Pracht, die durch Wirkungen der Kunst sanft erhöht wurde.

Herr Mudrach saß mir hochaufgerichtet gegenüber, dämpfte die Kraft seiner Augen durch halb herabgelassene Lider und erwartete meine ferneren Mitteilungen. »Ich soll Ihnen einen Gruß bringen,« sagte ich, »von der Insel Uhlenberg, von Mamsell Kallmorgen. Und soll Ihnen sagen, daß sie Sie in gutem Angedenken hält, denn Sie wären doch ihr Retter von Gott gesandt, und soll Ihnen dies kleine Erinnerungszeichen geben, was sie selber gemacht und dabei an Sie gedacht hat.« Damit überreichte ich ihm die wohleingewickelte Wurst und fügte noch hinzu: »Sie hat gesagt, die ist mit Liebe gemacht, und da sticht Gemüt ein.«

Herr Mudrach wog den stattlichen Gegenstand in den Händen: »Nämlich für einen Nackenpummel (Schlummerrolle) ist es zu schwer. Sollte es wohl eine von den berühmten ...?«

Damit wickelte er die Wurst aus und hielt sie mit tiefer Rührung in den Händen. Seine Augen nahmen einen schmalzigen Ausdruck an, und seinen Mund umspielte ein Ausdruck lüsterner Genußsucht. Dann führte er sie an seine Nase: »Und der Geruch, himmlisch sozusagen.« »Das meint Mamsell Kallmorgen auch!« sagte ich. »Ja, sie hat recht!« sprach nun Herr Mudrach mit Begeisterung, »diese distinktive Dame hat sozusagen ein seelenvolles Gemüt, und darum kann sie es. Meine Selige war tüchtig in der Wirtschaft, alabonnöhr! aber Mettwurst, ich weiß nicht, das war ihr nicht gegeben. Entweder zu pfefferig oder zu salzig, und mit dem Rauch stimmte es auch nie recht. Das kam wohl davon, weil sie so'n scharfen Geist hatte.« Er schrak sichtlich ein wenig zusammen, warf einen scheuen Blick auf das Wachstuchsofa und murmelte wie entschuldigend: »Ja, nämlich sozusagen!«

Dann hielt er eine große Lobrede auf Mamsell Kallmorgen, aus der hervorging, daß er offenbar in ihr das Ideal gefunden zu haben glaubte, das ihm seit seiner frühesten Jugend vorgeschwebt hatte, in dem sich stattliche Erscheinung, seelenvolles Gemüt und eine ungewöhnliche Begabung für die Kochkunst zu einem bezaubernden Ganzen vereinigten. Dabei hielt er stets die rundliche Wurst in der Hand und betrachtete sie mit liebevollen Blicken, als sei sie ein plastisches Abbild ihrer kunstvollen Erzeugerin. Zuletzt erkundigte er sich nach dem Befinden. Ich sagte, es ginge ihr gut, nur wäre es ihr immer noch zu einsam auf der Insel, und dann würde sie die Furcht nicht los, Driebenkiel könne aus dem Gefängnis ausbrechen und würde dann schreckliche Rache nehmen. Hier wiegte Herr Mudrach halb bedauernd, halb verständnislos das Haupt und sandte einen furchtbaren Blick in die Ferne durch die Wände über Tal und Hügel, der offenbar für Driebenkiel bestimmt war. Ich aber erzählte ihm weiter, daß sie sich manchmal mit dem Gedanken trüge, in die Stadt zu ziehen, wo sie dem Schutze des Herrn Mudrach näher sei, und dort »ihr Geld zu leben«.

»Ihr Geld zu leben?« fragte Herr Mudrach mit einer Teilnahme, die aus der Tiefe der Empfindung aufzusteigen schien. »Ja,« antwortete ich, »sie hat uns erzählt, daß sie Schiffsparten hat, die ihr viel Geld einbringen, und das kommt alles in die Sparkasse, und hat sonst noch allerhand gesagt, was ich nicht behalten habe. Aber sie könnt' da ganz gut von leben, und wieder in Konditschon zu gehen, das hätt' sie gar nicht nötig.«

»So – so – so?« machte Herr Mudrach. »Ja, nämlich sozusagen!« Die Wurst aber hatte er noch in der Hand, und sein Blick ruhte auf ihr mit einem so liebevollen und bewundernden Ausdruck, als ginge von ihrer stattlichen Erscheinung, die ihren gemütvollen Inhalt einer ungewöhnlichen Begabung für die Kochkunst verdankte, nun auch noch ein leuchtender Goldglanz aus. »Es ist doch eine ganz famoste Dame!« sagte er dann.

Verschwiegenheit ist eine schöne Tugend, aber sie zu üben, ist manchmal schwer; ich konnte nicht länger dem Kitzel widerstehen, der mich schon seit einiger Zeit plagte, und so schoß das Geheimnis plötzlich heraus: »Mamsell Kallmorgen hat auch von Ihnen einen schönen Traum gehabt!«

»Wirklich?« antwortete er geschmeichelt, »das seh ich für eine große Ehre an. Nämlich träumen tut man nur von Leuten, über die man sich Gedanken macht. Zum Exempel von Puttfarken und Driebenkiel, da träum' ich von, wer weiß wie oft. Aber ›schön‹ sind diese Träume sozusagen grade nicht. Denn diese Individuümer benehmen sich in meinem Traum immer so rebellisch und unrespektabel, daß es 'n Hund jammern kann. Und ich hab sie doch beide damals so glatt und schön in Eisen gelegt.«

»Herr Mudrach,« sagte ich, »Sie sind ihr erschienen als ein Engel mit einem feurigen Säbel und mit langen Flügeln bis auf den Fußboden runter.« Hier sah sich Herr Mudrach unwillkürlich über die Schulter, als wolle er prüfen, wie ihn diese Tracht wohl kleiden möge. – »Und haben sie gemütvoll angekuckt und haben Ihren feurigen Säbel aufgehoben und haben gesagt: Christiane, ich wache für dich!«

Mudrach sah begeistert aus, und seine Augen des Gesetzes leuchteten unheimlich.

»Nämlich,« rief er, »da hat die Dame sozusagen richtig geträumt, das tue ich auch, natürellemang, so weit mir das aus der Entfernung kumpabel ist. Aber wenn sie wirklich ihr Wort wahr machen und hierher ziehen will, dann will ich es tun voll und ganz und gewissermaßen sozusagen mit Leib und Seele. Und wenn sie um ein Logis in Verlegenheit ist, da braucht sie nur mit dem Finger zu winken. Wir haben doch oben die Giebelstuben, wo die zwei Schüler vom Gymnasium wohnen, und zwei Kammern sind auch noch dabei; das wird ja wohl langen, und wenn sie da einziehen will, da wird es dem Engel mit dem feurigen Säbel ein Pläsiervergnügen sein, sie zu bewachen, Tag und Nacht und zu jeder anderen Tageszeit im Frühling, Sommer, Herbst und Winter immerzu egal weg. Willst du ihr das sagen, mein junger Freund?«

»Ja,« sagte ich, »aber wir wohnen doch jetzt hier, und ich werde sie so bald nicht wiedersehen. Sie müssen ihr das wohl schreiben, Herr Mudrach.«

»Schreiben?« sagte er und sah sehr ablehnend aus, »das ist nämlich sozusagen so 'ne Sache. Wer wie ich beim Kriminal ist, der nimmt sich damit in acht. Das gibt immer die schönsten Indiziums, wenn einer was schriftlich von sich gegeben hat. Nee, mündlich ist besser. Da wart nur, bis du da einmal wieder hinkommst, das wird ja wohl so lang nicht dauern.« »In den großen Ferien, denk ich,« sagte ich, »da will ich Herrn Simonis besuchen.« »Na ja,« meinte er, »und dann vergiß es nicht, dieser famosten Dame meine Grüße zu bringen und ihr zu sagen, ich wäre immer da und immer bereit und immer derjenige, welcher. Ja, nämlich sozusagen!« Plötzlich fuhr er sichtlich zusammen und warf wieder einen scheuen Blick auf das Wachstuchsofa und die Bilder, die darüber hingen, schlug die Augen nieder und murmelte kaum verständlich vor sich hin: »Dummes Zeug, dummes Zeug!«

Ich aber hatte eine Teilnahme für die Bilder, die ich während der ganzen Zeit vor Augen gehabt hatte, denn sie waren zu scheußlich, obwohl sie mit einer gewissen Handgeschicklichkeit und frechen Sicherheit farbig hingestrichen waren. Die oberen beiden sollten offenbar Mudrach und seine verstorbene Frau vorstellen, das sagten schon die Stadtdieneruniform und die gewaltsamen Augen des einen Bildes. Darunter hing ein Brautkranz in einem Glaskasten und unter diesem zwei kleinere, aber noch viel schrecklichere Bilder. Das eine stellte einen Mann von baschkirischem Typus dar mit struppigen Haaren, Mörderaugen, roter Nase und gewaltigen Backenknochen, und das andere war offenbar das mißlungene Abbild eines Schimpansen, es konnte aber auch ein Orang-Utan sein sollen.

Als Mudrach bemerkte, daß mein Auge bewundernd auf diesen Bildern weilte, sagte er: »Nicht wahr, furchtbar ähnlich, sozusagen penetrant ähnlich, das sagen alle. Und meine selige Frau auch, sieh dir mal bloß die Haubenbänder an.« Es war sonderbar, das »selige« kam so heraus, als ob er nicht seine Frau, sondern sich damit meinte. »Sie war eine Frau von ganz ungemein viel Charakter, das sieht man. Nicht? Wir haben hier nämlich ein Schenie am Ort, Krempelsetzer heißt er und hat früher bei einem richtigen Kunstmaler gelernt. Aber wie das mit den Schenies manchmal so ist, er ist eigentlich immer sozusagen im Djum. Und was er dann malt, das wird immer so schwummerig und hat keinen Schick. Aber wenn es ihm mal glückt, daß er nüchtern ist, dann malt er fein, und geht ihm von der Hand, wie'n Donnerwetter. Nämlich, als ich damals Puttfarken festgenommen hatt', da hab ich auf Antrag von unserem Herrn Polizeisenator ein Extradußöhr gekriegt, und dann hab ich uns beide malen lassen. Das heißt, zuerst hab ich bloß Puttfarken von ihm abkonterfeien lassen, als eine freundliche Erinnerung für mich, und als ich sah, wie schön das wurd und sozusagen fürchterlich ähnlich, da hab ich ihm unsere Portrette auch in'n Auftrag gegeben. Sieh dir bloß Puttfarken mal an, da unten links, ist das nicht ein Verbrechertyphus, wie er im Buch steht? Und in drei Stunden hat er das gemacht für einen Taler und 'ne halbe Buddel Kümmel. Denn Schnaps muß da immer bei sein bei seinem Honorar, sonst kommt die richtige künstlerische Inspiritusation nicht über ihn. Aber trinken darf er ihn erst, wenn er fertig ist; bei'm Malen nur zwei oder drei kleine Gläser, sonst wird die Sache gleich schwummerig. Narürellemang, unsere Bilder sind teurer gewesen. Da hat er für jedes einen Taler zweiunddreißig Schilling und 'ne ganze Buddel Kümmel genommen, dafür ist da aber auch'n ganzer Berg künstlerischer Schwung drin und viel Auffassung, das kost't extra. Und als meine Selige die Haubenbänder sah, so wunderschön lilla und die Schleife so egal, da war sie auch zufrieden, denn vorher hatte sie immer noch gegnatzt über das viele Geldwegschmeißen. Ja, nämlich sozusagen, dafür war sie nicht, das war ihr konterköhr. Nachher hab ich mir denn auch als Pangdang zu Puttfarken Driebenkiel von ihm malen lassen, aber da hab ich nicht ordentlich aufgepaßt, und er hatte so'n kleinen Lititi, und da ist er ihm n'bißchen zu sehr als Affe ausgefallen, obwohl man sagen muß, wenn man ehrlich sein will, daß er da was von hatte. Und ähnlich ist er ja auch, so daß alle Leute sich vor ihm gräsen. Ja, nämlich sozusagen.«

Plötzlich trietzte er eine ungeheure silberne Uhr, von der Art, die man Butterbüchsen nannte, aus der Westentasche hervor und betrachtete sie aufmerksam. »Der Dienst,« sagte er dann, »der Dienst ruft. Die Sicherheit der Stadt verlangt es sozusagen, daß ich gehe. Ich bedanke mich, mein junger Freund, für alles und besonders auch für dies liebevolle Kadoh.« Damit ergriff er die Wurst, und indem er sie wie einen Säbel emporhielt und ihm sichtlich Flügel wuchsen, stand er hoch aufgerichtet da. »Und vergiß nicht, was wir besprochen haben, und wenn die Zeit gekommen ist, so sage ihr, ich wäre immer da und immer bereit und immer derjenige, welcher! Ja nämlich sozusagen!« Ich versprach das, und da auch unsere Essenszeit bedenklich nahe gerückt war, empfahl ich mich schnell. Die rabiate Türglocke schrie Aufruhr und Zetermordio hinter mir her, als ich das Haus verließ.


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