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Neuntes Kapitel.

Warum Fuhrmann Buller Schorsch einen schwarzen Rock machen läßt und die Krämerin Lene ein Kleid. – »Ich dank' Euch, Frau, für alles!« – Wie selbst eine Armenhausstube festlich aussehen kann, warum aber Babette sich doch lieber ins Freie setzt. – Von allerhand Besuchen und einer Uhr, die wirklich geht. – Ein Tag zur Erinnerung, wenn's wieder anders kommt. – Verschmähter Zucker. – Ein Schlag mit der Peitsche und ein verzweifeltes junges Menschenkind. – »Hansel, mein Hansel!«

 

Alles geht vorüber, auch die Kälte, aber beide Geschwister hatten die Wintermonate hindurch viel darunter zu leiden gehabt. Beide hatten Frostbeulen an Händen und Füßen bekommen und Heimweh und Herzweh in hohem Grade gehabt, abgesehen davon, daß Schorsch oft wirklich Hunger und viel Püffe erdulden mußte und Lenele viel Härte und Tadel. Aber streng arbeiten, ohne zu mucksen, lernten die zwei, und ganz schlimm war weder der Fuhrmann noch die Krämerin. Beide gaben, wenn auch nicht gerade gern, den Kindern in diesem letzten Halbjahr für die Schulstunden frei, und als die Konfirmation herankam, ließ Buller dem Buben einen schwarzen Anzug machen aus einem alten, den er selber nicht brauchte, da er längst nicht mehr zur Kirche ging, aber er wollte dem Schultheiß gegenüber nicht schlecht dastehen, der ihm sagte: »Wir geben der Lene das Konfirmationskleid. Meine Frau läßt es auch machen, und Ihr werdet wohl ebenso für den Buben sorgen, Buller?«

Zur Konfirmation selbst führte der Großvater die zwei, die ihm ja viel mehr Kinder als Enkel waren. Eigentlich hätte Schorsch dem Alter nach schon voriges Jahr aus der Schule kommen sollen, aber man gestattete manchmal, daß Geschwister aufeinander warteten, und hier war ja die Frage wegen des Berufes schon vorher entschieden. Der Schultheiß lud Schorsch und den Großvater ehrenhalber zum Mittagessen ein, wenn auch seine Frau im stillen wegen des Aufwandes brummte, denn man mußte doch Fleisch hertun und Kuchen backen. Aber für ein anständiges Aussehen von Lenele sorgte sie. Das Hemd und der Unterrock waren von festem Baumwollentuch, das Kleid aus solidem, wenn auch altmodischem Stoff angefertigt. Und als Lene in die Kirche ging, das Gesangbuch der Mutter mit dem silbernen Schloß in den Händen nebst einem mit Spitzen besetzten Taschentuch, das ihr die Rosa geschenkt, und einem Roßmarinsträußchen dazu, und als sie so demütig mit Tränen in den Augen sagte: »Ich dank' Euch für alles, Frau, für alles!« da kam fast etwas wie Rührung über die Züge der Krämerin, und sie erwiderte: »'s ist schön, daß du anerkennst, daß ich's gut mit dir mein'. Und jetzt halt auch, was du versprichst!«

Buller, den der Schultheiß auch aufgefordert hatte zu kommen, entschuldigte sich, er müsse in die Stadt. Aber er erlaubte, daß Schorsch bis sieben Uhr abends fortbleibe; der Gaul solle eben einmal etwas warten. Vom Montag aber, wo die übrigen Konfirmanden alle frei hatten, sagte er nichts, da dachte er wohl gar nicht daran.

Gleich nach dem Essen waren die Kinder mit dem Großvater heimgegangen, und da schaute ihnen die Armenhausstube zum erstenmal freundlich und einladend entgegen. Der Großvater hatte in die Schusterecke Maien gesteckt und, wenn es auch nicht ganz zeitgemäß war, die Hauptfiguren von der Krippe aufgestellt. Diese hatte er behalten. Eher würde er nichts gegessen haben, als daß er diesen Schatz hergegeben hätte. Der Tisch war sauber mit einem weißen Tuch gedeckt, und die Tassen mit Rosen und Vergißmeinnicht, die der Mutter Stolz gewesen waren, standen darauf. Es war auch ein Korb mit Zuckerbrezeln da, – einen solchen Luxus durfte man sich heute schon erlauben, – und einen guten Kaffee mit wirklichen Bohnen hatte die Armenhausliese zu machen übernommen. Die verstand's ja aus ihrer guten Zeit her. Das Wohltuendste in dem Raum war aber, daß der Christian zum erstenmal, zwar ängstlich und voll Mißtrauen, zugegeben hatte, daß man auch seine Hälfte mit Seife und Bürste tüchtig reinigte. Die eingehende Beschäftigung mit einer der Brezeln hatte dieses Wunder zu stande gebracht. All das greuliche Rumpelwerk war nun entfernt und das, was annähernd brauchbar war, nett in der Ecke auf einem Tische aufgestellt, so daß er's immer vor Augen hatte, und er selber lag gewaschen mit einem frischen Hemd vergnügt in seinem Bette.

»O Großvaterle, wie behaglich ist's heute bei dir!« sagten die Kinder, und als Liese den Kaffee brachte, mußte sie sich dazusetzen. Da sie ein braves, frommes Weib war, so legte sie den Kindern noch dies und jenes ans Herz, was sie in ihrem schweren Leben als gut erkannt hatte. Solche Reden waren wertvoller für diesen Tag als die beim Mittagessen, wo die Kinder schüchtern dasaßen und der Großvater sein Bestes für sich behalten mußte, weil er fühlte, daß man's nicht verstehen würde.

Und dann gab's noch ein paar große Überraschungen! Fräulein Gottliebin streckte den Kopf herein. Sie war seit kurzem mit dem neuen Herrn Lehrer verlobt, und sie wollten, ehe sie einen Spaziergang zusammen machten, nur noch geschwind die lieben Konfirmanden besuchen. Das war eine große Ehre, und Leneles Wangen glühten ordentlich, als die beiden sogar eine Tasse Kaffee annahmen. Den Großvater beglückte es, daß der Herr Lehrer Schorschs Betragen lobte. Mit dem Lernen freilich, meinte er, sei es wohl etwas schwer gegangen, aber das liege auch in den Verhältnissen.

»Die möchte ich gern anders haben für den Buben,« meinte er, als der Großvater nachher das Paar hinausgeleitete. »Laßt den Buben nicht gar zu lange bei dem Fuhrmann, Schuster-Martin. Ich meine immer, er hat's zu hart dort.«

»Der Buller hat eben keine Frau, da fehlt's doch an vielem,« sagte Fräulein Gottliebin.

Der Herr Lehrer drückte seiner Braut die Hand, mußte aber schließlich dem Großvater beistimmen, der sagte, daß in der nächsten Zeit die Dankbarkeit für den schönen Anzug doch zu wechseln verbiete.

Etwas bedrückt kehrte der Großvater in die Stube zurück, wo Lenele eben dem Christian, der wie ein ungezogenes Kind schrie, die dritte Portion Kaffee reichte.

»Eine böse Plage, Großvater, ist's schon, den immer dabei zu haben,« sagte sie, und der Alte nickte. Ja, er allein wußte, was es hieß, nie mehr allein zu sein beim Schlafen und Wachen, beim Essen und Arbeiten und vor allem beim Beten! Das Heimatgefühl, das schöne, volle, das war im Waldhäuschen geblieben, und das würde so bleiben, bis sich ihnen allen einmal die ewige Heimat auftat.

Es war still geworden im Zimmer. Auch die Kinder hingen ihren Gedanken nach. Da sprang Schorsch plötzlich auf und rief: »Großvater, Lenele, wer kommt denn da die Dorfstraße her?«

Der Schuster-Martin rückte seine Brille zurecht, und die Geschwister, die beide hinausgestürzt waren, brachten gleich darauf im Triumph eine im Sonntagsstaat prangende, aber mit Paketen aller Art beladene Frauensperson ins Zimmer.

Es war die Babette, die sich ganz erschöpft auf einen Stuhl niederließ, und der Lenele die Jacke, den Hut und all das Mitgebrachte sofort abnahm. Das ungewohnte Steigen hatte sie ganz atemlos gemacht.

»Sachte, sachte, macht mir nichts kaput, nachdem ich's schon einmal so weit geschleppt habe!« mahnte sie. Und als sie sich noch gründlich über den mühsamen Weg und über die Sonne, die ja gerade schon wie im Sommer scheine, beklagt hatte, begrüßte sie herzlich und umständlich jedes einzelne. Die Liese war hinausgegangen, um noch einmal Kaffee zu kochen.

»Also eingeladen habt ihr mich nicht! Das hätte ich übel nehmen können, denn da ich euch doch schon so lange kenne und eure Mutter erst recht, so gehöre ich heute doch eigentlich zu euch!«

Der Großvater wollte sich höflich entschuldigen, aber Babette war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um zu hören.

»Also her gehöre ich, hab' ich zur Frau Baronin gesagt, und die hat mir auch beigestimmt. Jetzt will ich nur zuerst auspacken, was ich mitgebracht habe.«

Umständlich wurden nun die Schnüre und Papiere von dem Pakete entfernt, und es kamen prächtige Dinge zum Vorschein.

»Erstens, der blau und weiße Stoff ist für dich, Lenele, von der Frau Baronin zu einem Kleid. Gelt, schön? Hell und doch bedeckt. Und da sind noch vier Mark, daß du's auf ihre Kosten dir bald machen läßt. – Für den Schorsch hier ist die Uhr, die ganz gut geht, auch wenn sie nicht von Silber ist. – Schau mich nicht so an, Büble, als wolltest du nächstens umfallen vor Schreck! Gefällst mir überhaupt nicht so recht mit deinem Aufgeschossensein und deiner Magerkeit!«

Schorsch war's in diesem Augenblick wirklich gleichgültig, wie er aussah. Er starrte nur auf die Uhr, die tatsächlich ticktack machte, die wirklich ging und ihm gehören sollte. Als Babette ihm das letztere nochmals deutlich sagte, da stieß er einen Jubelschrei aus, daß der Christian in seinem Bett laut aufkreischend in die Höhe fuhr und Babette voll Entsetzen vor diesem die Hände vors Gesicht schlug.

»Was habt Ihr denn ums Himmelswillen da für einen Menschen? Da könnte man sich ja zu Tode fürchten!«

Der Großvater beruhigte zuerst den Christian und dann Babette, aber es dauerte lange, bis diese so weit war, daß sie sich zu ihrer Kaffeetasse setzen konnte, die die Liese inzwischen eingeschenkt und bis an den Rand mit Milch gefüllt hatte. Babette trank und aß schließlich – sie hatte selber noch einen großen Gugelhopf mitgebracht und für später Biskuittörtchen und eine Flasche Wein – aber alle Augenblicke sah sie scheu nach dem Blöden hin, der seine schlimmsten Grimassen schnitt. Sie versicherte, keine zehn Pferde könnten sie dazu bringen, mit »so was« zusammenzuwohnen.

Der Großvater mußte fast lachen und meinte: »Muß ist halt eine harte Nuß!«

Nun aber mußten die Kinder der Babette von allem berichten, wie sie lebten, und was sie taten, und als Lenele, wenn auch etwas schüchtern, von der Strenge der Krämerin sprach, da sagte Babette zu des Mädchens Erstaunen: »Das ist gut, das ist nötig! Der Erstlingsdienst muß hart sein, dann lernt man was, und später hält man aus, weil's einem überall besser vorkommt. Jetzt will ich dir was sagen, Lenele!« – Babettes Stimme wurde nun auf einmal ernst. – »Also, wenn ich dir was raten darf, um deiner Mutter selig willen, dann ist's das, daß du noch zwei Jahre lang bleibst, wo du bist, und tust, was du kannst. Dann, und das ist's, was ich dir ausrichten soll, dann will die Frau Baronin dich in Dienst nehmen, und nebenher darfst du das Nähen lernen. Ist's so recht?«

Lenele war anfangs über die zwei Jahre sehr erschrocken, aber der Schluß von dem, was Babette sagte, war doch so herrlich, daß sie abwechselnd ihr und dem Großvater um den Hals fiel und jubelnd Schorsch herumwirbelte, so daß der Christian von neuem zeterte und mit den Fäusten an die Bettlade trommelte.

Babette schlug vor, ins Freie zu gehen. Lieber wollte sie wieder in der Sonne weilen, als in » der Gesellschaft«. Nachdem sie Schorsch vollends mit einem Taschenmesser und Lenele mit einer wohlgefüllten Nähschatulle beglückt hatte, wanderten die vier zuerst nach dem Grab der Mutter. Dann setzten sie sich, friedlich und ungestört zusammen plaudernd, auf das Waldbänkchen, wo neben den Tannen blühende Schlehen und Schlüsselblumen wuchsen und unten die alte Heimat lag, noch mit verschlossenen Läden und unberührt, genau so, wie sie verlassen worden war, so daß man glauben konnte, es sei beinahe alles wie einst.

»Dort hat mir's früher besser gefallen,« wollte es der Babette einmal herausfahren, aber sie besann sich doch eines andern. Sie hatte heute schon so viel gesagt, und es war jetzt auch Zeit zum Heimgehen.

Als der Großvater und die Kinder wieder zusammen aufwärts ins Dorf stiegen – sie hatten Babette noch ein Stück weit begleitet –, da war ihnen allen so froh zu Mute, wie schon lange nicht mehr. Alles blühte und grünte um sie her. Den Kindern war noch so weihevoll ums Herz. Sie hatten sich heute früh ihrem Gott genaht wie noch nie, und wer das tut, der bekommt Frieden in die Seele. Und dann noch all das andere: die lieben Besuche, die Geschenke, der Gang miteinander!

Als sie sich gerade trennen wollten, wer kam da mit mächtigen Sätzen auf sie zugerannt? Das Mohrle, das liebe alte Mohrle, das mit seinem Herrn von der Stadt her kam und nun, am Schluß des Tages, auch noch gratulierte. Es war ihm das Angewöhnen von Anfang an ebenso schwer gefallen wie den andern. Aber auch er hatte seine Pflicht erkannt, jemand Neuem zu dienen. Nur dann und wann einmal, wenn ihn das Heimweh überkam, stahl er sich geschwind zu einem kurzen Besuch zum Großvater oder zu den Kindern, rieb seinen Kopf an ihnen, guckte mit seinen treuen Augen sie an, wedelte und leckte und trollte sich dann wieder von dannen.

Ja, dieser Frühlingstag, der blieb allen noch lange im Gedächtnis, und es ist gut, so etwas in Erinnerung zu haben, wenn wieder die Alltagszeit kommt.

Schorsch war es besonders, der in seiner Stellung hart litt. Mit dem Essen war es besser geworden. Der Fuhrmann hatte einfach nicht daran gedacht, daß der Bub nichts Warmes bekam, und ließ ihm, als es Schorsch einmal im Steinbruch übel wurde, des Morgens nun auch einen Kaffee oder eine Suppe im Ochsen geben, und für den Abend legte er noch zwei weitere Pfennige auf die sechs für Käse. An die Arbeit, die ja nicht eigentlich hart war, gewöhnte sich Schorsch auch, aber an was er sich nicht gewöhnen konnte, das war die barsche, rauhe Art, in der sein Herr fast immer mit ihm sprach. Vom Morgen bis zum Abend gab es nur rohe Reden, und alle Befehle waren mit Schimpfwörtern oder gar mit Flüchen begleitet. Dieses Wesen hatte sich Buller im ausschließlichen Verkehr mit den Pferden angewöhnt, aber gerade darunter litt Schorsch am meisten.

In seiner einsamen Lage, wo oft tagelang kein Mensch ein Wort an ihn richtete, außer daß vielleicht einer der Arbeiter im Sandbruch einen derben Scherz mit ihm machte oder die noch verschlafene Kellnerin im Ochsen ihm mit ein paar unwirschen Worten das Frühstück hinstellte –, da richtete sich seine ganze Liebe und Hingebung auf den Hans. Er und das Pferd waren ja fast immer beisammen. Schorsch schlief in einem niederen Verschlag neben dem Hans. Seine Wärme wärmte ihn. Von demselben Stroh bereitete Schorsch ihm und sich das Lager. Dieselben wollenen Decken dienten abwechselnd den beiden Schlafkameraden. Nur ein mit Heu gefülltes Kopfkissen und ein Leintuch hatte der Knabe voraus. Wenn beide zum Umfallen müde des Abends nach Hause kamen, zog es Schorsch vor, gleich im Stall zu bleiben, statt sich in die ungenügend erwärmte einsame Stube zu setzen. Vor allem aber versorgte er das Tier. Hans mußte möglichst rasch sein Heu, sein bißchen Haber und sein Wasser haben, die Streu mußte erneuert und alles zur Ruhe bereitet sein, ehe Schorsch nur daran dachte, sich seiner oft durch und durch nassen Kleider und Stiefel zu entledigen. Wie gut war's aber dann in einem trockenen, alten Kittel, alten Hosen und warmen Salbandschuhen, die der Großvater ihm gemacht hatte, neben dem Pferd im Stroh zu kauern oder auf einem niederen Schemel zu sitzen und sich so recht der Ruhe nach getaner Arbeit und der Stillung des Hungers hinzugeben. Bedächtig schnitt er sich mit seinem Taschenmesser Stücke von dem Schwarzbrot herunter. Daß der Hans manch einen Bissen davon abbekam, versteht sich von selbst. Und dann der Käse, das war noch ein extra Hochgenuß, der gehörte Schorsch ganz allein.

Manchmal waren beide noch hungrig, das Pferd und der Bub. Die Rationen waren möglichst klein berechnet für die Lasten, die das Tier zu ziehen hatte. Die andern Fuhrmannspferde bekamen aber auch nicht mehr, nur waren da oft zwei oder ein Gaul und ein Ochse zusammengespannt, und Hans mußte manchmal fast so viel ziehen wie die andern. Schorsch, der sonst seinem Herrn gegenüber kaum eine Gegenrede wagte, hatte für den Hans schon die flehendsten, rührendsten Reden gehalten, aber er mußte einsehen, daß die Sache oft beinahe schlimmer dadurch wurde.

»So ein Knirps und will mich lehren, was ein Gaul kann oder nicht? ... Auf, ... hott ... hüh ... faule Mähre!« Und mit einem tüchtigen Peitschenschlag über die Vorderbeine, da wo es am empfindlichsten schmerzte, hatte Hans auch richtig allemal den Wagen über die schwierigsten Stellen gebracht.

Was Schorsch dabei litt, wie er seine Schultern gegen die Räder stemmte, bis es Striemen gab, wie er auf ebenem Weg das zitternde Tier streichelte und zu beruhigen suchte, wie er ihm von etlichen da und dort geschenkten Pfennigen Zucker kaufte, um dem abgemagerten armen Geschöpf doch eine kleine Freude zu machen –, alles das verbarg er in seinem Innern, weil er einsah, daß da ja doch niemand helfen konnte. Nur das Anerbieten von Schnaps, den Buller ihm zu trinken geben wollte, erzählte er schließlich dem Großvater, und dieser hatte es in seiner höflichen, aber bestimmten Art bei dem Fuhrmann dahin gebracht, daß dieser es künftig bleiben ließ.

»Hab' dem dummen Buben damit etwas Gutes tun wollen! Später muß er sich ja doch, wie wir alle, daran gewöhnen. Ich bin deshalb noch lange kein Säufer! Aber wenn er nicht mag, so soll er's halt bleiben lassen –, ich zwing' ihn nicht dazu!«

In der Hitze, ohne jeglichen Schutz von einem Baum oder Strauch, in der größten Kälte, in eisiger Zugluft hielten Schorsch und sein Hans aus, und bis jetzt waren sie doch leidlich beide gesund geblieben.

Aber nun war ein Tag im Januar – im Jahre nach der Einsegnung –, da wehte es im Steinbruch so eisig, daß Buller, der sonst ziemlich lange mit auflud – schon wegen der Kontrolle –, mit einem Schimpfwort die Schaufel früher als sonst hinwarf, um zur Kantine zu gehen.

»Kannst nachher auch geschwind reinkommen, will dir eine Schüssel Milch heiß machen lassen. – Dagegen wird dein Großvater ja wohl nichts einzuwenden haben,« sagte er halb spöttisch, halb in einer gutmütigen Anwandlung zu Schorsch, und dieser war dankbar dafür, nur hätte er am allerliebsten auch etwas für Hans gehabt. Der zitterte heute so eigentümlich und ließ den Kopf hängen, als Schorsch zärtlich und ermutigend mit ihm sprach und ihm die Decken zurechtrückte. »Wart nur ein bißchen, Alterle, ich komm' gleich wieder! Vielleicht schenkt mir die Wirtin ein Stück Zucker, das täte dir gut. – Zucker macht warm!« Schorsch hatte das einmal gelesen, daß Süßigkeit wärme. Er überwand seine Scheu und bettelte bei der Kantinenbesitzerin. Diese schenkte ihm auch – o Wonne! – drei ganze Stücke Zucker, und nachdem er seine Milch stehend so warm und so schnell als möglich hinuntergetrunken hatte, eilte er wieder zum Wagen.

»Hottehüh, Gäule, guck nur, was ich dir bringe!« sagte er voll Eifer zu dem Tier und hielt ihm dabei in der flachen Hand eins der Stücke hin.

Aber was war denn das? Leicht nur schnupperte Hans an dem Leckerbissen, aber dann wandte er den Kopf traurig zur Seite – er verschmähte das Gebotene. Voll Besorgnis probierte es Schorsch noch ein zweites und drittes Mal, aber immer umsonst.

»Der Hans muß krank sein, Herr, er frißt nicht einmal Zucker,« sagte Schorsch angstvoll zu Buller, als dieser wieder herauskam.

»Ein Fuhrmannsgaul braucht auch nicht so was! Dummes Zeug! Woher hast du den Zucker?« rief Buller rauh und schlug dem Buben die zwei andern Stücke, die er zum Beweis seiner Rede dem Pferd wieder hinhielt, aus der Hand. – »Gebettelt, was? Untersteh dich noch einmal, so was zu tun, und du sollst sehen, was es absetzt!«

Buller hatte die Peitsche genommen, die war ihm ein besseres Beweismittel für die Leistungsfähigkeit eines Gauls als Zucker, und auf ein paar »Aufmunterungen« hin, wie er es nannte, zog Hans auch mit Anspannung aller Kräfte an, und da Buller selber genug hatte bei dem »Schweinewetter«, wie er sagte, so war's heute die letzte Fuhre, und Schorsch und Hans kamen eine halbe Stunde früher als sonst in den Stall.

Das Tier legte sich gleich, und als Schorsch ihm das Futter in die Raufe steckte und den Eimer zum Saufen ganz nahe heranstellte, nahm es nur etwas Wasser, das Fressen aber versagte es.

Schorsch hatte schreckliche Angst. Er rieb, wie er es bei älteren Pferdeknechten schon gesehen, den ganzen Körper des Tieres mit einem wollenen alten Lappen, wodurch es ihm und Hans warm wurde, und als letzterer dann doch schließlich noch ein wenig von dem Heu und einen Bissen von Schorschs Brot nahm, da war dieser überglücklich, und durchfroren und müde, wie er selber war, streckte er sich unter seine Decke und schlief bald ein.

Am andern Morgen stand Hans nicht auf, Schorsch mochte ihm noch so gute Wörtlein geben, er sah ihn nur traurig an. Als aber Buller in den Stall kam, unwirsch, daß noch nicht angespannt sei, obgleich es Samstag war, wo die Arbeit noch mehr drängte als sonst, und als er mit drohend erhobener Peitsche zu dem Tier trat, da erhob es sich und ging auch willig zum Stand hinaus auf die Straße an den Wagen und ließ sich einspannen.

»Das Vieh hat halt auch was von der Kälte abgekriegt wie ich, und unsereins kann sich auch nicht schonen,« sagte der Fuhrmann unter Niesen und Husten. –

Das Wetter war heute umgeschlagen, die Luft war lau, und der Boden taute.

Hans zog den leeren Wagen wie alle Tage, und Schorsch war so erleichtert, aber er dachte mit Sorge an die besonders schwere Last, die das Pferd stets Ende der Woche zu ziehen bekam, und er faßte sich ein Herz.

»Wär's nicht genug geladen für heute?« fragte er seinen Herrn, als der Wagen halb voll war.

»Bist du übergeschnappt, oder willst du die andere Hälfte vielleicht selbst ziehen?« schrie ihn Buller an. Es war ihm selber nicht so ganz behaglich bei der Sache, aber der Sand mußte noch auf den Bauplatz, und bei dem Gaul war es sicher neben der kleinen Erkältung nur Faulheit. Der Kerl wurde nachgerade alt, da mußte man ihn noch ausnützen, eh's vielleicht gar nicht mehr ging. So kalkulierend, lud er die Fuhre vollends auf, und dann trieb er das Pferd an.

Hans versuchte redlich zu ziehen, aber es ging nicht. Zu wiederholten Malen machte er Anstrengungen, den Wagen von der Stelle zu bringen, aber vergeblich. Schorsch schmeichelte und half mit, daß ihm die Adern fast platzten, aber der Wagen schien wie festgebannt.

Buller war in der schlimmsten Laune. Die andern Fuhrleute waren mit sich selber beschäftigt, nirgends gab's ein überzähliges Pferd, das man hätte vorspannen können, und fort mußte man.

»Holla, – ho, ho! – Auf! – Vorwärts!«

Die Peitsche traf mit einem scharfen Hieb den Rücken des Tieres. Es machte verzweifelte, aber vergebliche Anstrengungen. Ein paar Arbeiter kamen dazu und stemmten sich gegen den Wagen, der im aufgeweichten Boden festsaß, und den vereinten Kräften gelang es endlich, ihn auf die Chaussee zu bringen.

Schorsch hatte von dem Peitschenhieb ein gut Teil abbekommen. Als er die erhobene Hand Bullers sah, hatte er sich mit einem verzweifelten: »Laßt! ... Das darf nicht sein!« dazwischengedrängt. Eine rote Strieme lief ihm quer über die Stirn und Wange, und er wischte sich ein paar Tropfen Blut ab, die ihm den Blick verdunkelten.

»Geschieht dir recht!« sagte Buller und sah zurück, ob wohl einer von den Leuten es noch gesehen. – Was brauchte der Bub sich in alles zu mischen?

»Euer Gaul hat einen Treff, macht, daß Ihr ihn in den Stall bringt!« sagte ein alter Fuhrmann, der auf der Straße an ihnen vorbeikam. »Spannt ihn aus und führt ihn leer heim!« rief der Alte noch nach, aber Buller hatte es sich einmal in den Kopf gesetzt, daß es auch so gehen müsse. Er selber hatte Riesenkräfte und schob, und Schorsch half, daß ihm alle Knochen weh taten. In immer kürzeren Zwischenräumen blieb das Pferd stehen und atmete und hustete hart, aber nach und nach näherten sie sich doch dem Dorf, und es waren nur noch etwa zehn Schritte bis zu Bullers Haus, als Hans nicht mehr zu bewegen war, einen Schritt vorwärts zu gehen, geschweige denn um die Ecke zu dem Bauplatz zu kommen. So nah am Ziel, verlor Buller vollends alle Vernunft und Geduld.

»Mit dir wird man doch wohl noch fertig werden, verfl...... Vieh!« schrie er im höchsten Zorn und schwang wieder die Peitsche.

Der Schlag traf das zitternde Tier voll in die Weichteile, so daß der Bub, seiner nicht mehr mächtig, die Fäuste ballte und schrie: »Hauet mich, aber nicht den Hans!«

Dieser aber rang eben mit einem heftigen Keuchen und Stickanfall, und ein Strom von Blut drang aus dem Maul.

Nun erschrak Buller sehr. Schleunigst spannte er das Tier aus, und die Leute, die herbeigekommen waren, halfen es in den Stall ziehen. Die Streu wurde nun so dick und so weich gemacht wie noch nie. Decken wurden über das zusammengesunkene Tier gebreitet und schleunigst der Tierarzt gerufen.

»Blutung infolge vernachlässigter Lungenentzündung,« sagte dieser. Und indem er dann einen Trank und Umschläge verordnete, wobei er genau Schorsch zeigte, wie man sie machen müsse, sagte er in grollendem Tone zu Buller: »Sehr fein seid Ihr nie mit dem Gaul umgegangen; wundert Euch daher nicht, wenn er Euch jetzt krepiert. Der Bub soll sich heut nacht auch einen Umschlag machen, sonst setzt es was ab,« fügte er noch mit einem Blick auf Schorsch hinzu, der ganz entstellt aussah.

Buller war wütend über all das Unangenehme, und als Hans nach ein paar Stunden scheinbar ruhig dalag, rief er Schorsch zu: »Abwaschen sollst du dich und dir kalte Umschläge machen, hast's nicht gehört?« und damit ging er in den Ochsen davon. Schorsch reinigte sich flüchtig, aber was war ihm seine Verwundung gegen die von seinem Hans, gegen dessen Krankheit!

Das ganze Innere des Knaben war in einer furchtbaren Aufregung. Was konnte man tun, wo lindern, wo helfen? – Er wusch, salbte und verband, holte noch seine eigene Decke und zog schließlich seinen Kittel aus, um das bebende, leidende Tier weich zu betten. Als die Atemzüge wieder so schwer wurden, stützte er den todmüden Kopf des Gauls mit beiden Armen und lehnte seine Wange an ihn.

»Hansel, mein Hansi, was haben sie dir getan? ... Hansel, mein Hans, geh' nicht von mir!«

Laut aufweinend holte er rasch wieder den Trank herbei, weil das Tier von neuem unruhig wurde und so eigentümliche Töne von sich gab. Er wickelte den zuckenden Körper so warm ein, als er konnte.

Buller, der nach einem kürzeren Trank, der ihm nicht gemundet hatte, zurückgekommen war, weil ihm die Sache doch keine Ruhe ließ, half dabei, aber es war vergeblich. Noch ein Blick der guten treuen Pferdeaugen zu Schorsch, – es war sicher so, daß es ihn noch ansah, das hätte der Bub nach Jahren noch beschworen, – und das Tier streckte sich und hatte ausgelitten.

Am andern Morgen – es war Sonntag, und der Großvater wollte sich eben zur Kirche begeben – kam ein schluchzendes, ganz verzweifeltes junges Menschenkind, das sich mit nichts trösten lassen wollte.

»Mein Hans ist tot, und ich hab' ihm nicht helfen können! Er und ich haben gewollt, aber er hat nicht mehr gekonnt, und jetzt holen sie ihn fort, und ohne ihn bleib' ich nicht! ... Nein, Großvater, ich bleibe nicht, und ich will auch nicht mehr!«

Der ganze Körper des Knaben wand sich vor Jammer, als ihn der Großvater auf einen Stuhl niederzwang und ihn aufmunterte, ihm doch einmal alles ruhig und der Reihe nach zu erzählen. Als aber der Schuster-Martin das ihm zugewandte blutunterlaufene Gesicht des Kindes erblickte, da sah er klar und sagte:

»Bist wacker im Aushalten gewesen, nun aber ist's genug! Die nächsten Tage bleibst du bei mir, und dann wollen wir weiter sehen!«


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