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Zweites Kapitel.

Von einer roten Schleife und Bonbons. – Was der Gipser-Fritz will und nicht will. – »Gelt, Mammele, uns geht's gut?« – Ein Strohhütchen mit grünem Band, ein großer Federhut und zwei verschiedene Mütter. – Von Schorschs Kielhasen, und warum Mohrle knurrt. – Eine alte Bibel, und wie der Großvater sagt: »Schaffen dürfen – Gott erhalt's!«

 

Acht Tage sind vorübergegangen, und in dem kleinen Hause ist wieder Friede und Ruhe eingetreten. Der Gipser-Fritz hat einen Brief nebst Anstellung von der Stadt am Rhein bekommen und ist kurz darauf mit ein paar Kameraden, nicht gerade den besten, dorthin abgereist. Er war lustigster Laune, denn die Versprechungen lauteten sehr gut, und in den paar Tagen, die er noch daheim war, hatte sich niemand über ihn zu beklagen. Die Kinder nahm er mit zur Stadt, führte sie in einen Zirkus und gab ihnen »Bombohs« zu naschen, soviel sie wollten, und nachher Bier zu trinken und Käse zu essen. Der Mutter brachte er eine knallrote Schleife mit und dem Großvater ein Dutzend Cigarren, ganz vergessend, daß dieser solche nicht rauchte, höchstens einmal eine Pfeife. Schorsch und Lenele hatte die Mutter sehr ermahnt, ja recht freundlich zu dem Vater, der Ärger gehabt habe, zu sein, und sie schalt sie, daß sie so scheu und schüchtern waren. Liebhaben konnten die Kinder den Vater nicht, das konnte niemand von ihnen verlangen. Aber Schorsch erzählte ihm doch ein paarmal freiwillig von der Schule, und als er ein »Recht gut« im Zeugnis heimbrachte, schenkte ihm der Vater, stolz darauf, zwanzig Pfennig und sagte: »Wenn du so ein Kerl bist, so laß ich dich einmal studieren!«

Als das Lenele aber beim Abschied sich überwand und die Arme um des Vaters Hals schlang und auch noch das Köpfchen mit den sammetweichen Bäckchen einen Augenblick an ihn drückte, da überkam den Gipser-Fritz doch etwas wie Vatergefühle, und es war ihm ernst, als er sagte: »Da drunten kann ich was ersparen, dann soll's euch allen besser gehen!«

»Geht's uns denn nicht gut, Mammele?« fragte die Kleine, als der Zug abgefahren war und sie zusammen wieder heimwärts gingen. Mutter hatte es mit der Milch so eingerichtet, daß sie den Bedarf auf dem Hinweg geschwind in ihre Häuser hinaufbrachte, und auf dem Rückweg holte sie dann die Kannen ab und ebenso den Wagen, den sie in einem Torbogen untergestellt hatte.

»Freilich geht's uns gut,« sagte die Mutter als Antwort auf des Kindes Frage, aber innerlich war ihr nicht ganz so zu Mute. Überall, wo sie hinsah, war der Vater bei der Frau und den Kindern. Er war der Halt und die Stütze, er half bei der Arbeit und Erziehung. Im ersten Jahre, ja, da war es so gewesen. Aber bald gefiel es dem Fritz auswärts besser als daheim.

»Ihr braucht mich ja gar nicht, ihr habt ja den Großvater,« pflegte er scherzhaft zu sagen. Aus diesem Scherz wurde aber die Versuchung und dann die Gewohnheit, den alten Mann sorgen zu lassen. Die Marie verdiente ja auch, und da konnten diese daheim schon allein fertig werden. Man mußte doch auch ordentlich vespern, entschuldigte er sich, man mußte bei Kraft bleiben, sich den Seinigen erhalten, wie er noch beim Abschied sagte.

Der Mutter stiegen recht bittere Gefühle auf, als sie, in Gedanken daran an dem Kundenhaus angelangt, ihren Wagen hervorzog und die Kannen darauf ordnete. Sie mußte nachher noch beim Kaufmann Böhm eine Kiste mit einem viertel Zentner Kaffee und ein Fäßchen Essig aufladen. Es war gut, daß sie heute bei der schweren Fracht die Kinder zum Schieben hatte. Diesen war oben von der Köchin bei Barons ein Stück Kuchen gegeben worden, das sie auf der mit einem schönen roten Teppich belegten Treppe andachtsvoll verzehrten. Auf der rückwärtigen, die zur Küche führte, war heute der Maler, und die Kinder setzten behutsam ihre Füße.

»Daß es nur keine Brosamen gibt!« sagte Lenele mahnend zu Schorsch, der weniger sorgsam zubiß.

»So ist's recht! Du bist ein ordentliches Mädchen,« sagte eine Stimme neben den Kindern, und eine freundlich nickende Dame ging an ihnen vorbei die Treppe hinab.

»Sind das die Ihrigen, Frau Wepfer?« fragte die Dame unten die Mutter und deutete auf die beiden zurück, die schüchtern gefolgt waren. Die Kinder mußten der Frau Baronin die Hand geben, und Lenele wurde gefragt, ob sie immer so nett und sauber sei. Die Kleine schaute fragend die Mutter an. Die blickte mit einigem Stolz auf das zwar etwas kurze, aber frisch gewaschene rosa Kattunkleidchen, das rot getüpfelte Schürzchen und das Strohhütchen mit dem grünen Band und sagte:

»Man tut halt, was man kann, gnädige Frau, und der Großvater ist streng darin, der hält uns alle zur Ordnung an.«

»Daheim, wenn ich auf der Wiese springe und zur Meß gehe und Geschirr abtrocknen helfe, da hab' ich mein altes Kleid und meine blaue Schürze an, weil ich oft Flecke mach',« sagte Lenele ehrlich, der das Lob von vorhin nicht ganz verdient erschien.

Die Dame lachte und meinte: »Das Lenchen empfindet doch, wenn es sich schmutzig macht, das ist schon viel. Nach zehn Jahren würde das ein nettes Kindermädchen für meinen Kleinen geben. Was meinen Sie, Frau Wepfer?«

»Das tät mich freuen, aber 's ist noch lange bis dahin,« sagte die Mutter geschmeichelt und schob nun mit einem freundlichen »Adieu!« ihr Fuhrwerk in die Mitte der Straße. Die Kinder blieben noch einen Augenblick stehen und sahen zu, wie die Dame auf einen Kinderwagen zutrat, in dem ein kleiner Knabe ganz in Spitzen und feine weiße Decken gehüllt lag. Ein größeres Mädchen mit Federhut und goldfarbenen Locken, das einen Reif in der Hand hielt, sowie eine Wärterin mit weißer Schürze und Haube standen, zum Ausgehen bereit, dabei, und Lenele hörte gerade noch, wie die Frau Baronin, zu den zwei Kleinen gebeugt, in den zärtlichsten Tönen und Koseworten mit ihnen sprach.

»Mammele, die redet mit ihren Kindern wie ich mit meiner Millemille, gelt?« sagte Lenele, indem sie der Mutter nachsprang.

Schorsch aber, der auf der Kante des Trottoirs nebenherlief, meinte etwas verächtlich: »So tun doch Mütter nicht mit einem, sondern sie sagen, was man soll, und dann weiß man's!«

Die Mutter antwortete nichts. Wenn sie den Wagen zog, konnte sie überhaupt nicht viel sprechen, weil sie dies anstrengte, und als ein paar Straßen weiter unten der Sack mit Kaffee und das Fäßchen aufgeladen wurden und es gleich darauf bergan ging, da gab's schon von selbst keine Unterhaltung mehr, denn auch die Kinder stemmten ihre kleinen Schultern mächtig an, um den Wagen vorwärts zu bringen.

Die Gedanken freilich, die liefen frei nebenher, und ein Teil davon setzte sich schwer auf Frau Maries Seele.

»Mutter, wo ist jetzt der Vater?« fragte einmal Schorsch, als sie anhielten, um Atem zu schöpfen. »Ist er schon dort, wo er hin will?«

Die Mutter schüttelte mit dem Kopf. »Noch lange nicht. Erst wenn ihr im Bett liegt und schlaft, mitten in der Nacht kommt er dort an.«

»Findet er denn dann aber in der Dunkelheit seinen Weg?« fragte Lenele.

»Es wird doch auch Laternen dort geben,« entschied Schorsch die Frage, und wieder ging's vorwärts, jetzt im Walde, wo die Tannen ihre dunkeln Schatten warfen und es einen nach der Hitze der Landstraße fast fröstelte.

Ach ja, das war's, was der Mutter Herz bedrückte! Wird er dort auch seinen richtigen Weg finden, so gar ferne von dem, was ihm in der Heimat immerhin noch leuchtete und ihn wärmte?

Die Mutter seufzte. Vielleicht hätte ihre Wärme größer sein sollen, auch den Kindern gegenüber, das hatte sie vorhin aus Schorschs Reden entnommen. Aber sie vermochte eben einmal nicht, viel Worte zu machen, das hatte sie nie gekonnt, und wenn man so hart schaffen muß, da spricht man eben nur das Nötigste. Und dann war ja auch der Großvater da. Der wußte immer das Richtige zu sagen, der hatte das Herz auf der Zunge, und es war so gut, bei den Mahlzeiten und des Abends stille sitzen zu dürfen und zuzuhören, wie er erzählte oder Ratschläge gab, oder wenn er sich mit den Kindern unterhielt, als wäre er selber noch ein Kind. Der Großvater, ja, der verstand es mit allen Menschen. Das ganze Dorf hatte ihn gern. Nur mit dem Fritz, da ging es von Anfang an nicht, der war eben neumodisch, der Großvater aber altmodisch, was sie im Grunde des Herzens ja auch war, und das hätte sie bedenken sollen, ehe sie ihn genommen. Nun war es eben einmal so, wie es war!

»Mammele, der Großvater schaut schon nach uns aus,« sagte Lenele. Und richtig, oben am Wiesenabhang, da wo das Gärtchen anfing, stand der alte Mann und bei ihm Mohrle, der jetzt wie immer pfeilschnell durch Gestrüpp und Heidelbeerbüsche kerzengerade hinabschoß, am Ende sich noch überpurzelnd an der Wegböschung und sich wie eine schwarze Kugel überschlagend.

»'s ist später als sonst geworden,« sagte die Mutter, als sie oben ankamen. »Ich glaub', ich muß zuerst der Bleß ihr Futter geben. Es ist mir leid, daß du warten mußt, Vater!«

Die Kuh kam vor allem andern, das wußte jeder im Haus, darin lag nichts Beleidigendes.

»Das Essen ist schon fertig, ihr braucht euch nur dazuzusetzen, und die Bleß hat auch bereits, was sie braucht,« sagte der Großvater schmunzelnd. Und richtig, er hatte einen guten Kaffee gekocht. Der stand schon in einem braunen Topf auf dem Tisch, die Tassen auch, und nachher gab's noch Weißkäse und Schwarzbrot. Diese milden, weichen Käslein liebten die Kinder ganz besonders, und als gegessen war, brachte man den Rest den hungrigen Hühnchen, die hackten und pickten darauf los, daß die weißen Krümmelchen rechts und links flogen, und die Mutter Gluckhenne Mühe hatte, mit ihrem Schnabel das Zerstreute wieder zusammenzutragen, bis zuletzt alles fein säuberlich in den kleinen gelben Schnäbeln verschwunden war.

Nach dem Abräumen holte der Großvater immer die alte Bibel mit dem Schweinsledereinband und den merkwürdigen Bildern hervor und las einen Abschnitt daraus, und dann sagte er:

»Lieber Vater, dank für Speis' und Trank!« und die Kinder sagten's mit. Der Großvater trug hierauf das Buch zu dem Eckschrank beim Ofen und legte es, sorgsam in ein altes leinenes Tüchlein eingehüllt, an den für diesen Schatz bestimmten Platz.

»Ich hab's schön gebunden von Eltern und Großeltern überkommen, ihr sollt's auch einmal in einem guten Zustand von mir erhalten,« sagte er oft, und keines der Kinder durfte an diesem Heiligtum rühren, nur unter Großvaters Aufsicht war es ihnen erlaubt, die Bilder anzusehen.

Schorsch und Lenele liefen, als der Abschnitt aus der Bibel gelesen war, hinters Haus zu den Hasen, brachten ihnen Gras und ließen die Langohren dann ein bißchen heraus, wo sie, mit den rosa Schnauzen am Boden schnuppernd, aus einer kleinen seichten Rinne, die vom Brunnen aus gelegt war, Wasser tranken. Schorsch reinigte dann mit einem Rechen das Ställchen und streute frisches Heu hinein. Die zwei Alten schlüpften sofort wieder durch das Türchen und machten sich ein Nest zurecht, während Lenele sich auf die Holzbank setzte und die vier Jungen auf den Schoß nahm. Es war nun wieder das rote Hausröckchen, das sie anhatte, und die Alltagsschürze, an der nicht viel zu verderben war. Die kleinen, glatten Dinger kugelten durcheinander, ließen sich streicheln und in die Hand nehmen und sogar auf die feuchten Schnäuzchen küssen, was den Mohrle, der der Länge nach daneben in der Sonne lag, jedesmal zu einem mißbilligenden Knurren veranlaßte. Er war doch ein sehr verträglicher Hund, das mußte jeder sagen. Das bewies er mit der Mieze, mit der er sogar aus einer Schüssel fraß, freilich nicht gerne, denn das Katzenvolk war ja im allgemeinen seiner ganzen Natur zuwider. Aber die Mieze war ja doch noch so winzig klein, als der Großvater sie heimbrachte, da wäre es gemein gewesen, sie wie eine richtige Katze zu behandeln. Und dann war sie halb erstickt von dem Schlammwasser, in das böse Buben sie geworfen hatten, und das arme Geschöpfchen zitterte so vor Kälte, daß er nichts dagegen hatte, als der Großvater es in ein Stück Lappen wickelte und sagte:

»Mohrle, du mußt dir's gefallen lassen, daß es neben dir liegt. Rück ein bißchen auf die Seite und paß gut auf, daß du mir's nicht erdrückst!«

So etwas verstand der Mohrle, denn er war wirklich grundgescheit und hatte auch sonst eine wackere Hundeseele. Aber diese dummen, schlapprigen Dinger hier, die nur so herumhuschelten ohne eigentlichen Zweck, die gingen ihm auf die Nerven, und daß Lenele sie auch noch so zärtlich behandelte, das weckte seine ganze Eifersucht.

»Wau, wau! ... Grrrrr ...«

Mohrle war aufgestanden und hatte mit grimmigem Brummen die eine Pfote schwer auf Leneles Knie gelegt, ganz dicht neben eines der gefleckten Kaninchen.

»Wirst du wohl ... Untersteh' dich!« riefen die beiden Geschwister wie aus einem Mund, und Mohrle zog die Tatze und dann sich selber beschämt zurück. Er fühlte wohl, daß er ein unnobles Gelüste gehabt hatte, und trollte lieber davon, dahin, wo es keine solchen Ärgernisse gab.

Dreimal im Tag wurde die Bleß gemolken, des Morgens um fünf, damit Mutter die Milch frisch zur Stadt bekam, des Mittags und des Abends. In der Früh schliefen die Kinder noch, aber die beiden andern Male waren sie meist dabei. Es war so lustig zuzusehen, wenn Mutter den weißgescheuerten Eimer holte, die Hände sauber wusch, die Ärmel zurückstrich, sich dann auf den kleinen dreibeinigen Schemel setzte und zu melken anfing. Wie geduldig hielt da die Bleß still, nur manchmal mit der Quaste ihres Schweifes hin- und herfahrend oder den Kopf mit den guten, großen Augen wendend, und ein halblautes, befriedigtes Muh! ausstoßend. Sie hatte ganz gern Gesellschaft, die Bleß, und wenn man den Tag über ihrer Ansicht nach zu lange nicht nach ihr sah, so konnte das Muh oft ganz ungebärdig und verlangend lauten, wie das Schreien eines Kindes, das nicht mehr allein sein mag.

Es war ein paar Tage später, und schon war eine Karte von Fritz angekommen, daß die Reise flott vorübergegangen sei, und daß es ihm bis jetzt dort sehr gut gefalle. Die Stadt sei bedeutend größer als die Hauptstadt daheim, und die Häuser fast noch einmal so hoch. Er bewohne mit zwei Genossen, die er dort kennen gelernt, eine schöne Stube, in der sogar ein Plüschkanapee stehe, und Wein trinke man hier wie zu Haus das Bier. Von Most wisse niemand etwas. Wenn er Geld genug habe, würde er ihnen ein Fäßchen davon schicken.

»Wenn er nur bald einmal ein paar Mark schicken wollte, das wäre besser,« sagte der Großvater. Er hatte heute früh die Steuer fürs Häuslein und fürs Handwerk aufs Amt getragen, und nun sollte die Feuerversicherung bezahlt werden, und neues Leder brauchte er auch. Er kaufte nur gutes, solides, das war er seinen Kunden schuldig, aber so ein Fell, das kostete gehörig, und die meist armen Leute, die bei ihm arbeiten ließen, konnte er doch nicht mit der Bezahlung drängen. Das, was die Mutter verdiente, brauchte man für Nahrung und Kleider. Und dann reichte das Futter, das auf dem Grasfleck am Berg hinauf wuchs, lange nicht für den guten Appetit der Bleß, und Rüben und Heu für den Winter mußten ohnedem gekauft werden.

Die Sorgen, die Großvater hatte, trug er meist für sich oder besprach sich darüber im stillen mit seinem Herrgott, der ihn bis ins sechzigste Jahr nicht verlassen hatte. Der Großvater hatte schon viel Schweres durchgemacht. Von sechs Kindern war ihm nur seine Marie geblieben. Die Frau hatte er auch bald verloren, und seine kleine, gebeugte Gestalt war ihm oft im Leben hinderlich gewesen. Aber hatte er nicht trotzdem das Handwerk, das ihn freute, lernen und ausüben dürfen? Hatte er nicht die brave Tochter, die so liebreich für ihn sorgte, nicht die Enkelein, die sein Herz erfreuten? War er nicht bis heute gesund geblieben? Und dann das Häuschen, um das mancher ihn beneidete! Noch ein paar Jahre, und er konnte die letzte Schuld, die noch von seinen Eltern her darauf lastete, an den Ochsenwirt oben im Dorf, dessen Vater einst das Geld zum Bauen geliehen, abbezahlen. Noch war der Schuster-Martin ja rüstig, darum gab's kein unnötiges Denken, keine Sorge um die Zukunft, das ging ganz gegen des Großvaters Natur.

Es war Abend, und die viere saßen beisammen auf der Bank oben am Waldessaum, die der Großvater aus Prügeln und krummen Zweigen geschaffen hatte. Unmittelbar vor ihnen lag der gemähte Wiesenfleck, dann kam der Zaun und das Gärtchen und darin das Haus mit dem Moos auf dem Dach, dem Taubenschlag, mit den Nelken und Levkojen an den niedern Fensterlein und der mit Schlingpflanzen grün bewachsenen Sommerseite. Darüber hinaus bis ins Tal hinab sah man in lauter Baumwipfel, die jetzt schon im Abenddämmerschein lagen. Oben im Dorfe schien noch die scheidende Sonne, und die Scheiben an den Häusern glitzerten wie helles Feuer.

Die Mutter ließ ihr Strickzeug sinken und sah hinaus in diese goldige Pracht. Auch jetzt sagte sie nichts, aber sie lehnte den Kopf an den Eichbaum hinter der Bank und faltete die Hände.

Der Großvater erklärte den Kindern, die sich an seine Knie drängten, wie die Sonnenstrahlen so weit, so weit herkämen, und wie dagegen unsere Gedanken und Gebete, die wir zum lieben Gott schicken, einen noch größeren Weg in nur wenigen Sekunden zurückzulegen brauchten.

»Hört er uns immer gleich, der liebe Gott?« fragte Lenele, und Schorsch wollte wissen, warum er denn dann der Armenhausliese kein Geld gebe, damit sie nicht dort zu wohnen brauche, wo sie so ungern sei, und dem Stelzflori einen neuen Fuß.

Der Großvater erklärte, daß der liebe Gott wohl gleich alles höre, aber uns nicht immer gleich erhöre, weil er sehen wolle, ob wir Menschen auch geduldig bleiben können, selbst wenn es uns eine Zeitlang nicht so gut geht.

»Ist das so, Großvater, wie wenn man in der Schule eine langweilige Stunde hat, und es ist heiß, und man möchte hinaus, aber man darf doch nicht?« fragte Schorsch, und der Großvater nickte.

»Ja, so ist's! Ihr Kinder würdet euer Lebtag nichts lernen, wenn ihr immer davonlaufen dürftet, wann ihr wollt. Und so ist's gerade auch in der Schule des Lebens,« fügte er, ernster werdend, hinzu. »Aushalten muß man und lernen, dann gibt's dazwischen auch immer wieder Freistunden und Ferienzeiten. Und wenn wir alle Klassen brav durchgemacht, dann bekommen wir drüben auch einmal ein Zeugnis für Fleiß und Wohlverhalten, und mit dem dürfen wir eingehen durchs goldene Tor in die himmlische Stadt.« Der Großvater schwieg, und die Kinder dachten nach.

»Ist das dort drüben das goldene Tor?« fragte Lenele plötzlich und deutete mit dem Finger über das Waldtal hinüber, wo die Sonne wie eine leuchtende Kugel hinter den fernen blauen Hügeln verschwand.

»Es mag sein,« sagte der Großvater, und eine Weile schwiegen sie alle.

Es war ein großer Friede und eine große Stille, nur über die Wipfel der Tannen hin wehte ein leichter Wind, und das leise Summen verspäteter Bienen war das einzige, was man hörte. Nach und nach erlosch der Glanz am Himmel, und die Dämmerung legte sich auch über die Höhe.

Schorsch hatte sich neben Mohrle ins Gras gesetzt, und dieser legte seinen schwarzen, zottigen Kopf auf des Buben Knie. Lenele aber war neben die Mutter auf die Bank geklettert und hatte sich's auf deren Schoß bequem gemacht.

»Ich glaube, ihr schlaft ein, Kinder, wir wollen nun zu Bett gehen,« sagte die Mutter nach einiger Zeit und stand langsam auf, das schlaftrunkene Kind, das sich fest an sie schmiegte, auf dem Arme behaltend.

»Bist zwar ein großes Mädel zum Tragen,« sagte sie scherzend, drückte aber die weiche, warme Last fest an sich, und alle gingen nun über die Wiese hinab um das Gärtchen herum in das Haus. Dort machte der Großvater Licht, die Kinder sagten gute Nacht, und mit dem Lämpchen in der Hand stieg die Mutter samt den beiden die enge, kleine Treppe hinauf, wo über der Wohnstube im Giebel der Schlafraum war. Des Großvaters Bett stand in der Kammer unten neben der Küche. Auch er legte sich bald, ohne Licht anzuzünden. Er war es so gewohnt und fand alles auch im Finstern, weil es an seinem Platz war. Behaglich streckte er dann die von der Arbeit müden Knochen in dem guten, reinlichen Federbett aus und lauschte dann noch den Stimmen der Kinder, und wie das wieder munter gewordene Lenele sein Abendsprüchlein sagte: »Müde bin ich, geh zur Ruh!«

»Müde, ja wohl, müde, aber vom Schaffendürfen! Und dabei all das Gute, – all das Gute, – Herr, erhalt's!« sagte der Großvater vor sich hin, und kurze Zeit darauf schlief alles im Waldhäuschen, und der Mond goß sein Licht über Wald und Tal.


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