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Elftes Capitel.
Deakovar.


In der That, es waren traurige Tage, die für Engelbert folgten – lange, traurige Tage, während deren er nicht einmal den Trost hatte, ruhig in dem kleinen Hause seines Bruders bleiben zu können, oder in dessen Garten zu weilen. Wo er sich aufhielt, da erschien nämlich auch bald Hannah, um sich irgend ein Geschäft zu machen, und wenn er dann auf die herzgewinnende Zuvorkommenheit, womit sie ihm Muth zu machen suchte, ihr seinen Kummer anzuvertrauen, nicht einging, dann verfolgte ihn Hannah mit ihren fragenden, halb mitleidig, halb triumphirend auf ihm ruhenden Blicken, daß er regelmäßig davor die Flucht ergriff und lieber den ganzen Tag lang draußen umherschwärmte.

Denn Hannah brannte, wie begreiflich, vor Neugierde, zu erfahren, was nur eigentlich dem Herrn Engelbert passirt sei, der so düster, bleich und niedergeschlagen umherging, und welches große Ereigniß ihren Hausherrn aus seiner Studirstube so plötzlich auf und in die Welt getrieben haben könne. Daß es mit Engelbert's Heirathsgeschichte zusammenhängen müsse, das war Hannah schon klar – o, sie hatte es ja tausend mal vorausgesagt, daß nichts Gutes daraus werden könne, und ebenso oft hatte sie den Kopf darüber geschüttelt, daß der Pfarrer am Ende doch so leicht seine Einwilligung dazu gegeben und dann gar noch eines schönen Morgens in seiner Kirche das junge Paar selbst getraut hatte! Aber was nun denn eigentlich daraus geworden – und etwas recht besonders Merkwürdiges und Seltsames mußte ja daraus geworden sein, weil ihr Hausherr, der sonst kein Geheimnißkrämer war, ihr nicht einmal ein Sterbenswörtchen darüber hatte sagen wollen – das nicht erfahren zu können, war eine harte Prüfung für Hannah; und wenn sie in Engelbert's Nähe war, so sprach die Sehnsucht nach rückhaltslosem gegenseitigen Austausch der Gefühle innig beweglich aus jeder ihrer Miene.

Es war am vierten Tage nach Gustav Wald's Abreise, in den Nachmittagsstunden. Engelbert war am Vormittag oben in der Burgruine gewesen, hatte dort lange gesessen und geträumt und war dann über den Grat des Bergs landeinwärts gewandert und unten durch das Thal zurückgekehrt. Der lange Spaziergang hatte ihn so ermüdet, daß er jetzt sich auf zwei Gartenstühlen in der Laube ausgestreckt hatte. Ein unaufgeschlagenes Buch neben sich auf dem Tische, blickte er durch den Ausschnitt der Veranda auf die Bergwände des jenseitigen Stromufers und in die Wolkenbildungen, die sich weiß und grau darüber geballt hatten.

Wenn dich der Schmerz erfaßt, siehst du die Welt voll Schmerz,
Und wenn dich Lust durchglüht, scheint sie dir lusterfüllt;
Den Zauber, der sie dir verschleiert und enthüllt,
Verschönert und entstellt, bewahrt dein eignes Herz.

Auch Engelbert stand unter dem Einflusse Dessen, was ein Dichter in diesen Versen ausdrückt. Die trostlosen Gedanken seiner Seele ließen ihm das enge Stromthal, in welchem er sich befand, und die dunkeln Schieferfelsen, die umherstanden, und die zerbröckelnden Burgtrümmer auf der Höhe unendlich traurig, düster und beklemmend erscheinen, und wie die Welt rings umher schien ihm der Himmel trübe und düster und über die ganze Erde ein eigenthümlicher Hauch von Schwermuth und Leid gebreitet; und die Gedanken Gottes selbst, die nach der Philosophen Ausspruch ja ebenso viele Schöpfungen sind, schienen ihm von einer unnennbaren und unendlichen Trauer überschattet, wenn er an die Gedanken Gottes dachte, die sich dem Auge zeigen: der Mensch – die Welt!

So in sein Sinnen versunken, hatte Engelbert nicht wahrgenommen, daß die Thür des Gartens aufgegangen und ein Fremder über den kiesigen Pfad herangeschritten war, bis derselbe beinahe dicht vor der Veranda stand. In dem Augenblicke, wo Engelbert ihn gewahrte, vernahm er auch seine Stimme; der Fremde wandte sich nämlich zu einem kleinen nacktbeinigen Buben, der ihm den Weg gewiesen hatte, und sagte mit einem sehr wohllautenden und vollen Organe:

Also hier wohnt der Herr Pfarr? Na, so magst alleweil homgehn – schau, do hast's a Göld, mein Bub, sog dein Mutter a schönen Gruß von mir, und a Paar Strümpfle sollt's dir kaufen dafür, weil halt der Winter kummt mit der Zat – hörst?

Der Bube lief lachend über den ungewohnten Dialekt oder auch über die unerwartet reichliche Gabe davon, und der Fremde wandte sich nun zu Hannah, die ihn erblickt hatte und ihm entgegen über die Schwelle der Hausthür getreten war.

Du liebe Zat, wie dos a so leicht froh z' machen ist, sagte er gutmüthig lächelnd – der geistliche Herr ist z' Haus?

Nein, er ist nicht zu Haus, versetzte Hannah, die Gestalt des Ankömmlings musternd, der etwa fünfundvierzig Jahre alt sein mochte und, in eleganter Reisekleidung, ganz wie ein vornehmer Herr aussah, mit feinen, aber sonnverbrannten Zügen und einer Gestalt von Mittelgröße, welche etwas von militärischer Haltung hatte.

Er ist verreist! setzte Hannah hinzu.

Verreist – ei, ei, ei, schau'ns, dös is halt a Seccatur! Muß der geistliche Herr just verreist san! Ist's für lang?

Ich weiß es nicht!

Wissen's nit – und wohin, das wissen's wol a nit – na, i seh' schon, der geistliche Herr wird halt viel Besuch haben, und … warten's nur a Bißl, schau'ns, da is meine Karten, die geben's ihm nur, und dann weiß i für g'wiß, er kummt zurück von der seinigen Reis'!

Er ist wirklich verreist, antwortete Hannah, etwas verdutzt, daß der Fremde ihr nicht glauben wollte, und doch nicht verletzt dadurch, weil in dem ganzen Wesen des Fremden eine so gutmüthige, zutrauliche Bonhommie lag – er ist wirklich verreist; aber wenn Sie ihm etwas Wichtiges zu sagen haben, so kann es vielleicht der Herr Bruder ausrichten, der ist hier …

Wer? Doch nicht gar der Engelbert?

Ich heiße allerdings so, sagte Engelbert, der das Gespräch angehört hatte und, eigenthümlich von dem österreichischen Dialekt des Fremden betroffen, sich erhob, um diesem einen Schritt entgegen zu treten.

Aber der fremde Herr war bereits lebhaft auf ihn zugekommen, und Engelbert die Hand hinstreckend, rief er aus:

Aber dös trifft sich ja charmant – das is a Freud – da schlagen's ein – ich bin Baron Deakovar!

Engelbert reichte langsam und zögernd dem Fremden die so lebhaft verlangte Rechte hin, indem er ihn überrascht und fragend anblickte.

Deakovar! wiederholte dieser, nun seinerseits über Engelbert's kalten Blick und den Ausdruck verlegener Unsicherheit in seinem Gesichte, wie es schien, überrascht.

Sie sind doch nicht etwa … versetzte Engelbert stockend.

Na, dies muß ein Misverständniß sein, sagte der Fremde, der, seit er mit Engelbert sprach, seinen Dialekt abgelegt hatte und sich in reinerm, nur noch leicht »gefärbtem« Deutsch ausdrückte – ich habe geglaubt, Sie seien der Legationssecretär Wald …

Der bin ich auch!

Und Sie wissen nicht, wer ich bin – Sie kennen Ihren eigenen Schwiegerpapa nicht? Nun wirklich, das ist komisch! Sagen's mir nur … hat denn die Agathe Ihnen nicht meinen Namen genannt, hat sie Ihnen noch immer nichts von mir gesagt?

Der Name Deakovar ist nie über ihre Lippen gekommen.

Der Fremde brach in ein lautes Gelächter aus.

Wahrhaftig, so etwas ist nicht vorgekommen, solange die Welt steht! O die Weiber, die Weiber! sagte er dann. Nun, wir Beide können davon erzählen! Aber das ist ja ein wahres Glück, daß ich endlich von meinen Reisen heimkomme und daß wir uns nun gleich hier kennen lernen und ein vernünftig Gespräch miteinander halten können. Da, nun schlagen Sie noch ein mal ein, wir werden schon gute Freunde werden – also so schauen Sie aus, mein Herr Sohn – lassen Sie sich einmal betrachten – nun, da kann ein Schwiegerpapa wie ich schon zufrieden sein!

Baron Deakovar schüttelte mit wärmster Herzlichkeit Engelbert's Rechte und sah ihm mit einem sein ganzes Gesicht überglänzenden Ausdruck unbeschreiblichen Wohlwollens und höchster Herzensgüte ins Gesicht.

Etwas blaß, etwas überstudirt – ja, so ist's nun einmal bei den jungen Leuten heutzutage der Fall – aber ich glaub' halt, Sie sind noch ganz consternirt und aufs Maul geschlagen über den neuen Schwiegervater, der Ihnen da wie aus dem Mond gefallen ist – also die Agathe hat Ihnen noch immer kein Sterbenswörtchen erzählt?

Nicht das Geringste!

Es ist doch ein Blitzmädel, ein neckisches! Aber das seh' ich schon, ein guter Gesell sind Sie doch, mein Herr Sohn, na, nix für ungut – ich weiß schon, ich weiß schon, was Sie sagen wollen, wenn die Weibsleute ihren Kopf auf etwas gesetzt haben, so bringt kein Gott sie herum – kenn' das schon, kenn' das schon, und wie! Sie ist doch wohlauf und munter, das herzige Mädel, daheim? Das wird eine Freude sein, wenn der Papa endlich einmal wieder einrückt – aber hören Sie, mein lieber Engelbert – der Fremde nahm die Reisemütze ab und wischte sich die Stirn – ich bin müd', und durstig bin ich auch, den ganzen Tag seit früh Morgens bin ich auf dem Dampfboot gerüttelt worden, und das ewige » Trema Bisanzio« ist meine Sach' nit, erst will ich mich setzen, und etwas zu trinken müssen's schon auch herschaffen. All eins, was da ist, Hochheimer verlang' ich nit – vielleicht haben's schon frischen Most, das ist mein Liebling, und, bitt' gar schön, etwas Feuer, daß ich meine Cigarre anzünden kann.

Baron Deakovar streckte sich in einem der Gartenstühle aus, zog ein elegantes Cigarrenetui hervor und entflammte mit großer Behaglichkeit an dem Feuerzeug, das Engelbert ihm rasch herbeiholte, seine duftige Havanna.

Engelbert hatte, als er ins Haus getreten, der Haushälterin zugleich den Auftrag gegeben, Erfrischungen herbeizubringen. Der Baron schlürfte den bald darauf von Hannah herbeigebrachten Walportsheimer des Pfarrers mit großem Behagen.

Der ist gut, ist gut! sagte er – aber ich nehm' jetzt Sie und die Agathe mit nach Ungarn, da sollen Sie Ihre Freud' haben an meinem menescher Ausbruch – das ist ein Göttertrank! Ueberhaupt, es geht nichts über Ungarn, und wenn ich jetzt einmal wieder daheim sein werde, so bringt mich halt auch nichts wieder hinaus aus meinem Land, meinem schönen, reichen, guten Land! Ist der Mensch ein Narr, sich in der Fremde herumzutreiben!

Ihre Güter liegen in Oberungarn? fragte Engelbert.

Also davon hat die Agathe Ihnen auch nichts erzählt? Na ja, ich vergaß, sie hat Ihnen ja nicht einmal meinen Namen gesagt …

Sie hat mir nur gestanden, daß sie Agathe Falkach heiße, bemerkte Engelbert, der in der unbeschreiblichen Gemüthserschütterung, in welche ihn die unvermuthete Erscheinung dieses Mannes versetzt hatte, sich mit Mühe beherrschte, den äußern Anschein der Ruhe zu bewahren und vernünftige Antworten zu geben.

Falkach – ja, das ist richtig, antwortete der Baron – wir heißen auch eigentlich Falkach, aber unser Besitzthum liegt wie gesagt in Ungarn und heißt Deakovar, und wer aus der Familie die Güter hat, der heißt Baron Deakovar, die Leute thun's nun einmal nicht anders, und da schickt man sich denn so lange hinein, bis man's selbst nicht anders mehr weiß. Nun aber will ich Ihnen Alles erzählen, weshalb der kleine herzige Trotzkopf, die Agathe, so verschwiegen gegen Sie gewesen ist, damit Sie doch sehen, daß ich der richtige, reguläre Schwiegerpapa bin. Also, mein lieber Sohn, was Sie zuerst wissen müssen, das ist, schau'ns, meine Frau lebt getrennt von mir, weil sie wider meinen Willen auf die Breter gegangen ist, und weil mein verstorbener Onkel, von dem ich abhängig war und die Güter geerbt habe, mir mein Ehrenwort abgenommen hatte – na, das ist eine lange Geschichte, die kann ein andermal an die Reihe kommen.

Es ist Alles, Alles richtig! sagte sich leise Engelbert, der bei dieser letzten und alle Zweifel beseitigenden Versicherung, daß das Tagebuch in seiner Brusttasche die Geschichte Agathens enthalte, etwas wie einen Stich durchs Herz fühlte. Denn bisher war es ihm noch immer wie eine halbe Hoffnung gewesen, daß er sich sagen mußte, dieser Baron Deakovar, der da so plötzlich vor ihm aufgetaucht, passe doch so gar nicht zu dem Bilde, welches er sich nach jenem Tagebuche von dem Vater Agathens entworfen, der ihm in der Schilderung den Eindruck eines ernsten, ruhigen und gehaltenen Mannes gemacht hatte, während jetzt die joviale Gutmüthigkeit in Person vor ihm saß. Es war eben die Auffassung einer Tochter und die nacherzählende Schilderung einer weiblichen Feder gewesen, was ihm das Bild dieses Mannes entworfen hatte.

Nun also, fuhr Deakovar fort, um der Reihe nach herzusagen, wie sich das Alles gemacht hat, so müssen's wissen, daß ich im verwichenen Frühjahr mit einem gar lieben Freunde, der den Winter in Paris verlebt hatte, wo ich und die Agathe auch waren, den Einfall bekam, eine große Reise zu machen, zuerst durch Spanien, dann nach den Balearischen Inseln und über Algier und durch Südfrankreich nach Paris zurück. Für ein Frauenzimmer, begreifen Sie, war das nichts, die Agathe kannte ohnehin schon ein Stück vom Süden, ich hatte sie ihrer Brust wegen sich eine Zeit lang dort aufhalten lassen, und sie hat einen gehörigen Respect vor den dortigen Reisebequemlichkeiten bekommen. Vollends nun ist solch ein spanischer Postwagen nicht für ein verwöhntes Dämchen eingerichtet, und da also die Agathe zurückbleiben sollte, bat sie mich, ich möchte sie während meiner Abwesenheit zu ihrer Mutter reisen lassen, und die Emma, muß ich Ihnen sagen, lebt jetzt recht eingezogen, brav und vernünftig in M.; sie hat sich endlich gefallen lassen, ein Jahrgehalt von mir anzunehmen; und so habe ich's denn zugestanden, und die Agathe ist also mit einem entfernten Vetter von uns, dem Fredersdorf, der über M. nach Wien zurückreisen wollte, einen Tag vor mir richtig von Paris abkutschirt. Die Reise ist auch vortrefflich von statten gegangen, der Fredersdorf hat seinen Wagen bei sich gehabt, und darin haben sie einen Abstecher nach Ems gemacht; von Ems sind sie darauf weiter den Rhein entlang und hier unten die Straße her gefahren, und hier hat dann die Agathe ihren losen Streich ausgeführt, das sakrische, verwegene Ding; aber schau'ns, mein Herzblättl ist sie doch, trotz aller ihrer Streiche, und verziehen hab' ich's ihr auch; unser lieber Herrgott hat's ja zum Guten gewendet, und da soll denn der Mensch auch sich fein bescheiden zur Ruhe begeben.

Zum Guten! wiederholte Engelbert leise für sich, mit einem unbeschreiblich bittern Gefühle.

Der Fredersdorf nämlich, müssen's wissen, fuhr Deakovar fort, ist ein alter Mensch mit grauem Kopf, aber schau'ns, man weiß ja, Alter schützt vor Thorheit nicht; du liebe Zeit, der Kopf ist grau, aber das Herz bleibt jung, und so hat denn mein guter Vetter den vermaledeiten Einfall bekommen, dem Mädel, wie er so allein mit ihr im Wagen gesessen, in der Langenweile den Hof zu machen. Die Agathe nun wird ihn wol hübsch mit Spott und Hohn zur Ruhe verwiesen haben; so wenigstens leg' ich mir die Sache aus, denn das ist gewiß, der Fredersdorf hat sich endlich so völlig beruhigen lassen, daß er in der Wagenecke ganz friedlich eingenickt ist. Da hat denn mein verwegenes Töchterlein eine unbändige Lust bekommen, ihrem treuen Reisebeschützer eine rechte Angst einzujagen, um ihn für seine überflüssige Galanterie zu bestrafen; und wie der muthwillige Gedanke in ihr aufsteigt, dauert es auch nicht lange, und sie hat ihn denn auch richtig ausgeführt. Der Wagen rollt im sachten Trabe über die Chaussee, an den Weinbergen her, die Agathe macht leise den Schlag der Kalesche auf, mit einem leichten Sprung ist sie draußen. Der Postillon auf dem Bock sieht natürlich ebenso wenig etwas davon wie der schnarchende Vetter drinnen, und mein lustiges Mädel springt mit innerlichem Jubel über ihren gelungenen Streich einen Steg zwischen den Weinbergen hinauf. Da oben, denkt sie, wird sie die Windungen der Chaussee schon überblicken können und an einer Stelle, wo's ihr paßt, wieder hinuntersteigen, um sich dann von ihrem Reisegefährten, nach einer Viertelstunde des Suchens in Schrecken und Angst, wiederfinden zu lassen. Sie läuft und springt und hüpft also wie eine Gemse, das verwegene Ding, den Berg hinan; oben aber, wie sie beinahe auf der Höhe ist, nimmt der Jubel plötzlich ein Ende mit Schrecken; denn wie sie hastig auf ein Steingerölle tritt, welches unter ihr weicht und fortkollert, verstaucht sie sich grausam den Fuß und hat einen fürchterlichen Schmerz daran. Da ist denn Holland in Noth. Sie blickt sich nach dem Wagen um, aber der Wagen rollt fort, der Fredersdorf, der alte Mensch, hat einen Schlaf wie ein Drescher, und die Rosse können's dem Postillon auch nicht erzählen, daß die Kalesche leichter geworden ist, und so rollt sie immer lustig weiter und weiter; die Agathe ruft – aber du liebe Zeit, was kann das helfen! Menschen, nach denen sie sich umsieht, um sie dem Wagen nachrennen zu lassen, sind keine zu sehen – da ist nun guter Rath theuer – das arme verlassene Kind weiß nichts Besseres zu thun, als sich den Bergabhang vollends hinan und bis an ein kleines Bauwerk oder dergleichen auf der Halde oben zu schleppen, an der sie sich niederlassen kann, um zu warten, bis ein Mensch auf dem Fußweg vorüberkommt, der sich da oben über die Halde zieht. Es kommt aber Niemand, eine Viertelstunde nach der andern verfließt, Fredersdorf kann indessen eine Meile weiter gefahren sein – die Schmerzen an dem Fuße werden immer schlimmer – endlich, endlich erscheint denn ein Mensch, und dieser Mensch ist Niemand anders als hier mein lieber Schwiegersohn, der sich des armen Mädels ritterlich annimmt und sie herunter ins Pfarrhaus transportirt. Dabei ist es der Agathe aber freilich gar seltsam zu Muthe, und zwischen so solide Leute gerathen, schämt sie sich ihres tollen Streichs, der ihr so abscheulich schlecht bekommen, dermaßen, daß sie kein Sterbenswörtchen davon über die Lippen bringen mag; sie glaubt, der Fredersdorf müsse ja ohnehin da unten jeden Augenblick erscheinen, und dann sei's noch immer Zeit. Der Fredersdorf aber, der ist erst eine ganze Weile weiter aufgewacht und hat dort, wo er die Bescherung inne geworden, umhergesucht, gerufen, Menschen auf die Beine gebracht, alle Bergecken und Schluchten durchstöbert und einen fürchterlichen Abend und darauf folgende Nacht verlebt, um endlich ganz rathlos weiter bis nach M. zu reisen und dann dort bei der Emma einen Brief von Agathe zu finden, worin sie der Mutter Alles haarklein erzählt hat. Schau'ns, so ist Alles zugegangen, das Uebrige wißt Ihr besser als ich, mein Herr Sohn – wenn Ihr den Brief lesen wollt, die Emma hat ihn mir nachher geschickt, ich habe ihn in Paris vorgefunden und er ist in meinem Koffer.

Das Uebrige weiß ich, fiel Engelbert ein – aber Agathe hat nicht blos dieses Abenteuer verschwiegen, sondern …

Ja, schau'ns, unterbrach ihn der Baron, das ist nun auch solch eine rechte Frauenzimmeridee gewesen; um das zu erklären, da muß ich schon erst weiter ausholen – sie hat sich halt warnen lassen durch eine frühere Geschichte und hat gedacht, du nimmst dir ein Exempel daran; Reden ist gut, aber Schweigen ist besser – und da hat sie gedacht, mit den alten Familiengeschichten vor Euch herauszurücken, ist noch immer Zeit, das arme Ding hat Euch eben lieb, und sie hat eine thörichte Angst gehabt, Euch so kopfscheu zu machen, wie der gute sentimentale Ottokar es geworden ist – ja, du liebe Zeit, das war ein Herzeleid, und da hat das arme Kind sich fest vorgenommen und gelobt, eine solche Geschichte …

Ich kenne sie, unterbrach ihn Engelbert – Ottokar ist ein schlesischer Graf?

Also von Ottokar Belgenau wißt Ihr? versetzte Deakovar – hat sie Euch von dem erzählt?

Nein, aber ich kenne die ganze Geschichte Agathens durch ein Tagebuch, das mir in die Hände gefallen ist …

Durch ihr Tagebuch?

Durch diese Blätter, antwortete Engelbert und nahm das Tagebuch der Verstorbenen aus seinem Portefeuille.

Baron Deakovar ergriff die Blätter, warf einen Blick auf das erste und das letzte, dann schob er sie langsam Engelbert zurück.

Schau'ns, sagte er, mit so großen Schriften ist das ein eigen Ding; ich bin halt nicht so wie Ihr Geheimerath, der ein sauber auf Rosaseide gedrucktes Gedicht zur Gratulation von seinen Subalternen erhielt und ihnen sagte: Bitte, meine Herren, geben Sie mir das schriftlich! Ich hab's lieber mündlich; sagt Ihr mir, was drin steht, nachher brauche ich nicht mir die Kehle trocken zu reden und zu erzählen, was Ihr schon wißt.

Es ist die Geschichte der unglücklichen Verbindung mit diesem Ottokar, wie Sie ihn nennen, darin enthalten; außerdem die Geschichte Ihrer Verbindung mit Ihrer Frau Gemahlin. In Neapel hat Ihre Tochter das Alles einer Freundin erzählt, die kürzlich auf der Rückreise aus Italien in meinem jetzigen Wohnort gestorben ist; im Nachlasse derselben, den ich zu versiegeln hatte, habe ich die Blätter gefunden …

Ah, sagte Deakovar, ganz gewiß die Sellenstein – ist die todt? Schau, schau – das thut mir leid! Aber es war vorauszusehen – es stand schon dazumal schlecht genug mit ihr! Also auf der Rückreise gestorben! Es war ein gar artiges, feines Kräutlein – ein liebes, sanftes Geschöpf. Gott habe sie selig! Also die hat Alles aufgeschrieben, wie's ihr die Paula erzählt hat … ja, sie waren gar gute Kameraden zusammen …

Nun sagen Sie mir zuerst, Herr Baron … fiel Engelbert seinem Schwiegervater in die Rede …

Herr Baron! wiederholte Deakovar mit spöttischem Tone; aber sagt mir, weshalb macht Ihr denn gar so viele Umstände mit Eurem Schwiegerpapa? Ich glaub' ja halt sonst, ich bin Euch nicht gut genug, wenn Ihr bei den Complimenten bleibt.

Verzeihen Sie mir, versetzte Engelbert, Sie müssen Nachsicht mit mir haben, bis es mir gelungen ist, mich in dieses Alles zu finden …

Ja mein Gott, kann's mir schon denken, fuhr der Baron, an seinem Glase schlürfend, fort. Wir werden schon noch bekannter werden – aber, was ich sagen wollte – die Belgenau war dazumal gar arg brustleidend geworden, das arme Mädel hatte sich die Geschichte so zu Herzen genommen – aber Gott sei gelobt, sie hat es ganz verwunden und in Schlesien bekommt ihr das Klima vortrefflich.

In Schlesien? Da bekommt das Klima Ihrer Tochter … platzte Engelbert heraus.

Nun ja, meiner Tochter Paula, die den Ottokar Belgenau geheirathet hat!

Und Paula und Agathe – ist das nicht eine und dieselbe …

Nun – Agathe – versetzte Baron Deakovar, höchst überrascht Engelbert anschauend, dessen furchtbare Bewegung ihm natürlich so räthselhaft war, daß sie ihm beinahe verrückt vorkam – Agathe, ich meine doch, die müssen Sie kennen – das ist Ihre Frau ja – meine zweite Tochter.

Gütiger Gott! rief Engelbert aus – aber Ihre zweite Tochter ist ja ein Kind von elf Jahren, noch in einem Pensionat in Paris!

Deakovar lachte laut auf.

Das ist doch g'spaßig! sagte er – nun kennt der seine eigene Frau nicht und meint, sie sei ein Kind von elf Jahren – aber um Gottes willen, Herr Sohn, wie kommen's denn nur in das Imbroglio hinein – nun sagen Sie mir um Jesus unsers Heilands willen, wie haben's sich denn das Alles ausgelegt?

Der Baron stemmte beide Arme auf den Tisch und schaute, während ihm die Cigarre aus der Hand fiel, seinem Schwiegersohn mit einer Miene ins Gesicht, die anzeigte, daß er sich rückhaltslos einer wahrhaft kindlichen Verwunderung hingab.

Engelbert schwirrte es vor den Augen – sein Herz schlug laut auf, und es war ihm, als ob er mit einer unnennbaren Freude wahrhaft wie plötzlich übergossen würde.

Nach diesem Tagebuche, sagte er, mit Mühe sich so viel beherrschend, um nur wie ein vernünftiger Mensch gesetzt weiter zu reden – nach diesem Tagebuch ist Ihre zweite Tochter ein Kind und einem Pensionat in Paris zur Erziehung übergeben.

Nun ja, freilich, Kinder sind wir Alle gewesen, aber das ist jetzt Alles eine hübsche Zahl Jahre her, und die Agathe, meine ich, das müßtet Ihr wissen, ist jetzt eine ganz gehörig ausgewachsene Person – schau'ns, schau'ns, wie ist das eine curiose Geschichte durcheinander – also Ihr habt gemeint, Ihr hättet die Belgenau und die Agathe sei noch in der Schule – aber so sagt mir doch nur … Ihr wußtet ja vorhin, daß meine älteste Tochter den Belgenau hat, den Ottokar?

Ich dachte mir, sie sei von ihm geschieden – nach dem Tagebuch mußte ich es annehmen.

So schlagen alle Wetter in das Tagebuchgeschreibsel hinein! rief Deakovar aus. Geschieden! Ich glaube freilich schon, daß sie sich allerhand dummes Zeug in den Kopf gesetzt hatte, aber das ist jetzt lange her, der Belgenau hat sie auf den Händen getragen, und da hat sie sich denn wol eines Bessern besonnen; ich weiß nur, daß sie munter und vergnügt in Schlesien wohnt!

Also vor Jahren schon ist dieses entsetzliche, unglückselige Tagebuch geschrieben? fragte Engelbert.

Was weiß ich, wann's geschrieben ist – ich weiß nur, daß es curios abgefaßt sein muß, wenn Ihr darüber in einen so merkwürdigen Irrthum gerathen seid, daß Ihr die Agathe für meine Aelteste gehalten habt! Hat's denn kein Datum, das verwünschte Zeug?

Nein, antwortete Engelbert.

Nun, da haben wir's – da schreiben sie Geschichten auf und machen kein Datum und keine Jahreszahl dabei, die verwetterten Weibsleute! O du meine Zeit! Geben's einmal die Zündhölzeln her, das Feuer ist mir ausgegangen über der Geschichte.

Deakovar zündete lachend und den Kopf schüttelnd seine erloschene Cigarre wieder an.

Na, sagte er, der Agathe will ich aber doch den Kopf waschen, wenn ich sie wiederseh'; sie hat doch mit ihrer Marotte ein heilloses Misverständniß angestiftet.

Ja, das hat sie, fiel Engelbert ein – ein heilloses Misverständniß! Als ich dieses Tagebuch las, welches mir einzig und allein Aufschluß über Agathens Verhältnisse und Vergangenheit gab, da konnte ich nicht im entferntesten daran denken, daß Agathe Ihre zweite Tochter sei, die vorübergehend darin erwähnt ist. Denn hätte ich auch annehmen können, daß die Verfasserin eine Reihe von Jahren in Italien geblieben, daß das Zusammentreffen derselben mit Ihnen und Ihrer Tochter in Neapel etwas sei, was so lange her, daß Ihr jüngstes Kind längst darüber zur Erwachsenen geworden – dann hat doch Agathe durch ihr Betragen mir alle Ursache gegeben, in vollständigster Ueberzeugung auf sie zu beziehen, was von ihrer Schwester Paula hier erzählt ist. Was ums Himmels willen hat Agathe denn bewogen, mir so hartnäckig ihre Vergangenheit zu verschweigen, wenn es nicht eine frühere Verbindung war, die sie mir, dem Katholiken, nicht gestehen wollte, weil sie uns auf ewig getrennt hielt?

Also so haben Sie sich die Sache ausgelegt? fragte Deakovar. Die Agathe, haben Sie geglaubt, sei schon mal mit dem Ottokar verheirathet gewesen und geschieden worden und habe das fein hübsch verschweigen wollen, um Sie zu bekommen? Nun muß ich Ihnen aber schon sagen, daß Sie meinem armen Mädel verteufelt Unrecht gethan haben, mein werther Herr Schwiegersohn, verteufelt Unrecht.

Deakovar sprach diese Worte in ziemlich gereiztem Tone.

Wie konnt' ich anders, fiel Engelbert ein – weshalb sonst in aller Welt denn diese unerklärliche, räthselhafte, entsetzliche Verschlossenheit gegen mich? Ist es möglich, daß eine Frau ihrem Manne gegenüber dem Entschlusse des absolutesten Schweigens über sich treu bleibt, daß sie diese, doch sicherlich ihr selber drückende und schwere Aufgabe durchführt, so hartnäckig durchführt, wie Agathe es mir gegenüber gethan hat, wenn nicht die allerdringendsten Gründe sie dazu bestimmen? Und nicht sie allein ist stumm gegen mich gewesen über Alles, was ihre Vergangenheit betraf, nein, auch fremde Personen, welche sie offenbar von früherher kannten, hat sie zu bestechen gewußt, daß diese mir ins Gesicht ableugneten, sie jemals gesehen zu haben!

In der That? Und wer war das? fragte Deakovar, nachdenklich die Asche von seiner Cigarre klopfend.

Engelbert nannte ihm den Franzosen, mit dem er ein Rencontre gehabt hatte, und die ehemalige Tänzerin. Den Erstern kannte Deakovar sehr gut von Paris her; auch Agathe habe ihn dort nicht selten in seinem Hause gesehen; die ehemalige Tänzerin kannte er nicht, es werde eine alte Theaterbekanntschaft seiner Frau sein, meinte der Baron, und Agathe werde sich von ihr aus der Zeit der Theaterlaufbahn ihrer Mutter haben erzählen lassen. Ueber den unbekannten Menschen, der mit Agathen in den fürstlichen Anlagen geredet, etwas zu sagen, wagte Engelbert schon nicht mehr. Er erwiderte nur:

Aber weshalb um Gotteswillen nun diese Heimlichkeit? Weshalb hatte Agathe diese Personen bewogen, mir gegenüber zu leugnen, daß sie sie jemals gesehen oder gekannt?

Ja, ja, ja, Sie haben schon Recht! antwortete Deakovar nachdenklich; es ist wahr, es mußte Sie halt auf absonderliche Gedanken bringen!

Also … können Sie es mir erklären, was in aller Welt Agathe bewogen hat, mir ihre Vergangenheit zu verbergen, wenn nichts darin ist, was sie zu verbergen brauchte?

Freilich kann ich das und hab' es ja auch schon, mein' ich, gethan. Agathe hat ihrer Mutter Alles geschrieben, und meine Frau hat mir ihre Briefe zugeschickt, und was darin steht, kann ich schon Ihnen sagen, wenn auch unsereins sein Lebtag nicht auslernt, was sich in solch einem kleinen Frauenkopf festsetzt und dann hartnäckig ist wie ein alter Postgaul. Schau'ns, im Anfang hier bei Ihnen hat sich das arme Ding vor dem ehrwürdigen Herrn Pfarrer und der gestrengen Fräulein Jungfer und dem Herrn Engelbert viel zu viel geschämt, um ihren losen, kindischen Streich einzugestehen, und dann, wie sich das Mädel danach in Sie verliebt hat, da hat sie an die Liebesgeschichte ihrer Schwester gedacht und an den Ottokar, wie der so plötzlich anders geworden ist, als seine Braut ihm von ihrer Jugend erzählt hat, und an allen den Jammer, worüber mir meine arme Paula beinahe zu Grunde gegangen wäre – die Agathe hat ja das Alles miterlebt und mitangesehen, und die Belgenau hat in ihrer Herzensnoth das junge Ding dazumal viel zu früh in all ihr Leid eingeweiht – nun, an alles Das hat sie gedacht, und da hat sich denn in der Agathe der Entschluß festgesetzt, es klüger zu machen, als die Schwester es gemacht hatte, und dem Engelbert, an dem nun einmal ihr Herz hing, wie nur je das meiner Aeltesten an ihrem Ottokar, auch gar nichts zu erzählen, bis nach Jahr und Tag, wenn sie einmal längst verbunden, und bis ich einmal von meiner großen Reise zurück sei und sie zugleich mit ihrer Erzählung ihrem Manne auch einen ganz präsentabeln, anständigen Papa vorstellen könne; denn das Mädel hält doch große Stücke auf mich, wenn sie auch früher immer mehr an meiner Frau hing; und neckisch und eine verwetterte kleine Hexe ist sie auch; so kann ich's mir wohl denken, es hat ihr noch obendrein Spaß gemacht, einen Mann zu haben, der so verteufelt verliebt in sie ist, daß er sie so vom Fleck weg geheirathet hat, ohne viel Federlesens mit Herkunft, Vermögen und allem Dem zu machen – ja, ja, ja, das werdet Ihr schon noch erfahren, mein Herr Schwiegersohn, ganz kennt sich unsereins in den Weibsen nie aus; aber so, wie ich sage, ist es, und so hat die Agathe es an ihre Mutter geschrieben, und die hat denn in Alles eingewilligt, die nöthigen Papiere hat sie der Agathe beschafft, auch ihre Einwilligung zu der Heirath hierher geschickt, die hingereicht hat, weil ich in fremden Ländern gewesen bin. Das hat denn das verwetterte Mädel Eurem Bruder gegeben, dem hat sie Alles dabei anvertraut, und der hat Euch denn also auch in Gottes Namen zusammengeben können …

Meinem Bruder hat sie Alles anvertraut? fuhr Engelbert auf. Also mein Bruder wußte es – und er, er konnte schweigen, er konnte mich in Verzweiflung lassen, ohne mir nur mit einer Silbe meinen entsetzlichen Irrthum zu nehmen?

Ja das glaub' ich schon! sagte lächelnd Deakovar. Ihr Bruder ist halt ein geistlicher Herr – sie hat's ihm unter dem Beichtsiegel anvertraut! Sie ist gescheidt genug – daß er's nicht weiter sagte, dafür hat sie schon gesorgt!

Nun ist Alles klar! sagte Engelbert, und halblaut fügte er hinzu: Armer, armer Bruder! wie magst du gelitten haben, mich in meinem Schmerz vor dir zu sehen, das rettende Wort auf der Lippe zu haben und es nicht aussprechen zu dürfen!

Es war eine unendliche Zärtlichkeit für seinen guten Bruder, die sich in diesem Augenblick Engelbert's bemächtigte und in das Gefühl unbeschreiblichen Jubels mischte, der ihn bei all den Aufklärungen, die Deakovar ihm machte, erfüllte und mit jedem Augenblick höher in ihm stieg, sodaß er ihn kaum noch bemeistern konnte.

O mein lieber Schwiegerpapa! rief er endlich aus, Sie haben mir mit allem Dem das Leben wiedergegeben – wahrhaftig, wenn ich Sie jetzt nicht umarme, so stößt es mir das Herz ab.

Nun, ich seh' schon, lachte Deakovar, ihn herzlich an die Brust drückend, es war Zeit, daß ich kam und daß wir als ein Paar vernünftige Männer ein gescheidtes Wort über die Sache redeten. Ja, ich hab's mir gleich gesagt, als ich vor drei Wochen in Paris ankam und die ganze Bescherung da vorfand, alle Briefe von der Agathe an meine Frau – Deakovar, hab' ich mir gesagt, die Geschichte ist dir zu curios, du wirst jetzt nicht lange machen in dem Paris, sondern du gehst und schaust dir den Schwiegersohn einmal an, und dann sorgst du dafür, daß dem armen Wurm – na, nix für ungut – einmal reiner Wein von den Weibsleuten eingeschenkt werde; denn es wird nachgerade Zeit, der Mensch muß ja sonst auf curiose Gedanken kommen, wenn er nicht schon darauf gekommen ist. So hab' ich gedacht und habe mich fortgemacht und bin alleweile hier, und nun stoßen's an, Herr Sohn, der Wein ist gut, aber in Ungarn soll'ns bessern haben, und die Agathe soll uns die lustige Schenkin dabei machen, bis uns die Augen übergehen.

Engelbert stieß jubelnden Herzens mit an. Ihm war es, als sei ihm das Leben wiedergeschenkt, und versöhnt mit Gott und der Welt, die ihm plötzlich wieder im rosigsten Lichte erschien, war es natürlich, daß es ihm nicht schwer wurde, in diesen großen Versöhnungsact auch sich selbst zu begreifen – soviel Grund er auch hatte, sich selbst zu grollen wegen seines Mangels an Aufrichtigkeit wider Agathe, wegen seines Betragens gegen sie, wegen Alles, was er gethan. Aber die Buße legte er sich auf, seinem Schwiegervater offen die Situation zu gestehen, in welcher er sich befand. Deakovar hörte ihm gespannt und kopfschüttelnd zu, doch schien er weder dem einen noch dem andern seiner beiden thörichten Kinder zu zürnen. Nur als Engelbert zuletzt erwähnte, daß er aus einem Briefe seines Gesandten an seinen Bruder erfahren, Agathe sei plötzlich und ohne eine Nachricht, wohin sie sich gewandt, abgereist, da verdüsterte sich seine Miene; er zeigte sich jetzt in hohem Grade beunruhigt.

Das ist bös, das ist bös! sagte er aufspringend und nachdenklich auf- und abgehend.

Sie wird bei ihrer Mutter sein, versetzte Engelbert.

Mag sein, meinte Deakovar, aber ob die Emma ein guter Rathgeber für sie ist jetzt, das weiß ich halt nicht, mein lieber Sohn! Ich fürchte, daß das arme Ding es gewaltig übel genommen hat, daß der Herr Sohn so mir nichts dir nichts durchgegangen ist, ohne der Agathe nur ein Wort zu gönnen!

Das ist ein Vorwurf, den mir auch mein Bruder machte, ohne daß ich ihn gelten lassen kann, vertheidigte sich Engelbert. Wie konnte ich annehmen, daß eine offene Erklärung mit Agathen zu irgend etwas führen werde? Wie kann sie mir übelnehmen, daß ich eine Erklärung vermied, sie, die mir, ihrem Manne, Monate lang jede Erklärung schuldig blieb?

Das ist wol richtig, meinte Deakovar, aber ich fürchte halt, daß das böse Mädel mit ihrem eigensinnigen kleinen Kopf sich das nicht so gegeneinander aufrechnen läßt. Ihr habt das arme Ding so brüsk verlassen, daß es daraus schließen wird, Ihr liebt sie nicht mehr, und wenn auch nichts Uebleres daraus entsteht, so ist doch das sicher, daß sie in diesem Augenblicke sich einer großen Verzweiflung zum Raube hingegeben fühlt. Das ist gar bös, und jetzt müssen wir Alles dazu thun, damit wir zu ihr kommen und diese ganze schlimme Geschichte zu einem Ende zu bringen suchen. Ja, ja, das muß ich schon sagen, zu rechter Zeit bin ich halt heimgekommen, aus dem Afrika heraus!

Engelbert war jetzt plötzlich von der Unruhe Deakovar's angesteckt, und er hätte sich lieber noch heute als morgen aufgemacht, um Agathe wiederzufinden. Aber Deakovar war zu müde, um an diesem Abende, der ohnehin keine Reisegelegenheit mehr bot, an eine Weiterreise denken zu wollen. Er ließ sein Gepäck, welches er unten am Rheinufer zurückgelassen, heraufholen, und Engelbert gab Hannah den Auftrag, ihm ein Nachtlager im Pfarrhause zu bereiten. Als es hergerichtet war, zog sich Deakovar in das freundliche Zimmerchen, dasselbe, welches seine Tochter bewohnt hatte, zurück, um die Kleider zu wechseln und den Staub der Reise aus den Augen zu waschen, mit dem Versprechen, später wieder herunterkommen zu wollen.

Engelbert erwartete ihn, indem er im Garten auf- und ablief. Seine Aufregung während dieses Alleinseins brauchen wir nicht zu schildern. Jetzt seinen Gedanken überlassen, ergriff ihn eine wachsende Sorge um Agathe. Was mußte sie gelitten haben in diesen Tagen! Wie mußte das Wiedersehen sein! Würde sie ihm vergessen und vergeben, was er gethan? Hatte nicht ihr Vater Recht, der offenbar mit Aengstlichkeit an den Eindruck dachte, den Engelbert's Verschwinden auf sie hatte machen müssen? So fragte er sich, und seine bange Unruhe nahm zu, als er an die außerordentliche Reizbarkeit, den tiefen Schmerz dachte, womit einst Paula Falkach das Betragen ihres Bräutigams aufgenommen hatte.

Das Frauenherz erschien ihm wie etwas Mystisches, Labyrinthisches. Es lag wie eine Räthselwelt vor ihm. Wenn Agathe gerade so dachte wie ihre Schwester, wenn sie sich durch sein Betragen gerade so tief verwundet fühlte wie Paula früher durch das ihres Ottokar Belgenau – was dann beginnen? Wie sollte er sie versöhnen? Hatte nicht Belgenau auch Alles und Jedes angewandt, Paula von seiner aufrichtigen Liebe zu überzeugen und hatte sie nicht dennoch sich von ihm scheiden lassen wollen? …

Engelbert wünschte der Nacht Flügel, um nur auf und davon, der Lösung aller dieser Fragen entgegeneilen zu können. Seines Bruders Rückkehr abzuwarten, wenn dieser nicht noch heute kam, war ihm nicht möglich: er hätte vergehen müssen vor Ungeduld, hätte er jetzt unthätig harrend noch eine Stunde länger bleiben sollen, als unumgänglich nothwendig. Vielleicht kam Gustav aber noch an diesem Abende zurück; möglich war es, denn ein Dampfschiff mußte heute von oben herunter noch vorüberkommen, nachdem das vorletzte vor einer Weile dahergebraust war. –

Um nach diesem letzten Schiffe auszusehen, wandte Engelbert sich dem Ende des Gartens zu, als sich das Pförtchen öffnete und – aber wir wollen der Reihe nach erzählen und erst sehen, was Gustav Wald auf seiner Fahrt erlebt hat.



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