Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Capitel.
Der Legationssecretär.


Der Dampfer, welcher den erwarteten Bruder des Pfarrers trug, arbeitete sich unterdeß rüstig stromaufwärts. Der Kiel durchwühlte die Wellen, die Schaufelräder warfen brausend und rauschend Berge von Schaum neben und hinter sich auf, daß die weißen Flocken bis über das Verdeck flogen – und die Maschine stieß und polterte unten im Raum, als habe sie am heutigen Abend in Mainz noch die allerwichtigsten Geschäfte abzumachen oder müsse für jede versäumte Minute Strafe bezahlen, wie ein verspäteter Postillon.

Engelbert Wald stand auf dem Verdecke. Es war nicht seine Art, schnell Bekanntschaften anzuknüpfen; eine Unterhaltung, welche ihn hätte fesseln können, hatte er nicht gefunden; so fürchterliche Hast und Eile, an den schönsten Strecken der Rheinufer vorüberzukommen, wie das keuchende Ungeheuer unter seinen Füßen, hatte er auch nicht; deshalb beschloß er, als man sich der alten Marxburg gegenüber befand, und die Landschaft in der Nachmittagssonne am schönsten prangte, das Schiff zu verlassen.

Von Braubach her kam ein Boot mit dem blauen Wimpel ans Schiff, um einen Passagier zu bringen. Engelbert erkaufte sich durch ein kleines Trinkgeld von einem Matrosen das Versprechen, seinen Koffer beim Dorfe, wo Gustav Wald Pfarrer war, ans Land senden zu wollen. Dann eilte er die Schifftreppe in den schwankenden Kahn hinab. Ueber das Bordgeländer blickten ihm zwei Misses mit langen blonden Locken und wehenden Schleiern durch ihre Lorgnons nach, wie er, trotz der Auffoderungen der Ruderer, sich zu setzen, keck aufrecht in dem heftig geschaukelten Kahne dastand. Und die feine schlanke Gestalt, mit der aristokratischen Haltung, mit dem lockigen kastanienbraunen Haar unter dem grünen Reisemützchen und den männlich schönen Zügen, war des Anschauens wohl werth; obwol sie keineswegs in Murray's classischem Werk for travellers verzeichnet stand, diese Gestalt, und es also für die blonden Albionstöchter auch gar keine Gewissenspflicht war, ihm so lange nachzublicken.

Engelbert Wald glich auffallend seinem Bruder; er hatte dasselbe ovale Gesicht, dieselbe schöngewölbte Stirn und dieselben großen blauen Augen. Aber doch herrschte eine große Verschiedenheit zwischen den beiden Brüdern; da sie eigentlich beide Büchermenschen waren, so hätte man diesen Unterschied ausdrücken können, indem man Gustav einen schöngedruckten Bibliothek-Quartanten, Engelbert aber eine elegante Octavausgabe genannt hätte, wie sie, wenn ihr Inhalt anders geistreich und modern ist, für jeden Büchertisch in einem Damensalon paßt. Ob der Inhalt dies war – geistreich und modern – nun, das werden wir später erkennen.

Da wo Engelbert das Schiff verließ, macht der Rhein einen weiten Bogen; eine große Berghöhe hat sich mit breitem Rücken derartig vorgeschoben, daß der Strom zu einem stundenlangen Umwege gezwungen ist. Engelbert kannte von frühern Besuchen bei seinem Bruder her den Fußpfad, der den Berg hinan und oben über das Plateau führte und endlich sich steil durch Weingärten in das Pfarrdorf Gustav's wieder hinabsenkte. Diesen Pfad wollte er einschlagen und konnte auf demselben ebenso rasch an seinem Ziele anlangen, als der Dampfer auf seinem Umwege. Engelbert hatte unterdeß den Vortheil, auf seinen zwei Füßen sein eigener Herr zu sein und oben auf der Bergebene, über die sein Pfad führte, nach Herzenslust sich der Aussichten zu erfreuen, welche dort sich weithin öffneten.

Engelbert Wald war in heiter aufgeregter Stimmung. Die Zukunft lag vor ihm wie die sonnenbeschienene Landschaft: ein mächtiger, großer, stolzer Strom, der zwischen hohen Bergen durch die eigene Kraft sich seine Bahnen bricht; über dem duftigen Blau der fernen Höhen weiße phantastische Wolkengebilde, wie leuchtende Spiegelungen eines gestaltenreichen Lebens, die über der blauen Höhenwelt des Herzens und des Gefühls stehen.

Engelbert war von Natur ein Aristokrat. Das Glück hatte ihm nicht erlaubt, wie ein Aristokrat in der Wirklichkeit von Vorrechten zu leben; desto mehr nutzte er die Vorrechte aus, welche ihm die Jugend gab. Er war nicht verwöhnt worden vom Leben, und doch war ein schlummerndes Gefühl in ihm, als ob ihn etwas hohen Dingen entgegentrage – das Glück, oder das Schicksal, oder die Vorsehung, oder was es sein mochte. Mit der größten und aufrichtigsten Bescheidenheit vermischten sich in ihm diese Aspirationen nach dem Höchsten. Sie lagen in seiner Natur. Es war der Aether einer reinen Gedankenwelt, der ihn umgab. Die Wellen dieses Elements hoben ihn und sein Bewußtsein so hoch, wie sie selbst stiegen. Er fühlte sich ebenbürtig allem Hohen, wie er sich mit allem Hohen in denselben Lüften schwimmen fühlte. Die Folge dieser Charakteranlage war ein gewisser Uebermuth und eine fatalistische Sorglosigkeit, die Jedermann Leichtsinn nennen durfte, dem die Quellen dieser Lebenszuversicht unbekannt waren.

Bis jetzt hatte das Schicksal übrigens die Verheißungen, welche Engelbert in sich zu tragen glaubte, in der That ziemlich gefällig erfüllt. Die Höhe, bis zu welcher es ihn emporgetragen, war die achtbare Stellung eines wohlbesoldeten Legationssecretärs. Nachdem er seine Studien als Jurist vollendet und seine vom Bruder auf ihn übergegangene klerikale Würde abgelegt hatte, war es einem Freunde seines verstorbenen Vaters gelungen, ihm eine mit Diäten verknüpfte Beschäftigung im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten zu verschaffen. Dort hatte das Wohlwollen seiner Geheimräthe ihn in Anbetracht seiner »Brauchbarkeit« weiter befördert, und jetzt, sechsundzwanzig Jahre alt, begab er sich mit einer Anstellung als Legationssecretär und 1200 Thalern Gehalt in eine süddeutsche Residenzstadt zur dortigen Gesandtschaft seines Hofes. Das war immerhin ein guter Anfang auf der Lebensbahn. Von den Verhältnissen, welche ihn erwarteten, machte Engelbert sich die angenehmsten Bilder. Es gibt ja auch keine behaglichere Stellung in der Welt als die eines Diplomaten, welchem sich alle Thüren öffnen, und zugleich keine interessantern Kreise als die von Diplomaten; sie sehen Alles, sie kennen Alles, sie sind in Alles eingeweiht.

Zu den liebenswürdigen Eigenschaften der Diplomaten gehört noch, daß sie gemeiniglich über viel Zeit, oft sogar sehr viel Zeit zu verfügen haben. Auch Engelbert war in dieser behaglichen Lage. Er hatte bis zu dem Tage, an welchem er bei dem ihn erwartenden bevollmächtigten Minister eintreffen mußte, drei Wochen Zeit, die er, wenn es ihm so lange in dem kleinen Pfarrhause seines Bruders gefiel, dort in derselben Ungestörtheit verträumen durfte, wie er jetzt eben ruhig wandelnd über die Bergfläche daherträumte.

Er hatte die größte Strecke seines Wegs bereits hinter sich; der Pfad zog sich jetzt an dem Rain des Plateaus entlang, sodaß unser Wanderer rechts tief unter sich den Strom erblickte und fast senkrecht auf das Dampfboot niedersah, welches er verlassen hatte und das mit dem dichten Rauch über der schlanken Esse von fern einen eigenthümlichen Anblick bildete. Die Luft war so still, daß der Rauch sich lange qualmend um die Höhe der Esse erhielt; dadurch sah das Ganze aus wie ein gewaltiger schwarzer Baumstamm mit dichtem, blauem und weißwolligem Wipfel darüber, und unten mit dem Schiffsrumpf als einer riesenhaften Wurzel, die über das Wasser daherschwamm. Es war, als ob die Civilisation bis in die Urwälder gedrungen und als ob dort einer jener Vorweltgiganten des Forstes, von der Unruhe gepackt, welche jetzt alle Welt aus den alten Wurzeln losreißt, sich aus dem tausendjährigen Boden gehoben habe, um sich auch einmal die Welt anzusehen. Engelbert mußte lächeln bei diesem Gedanken, den das hastig fortgleitende Geschöpf da unten in ihm hervorrief. Lauf' und keuch', alter Stromer! sagte er; du wirst auf deiner Culturreise wenig Neues lernen, denn das Wesentlichste in diesen Weltgegenden, das Haupt in blauen Dunst zu hüllen, verstehst du schon!

Vor unserm Wanderer, so gerade ihm gegenüber, als ob es sein Ziel sein müsse, erhoben sich die malerischen Burgruinen, welche die Felsenstirn über dem Dörflein seines Bruders krönten. Sie standen klar und scharfgezeichnet vor ihm, denn die Sonne warf ihr hellstes Licht darauf und schien mit schräg einfallenden Strahlen durch alle Spalten, welche die Zeit hineingerissen. Hätte Engelbert volle Seelenruhe und Muße gehabt, so hätte er sich auf den nächsten Erdaufwurf gesetzt, um die Umrisse und die mit klaren Schlagschatten abgesetzten Theile des alten grauen Bauwerks in sein Taschenbuch zu skizziren; diese Umrisse und Schatten und Lichtpartien, diese großen Bogen- und Fensteröffnungen, durch die der blaue Himmel strahlte und über denen wucherndes Gestrüpp sich in der Zugluft, die da oben strömte, hin- und herschaukelte – alles Das hatte für ein künstlerisches Gemüth, wenn es auch nur wie Engelbert bis zu Albumskizzen sich verstieg, etwas überaus Verlockendes.

Aber unmittelbar vor der steilen Bergwand, die beinahe senkrecht sich zu den Grundmauern der Burg hinaufzog, sah ein blinkendes Etwas wie aus dem Boden hervor, das Engelbert nicht mehr rasten ließ; es war das Wachsamkeitssymbol auf der kleinen Kirche Gustav Wald's, deren Thurmspitze in der Ferne gerade so aus der unsichtbaren Thalschlucht über den Rand der Hochebene aufblickte, als sei sie dort etwa einen Fuß hoch aus dem Boden hervorgewachsen. Der gelbe, im Sonnenlicht blinkende Hahn hatte sicherlich seit sehr langer Zeit seine Pflicht und Schuldigkeit, zur Wachsamkeit zu mahnen und vor dem Träumen zu warnen, nicht besser gethan als viele andere Kirchthurmhähne auch; heute aber übte er sie einmal aufs gewissenhafteste; er mahnte Engelbert an seinen Bruder nämlich, der ungeduldig seiner harrte. Und deshalb ließ unser Wanderer die Burg Burg sein und schritt fürder.

Traurig, sagte er sich dabei, seine Blicke auf die malerischen Reste der Vorzeit heftend, traurig, daß das neidische Geschlecht, welches in diesen stolzen Thürmen wohnte, als es zur Ruhe bestattet wurde, ganz still alle die hübschen alten Einrichtungen mit ins Grab genommen hat, Alles, was ihm das Leben so schön machte! Gott habe sie selig, diese alten Degenknäufe und steifleinenen Burgfrauen mit den gestärkten Halskrausen, so groß, als wären es spanische Kragen. Aber ihre lustige Ruchlosigkeit, ihren Lebenshumor, mit dem sie die Pfefferkrämer plünderten, um dem lieben Gott Stiftungen zu machen zum Heile ihrer Seelen, ihren Sinn für die Höhen, von wo sie tief herab auf die Nester schauten, die da unten von Dünghaufen, Gerberqualm und Gemeinheit dampfen, den hätten sie uns lassen sollen. Und dann ihre Abenteuer! Wir haben ihnen die Burgen gebrochen und mit Sturmhaken eingerissen. Aber wahrhaftig, das alte Volk hat sich schön gerächt! – Ihr wollt uns nicht länger dulden? Ihr wollt Frieden und Ordnung im Lande haben? Nun wohl, wir gehen gelassen zur Ruhe – wir vermachen euch den Frieden, die Ordnung und – die Langeweile. Seht zu, wie's euch damit geht! Das ist ihr Segensspruch gewesen. Und wie hat er sich erfüllt! Von den hübschen alten Abenteuern ganz zu geschweigen – man kann, wie ich heute, hier die einsamsten und verlassensten Fußpfade einschlagen und trifft auch nicht einmal mehr eine Hummel, einen Stein oder eine Pflanze an, die anders wäre, als man erwarten konnte. Und wie wär' ich doch so der rechte Mann für ein Abenteuer! Mais hélas – kein einsamer Wanderer sieht mehr eine wunderschöne Fee im Mondschein mit der Spitze des reizenden Fußes auf der Höhe eines Grashalms balanciren; keine Schwanenjungfrau streift mehr am verborgenen Seeufer die weiße Hülle ab und badet die leuchtenden Glieder des schönen Leibes im Gewässer; kein Schwanenritter und keine Melusine kommen mehr gezogen, man weiß nicht, woher und wohin, und werben um Liebe und sind verschwunden, sobald ein vorwitziges Wort ihnen das Geheimniß ablocken will, woher sie stammen!

Unser Wanderer war in seinem Selbstgespräch gerade so weit gekommen, als er eine verwitterte kleine Klause, eine Art Kapelle, die hier an seinem Pfade stand, erreicht hatte. Er warf gleichgültig einen Blick darauf; das alte verkrümmelnde Bauwerk war vorn offen, nur ein eisernes Gitter verschloß es; im Innern stand ein steinerner Altar ohne weitern Schmuck; der Kalkbewurf hatte sich von den Bruchsteinen getrennt und lag in Stücken auf dem Boden; nur über der Nische, in welcher früher ein Heiligenbild auf dem Altare gestanden zu haben schien, las man noch die Worte: Sancta Margaretha, bitt' für uns!

Auch die heilige Margaretha hat sich auf und davon gemacht, sagte Engelbert; les dieux s'en vont! Als ich das letzte mal hier war, stand sie noch da in ihrem hölzernen Faltenkleide mit den breiten Goldsäumen umher – aber wahrhaftig …

Da ist sie ja! hätte Engelbert hinzugesetzt, wenn ihm das Wort nicht aus Ueberraschung auf der Zunge gestockt hätte.

Der Anblick, der sich ihm darbot, als er ein paar Schritte weiter gemacht hatte, war in der That auch überraschend genug.

An der andern Seite der kleinen Klause, in dem Schatten, welchen das Mauerwerk warf, stand eine junge Dame, schlank von Wuchs, mit einem reizenden Gesicht, und – es war merkwürdig, aber es war in der That so – wie um Engelbert zu beweisen, daß es doch noch Feen gebe, welche die verführerische Gestalt auf der Spitze eines Fußes zu schaukeln verstehen, stand auch sie auf einem Fuße, während sie sich vorn überbeugte und mit den schmalen weißen Fingern der rechten Hand die Knöchel des andern Fußes gefaßt hielt. Die linke Hand, in der sie den abgestreiften dänischen Handschuh der rechten trug, stützte sie gegen die Mauer der Klause.

Engelbert zog im ersten Augenblick nur grüßend seine Reisemütze, weil er in einer Art verlegener Betroffenheit die Fremde nicht anzureden wagte. Das junge Mädchen sah nicht auf und erwiderte seinen Gruß nicht. Er schritt fürder.

Es ist ein auffallender Zug im Menschen, der ihn antreibt, augenblicklich nach einer Erklärung zu suchen, sobald er etwas wahrnimmt, was ihn befremdet. Und ginge ihn das Ding auch nicht im allerentferntesten an – er kann nicht von der Stelle, ohne sich Rechenschaft von dem Grunde Dessen, was er sieht, gegeben zu haben. Es ist ein nie schlummernder Instinct in ihm … vielleicht eine Gewähr, daß er ursprünglich ein verlorener Sohn der Allwissenheit ist! Selbst vor dem Unerklärlichen verliert dieser Trieb des Ergründenwollens nicht seine Schärfe. Lieber, als ein Räthselhaftes unenträthselt zu lassen, beschwört der Mensch sich die Geisterwelt, als die letzte Erklärung des Unerklärlichen.

Aus der Geisterwelt stammte die Erscheinung nun freilich nicht, welcher Engelbert so plötzlich begegnet war. Dazu sah sie viel zu rosig und blühend aus. Sonst aber war sie unerklärlich genug. Im ersten Augenblick dachte unser Wanderer, es müsse eine Gesellschaft, die auf einem Landausfluge begriffen, in der Nähe sein. Er kannte sehr wohl die mancherlei kleinen Hemmnisse und Zufälle, wie drückende Schuhe, aufgelöste Schnüre an den Siefeletten u. s w., welche elegante junge Damen hinter ihrer Gesellschaft zurückhalten, wenn sie in äußerst zweckmäßiger Salontoilette einen Spaziergang über Land machen.

Aber Engelbert mußte diese Erklärung sogleich wieder fahren lassen, weil er rings um sich, auf der weithin übersehbaren Hochebene ebenso wenig als auf den unweit der Klause sich ins Thal und nach dem Dorfe hinabwerfenden Fußsteigen, eine Gesellschaft wahrnahm.

Zugleich hörte er die Fremde hinter sich einen tiefen und schmerzlich lautenden Seufzer ausstoßen.

Betroffen blieb er stehen.

Sie ist am Ende in einer üblen Lage, verirrt oder müde, dachte er und wandte den Blick rückwärts auf die junge Dame.

Sie hatte das Gesicht erhoben und ihm nachgesehen.

Als Engelbert's Auge dem ihrigen begegnete, erröthete sie tief, aber sie senkte es nicht wieder. Der junge Mann ging zurück.

Fräulein, sagte er mit entblößtem Haupte, es ist möglich, daß Sie einer Hülfe, eines Führers oder eines Raths bedürfen – verzeihen Sie mir die Frage, aber wenn Sie verirrt sind …

O nein, nein! antwortete die Fremde, ich bin nicht verirrt – und dabei färbte sich ihre Wange noch dunkler – aber ich habe …

Ihre Stirn zog sich in diesem Augenblicke zwischen den Brauen in leichte Falten und sie bückte sich rasch, wie um wieder nach dem Fuße zu fassen, den sie, als Engelbert herangetreten war, niedergesetzt hatte. Aber sie ließ es, und die Hand vor die Augen drückend, sagte sie mit schmerzlichstem Tone:

O mein Gott!

Ich bin der Bruder des Pfarrers im Dorfe dort unten! bemerkte Engelbert, wie um eine » reference of respectability« zu geben.

Die Fremde sah ihn mit ihrem schönen Gesichte offen an, dann sagte sie:

Ich habe mir sehr heftig den Fuß verstaucht, und in der That, ich kann nicht anders, als Sie um eine Gefälligkeit bitten …

Ich darf ihnen meinen Arm bieten? fiel Engelbert diensteifrig ein.

O nein, ich danke Ihnen, antwortete das junge Mädchen abermals erröthend; aber wenn Sie mir aus dem Gasthofe im nächsten Dorfe eine zuverlässige Person heraufsenden wollten, die mich hinabführte.

Augenblicklich! versetzte Engelbert, etwas beschämt über den erhaltenen Korb, und machte sich sofort auf den Weg; aber gleich darauf kehrte er zurück.

Sie sah ihn fragend, offenbar etwas scheu und besorgt, an.

Fräulein, sagte er, es gibt keinen Gasthof in dem Dorfe da unten!

Es gibt keinen! O, das ist sehr schlimm!

Nur ein paar ärmliche Weinschenken, wo an ein Unterkommen für Sie, an eine Pflege für Ihren verletzten Fuß nicht zu denken ist!

Mein Gott, was fange ich denn an? sagte die Fremde, sich ängstlich umsehend und wie für sich; darauf blickte sie wieder mit den gekräuselten Falten zwischen den Brauen in Engelbert's Gesicht.

Engelbert verstand die Frage, die in diesem Blicke lag; sie verletzte ihn etwas und machte ihn desto eifriger, seine uneigennützige Dienstbeflissenheit zu beweisen.

Es ist in der That so, sagte er. In dem Dorfe dort unten ist kein Unterkommen für Sie …

O, ich will es auch gar nicht, ein Unterkommen, ich will nur, sobald meine Schmerzen am Fuße nachgelassen haben, an den Rhein hinuntergelangen, um auf das nächste Dampfboot zu kommen, welches hinauffährt.

Das nächste Boot kommt erst morgen in der frühesten Frühe vorüber; es ist das Nachtschiff und legt hier nicht bei, um Passagiere aufzunehmen.

Die beiden jungen Leute sahen sich einen Augenblick schweigend an. Engelbert wußte nicht, ob er sich mit seinen Dienstanerbietungen für abgewiesen halten oder sie erneuern sollte.

Könnte ich nicht einen Wagen haben? sagte sie endlich.

Der müßte von jenseit des Rheins aus dem nächsten Städtchen herübergeholt werden – es würde tiefe Nacht, bis er käme! – Sie sehen, fuhr er fort, als die Fremde plötzlich eine Bewegung machte, welche einen abermaligen Anfall heftigen Schmerzes an ihrem Fuße verrieth, – ich darf Sie nicht so allein und hülflos hier lassen, es bleibt Ihnen nichts übrig, als sich die Gastfreiheit meines Bruders, des Pfarrers, gefallen zu lassen; zu dem will ich Sie führen – seine Haushälterin wird sich Ihres Fußes annehmen.

Ihr Bruder ist Pfarrer dort in dem Orte unter uns?

Wie ich Ihnen sagte! Ich kann Ihnen von hier das Dach seines Hauses zeigen. Dort liegt es. Bis dahin müssen Sie zu gehen versuchen.

Es ist wahr, sagte sie zögernd und leise – ich muß es versuchen, ob ich Ihrem Rathe folgen kann.

Engelbert reichte ihr noch ein mal den Arm; sie nahm ihn jetzt an, und die beiden jungen Leute machten sich langsam auf den Weg, von Zeit zu Zeit stehen bleibend, wenn das Auftreten die Schmerzen des jungen Mädchens steigerte.

Eine Zeit lang kam die Fremde noch erträglich vorwärts, solange man sich auf ebenem Boden befand. Weit schlimmer wurde es, als man bergab zu steigen begann. Da wo der Pfad sich zu senken anfing, begannen auch die Weinberge, welche sowol nach rechts, nach dem Rhein hin, wie gerade vor unsern Wanderern, in das kleine Seitenthal hinab, die Berghänge bedeckten. Die Umfassungsmauern der Rebengärten engten rechts und links den sich hin- und herschlängelnden Weg ein, und so kam es, daß bei jedem Regenschauer die von oben herunterstürzenden Wasser gerade denselben Pfad einschlagen mußten, welchen sich die Menschen für ihr Wandeln angelegt hatten. Dadurch war dieser so ausgespült, steinig und von Geröll erfüllt worden, daß eine Ziege Mühe hatte, auf ihm herabzusteigen, wie vielmehr eine zarte junge Dame mit verstauchtem Fuß und eleganten dünnen Stiefelchen von grauem Atlas.

Ihren Schmerz verbiß die Fremde mit großer Selbstbeherrschung, aber sie konnte nicht vermeiden, sich sehr schwer auf Engelbert's Arm zu stützen. Dieser fühlte sich in einer eigenthümlichen Aufregung; ein so schönes junges Mädchen an seinem Arm zu führen, hätte vielleicht allein hingereicht, ihn darein zu versetzen; daß sie seines Schutzes bedurfte und daß sie unter den räthselhaftesten Umständen, wie ein reizendes Abenteuer, gerade in dem Augenblicke, als er von Abenteuern träumte, sich zu ihm gesellt – das mußte dazu dienen, jene Aufregung noch um ein Bedeutendes zu steigern. Menschenfreundliche Zuvorkommenheit und Aufopferung für Frauen, wenn sie jung und hübsch sind, gehört ohne Frage zu den hervorragendsten Tugenden junger Männer. In Engelbert hatte sich diese Zuvorkommenheit, die Sorgfalt für das unbeschützte junge Wesen an seinem Arm bald aller Grenzen entledigt, welche der Egoismus ihr hätte setzen können.

Ruhen Sie sich aus, Fräulein, sagte er, als sie von ihrem Leiden gezwungen stehen blieb, – wir haben Zeit; da unten in der Tiefe sehen Sie jetzt schon das Pfarrhaus ganz deutlich; es ist das, dessen weiße Wände durch das Grün der Obstbäume schimmern. Könnten wir geradeaus zuschreiten, so würden wir in zehn Minuten dort sein. Aber was thut es, wenn wir erst in einer Stunde dort sind!

Es wird schon gehen, versetzte sie und schritt weiter, indem sie mit dem einen Arm sich auf den Engelbert's stützte, mit dem andern auf ihren Sonnenschirm.

Wenn nur dieser Weg nicht so schrecklich schlecht wäre – bemerkte Engelbert; wenn er nur wenigstens nicht so steil hinabführte – Sie müssen entsetzlich dabei leiden – aber wie thöricht ist es von mir, daß ich Sie so führe – Sie müssen anders gehen, Fräulein!

Und wie soll ich gehen?

Rückwärts, nur rückwärts – Ihr Fuß hat dann nicht nöthig, sich bei jedem Niedertreten so vollständig im Gelenke auszustrecken, was Ihre Schmerzen sehr vermehren muß; wenn Sie rückwärts gehen, haben Sie nur auf die Ferse des verletzten Fußes zu treten.

Die Fremde schien an die Erleichterung, welche Engelbert sich von seinem Einfalle versprach, nicht recht zu glauben; aber er achtete nicht darauf in seiner Lebhaftigkeit und wandte sich mit ihr, um rückwärts hinunterzuschreiten.

Sie haben Recht, es ist eine Erleichterung, sagte das junge Mädchen nach dem ersten Schritte.

Nicht wahr? fiel Engelbert triumphirend ein; aber er hatte das Wort kaum über seine Lippen gebracht, als er hinterrücks an eine hervorstehende Felskante stieß und mit dem andern Fuß auf fortkollerndes Geröll trat. Er wäre hart niedergeschlagen, wenn sie ihn nicht gehalten hätte.

O, ich danke Ihnen, sagte er erröthend.

Es geht nicht, wenden wir uns wieder, bemerkte das junge Mädchen.

Nein, nein, antwortete Engelbert. Das Rückwärtsgehen ist Ihnen eine Erleichterung, aber ich, setzte er rasch sich wendend hinzu, ich will dabei vorwärts gehen, damit Sie vor dem Fallen sicher sind.

Oder Sie! sagte die Dame, zum ersten male einen Anflug von Lächeln zeigend.

Engelbert hatte sich gewandt; sie legte ihre Hand auf seinen andern Arm. Er schritt vorwärts, während sie, sich an ihm aufrecht erhaltend, rückwärts ging.

War Engelbert's Situation bisher durch alle begleitenden Umstände bereits hinreichend romantisch gewesen, so wurde sie es jetzt bis zu einem Grade, der an das Gefährliche streifte. Er vorwärts schreitend – an seinem Arm, rückwärts gehend, das junge Mädchen – diese Anordnung hatte zwei unausbleibliche Folgen. Die erste war, daß die Fremde sich, um nicht zu fallen, mit sehr deutlich ausgesprochener Hingabe auf seinen Arm stützen, sich mitunter, wenn das Geröll unter ihren Füßen wich, beinahe von ihm tragen lassen mußte. Die zweite noch eigenthümlichere Folge war, daß die Gesichter der beiden jungen Leute sich in allernächster Nähe begegneten, daß Engelbert den Hauch ihres Mundes fühlte, und daß das junge Mädchen nicht die Augen aufschlagen konnte, ohne, der magnetischen Anziehungskraft der Blicke ihres Begleiters nur ein wenig nachgebend und nach links sehend, in die seinen, die immer leuchtender wurden, zu schauen. Sie fühlte gewiß augenblicklich das Seltsame dieses Nebeneinanderwandelns, aber sie hatte den guten Takt, nicht durch eine rasche Wendung einzugestehen, daß sie es fühlte; so schritt sie mit niedergeschlagenen Augen eine kleine Strecke weiter – lange genug, daß er ihr seidenweiches Haar, den makellosen Sammet ihrer zarten, von blauen Adern fein durchschlängelten Haut bewundern konnte. Engelbert sagte sich, daß er in seinem Leben kein lieblicheres, reizenderes, in jeder Bewegung anmuthigeres Geschöpf gesehen habe. Er war vollständig in sie verliebt, bevor sie noch zwanzig Schritte gemacht hatten.

Sie blieb stehen und entzog sich seinem Arme, um sich eine Weile an der nächsten Mauer mit der Hand zu stützen.

Lassen Sie uns jetzt wieder gehen wie vorher, sagte sie dann.

Ist das Rückwärtsgehen Ihnen keine Erleichterung mehr?

Nein!

Es ist schade, bemerkte Engelbert und da sie nicht fragte: weshalb? fügte er hinzu: Wir waren eine so hübsche Allegorie, der leibhafte rückwärtsgewendete Fortschritt, und wie bei dem ging es auch mit uns bergab!

Sind Sie ein Demokrat? fragte das junge Mädchen, ohne ihn anzublicken, und mehr wie um etwas zu sagen, als aus Interesse daran, ob ihr Begleiter ein Demokrat oder irgend etwas Anderes in der Welt sei.

Nichts weniger als das, versetzte Engelbert lachend– der conservativste Mensch von der Welt – ein ehemaliger Kanonikus und gegenwärtig ein Diplomat.

Und doch kein Talleyrand! sagte sie etwas spöttisch.

Weil mir eine dritte Aehnlichkeit, das Hinken fehlt? Das sollten Sie mir nicht vorwerfen, mein Fräulein, denn es kommt Ihnen am meisten zu statten!

Weil Sie seinen Grundsatz nicht befolgen: Méfiez vous du premier mouvement.

Weshalb sollte ich das? Der alte Sünder setzt ja selbst hinzu: car il est presque toujours bon!

Wird Ihr Bruder das von Ihrem Einfall sagen, mich in sein Haus zu führen? Mein Uebel wird immer schmerzlicher und schlimmer  … wenn ich einmal da bin, kann ein Tag verfließen, bevor es mir möglich ist, wieder zu gehen!

Mein Gott! könnte ich doch etwas zu Ihrer Erleichterung thun, antwortete Engelbert lebhaft und in seiner Theilnahme alle ihre andern Worte überhörend.

Ist denn wirklich kein Gasthof in dem Orte? fragte sie ängstlich, nach dem kleinen Dorfe unter ihnen ausschauend, ob denn keines von diesen schieferbelegten schwarzen Dächern das Ansehen eines »gastlichen Daches« habe.

Ich habe es Ihnen gesagt, Fräulein – und was meinen Bruder angeht – wollen Sie ihn durch Ihr Mistrauen beleidigen, noch bevor Sie ihn kennen?

Nun, so kommen Sie, antwortete die Fremde mit einem Tone schmerzlicher Ergebung.

Sie nahm Engelbert's Arm wieder. Von nun an wich die kleine Falte nicht mehr zwischen ihren dunkeln gewölbten Brauen. War es der körperliche Schmerz, der sie nicht mehr verließ, oder war es das Gefühl einer peinlichen Situation, was die klare Stirn des jungen Mädchens so verdüsterte?

Engelbert wagte natürlich nicht, danach zu fragen. Er war überhaupt beklommener geworden, je weiter sie gekommen. Sein Herz schlug lebhaft, als sie die ersten Häuser des kleinen Orts endlich glücklich erreichten. Es war nicht, weil er an den Empfang dachte, den er bei seinem Bruder mit der Fremden finden werde; er dachte nicht an seinen Bruder, noch an irgend etwas Anderes in der Welt; seine Seele war erfüllt von dem anmuthigen, hülflosen, leidenden jungen Mädchen an seinem Arme!



 << zurück weiter >>