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Neuntes Capitel.
Paula.


Wir waren am Ziele angekommen – wir ruhten die erste Nacht in Neapels Mauern! In einem der großen Hôtels garni am Strande von Santa-Lucia hatten wir die ersehnte Unterkunft gefunden; wir wohnten und lebten im täglichen Anblick des Vesuv, nur von ihm getrennt durch die blaue Meeresbucht, die den Golf des schönheitstrahlenden Neapel bildet.

Am ersten Morgen nahm ich die Hand meiner Mutter, meines Bruders und sagte tief ergriffen: Hier werde ich gesund, und selbst wenn ich hier sterbe, so beweint mich nicht – denn auch mein Körper wird dann im Paradiese ruhen – was andere Sterbliche höchstens für ihre Seelen hoffen dürfen!

Meine Mutter sagte, man könne nur einem überspannten und kranken jungen Mädchen solche gottlose Reden verzeihen; mein Bruder hingegen war gerührt. Es wurde ein geschickter deutscher Arzt für mich gefunden, und der verbot mir, die ersten Tage auszugehen; ich beklagte mich auch nicht – ich war glücklich, am Fenster sitzen und immer aufs neue die blauen Wogen am himmlischen Strande, vor mir den Vesuv, rechts das Castell dell' Novo, links die stolzen Paläste beschauen zu dürfen.

Der Arzt erzählte mir – wahrscheinlich zu meinem Troste – in den Zimmern neben mir sei auch eine Patientin meiner Art, eine junge deutsche Gräfin, deren Brustleiden sie nach Neapel geführt und jetzt ebenfalls für einige Tage an das Zimmer fessele.

Am Abend, ziemlich spät, kamen die Meinigen nach Hause, und selbst meine vernünftige, kalte und zurückhaltende Mutter in Ekstase, mein Bruder so außer sich, daß er gar keine Worte mehr finden konnte, um mir seine Gefühle zu schildern bei allen den Herrlichkeiten, die er gesehen! Meine Mutter erzählte mir auch, daß sie die Verwandten unserer kranken Nachbarin zufällig kennen gelernt, und daß man beschlossen, morgen früh drüben mit mir einen Besuch zu machen, auf daß wir beiden Patienten uns miteinander trösteten.

Auf diese Weise machte ich die Bekanntschaft meiner theuersten, liebsten Freundin! Sie empfing mich auf das freundlichste; ihre edle, feine Gestalt, ihre ausdrucksvollen Züge, die großen dunkeln Augen bei dem blonden Haare machten schon im ersten Augenblick meine Eroberung.

Ihr Mann, denn sie war seit einigen Wochen verheirathet, obgleich sie eine ganz mädchenhafte Erscheinung war, sowie ihr Vater, der sie begleitete, gefielen mir weniger, vielleicht auch nur deshalb, weil sie selbst mir so sehr gefiel, daß ich gleich vom ersten Augenblicke an eifersüchtig wurde auf Alle, die Ansprüche an diese Elfenkönigin zu haben glaubten.

Unsere beiden jungen Herzen schlossen sich bald einander auf. Nur selten durften wir bei den Ausflügen der Andern mitfahren, höchstens bei Sonnenschein eine kleine Promenade zu Fuße auf den großen Steinen des Quais, der vor unsern Fenstern lag, machen; aber den ganzen Tag am offenen Fenster zu sitzen und die balsamische Luft einzuathmen – das war uns vergönnt. Da saßen wir denn, und ich erzählte ihr meine Jugend, von meinen drei Schwestern, die mir vorangegangen, von dem Vater, der nun auch todt war, von der Heimat, dem Gute in Norddeutschland, von seinen Haiden und Wäldern, seinen stabilen altmodischen Verhältnissen und seinem kernhaften Volke.

Die eigentliche Heimat meiner Freundin war Wien, die Güter ihres Vaters lagen in Ungarn, die Güter ihres Mannes in Schlesien – aber die hatte sie noch nicht gesehen, erst bei ihrer Rückkehr wollte er sie dorthin führen. Ich bat sie, mir ihre Lebensgeschichte mitzutheilen. Sie antwortete schmerzlich:

Sie sind die Erste, die das wünscht, meine Liebe, und die Einzige, der ich diesen Wunsch gewähren werde; aber versprechen Sie sich kein Vergnügen von dieser Mittheilung; obgleich meine Vergangenheit die Ihrige an Abenteuerlichkeit und romanhaften Verhältnissen weit überbietet, so ist sie doch auch zehn mal trauriger und trostloser als die Ihrige.

Ich sagte eifrig, ohne zu bedenken, was ich sagte: Desto besser, ich höre so gern traurige und schauerliche Geschichten.

Sie lächelte: Wenn ich nicht wüßte, wie gut Sie sind, könnte ich Ihnen das übel nehmen!

Ich entschuldigte mich erröthend, und sie begann auf meine wiederholte Bitte:

Wir sind beide Unglücksschwestern, Geschöpfe, deren ferneres Leben an Bedingungen geknüpft ist, die vielleicht unerfüllbar werden. Sie jedoch haben diesen zarten und schonungsbedürftigen Körper mit zur Welt gebracht und kennen keinen andern Zustand, während ich mich bis vor einem Jahre der besten und blühendsten Gesundheit der Welt erfreut habe und nur durch einen Seelenschmerz leidend geworden bin.

Und dieser Seelenschmerz?

War eine unglückliche Liebe.

Eine unglückliche Liebe?

Ja, und wenn Sie erfahren, zu wem, lachen Sie mich noch aus – die unglückliche Liebe für meinen Mann!

Aber das begreife ich nicht, Sie sind ja mit ihm vereinigt!

Jetzt bin ich das … freilich … aber obwol ich es bin, ist doch mein Herz nicht ruhig!

So erzählen Sie doch! bat ich ungeduldig.

Sie fuhr fort:

Ich muß mit der Heirathsgeschichte meiner Aeltern beginnen, die mich meine Mutter unzählige mal, vermischt mit bittern Klagen, hat hören lassen.

Mein Vater war Lieutenant, von einer alten östreichischen adeligen Familie herstammend, doch nur mit einem kleinen Vermögen ausgestattet. Meine Mutter war die Tochter eines verstorbenen Schauspielers am Leopoldstädter Theater in Wien und von ihrer Mutter, auch einer Schauspielerin, schon früh für die Breter bestimmt. Ihre wunderbar schöne Stimme und ihr ebenso schönes Aeußeres gewann ihr so sehr die Gunst eines alten fürstlichen Kapellmeisters, daß er jahrelang sie unentgeltlich in der Musik unterrichtete und ihr dadurch die Aussicht eröffnete, als gefeierte Sängerin einer glänzenden Laufbahn entgegen zu gehen.

Eines Tags erklärte er ihr, daß sie hinreichende Kenntnisse habe, um ihr Debüt zu wagen, und daß er ihr auch am Kärntnerthortheater die Genehmigung dazu verschafft.

Meine Mutter war noch nicht volle sechzehn Jahre alt, aber sie trat auf, als Agathe im »Freischütz«, und gefiel so sehr, daß ihr junger Kopf ganz verwirrt wurde und ihr alter Lehrer sich vor Freude nicht zu lassen wußte.

Mein Vater, der ein eifriger Theater- und Musikliebhaber, überdies erst einundzwanzig Jahre alt war, verliebte sich sterblich in die schöne junge Debütantin und trug ihr endlich seine Hand an. Meine Mutter erwiderte zum großen Kummer ihres Lehrers und ihrer Mutter diese Leidenschaft und erklärte sich bereit, allem künftigen Glanz und Ruhm der Bühne um ihres Geliebten willen zu entsagen. Der Bund wurde geschlossen – aber mein Vater mußte seinen Abschied wegen dieser Heirath nehmen, und sein reicher kinderloser Oheim, der sich in Ungarn aufhielt und ihm Hoffnung auf seine Nachlassenschaft gemacht hatte, erklärte, ihn enterben zu wollen. Mein Vater und meine Mutter beachteten das wenig; sie kauften von dem kleinen Capital meines Vaters ein Gütchen in der Nähe von Wien, wo sie, Eines in dem Andern glücklich, leben wollten. Mein Vater verstand natürlich nichts von der Landwirthschaft; bei seinem Gute hatte er also nur Verluste; meine Mutter verstand nichts – von der Haushaltung und hatte auch keine Freude daran; im ersten Jahre schon nahm mein Vater Hypotheken auf, und meine Mutter machte mehr Schulden, als ihr ganzes Einkommen betrug.

Am Schlusse des Jahres wurde ich geboren, und diese Geburt kostete meiner Mutter ihre schöne Stimme und beinahe ihr Leben. Eine unangenehme Heiserkeit deckte von nun an ihr Organ. Meine Aeltern führten eine stürmische, oft sehr unglückliche Ehe, und nur meines Vaters tiefe Liebe zu meiner Mutter hielt noch dieses lose Band zusammen. Sie bereute fortwährend, ihm ihre Aussichten geopfert zu haben, und machte ihm oft bittere Vorwürfe deshalb, wie sie mir später selbst gestand; vier Jahre nach mir wurde noch ein Töchterchen geboren, und wieder nach vier Jahren war der Zustand ganz unerträglich geworden. Meine Aeltern besaßen buchstäblich nichts mehr, und meine letzte Erinnerung aus unserm Hause – ich war damals nur etwas über sieben Jahre alt – sind Leute, die in unser Wohnzimmer kamen, um das Klavier meiner Mutter zu holen – es war die erste Pfändung.

Meine Mutter wurde krank vor Schrecken, aber sie ließ meinen Vater an ihr Bett rufen und sagte entschlossen zu ihm:

Wir müssen uns trennen, Paul. Ich gehe mit den beiden Kindern fort von hier und zurück auf das Theater – ich habe freilich meine Stimme verloren, aber ich kann ja Schauspielerin werden, wie meine Mutter – ich bin ja erst vierundzwanzig Jahre alt.

Mein Vater war über diesen Gedanken außer sich, wußte ihr aber keinen bessern vorzuhalten, denn er fühlte sich freilich außer Stande, seine Frau ferner zu ernähren.

Jeden Tag konnten die Gläubiger ihn vor die Thür setzen; überdies hatte ihm sein Onkel, der von seinem Elend gehört, angeboten, er möge zu ihm kommen auf sein Gut in Ungarn, aber nur – ohne seine Frau.

In die Trennung mußte er also wohl oder übel willigen; aber er wollte es nicht in die Rückkehr meiner Mutter auf die Bühne, wo sie doch nur auf einen ganz untergeordneten Erfolg rechnen konnte, seitdem sie ihre Stimme und nach und nach auch ihre blühende Schönheit verloren hatte. Er beschwor sie, in irgend einer andern großen Stadt sich durch Singunterricht ein sorgenfreies Loos zu schaffen, was ihr ja bei ihrer Ausbildung und ihren großen Talenten nicht schwer werden könnte, bis er etwas gefunden, womit er seine Familie wieder zu ernähren vermöge.

Sie versprach es ihm endlich, aber nur, um loszukommen, und reiste mit mir und meiner Schwester ab. Noch heute steht mir der Schmerz meines Vaters bei unserer Trennung vor Augen – wol zehn mal schloß er mich von neuem in seine Arme, da ich immer die meinigen nach ihm ausstreckte, und meine Mutter fragte er wiederholt mit dem schmerzlichsten Tone: Emma, thut dir denn der Abschied von mir gar nicht weh?

Sie machte ein sehr ernstes Gesicht und sagte seufzend: Wozu diese Frage bei Etwas, das doch nicht zu ändern ist! So reisten wir ab, und schon auf der nächsten Station schrieb meine Mutter meinem Vater, daß sie bei einer wandernden Truppe als erste Liebhaberin – vorläufig ohne Gehalt, aber gegen freie Station mit ihren Kindern – eingetreten. Sie hatte dabei den Namen meines Vaters abgelegt und nannte sich mit dem Namen ihrer Mutter, unter welchem sie zuerst aufgetreten war: Emma Gebhardi.

Nun begannen meine Leiden! Vom Vater getrennt, den ich über Alles liebte, die Mutter fürchtend, die mich oft wegen der Aehnlichkeit meiner Züge mit denen des Vaters und meiner Trauer um ihn neckte, in eine Umgebung hineingezwungen, die mir mehr als schauerlich war, fühlte ich mich in meinem achten Jahre schon so unglücklich, wie sonst wol kaum Jemand, der doppelt so alt ist, es je gethan haben mag.

Wenn ich in der Garderobe zusah, wie meine Mutter sich schminkte und bunte Lappen um sich hängte, weinte ich und wollte das nicht dulden, bis man mich fortbrachte und natürlich mishandelte. Die Familiarität der Männer in der Gesellschaft gegen meine Mutter mit anzusehen, war eine Tortur für mich, und die Scherze der Frauen ekelten mich an; denn wohl bemerkte ich schon damals den Contrast des Benehmens mit dem, welches im Hause meines Vaters geherrscht, der zwar sehr zurückgezogen gelebt, aber doch zuweilen einige Freunde bei sich gesehen hatte. Meine Mutter, die von ihrer Kindheit her diese freien Sitten gewohnt war, fand nichts Uebles daran und schalt mich wegen meines steifen Hochmuths, wie sie es nannte.

Das Schlimmste war mir noch vorbehalten. Eines Morgens aus der Probe zurückkehrend, verkündigte mir meine Mutter, ich müßte in drei Tagen auftreten, und zugleich übergab sie mir eine kleine Rolle, die ich auswendig lernen sollte. Ich weigerte mich entschieden, und zum ersten male bekam ich von ihr empfindliche Schläge in das Gesicht – sie war außer sich.

Du mußt es thun, sagte sie endlich, ich habe es dem Director versprochen, weil das Kind, welches die Rolle hatte, plötzlich krank geworden ist.

Wer soll denn bei meiner Schwester bleiben am Abend, wenn wir Beide von hier fort sind?

Deine Schwester kann so lange, bis du ausgespielt hast, in der Garderobe sitzen und auf dich warten.

Es war nämlich meine einzige Lieblingsbeschäftigung meiner kleinen Schwester Gesellschaft zu leisten, mit ihr zu spielen, sie aus- und anzukleiden, ins Bett zu bringen, und ich that das so regelmäßig, daß meine Mutter sich darin ganz auf mich verließ, obgleich die Kleine ihr Liebling war und sie überhaupt ihre Mutterpflichten nicht versäumte; auch vielleicht für mich würde sie zärtlich und weich gewesen sein, wenn ich nicht durch meinen Widerspruch und den offen zu Tag gelegten Abscheu vor ihrem Metier, sowie meine Sehnsucht nach dem Vater mir ihr Herz entfremdet hätte. Und dennoch hatte sie mich nie mit Härte behandelt, ja im Gegentheil mich immer beschützt vor den unpassenden Neckereien ihrer Gefährten, wenn auch oft mit den Worten: Laßt sie gehen, es ist solch ein dummes Ding!

Ja es gereicht mir zur Freude und zum Stolze, es Ihnen zu versichern, daß meine arme Mutter ein durchaus gutes und wohlwollendes Herz besaß; nur das Schicksal war im Unrecht, das sie aus ihrer Sphäre gerissen, indem es sie in den Arm meines Vaters gelegt und so unsagliches Unglück über sie gebracht hatte!

Die erste wandernde Truppe hatten wir längst verlassen, und es war in einer kleinen Stadt Norddeutschlands, die ihr stehendes Theater besaß, wo ich auf den mir so furchtbar widerwärtigen Befehl mein erstes Debüt wagen sollte.

Es war in einem Festspiel, worin ich als Engel mit dem Palmzweig ein paar hochtönende Phrasen zu sprechen hatte. Ich zitterte an allen Gliedern, als gegen Abend – es schneite und war sehr kalt – meine Mutter aus dem Theater kam, um mich und meine Schwester abzuholen. Ich erinnere mich noch, daß sie das Kind auf den Arm nahm, weil es auf der nassen Straße nicht gehen konnte; ich lief immerfort weinend hinterher, bis zum Schauspielhause. Dort standen an der Thür schon eine Menge Menschen versammelt – meine Mutter, die viele Bekannte hatte, suchte freundlich grüßend durch sie hinzukommen; mich aber hielt ein dicker Herr fest, küßte mich trotz meines verzweifelten Widerstandes, und als er mich losließ, hörte ich, wie er zu den Andern sagte: Die wird noch zahm werden!

An der Kasse, an welcher ich hinter meiner Mutter her vorbeischießen wollte, hielt mich der Herr Director, ein hoher, dünner Mann mit auffallend großen und langen Händen und einer ganz feinen Stimme, auf: Wie geht es, Paula, kannst du deine Rolle?

Meine Mutter versicherte laut, ich habe sie vollkommen inne, und so wurden wir weiter gelassen, zur Garderobe, wo die Frau Directorin, eine wohlbeleibte, heftige Frau mit einer tiefen Baßstimme, mich empfing:

Wie geht es mit der kleinen Duckmäuserin, hat sie noch immer solche Angst?

Ich fürchte, daß es nicht gut gehen wird, hörte ich jetzt meine Mutter leise sagen, indem sie meine Schwester auf einen Stuhl setzte und ihr einiges Zuckerzeug in den Schoos warf: das Kind ist ganz sinnlos vor Angst.

Das war ich auch; ich konnte keinen Gedanken fassen; eiskalter Schweiß stand mir auf der Stirn, als der Friseur meine Locken aus den Papilloten wickelte, und Alles drehte sich um und um mit mir, als man mir meine gewöhnlichen Kleider auszog und mir die Tricots, dann ein sehr kurzes weißes Gewand und eine blaue Schärpe anlegte. Meine Mutter nahm noch ein mal meine Rolle aus der Tasche und überhörte mich – bewußtlos plapperte ich die Verse herunter – da schrie plötzlich die Directorin:

Es ist Zeit, es ist Zeit! und ich wurde hinausgeschoben und gerade hinter dem Souffleurkasten aufgestellt.

Die Klingel ertönte, vor meinen offenen, mit Thränen gefüllten Augen zeigte sich auf einmal ein großer Saal, gefüllt Kopf an Kopf, und alle, alle Augen in diesen Köpfen waren auf mich gerichtet; ich ertrug das eine Weile – bis ich die meinigen schloß und ohnmächtig zusammensank!

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Schoos meiner Mutter in der Garderobe; sie küßte mich zärtlich und fragte, wie mir sei – meine kleine Schwester weinte laut und wollte Paula trösten.

Endlich entsann ich mich, was mit mir vorgegangen; ich erinnerte mich sogar, daß der Souffleur auf meinen Fuß getippt und den Anfang des Prologs mir immer wiederholt, und die Stimme meiner Mutter aus den Coulissen gerufen hatte: Fange an, Paula, fange an!

Aber die vielen auf mich gerichteten Augen hatten alle Kraft meiner Seele an sich gezogen, alles Bewußtsein in mir fortgenommen und mich erstarren gemacht!

Meine Mutter erzählte mir nun, der Director habe vor dem Publicum erscheinen und es um Verzeihung bitten müssen wegen der ungeschickten, bangen kleinen Debütantin.

Danach muthete man mir nicht mehr zu, aufzutreten, denn ich hatte einen ganzen Festabend verdorben durch meine Ohnmacht. Meine Mutter schien Reue zu empfinden, daß sie mich so gewaltsam auf die Bühne getrieben, und ließ mich von nun an viel mehr meine eigenen Wege gehen.

Es waren jetzt schon zwei Jahre verflossen, seitdem wir das Vaterhaus verlassen hatten; ich zählte zehn Jahre. Meine Mutter zeigte mir einmal ein Goldstück, das mein Vater geschickt habe, um mir dafür ein neues Kleid zu kaufen.

Ich brauche aber kein neues Kleid, sagte ich, trotz meiner sehr ärmlichen Garderobe, weil ich hoffte, dann das Goldstück selbst, das ja aus den Händen meines unvergeßlichen Vaters kam, zu erhalten.

Ich kann dir auch keines dafür kaufen, Paula; du bist ein vernünftiges Kind und wirst einsehen, daß ich vor allen Dingen die Miethe hier im Hause damit bezahlen muß; du hast ja gehört, wie böse die Frau auf uns ist.

Freilich war die Hauswirthin am Tage vorher bei uns oben gewesen und hatte meiner geängstigten Mutter eine fürchterliche Scene gemacht; ich gab also dem Goldstück einen heimlichen Kuß und legte es in die Hand meiner Mutter, die damit hinunterging.

In dem Zimmer meiner Mutter pflegte ich oft mich mit meiner kleinen Schwester hinter die langen kattunenen Vorhänge des Fensters zu setzen und dort zu spielen; wir nannten dann diese Ecke unser Zimmerchen; dahin ging ich auch jetzt mit meiner Schwester. Kaum saßen wir da, als es an die Thür pochte – ich machte dem Kinde ein Zeichen, still zu sein, und war es selbst; die Thür öffnete sich aber dennoch, und herein trat die Frau Directorin nebst der Soubrette, die zwei mir unerträglichsten Personen unserer Truppe.

Hier muß ich eine Schilderung dieser Soubrette, die sich Heliodora nannte, einschalten, weil ich leider bald darauf in nahe Berührung mit ihr kam.

Sie war das Sittenmuster der ganzen Gesellschaft und ihr drittes Wort: Ein Mädchen wie ich, dessen guter Ruf sein höchstes Gut ist u. s. w. Die Directorin pflegte sie allen Uebrigen als Beispiel eines soliden Betragens aufzustellen und zog beständig mit ihr herum, wofür Heliodora sich ihr dankbar erwies, indem sie ihr auf eine widerwärtige und ganz grobe Weise schmeichelte. Heliodora war klein und eigentlich hübsch; ihre feinen Züge und ihre wohlproportionirte zarte Gestalt hätten sie gewiß überall empfohlen; aber sie war so grenzenlos affectirt, daß jeder gute Eindruck dadurch verloren ging. Meine Mutter sagte einmal, als Heliodora von einem Traum erzählt hatte: Der war auch nur affectirt, denn bei ihr kann ja nichts mehr natürlich sein, selbst nicht mehr die Träume. Uebrigens ließ doch meine im Ganzen harmlos gläubige Mutter sich vom Tugendglanze Heliodora's blenden und hatte großen Respect vor ihr. Doch kehren wir jetzt zu dem Besuche zurück, den sie meiner Mutter mit ihrer Gönnerin abstattete.

Es ist Niemand da, sagte die Directorin, nachdem sie das Zimmer überblickt und uns Beide in unserm Verstecke natürlich nicht gewahrt hatte; unten sagte man uns doch, Emma sei zu Hause!

Die beiden Frauen nahmen ungenirt auf unserm Sopha Platz, und nach einer kurzen Pause hob die Directorin wieder an: Wissen Sie schon, daß sich Emma scheiden lassen will?

Bah! sie ist ja so gut wie geschieden, entgegnete spöttisch die Soubrette.

Ja freilich, aber August, der jetzt die gute Anstellung am Hoftheater bekommen hat, will sie heirathen und mitnehmen, und das geht doch nicht ohne gerichtliche Scheidung.

Mir wurde wieder wie damals bei meinem Debüt, als der Vorhang aufging.

Heliodora sagte schnippisch: Man sollte August für wahnsinnig erklären, die verblühte Frau mit der heisern Stimme und den zwei Kindern sich auf den Hals zu laden …

Gerade an diesen Kindern wird aber die Trennung wahrscheinlich scheitern, erklärte die Directorin; denn Emma's Mann will die Kinder keinem Andern lassen, und sie will sich eben so wenig von ihnen trennen.

Wie, selbst von der Aeltesten nicht, dieser störrischen, unfreundlichen kleinen Kröte nicht, selbst von der nicht?

Nein, sagte die Directorin, sie hat mir erklärt, sie könne ohne die Kinder nicht leben, und obgleich sie wisse, daß die Aelteste sie nicht liebe, ja sie vielleicht hasse, als die Ursache, daß sie von ihrem Vater entfernt sei – sei sie ihr dennoch unauflöslich an das Herz gewachsen!

Sie ist eine Närrin, sagte das Mädchen. In diesem Augenblicke kam meine Mutter die Treppe herauf und zur Thür herein.

Wo sind die Kinder? fragte sie sogleich, nachdem sie die beiden Frauen begrüßt; aber wir kamen nicht zum Vorschein, und meine Schwester blieb auf meinen Wink mäuschenstill neben mir hocken.

Die Frauen, welche nur gekommen, um meiner Mutter einen von ihr geliehenen Theaterschmuck zurückzubringen, entfernten sich bald, und als meine Mutter nun uns suchend durch das Haus lief, kamen wir zum Vorschein. Sie fragte, wo wir gewesen, ich sagte die Wahrheit, auch daß ich nicht hervorgekommen, weil ich vor der Directorin immer bange sei. Sie lachte und fragte nicht weiter.

Am Abend kam August wie gewöhnlich, um meine Mutter in das Theater abzuholen. Zum ersten male betrachtete ich ihn mit Aufmerksamkeit, aber auch mit einem so gehässigen Gefühl, wie bisher keines meine junge Brust durchzogen. Ich hatte damals natürlich noch kein Urtheil, aber noch heute steht mir das Bild August's so klar vor Augen, als habe ich ihn gestern erst gesehen, und nach meinen deutlichen Erinnerungen kann ich wol jetzt ein im Ganzen richtiges Urtheil über ihn abgeben.

Er war, was man einen hübschen Mann zu nennen pflegt, ziemlich groß, bleich, schlank und außerordentlich sorgfältig gekleidet; von Genie aber hatte er keine Spur und war doch der Liebling des Directors, weil er nie eine Probe versäumte, immer gut memorirt hatte und immer in allen Angelegenheiten ordnungsliebend und zuverlässig war.

Daß er meine Mutter liebe, sie heirathen wolle, das hatten mir, die ich nichts davon geahnt, heute die beiden Frauen verrathen. Von diesem Augenblicke an war er mir verhaßt!

Er wohnte in unserer Nähe und pflegte meine Mutter zu den Vorstellungen abzuholen und sie nach Hause zu bringen – ob sie ihn je ihren übrigen Genossen vorgezogen, weiß ich nicht, möchte es auch heute um keinen Preis wissen. Sein Benehmen gegen sie war außerordentlich rücksichtsvoll, ja im Vergleich mit dem der Uebrigen förmlich – das hatte ihm früher meine Gunst zugewandt.

Als er eingetreten war und meine Mutter begrüßt hatte, kam er auf mich zu und bot mir die Hand. Wie geht es, Paula, hast du heute wieder fleißig gelernt?

Ich sagte: Nein, nur um zu widersprechen; meine Mutter aber sagte: Es ist nicht wahr, sie ist fleißig gewesen wie immer, und wenn sie so fortfährt, bringt sie es weiter als ihre beiden Aeltern.

Ich meinte, Ihr Herr Gemahl sei voller Talente? fragte mit einer gewissen Schadenfreude August.

Meine Mutter entgegnete rasch: Voller Talente, ja … aber er hat keines ausgebeutet … mein Mann und ich gehören zu den begabten Leuten, die sich keine Mühe geben … wir sind zwei Genies, die nichts gelernt haben, und da ist ein beschränkter Mensch, der etwas Tüchtiges weiß, mir lieber!

August war in Verlegenheit, was er auf diese Herzensergießung meiner über alle Maßen aufrichtigen Mutter antworten sollte.

Als sie das sah, fing sie mit dem ihr eigenen Uebermuth, der ihr übrigens vortrefflich stand, laut zu lachen an. Dann aber plötzlich in einen ernsten Ton übergehend, fragte sie: Ist Ihr Contract mit der Hoftheaterintendanz unterzeichnet – ist Alles in Ordnung?

Alles! sagte er feierlich. Wonach ich mein ganzes Leben gestrebt habe, das habe ich endlich erreicht – eine lebenslängliche Anstellung bei einem Hoftheater!

Wieder lachte meine Mutter hell. Wohl Ihnen, daß Ihnen das schon vor Ihrem dreißigsten Jahre gelungen ist. Ich bin zwar noch ein paar Jahre jünger als Sie, aber ich fühle deutlich, daß ich nie – was man so nennt, in einen Hafen einlaufen werde!

Weil Sie nicht wollen, sagte stirnrunzelnd der Schauspieler. Sie verschmähen jede Gelegenheit – mit Ihrem großen Talente, Ihrem Aeußern, Ihrer Lebhaftigkeit und Kraft könnten Sie eine der ersten Schauspielerinnen Deutschlands sein.

Wie kommt es denn, fragte immer noch lächelnd meine Mutter, daß ich eine der letzten bin?

Weil Sie keine Ruhe, keine Beharrlichkeit und keinen Fleiß haben, und weil Sie, setzte er mit starker Betonung hinzu, die Hand verschmähen, die sich Ihnen helfend entgegenstreckt.

Meine Mutter antwortete nicht, sie ging in eine dunkle Ecke des Zimmers und hängte ihren Mantel um, dann trat sie zu uns Kindern und sagte:

Bringe wie immer die Kleine zu Bett, wenn euch die Hausfrau das Nachtessen gebracht hat; du selbst lege dich, sobald du müde bist; aber lösche die Lampe, mir wird es heute besonders bange um euch sein, weil das Stück lange dauert.

Sie küßte meine Schwester, mir reichte sie die Hand nur – aber an diesem Mangel an Zärtlichkeit war ich selbst schuld, denn ich küßte sie nicht mehr, seitdem ich einmal gesehen, wie auf der Bühne in einem Stück, wo sie eine Bäuerin vorstellte, ein Schauspieler sie vor aller Welt Augen geküßt. Ich war damals trostlos darüber; meine Mutter, die mir meinen Kummer abfragte, verhöhnte mich aber und nannte mich eine kleine dumme Gans!

Als die Beiden fort waren und ich mein Schwesterchen zu Bett gebracht hatte, grübelte ich über Das, was ich meine Mutter hatte sagen hören: sie und mein Vater seien Genies, die nichts gelernt!

Es mochte wahr sein! Wie oft hatte ich als kleines Kind meinen Vater ausrufen hören: Wären meine Aeltern nicht so vornehm gewesen, ich hätte mehr gelernt!

Meine Mutter hingegen sagte: Wären meine Aeltern nicht so arm gewesen, ich hätte mehr gelernt!

Das Letztere verstand ich, denn ich armes Ding wußte schon, daß Lernen Geld kostet und daß wir Beide jeden Monat ein paar Gulden zur Schule mitnehmen mußten, in deren oberster Classe ich, und in deren unterster meine Schwester war.

So sehr es mich auf der einen Seite freute, daß meine Mutter dem Schauspieler einen Korb gegeben, so sehr verletzte mich ihre Aufrichtigkeit in Beziehung auf meinen Vater, der in seiner ganzen Schönheit und Liebenswürdigkeit in meinem Kindesherzen strahlend dastand.

Nachdem August abgereist war, kam eine entsetzliche Prüfung über mich. Meine Mutter, deren Contract abgelaufen, erhielt durch seine Vermittelung eine Auffoderung von seiner Intendanz, einen Cyklus von Gastrollen zu geben. Sie wollte uns natürlich mitnehmen, aber einige Tage vor der Abreise besuchte uns Heliodora. Sie stellte meiner Mutter, wahrscheinlich, wie ich jetzt vermuthe, auf August's Veranlassung, vor, wie viel bequemer und leichter und wohlfeiler sie zur Residenz reisen und auch wie viel besser sie dort leben könne, wenn sie uns die festgesetzten vier Wochen hindurch zurücklasse. Sie, Heliodora, wolle zu uns ziehen, da sie ohnedies ihre Wohnung gekündigt, und wolle uns hüten wie eigene Kinder und jede Woche zwei mal meiner Mutter Bericht über uns erstatten.

Mit einer wahren Todesangst blickte ich in das Gesicht meiner Mutter, was sie wol sagen werde – es kam mir vor, als hinge von ihrem Ausspruche Leben oder Tod für uns ab.

Nach langem Besinnen sagte sie zu – mich fragte sie nicht, denn sie dachte gar nicht, daß mir diese Trennung besonders unangenehm sei; behielt ich ja doch meine Schwester, die ich so sehr liebte, bei mir; von meinem Widerwillen gegen Heliodora wußte sie nichts. Sie sagte:

Aus zwei Gründen bringe ich das Opfer, das mir wirklich schwer fällt. Erstens um Paula nicht aus ihrem Unterrichte, den sie so gut benutzt, herauszureißen, und zweitens um des leidigen Geldes willen. Wenn ich die Kinder mitnehme, deckt das Honorar für die Gastrollen gerade meine Reise und den Aufenthalt dort; wenn ich sie aber hier lasse, kann ich, ohne von neuem Schulden zu machen, für mich und die Kinder einige Kleidungsstücke kaufen, die uns ganz unentbehrlich sind.

Wir blieben also. Den Tag über brachten wir in der Schule zu, den Abend aber genossen wir, wenn kein Theater war, was nur vier mal die Woche stattfand, Heliodora's Gesellschaft.

Heliodora war immer bemüht, uns an diesen Abenden möglichst früh in das Bett zu bringen.

Wir hatten nur ein Zimmer mit einem Alkoven, den aber nur ein Vorhang abschloß und worin zwei Betten standen, wovon das eine von meiner Mutter, jetzt von Heliodora, das andere von uns Kindern gebraucht wurde. Am ersten Morgen nach dem Abende, wo kein Theater gewesen, fiel mir auf, daß Heliodora's Bett früh Morgens noch unberührt war. Ich fragte sie, ob sie nicht geschlafen – sie antwortete mürrisch, sie habe die Nacht auf dem Canapee zugebracht. Ich glaubte das nicht, denn sie sah überwacht aus und gähnte den ganzen Tag. Am nächsten Abend, wo sie wieder zu Hause blieb, fiel mir auf, daß sie ihre Locken erst spät, als ich schon meine Schwester zu Bett gebracht, aus den Papilloten wickelte – dazu trieb sie mich fortwährend, mein Zubettgehen zu beeilen. Ich war noch gar nicht schläfrig, aber ich legte mich zu meiner Schwester und hörte nun, mit offenen Augen daliegend, wie draußen vor dem Vorhange Heliodora die Commodenschieblade öffnete und offenbar Toilette machte. Mantel und Hut nahm sie auch heraus und hängte sie dicht vor dem Alkoven auf einen Stuhl. Dann hörte ich leise Männerschritte die Treppe heraufkommen. Heliodora kam rasch mit dem Licht an mein Bett; aber in meiner Angst und ohne eigentliche Ueberlegung stellte ich mich schlafend, wie meine kleine Schwester es wirklich war.

Heliodora trat nun ins Zimmer zurück, und ich hörte die Thür sich öffnen und Heliodora flüstern:

Warum kommen Sie trotz meines strengen Verbots hierher – das kann meinen Ruf zu Grunde richten – die Kinder können aufwachen, die Hausleute können Sie sehen – ich war ja eben im Begriff, zu kommen! Eine tiefe Männerstimme, die ich nie gehört, sagte nur: Ich konnte meine Sehnsucht nach dir nicht länger zügeln!

Sie antwortete in demselben Tone – ich mußte Alles mit anhören, und es währte wol eine Stunde, ehe das unwürdige Geschöpf, dessen Unterhaltung mit einem ebenso unwürdigen Liebhaber vor meiner Kinderseele einen Abgrund geöffnet, der mir ewig hätte verschlossen bleiben sollen, endlich das Haus verließ, um wahrscheinlich erst am Morgen zurückzukehren.

Noch mehre Abende kam der fremde Mensch, um die Heuchlerin abzuholen, und ich mußte immer wach sein und ihre fürchterlichen Unterhaltungen mit anhören!

Am zweiten Tage schrieb ich an meine Mutter und trug den Brief zur Post, als ich nach der Schule ging – aber die volle Wahrheit konnte ich armes Kind ihr ja nicht schreiben, und was ich statt deren als Ursache einer schleunigen Rückkehr für sie angab, machte keinen Eindruck auf sie. Sie schrieb mir freundlich, ich möge mich gedulden, sie werde bald kommen und hoffentlich einen Anstellungsvertrag mit dem Hoftheater mitbringen.

Sie blieb noch lange fort und brachte doch keinen Vertrag mit. Sehr verstimmt kam sie bei uns an, und nur die Liebkosungen meiner kleinen Schwester vermochten ihr endlich ein Lächeln zu entlocken.

Sie war nun mehre Monate ohne Engagement. Endlich fand sie wieder eins, aber ein durchaus ungenügendes, in einer kleinern Stadt, und wie das immer so zu gehen pflegt, wenn Jemand einmal im Herabsteigen begriffen ist, so geht das unaufhaltsam weiter, bis wir, fünf Jahre nachdem wir aus dem Hause meines Vaters geschieden, wieder auf demselben Punkte standen, wo wir damals gestanden, nämlich bei einer wandernden Truppe.

Ich war nun in meinem dreizehnten Jahre und meine Schwester im neunten – ich mußte sie jetzt selbst unterrichten, da es meiner Mutter unmöglich war, noch das Schulgeld für uns zu erschwingen. Die Abende, wenn sie spielte, brachte ich damit zu, unsere mehr als dürftigen Kleider auszubessern. An einem solchen Abende, wo ich vor dem Bette meiner schlafenden Schwester saß und nähte, wurde, ohne Anpochen, die Thür des Zimmers geöffnet, und ein Mann in Reisemantel und Hut trat ein. Ich nahm unser kleines Lämpchen zur Hand und trat ihm entgegen.

Da sagte er mit einer Stimme, die ich beim ersten Tone wiedererkannte: Paula!

Ich ließ die Lampe fallen, und weinend, zitternd warf ich mich in seine Arme – es war mein Vater! Ich eilte nun auf den Gang, um das Lämpchen wieder anzuzünden und bei dessen Scheine die theuern Züge zu erblicken.

Er war sehr verändert, aber er schien mir noch immer der schönste Mann, den ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte.

Meine erste Frage war: Du gehst doch nicht gleich wieder von uns? – denn er hatte den Mantel und Hut nicht abgelegt.

Im Gegentheil, ich komme, um euch zu holen; gleich augenblicklich sollt ihr mir folgen; im Gasthofe, wo ich wohne, habe ich ein Zimmer für euch bestellt.

O Vater, welch ein Glück!

Er schloß mich in seine Arme, denn mein krampfhaftes Weinen rührte ihn tief.

Wo ist deine Schwester? fragte er nun.

Hier schläft sie.

Er trat zum Bette des Kindes, das wie ein schlafender Engel aussah – wie sie überhaupt das schönste und lieblichste und liebenswürdigste Geschöpf war, das ich je gesehen.

Du mußt sie wecken und ankleiden, damit sie uns folgen kann.

Aber die Mutter kann ja doch nicht vor einer Stunde nach Hause kommen! Laß die Kleine schlafen, lieber Vater, so lange wenigstens noch!

Wir wollen gehen, ehe die Mutter zurückkommt.

So geht die Mutter nicht mit? fragte ich, tödtlich erschrocken.

Sie wird nicht wollen, sagte mein Vater, das Gesicht abwendend.

O gewiß, es geht ihr schon lange so kümmerlich – wir wissen oft nicht, was wir essen sollen.

O Paula, mein armes Kind! du sollst jetzt keinen Mangel mehr leiden. Komm nur und wecke deine Schwester.

Ich that es mit schwerem Herzen. Es dauerte lange, ehe mein Schwesterchen begriff, was wir von ihr wollten. Den Vater kannte sie nicht mehr und fürchtete sich vor seinem langen Bart; es kostete mir große Mühe, sie zu überreden, sich von ihm küssen zu lassen.

Ich kleidete sie an; aber gerade als sie fertig war und mein Vater sie und mich an die Hand nahm, um das Zimmer zu verlassen – ich sah, wie er vorher einen versiegelten Brief auf den Tisch legte – sprang die Thür auf und meine Mutter trat ein.

Es war, als errathe sie augenblicklich Alles; denn obgleich sie meines Vaters Gesicht nicht sehen konnte, weil er dem Licht den Rücken zuwandte, schrie sie hastig: Was wollt Ihr … was geht hier vor … wer will mir meine Kinder nehmen?

Ich will mir meine Kinder holen, sagte hart und doch mit schwankendem Tone mein Vater.

Nie werde ich diesen Augenblick vergessen. Als meine Mutter die Stimme meines Vaters vernahm, ergriff sie die Lampe vom Tisch, leuchtete ihm dicht vor das Gesicht, und indem ihre Züge den Ausdruck einer unaussprechlichen Mischung von Zorn, Furcht, Rührung und Trotz zeigten, faßte sie seine beiden Arme und rief mit einer Stimme, die halb weinend und halb lachend klang: Bei dem allmächtigen Gott, sag mir's, Paul, bist du's wirklich?

Er antwortete nicht gleich; aber nach einer Pause sagte er, ohne sie anzusehen: Laß mich die Kinder wegbringen, Emma, dann will ich zurückkehren und dir jede Aufklärung geben.

Auf meine Mutter, die ich in diesem Augenblicke tief bedauerte, machten die Worte ihres Gatten einen furchtbaren Eindruck. Todtenbleich trat sie zurück, und sich an die Stirn fassend, sagte sie tonlos:

Wie ist das, was höre ich: »Aufklärungen«, wann die Kinder fort sind? …

Eine Aufklärung kann ich dir schon jetzt geben, versetzte mein Vater. Mein Oheim ist todt und hat mich zum Erben seiner reichen Güter eingesetzt; es ist mir jetzt möglich, die Kinder erziehen zu lassen, wie es ihnen gebührt.

Stolz hob meine Mutter das Haupt und sagte: So habe ich sie erzogen. Paula spricht und schreibt, außer ihrer Muttersprache, geläufig drei fremde Sprachen – frage sie aus in der Geschichte, der Geographie; selbst das kleine achtjährige Kind hier spricht schon geläufig Französisch.

Ist das wahr? fragte überrascht mein Vater, und als ich bejahte, hellte sich sein Gesicht auf und er sagte freundlicher: Auch du sollst dich nicht über mich zu beklagen haben, Emma. Ein reiches Jahrgehalt …

Sie ließ ihn nicht ausreden. – Ich brauche kein Jahrgehalt für mich – was du mir für die Kinder zuweilen schicktest, habe ich zu ihrem Besten angenommen. Wenn du mir die Kinder nimmst, brauche ich nichts; aber – setzte sie mit einem lauten höhnischen Lachen hinzu – das wird nicht geschehen, ich gebe sie nicht her.

Das wollen wir sehen! sagte hart mein Vater. Als du vor drei Jahren an mich schriebst, um der Scheidung willen, hatte ich freilich noch kein Recht, vor den Schranken eines Gerichts dir die Kinder abzuverlangen – seitdem habe ich's erhalten.

Wodurch? fragte meine Mutter, ihre großen dunkeln Augen fest auf ihn richtend.

Durch – mein Vater blickte bedeutungsvoll auf uns Kinder – durch die Gastrollen, die du, bald nachdem du mir wegen der Scheidung geschrieben, auf die Veranlassung des Schauspielers August am Hoftheater zu N. gegeben!

Die Blässe im Gesichte meiner Mutter wich einer hohen Röthe; aber ohne die Augen niederzuschlagen, sagte sie mit gefaßter, ruhiger und ganz veränderter Stimme: Ja, es geschieht mir recht, ich kann mich nicht beklagen!

So gestehst du dein Unrecht ein? Wir verstehen uns nicht, sagte apathisch meine Mutter, und werden uns nie verstehen! Nicht dir habe ich die Treue gebrochen, damals als ich geschieden sein wollte und dann zur Residenz reiste, um ein Engagement durch August's Fürsprache zu erhalten; nein, ich brach mir die Treue selbst, mir bin ich untreu geworden, das ist mein ganzes Unrecht! – Ich, die leichte und leichtsinnige, aber offene und ehrliche Künstlerseele, wollte, weil mir das ewige Herumgeschleudertwerden Seele und Leib ermüdet, und um der Kinder willen in den Hafen des Philisterthums einlaufen, um Ruhe zu haben – das ist mein ganzes Unrecht!

Wer das glauben könnte! – »Um der Kinder willen« wolltest du dich von deren eigenem Vater scheiden lassen und ihnen einen Stiefvater geben?

Ja, weil der eigene Vater sie nicht ernähren konnte, wollte ich ihnen einen Stiefvater geben, der es vermochte.

»Um der Kinder willen« hast du an öffentlichen Orten, du, die Frau eines Offiziers und Edelmanns, dich am Arme eines Schauspielers herumgetrieben?

Ja, Alles um der Kinder und meiner Ruhe willen – meinem Herzen ist August ein Fremder.

Das glaube ich nicht, und Niemand wird glauben, daß eine Frau, die Kinder hat, auf eine Scheidung anträgt, nur um einen Mann zu heirathen, der ihr gleichgültig ist.

Mag es sein, sagte meine Mutter ruhig, ich füge mich ja, denn ich wiederhole, ich habe die Strafe verdient, weil ich meinem innersten Wesen, meiner mir vom Himmel beschiedenen Natur untreu wurde und der Klugheit folgen wollte – ich, die in ihrem ganzen Leben nur ihrem Impuls gefolgt ist!

Hast du mir sonst noch etwas zu sagen, Emma, ehe ich mit den Kindern gehe?

Du wirst nicht mit ihnen gehen!

Ich werde es thun!

Meine Mutter wurde bei diesen Worten schrecklich. Sie riß uns Beide an sich und schrie mehr, als sie sprach: Versuche es, sie mir zu nehmen! Nur mit meinem Leben erhältst du sie!

Meine Schwester klammerte sich weinend an der Mutter Hals; ich fiel vor ihr auf die Knie – da schien, wie so oft, ein plötzlicher Einfall ihren beweglichen Sinn zu ändern.

Wohlan, sagte sie, ich habe mich besonnen, wir wollen uns dem Ausspruche der Kinder selbst unterwerfen – sie sollen sagen, zu wem sie sich wenden wollen.

Wie ist es, Paula, fragte sie mich, indem sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit mich an sich riß, mit wem willst du gehen, mit Vater oder Mutter? Willst du mich verlassen, mein erstgeborenes, theuer erkauftes Kind?

Ich sah vom Vater zur Mutter. Beider Züge hingen mit ängstlichster Spannung an den meinigen – meine Thränen begannen zu fließen, ich fiel wieder auf meine Knie und rief:

Verschont mich mit dieser entsetzlichen Wahl; fragt erst meine Schwester, sie kennt noch nicht die ganze fürchterliche Bedeutung dieser Frage!

Als aber nun meine Mutter fragte: Kind, willst du bei mir bleiben oder auf ewig von mir gehen mit deinem fremden Vater hier? – trat auch mein Vater dem lieblichen Kinde, das auf dem Arme der Mutter hing, näher und fragte schmeichelnd: Nicht wahr, du gehst mit mir, mein süßes Kind? Paula geht auch mit.

Das Kind aber barg sein Haupt an der Brust der Mutter, wehrte den Vater ab und schrie schluchzend: Ich bleibe bei meiner lieben, guten Mutter, bei meiner einzigen Mutter.

Und du, Paula? fragte nun mein Vater.

Was vor einer Stunde mir nicht schwer geworden, war mir nun furchtbar.

Obgleich es mir förmlich vor der Mutter schauderte, seitdem ich aus ihrem eigenen Munde vernommen, daß sie sich hatte von meinem Vater scheiden wollen, um August zu heirathen, und dieser Plan nur an meines Vaters Weigerung, uns herzugeben, gescheitert sei – dauerte sie mich doch jetzt unaussprechlich, da ich den ganzen Umfang ihrer traurigen Lage kannte, wie ich sie auch hinreichend kannte, um zu wissen, daß sie jetzt keine Unterstützung mehr von meinem Vater annehmen werde. Und dann meine Schwester! Ich liebte das süße Kind mehr als mich selbst – mich von ihm zu trennen, dünkte mir unmöglich.

Aber mein Vater nahm meine Hand und sagte: Paula, du siehst, daß es deine Pflicht ist, mit mir zu gehen!

Ich stand auf, ich wollte meine Mutter umarmen, aber sie fühlte, daß es zum Abschied sein solle, und stieß mich zurück.

Geh – sagte sie bitter – du hast nie ein Herz für mich gehabt!

Auch meine kleine Schwester gestattete sie mir nicht zu küssen. Mein Vater nahm mich an die Hand und führte mich hinaus. Unten hielt ein Wagen, wir stiegen ein. Ich zerfloß in Thränen.

Beruhige dich, Paula, sagte freundlich mein Vater, die Kleine hole ich auch noch!

Ich antwortete nichts. An einem großen Hause fuhren wir in ein offenes Thor ein. In einem prachtvoll möblirten Zimmer stand ein gedeckter Tisch für drei Personen. Mein Vater hieß mich niedersitzen und nahm Platz mir gegenüber. Aber der Bissen quoll mir im Munde und ich gab es bald auf, etwas genießen zu wollen.

In einem kleinen Cabinet, anstoßend an meines Vaters Schlafzimmer, stand ein zierliches Bett für mich. Aber ich konnte nicht schlafen und vermißte zu schmerzlich die Schwester, mit der ich seit vier Jahren ein Bette getheilt und die immer in meinen Armen geschlummert!

Am Morgen kam eine Frau, die mir das Maß zu Kleidern und Mänteln nahm. Mein Vater wählte selbst die Stoffe, und nachdem er mich zärtlichst beruhigt hatte, ging er, wie er sagte, um noch ein mal meine Mutter zu sprechen.

Er kam nach kurzer Zeit sehr verstimmt zurück; aus seinen Andeutungen entnahm ich, daß er mit meiner Mutter noch einen sehr heftigen Auftritt gehabt, der ihn sehr gegen sie erbittert hatte. – –

Soweit hatte meine Freundin erzählt, als unsere Angehörigen nach Hause kamen. Mit weit größerm Interesse musterte ich nun die Züge von Paula's Vater, der mit unendlicher Zärtlichkeit sich nach dem Befinden seiner Tochter erkundigte. Seitdem ich die Vergangenheit dieses Mannes kannte, war er mir viel merkwürdiger. Er gehörte zu den Menschen, deren wohlwollender und heiterer Charakter ihnen die Freundschaft Aller, die mit ihnen umgehen, sichert, und je mehr ich ihn beobachtete, desto mehr verwunderte ich mich über seine Strenge gegen Paula's Mutter. Natürlich konnte ich kaum den Tag erwarten, wo die Andern uns Beide wieder allein lassen würden und ich aus Paula's Munde die Fortsetzung ihrer mir so abenteuerlich erscheinenden Jugendgeschichte erfahren sollte.

Paula's Gesundheit stärkte sich sehr rasch, sie ging jetzt wieder mit den Ihrigen aus, und so verflossen mehre Tage, bis wir einmal ganz ungestört uns selbst überlassen waren; mit der größten Spannung saß ich endlich an einem sonnigen Märztage Paula gegenüber am Fenster, dessen Flügel bis zum Fußboden reichten und meiner matten Lunge die kräftigende Seeluft zuströmen ließen. Paula begann:

Welch ein Contrast trat nun in mein Leben! Aus ganz untergeordneten, ja ärmlichen Verhältnissen plötzlich in die glänzendsten versetzt! Der Oheim meines Vaters war sehr reich gewesen, viel reicher, als man glaubte, und außer den großen Gütern erhielt mein Vater auch noch bedeutende Capitalien aus dem Nachlaß. Diesen ganzen Schatz dankte er übrigens nur einer zornigen Aufwallung, wie er mit Beschämung später selbst gestand. Ein Freund, der ihn noch bei Lebzeiten des Onkels besuchte, erzählte in Gegenwart des letztern, daß meine Mutter, die er früher, als sie noch mit meinem Vater vereinigt war, kennen gelernt hatte, kürzlich in der kleinen Residenz, wo er lebte, Gastrollen gegeben und dort allgemein für die Braut August's gegolten habe, an dessen Arm sie sich auch öfter auf der Straße, in Concerten und auf Spaziergängen sehen lassen. Als mein Vater, schmerzlich berührt, nun nach uns Kindern fragte, sagte sein Freund, wir seien gar nicht mit dort gewesen, sondern, wie ihm meine Mutter selbst gesagt, als er sie in einem Concerte angesprochen, unter der Obhut einer Freundin an unserm bisherigen Wohnort zurückgeblieben.

Darüber daß sie uns verließ, uns, die sie ihm doch so beharrlich abgeschlagen, war nun mein Vater so empört, daß er aufsprang und ausrief: Das trennt uns unwiderruflich! Nun soll sie nie mehr meine Schwelle betreten! – Ist das dein Ernst? fragte der alte Onkel. Und mein Vater, gereizt wie er war, sagte heftig: Darauf mein Ehrenwort!

Der alte Herr aber versetzte mit sehr freundlicher Miene: Dann treten wir wieder in das alte Verhältniß, und du bist wieder für mich, was du vor deiner Verheirathung warst.

Mein Vater hatte nun, mit der Zustimmung seines Oheims, an meine Mutter geschrieben, um uns Beide von ihr zurück zu verlangen. Sie schlug ihm das entschieden ab und versicherte, nur von der Gewalt sich ihre Kinder entreißen lassen zu wollen. Eine Scheidungsklage wollte mein Vater durchaus nicht einreichen, denn sein Gefühl schauderte vor dem Gedanken, die schmerzlichen Beziehungen zur Mutter seiner Kinder, der einzigen Frau, die er je geliebt, der unbarmherzigen Oeffentlichkeit preiszugeben; er fürchtete, und wol auch mit Recht, uns beiden Mädchen einen Flecken auf unser ganzes künftiges Leben aufzudrücken.

Da starb der Oheim und hinterließ meinem Vater einen Reichthum, den er nun vielleicht gern mit meiner Mutter getheilt hätte – denn mein Vater ist eigentlich grenzenlos gutmüthig und versöhnlich – hätte ihn nicht das erste Wort im Testamente meines Oheims an die Verpflichtung erinnert, die er damals im Zorn eingegangen. Diese Clausel lautete:

»Nachdem mein Neffe mit seinem Ehrenwort beschworen, nie seine Gattin wieder unter sein Dach aufnehmen zu wollen, bin ich bereit, ihn in seine alten Rechte einzusetzen, und erkläre ihn deshalb zu meinem Universalerben, so lange und sofern er seinem Worte treu bleibt« u. s. w.

Mein Vater war nun abgereist, um uns zu holen, und obgleich er entschlossen gewesen, um jeden Preis uns Beide in sein schönes Schloß zu bringen, so hatte doch die Festigkeit meiner Mutter und wol auch seine eigene Gutmüthigkeit ihn dahin gebracht, nur ein Kind mit sich zu nehmen.

Ich bekam jetzt eine Gouvernante; mein Vater lud seine alten Freunde auf sein Schloß und führte mit ihnen ein Leben, das ihn entschädigen sollte für die entbehrungsvolle letzte Zeit, wo er in einer abhängigen und traurigen Stellung sich bei seinem Oheim aufgehalten.

Wir wären Beide wol ganz glücklich gewesen, hätte Jedes nicht einen Stachel in der Brust getragen – den Gedanken an die ferne Mutter und das Kind, die vielleicht mit Noth und Elend kämpften, während wir in Fülle und Reichthum lebten.

Soll ich Ihnen unser ungarisches schönes Schloß beschreiben – das große massive Gebäude mit seinen hohen Fenstern, seinen Wandmalereien, seinem prächtigen Park, mit seinen Weinbergen und Fischteichen, mit seinen malerischen Bauern mit weißen Pelzen um die Schultern und dem breitkrämpigen Hut auf dem Kopfe, mit seinen Zigeunern und ihrer melancholischen Nachtmusik? O Ungarn – nach Italien das schönste Land der Welt, mit deinem warmen, wonnigen Klima, deiner üppigen Fruchtbarkeit und deinem Wälder- und Wiesenreichthum!

Es war wie ein Anfall von Heimweh, der über Paula kam; sie bedeckte die Augen mit den Händen, wie um in ihrem Innern stille das Bild ihrer Heimat vorüberziehen zu lassen. Ich wollte sie nicht stören, und es dauerte eine Weile, ehe sie weiter erzählte:

Eines Abends traf mich mein Vater in Thränen – er wollte nicht ruhen, bis ich ihm die Ursache meines Kummers gestanden. Endlich sagte ich: Ich dachte an meine Schwester! Denn von der armen Mutter wagte ich nicht zu sprechen.

Am andern Morgen war er abgereist, ohne von mir Abschied zu nehmen. Meine Gouvernante, eine gutmüthige junge Engländerin, suchte mir die Einsamkeit soviel als möglich zu erheitern, was mein Vater, der mich damals liebte wie heute und immer, ihr anempfohlen. Den nächsten Winter wollte er mit mir in Wien zubringen, damit ich meine musikalischen Studien vervollkommne, den darauffolgenden in Paris – aber meine Gouvernante, mein Stubenmädchen und meines Vaters Kammerdiener freuten sich alle drei weit mehr als ich auf diese Reise. Ja, ich fürchtete sogar eine Rückkehr in die Stadt, weil ich meinte, Manches könnte mich dort an eine Vergangenheit mahnen, die ich um jeden Preis vergessen wollte!

Nach einigen Wochen saß ich eines Abends allein im Garten – ich hatte nur wenige Briefe von meinem Vater erhalten, und in jedem schrieb er, er hoffe, das sei der letzte, und nächstens werde er wieder bei mir sein. Aber er kam immer noch nicht, und ich dachte mit großer Sehnsucht an ihn, als plötzlich seine Stimme hinter mir erscholl.

Da ist sie! sagte er.

Ich sprang auf; aber was sah ich – an der Hand meines Vaters mein süßes kleines Schwesterchen!

Ich war außer mir vor Entzücken, ich hob das reizende Kind auf meine Arme und konnte mich nicht satt freuen an seinem wiedergefundenen Besitze!

Auch sie freute sich offenbar des Wiedersehens; aber als ich sie Abends wieder, wie früher, in mein Bett legte, sagte sie doch ganz traurig: Ich wollte, die Mama wäre bei mir!

Als sie schlief, ging ich zum Vater, um ihn nach meiner Mutter zu fragen, und wie es gekommen, daß sie sich jetzt von ihrem Liebling getrennt.

Erst schwieg er; dann sagte er ausweichend: Das Kind war ihr gerade ungelegen, weil sie eine größere Reise antreten mußte; aber ich fürchte, sie wird es wiederhaben wollen, wenn sie zurückkehrt; du darfst darum deine Schwester nicht von dir lassen, denn deine Mutter wäre im Stande, sie uns mit Gewalt zu entführen.

Hatte er dies nicht selbst gethan? Ich hoffte, daß mir meine Schwester es von selbst mittheilen werde, denn sie zu fragen, wie sie zu uns gekommen, dazu hatte ich nicht den Muth. Aber ich erfuhr doch nichts Entscheidendes von dem Kinde – nichts, woraus ich schließen konnte, ob unsere Mutter sie freiwillig oder gezwungen von sich gelassen. Nur Schilderungen eines höchst traurigen und ärmlichen Lebens machte mir das Kind, da es der Mutter in der letzten Zeit nicht gelungen war, ein festes Engagement zu finden. Als ich meinem Vater davon einige schüchterne Worte sagte, brach er in Klagen aus, daß meine Mutter beharrlich jede Unterstützung von ihm zurückweise; er nannte das Eigensinn!

Der Winter kam und wir gingen nun nach Wien, was mich um meiner Schwester willen freute; denn das Kind war, seitdem wir uns getrennt hatten, in seinem Unterrichte sehr zurückgekommen, wahrscheinlich weil es meiner Mutter an Geduld gefehlt, um es selbst zu unterrichten, und an Geld, um es durch Andere unterrichten zu lassen.

Wir erhielten aber vortreffliche Lehrer und meine Schwester hatte das Versäumte bald nachgeholt. Sie fing auch jetzt an, weniger von der Mutter zu sprechen, die in den ersten Wochen der immerwährende Gegenstand ihrer Sehnsucht gewesen; ich erinnerte sie nicht daran, denn mir war jede Mahnung an meine Mutter wie ein Schmerz, und der Gedanke an sie verließ mich Tag und Nacht nicht; er verbitterte mir die Freude an allem Glanze, der mich umgab.

Eines Abends waren wir in der italienischen Oper, als meine Schwester plötzlich meine Hand ergreifend rief: Sieh, Paula, sieh die Mutter hinter den Coulissen! – Ich sah nichts mehr, aber die Kleine blieb bei ihrer Versicherung und behauptete sogar, daß die Mutter ihr gewinkt habe.

Es war einige Tage später, mein Vater war auf einer großen Jagdpartie und ich nach unserm ziemlich späten Essen noch bei meiner Schwester, um ihr bei ihren Aufgaben behülflich zu sein, als unser Stubenmädchen kam, um mir zu sagen, drunten warte eine Frau, die ich bestellen lassen.

Ich habe Niemanden bestellt! sagte ich.

Sie ging und kam dann wieder mit einem Zettelchen, worauf mit Bleifeder ein paar Worte geschrieben standen. Es sei der Name der Frau, sagte das Mädchen.

Ich hielt das Zettelchen dicht an die Lampe und las zu meiner unaussprechlichen Erschütterung: Tua Madre!

Meine Mutter! Ich wollte selbst hinuntereilen, aber ich besann mich und sagte dem Mädchen, sie solle schnell die Fremde heraufführen und uns allein lassen, sowie sie auch die Gouvernante bitten möge, uns nicht zu stören, da die Fremde mir etwas mitzutheilen habe.

Ich benachrichtigte nun mit fliegenden Worten meine Schwester, wer eintreten werde – ihre Freude war grenzenlos!

Endlich öffnete sich die Thür, die ich sogleich verriegelte, während meine Mutter mit ängstlicher Lebhaftigkeit ihr jüngstes Kind an sich riß.

Mutter – kennst du mich gar nicht mehr? fragte ich traurig, indem ich ihren Arm berührte.

Sie wandte sich um – ihr Gesicht hatte einen mir fremden Zug angenommen, etwas Wildes, Scheues, was ich früher an ihr nie bemerkt hatte. Ihre Kleidung war ärmlich, aber anständig.

Wenn du mich nicht vergessen hast, Paula, ich habe es nicht! sagte sie ziemlich kalt. Ich aber kniete vor sie hin, und ihre Hände von meiner Schwester abziehend, rief ich weinend: O, wenn du wüßtest, wie ich um dich gelitten!

Wirklich? sagte sie, indem ihre Augen leuchteten; ich werde deine Liebe auf die Probe stellen.

Thue das, Mutter, thue das!

Gib mir deine Schwester mit – ich kann nicht ohne sie leben – ich fühle, daß ich untergehe ohne ein Kind! Und jener kaum bemerkbare Zug, der mich vorhin so an ihr betroffen, trat in einer Weise hervor, daß ich darob mich entsetzte.

Was wird der Vater sagen?

Der Vater hat dich – du bist sein Liebling.

Nicht mehr, sagte ich, seitdem sie da ist.

Er ist jetzt für mehre Tage fern von hier – ich nehme sie mit – Paula – du kannst, du darfst deiner unglücklichen, verlassenen Mutter den einzigen Trost nicht versagen.

Aber, meine Mutter, bedenke ihre Erziehung – Alles wird dann wieder vernichtet – der Vater kann soviel darauf verwenden.

Das kann ich freilich nicht; ich kann sie auch nicht so schön kleiden, nicht mit soviel Süßigkeiten füttern – du selbst sollst ja im Schoose des Reichthums bleiben, gönne deiner armen Mutter auch ihr einzig Kleinod. Willst du wieder mit mir gehen, mein Kind? fragte sie, indem sie schmeichelnd meine Schwester aufhob.

Die Kleine schlang beide Arme um den Hals der Mutter und rief: Dich habe ich am liebsten – doch dann setzte sie gutmüthig hinzu: Dich und Paula!

Werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen sage, daß meine Mutter zuletzt das Kind mitnahm, und daß ich nichts Anderes vermochte, als im letzten Augenblicke der Kleinen noch einige Goldstücke in ihr Schürzentäschchen zu stecken, die mir mein Vater am Abend vorher für meinen kleinen Schmuck geschenkt?

Der Gouvernante und dem Mädchen sagte ich, mein Vater habe meine Schwester zu einer Verwandten holen lassen. Aber mein Vater, als er zurückkam – o, der war zum ersten male böse auf mich und so verzweifelt um das Schicksal seines jüngsten Kindes, daß ich mir selbst bittere Vorwürfe machte.

Deine Mutter kann kein Kind erziehen! rief er, sie wird das schöne, reine Geschöpf nur zu Grunde richten, wie sie sich selbst zu Grunde gerichtet hat!

Er ließ nachforschen, aber keine Spur war von den Beiden zu entdecken. Auch den nächsten Sommer, den wir wieder auf unserm Gute zubrachten, vernahmen wir keine Silbe von ihnen, und im darauffolgenden Winter gingen wir auch nicht nach Paris, wie mein Vater beabsichtigte, weil er immer noch hoffte, die Spur meiner Schwester wieder aufzufinden; aber der Winter und auch der zweite Sommer brachte nichts von ihnen.

Mein Vater machte öftere Reisen, und ich bin überzeugt, daß sie einzig und allein den Nachforschungen nach meiner Schwester galten, obgleich er mir nichts darüber sagte. Und dennoch glückte es ihm zuletzt, sie aufzufinden; wo und wie, hat er mir nicht gesagt, aber meine Schwester, die er zwar in elendem Aufzuge, aber in blühender Gesundheit in meine Arme zurückführte, theilte mir darüber mit, was sie wußte.

Unsere Mutter war in der letzten Zeit Garderobiere bei einem Theater in P. gewesen, weil ihre zunehmende Heiserkeit ihr das Auftreten auf der Bühne für längere Zeit nicht gestattete. Statt dessen hatte meine Schwester die Breter betreten und erzählte mir jetzt, wie sie zu allgemeinem Applaus alle Kinderrollen dort gespielt. Ihre unvergleichliche kindliche Schönheit, – sie war, obgleich sie jetzt zehn Jahre zählte, noch ziemlich klein und zart, – ihre Lebhaftigkeit und ihre rasche Fassungsgabe hatten sie freilich auch besser für die Bühne geeignet als mich; überdies hatte sie Freude daran.

Da erkrankte meine Mutter, und zwar so sehr, daß man sie zum Krankenhause brachte, freilich gegen ihren Willen. Sie ließ nun von dort aus meinem Vater schreiben, er möge meine Schwester holen; wahrscheinlich fürchtete sie zu sterben und konnte doch den Gedanken nicht ertragen, ihr Kind dann unter den Schauspielern zurückzulassen, bei denen es sich eben aufhielt und die das schöne Kind gern behalten hätten. Mein Vater kam sogleich, nahm seine Tochter zu sich und ging dann in das Krankenhaus, wo er für meine Mutter ein besonderes Zimmer und besondere Pflege miethete und auf lange Zeit voraus bezahlte und befahl, daß man ihm alle Wochen Nachricht gebe.

Nach einer schmerzlichen Trennung von der Mutter war mein Schwesterchen jetzt wieder bei mir; aber ich sah wohl, daß sie trotz allen unsern Bemühungen sich schon nicht mehr so gut wie das erste mal bei uns finden konnte; sie gestand mir auch, daß sie hoffe, die Mutter werde sie bald wieder zu sich holen. – Sie hat es mir versprochen, sagte sie mir heimlich; sobald sie wieder gesund ist, nimmt sie mich wieder zu sich.

Auch ihr Unterricht war nicht so leicht wieder in guten Gang zu bringen, wie das erste mal; anderthalb Jahre Müßiggang hatten ihren lebhaften Geist zu sehr von jeder geregelten Thätigkeit entwöhnt, obwol sie viel gelesen und mit ihrem glänzenden Gedächtniß sich alles Möglichen bemächtigt hatte.

Wahrscheinlich um sie der Mutter recht fern zu bringen und jeden Gedanken an sie zu vertilgen, beschloß nun mein Vater, uns nach Paris zu bringen. Ich war funfzehn Jahr alt, aber geistig und körperlich völlig erwachsen. Nun beginnt meine Liebesgeschichte, die wir aber mit frischen Kräften morgen anfangen wollen. – –

Am folgenden Tage erzählte mir Paula weiter:

Wir machten in Paris ein Haus aus. Meine Schwester war in eine Pension gegeben worden, sehr gegen meinen Willen, aber mein Vater behauptete, der Aufenthalt im Kloster werde sie am ersten und besten an ein stilles und geregeltes Leben gewöhnen, ihr am ersten die Erinnerung an die Schauspielerin, wie er sagte, vertreiben.

Wir sahen viele Menschen bei uns, und eine ältere weitläufige Verwandte meines Vaters war zu uns gekommen, um mich in die Welt zu führen.

Unter den jungen Männern, die in unser Haus kamen, zeichnete sich ganz besonders der Graf, mein jetziger Mann, aus. Nicht nur durch sein edles, wenn auch nicht schönes Aeußeres, sein ernstes, männliches Benehmen, seine Kenntnisse wußte er uns einzunehmen, nein, auch durch die Art, wie er es als ein Glück zu betrachten schien, in unserm Kreise verweilen zu dürfen. Er ist, wie Sie wissen, ein Norddeutscher, ein Schlesier, und bei den zahllosen Debatten, die er mit meinem Vater über süd- und norddeutsche Vorzüge hatte, fiel mir immer auf, wie viel strenger, enger und wählerischer er die Grenzen des Schönen und Schicklichen zog, als mein Vater, dem eigentlich Alles gefiel, was natürlich und was irgend moralisch berechtigt war.

Mein Vater fragte mich einmal ganz unvorbereitet, ob ich den Grafen heirathen wolle, er habe um meine Hand angehalten. Ich liebte ihn noch nicht, nein. Der Gedanke der Liebe lag mir ja überhaupt fern und weitab; aber der Graf gefiel mir so wohl, daß ich meinem Vater antwortete, ich könne mir nur denken, daß, wenn ich heirathe, ich dem Grafen meine Hand geben werde. Er brachte ihm diese Antwort und verlobte uns darauf, ohne mich weiter zu fragen.

Nun kam die glücklichste Zeit meines Lebens – eine Zeit, so schön, daß ich jetzt nur noch mit schmerzlicher Rührung daran denken kann. Mein Verlobter war den ganzen Tag mit uns zusammen, seine Liebe weckte bald die meine, seine Aufmerksamkeiten meine Dankbarkeit und sein ganzes Wesen, seine ganze Erscheinung meinen Stolz. Ich fühlte mich in meinem Glücke gar nicht mehr auf der Erde!

Von dem herrlichsten Winterwetter begünstigt, besuchte ich an seinem Arme, während mein Vater meine Tante führte, die Galerien, die Sammlungen, die Kirchen, die schönen Lustschlösser um Paris; jeder Tag brachte einen neuen Ausflug. Er erklärte und zeigte mir Alles, und Alles erschien mir dadurch im glänzendsten Lichte. Ein einziger trüber Regentag sollte all mein Glück zerstören.

Ich hatte ihn bisher beinahe nie ruhig allein gesprochen, denn wie gesagt, jeden Tag, vom Frühstück bis zum Diner, waren wir draußen und die Abende immer Alle im Salon um den Kamin versammelt.

Wir hatten an diesem Tage vorgehabt, den Louvre wieder zu besuchen, aber ein dichter, die Luft verdunkelnder Regen ließ uns den Plan aufgeben, und nach dem Frühstück (mein Vater war in seinem Zimmer, meine Tante in dem ihrigen) saß ich zum ersten male ganz ungestört neben meinem Bräutigam.

Wie wäre es, Paula, sagte er nach einer kleinen Pause, wenn Sie mir gestatteten, Sie, wenn wir allein sind, du zu nennen?

Das kann ich schon gestatten, sagte ich lächelnd; die Gelegenheit, diese Erlaubniß zu misbrauchen, wird sich nicht oft bieten.

Misbrauchen – liebst du mich denn nicht?

Welche Frage!

Wenn du mich liebtest, wärest du neugieriger, du fragtest mehr nach meinen Verhältnissen, meiner Vergangenheit.

Wenn ich das nur unterließe, sagte ich lächelnd, doch mit einem unterdrückten schmerzlichen Seufzer, einzig und allein, damit ich nicht nach meiner Vergangenheit gefragt würde?

Mein Bräutigam lachte, und indem er meine Hand nahm, sagte er innig: Weißt du, weshalb ich mich um dich bewarb, ehe ich noch dich liebte? Das war eben einzig und allein – weil du keine Vergangenheit hast.

Wie verstehen Sie das? fragte ich gespannt.

Sieh, ich bin ein Mann, der eine Frau nur lieben kann, die rein ist wie der Schnee! Du bist erst sechzehn Jahre alt, von deinem Vater mit abgöttischer Liebe umhegt und umpflegt. Du hast nicht blos noch nicht selbst Liebe empfunden, nein, du hast auch noch nichts davon gesehen und gehört. Dein Ohr hat außerdem nie ein niedriges Wort gehört, dein Auge nie eine brutale Geberde gesehen. Du hast keinen Begriff von den schmutzigen und elenden Begierden der Menschen, von den Beweggründen des Handelns der meisten. Streit und Eigennutz, Zank und Geiz, Verstellung und Lüge sind dir fremd, ja sogar Verleumdung kennst du nicht, weil sie sich von dir zurückziehen muß. Du bist rein wie der Aether – ein solches Wesen war mein Ideal, seitdem ich den Schmutz der Welt kenne – ich Glücklicher habe es in dir gefunden!

Während mein Bräutigam so begeistert sprach, war ich todtenblaß geworden; ich fühlte nun mit einem male, daß ich, ohne es zu ahnen, einen ungeheuern Betrug gegen ihn geübt, indem ich, wie mir mein Vater anbefohlen, gegen meinen Bräutigam über meine Kindheit geschwiegen und ihn annehmen lassen, was ihm das Natürliche war.

Sie täuschen sich, sagte ich entschlossen, ich weiß mehr vom Leben, als Sie glauben.

Ohne den ernsten Ton meiner Worte zu beachten, lachte er laut auf; aber ich fuhr fort: Sie müssen mich anhören. Ich bin nicht immer bei meinem Vater gewesen. Bis zu meinem dreizehnten Jahre war ich bei meiner Mutter, die – hier stockte meine Stimme, aber ich überwand mich und sagte muthig – die Schauspielerin war!

Schauspielerin – Ihr Vater sagte mir, sie sei nicht von Adel gewesen, aber schon längst todt.

Mein Vater hatte Unrecht, sagte ich, schmerzlich berührt, daß mich mein Bräutigam jetzt schon nicht mehr »du« nannte.

Und Sie haben bei ihr gelebt?

Ja und in den ärmlichsten Verhältnissen, und ich habe da Dinge mit angesehen und gehört bei ihren Lebensgenossen, die zwar nur dazu gedient haben, mich schon in früher Jugend, wo die Begriffe von Tugend und Sitte uns noch ganz fremd sind, diese um ihrer selbst willen jeden Tag mehr lieben zu lassen, aber auch zugleich jede Illusion über das Leben in mir zu zerstören.

Aber Ihre Mutter hat Sie doch gewiß behütet vor zu naher Bekanntschaft mit ihrer Umgebung? fragte er in sichtbarer Angst.

Soviel sie konnte, gewiß. Doch einst, als sie verreist war und mich einer Freundin übergeben hatte, deren Sitten sie für die reinsten hielt, habe ich Dinge hören müssen – ich bedeckte mir schaudernd das Gesicht mit den Händen und rief: O, was hat diese Heliodora mir so weh gethan!

Heliodora! rief erschrocken der Graf– die kleine Soubrette mit dunkeln Haaren, eine geborene Elsasserin!

Ja ja, sie ist es – kennen Sie sie?

Er sprang auf. Es ist der Abschaum ihres Geschlechts! Wie lange waren Sie bei ihr?

Vier Wochen.

Und wie alt waren Sie damals?

Zehn Jahre – und wenn sie sich auch natürlich bei mir nicht ganz in ihrer wahren Gestalt zeigte, ich verstand nur zu gut ihr lasterhaftes Treiben, das mich mit unaussprechlichem Abscheu gegen sie erfüllte.

Er stand auf, er ging erschüttert im Zimmer auf und ab, er seufzte schmerzlich, wie von einer heftigen Pein bewegt – mein Stolz regte sich – ich selbst war mir ja keines Unrechts bewußt – und ich trat zu ihm und sagte ruhig:

Wenn Sie ein Mädchen nicht lieben können, welches nicht immer auf einer erhabenen, dem Elend und der Sünde unzugänglichem Höhe gelebt – thun Sie sich keine Gewalt an.

Er antwortete nicht gleich; aber nach einer Weile sagte er gepreßt: Ich muß jetzt einsam sein – ich muß ungestört Ihr mir noch so theures Bild aus dem Sumpf, in den Ihre Geständnisse es gestellt, wieder in die Alpenregion verpflanzen, in der ich es allein ertragen kann. Sie selbst sind ja nur der Schwan, den Andere mit Schmutz umgeben – und wenn Sie in Ihr reines Element untertauchen, sind Sie wieder schneehell, wie Sie gewesen.

Er ging nach Hause, und ich eilte zu meinem Vater, der mit schmerzlichem Erschrecken die Kunde meiner Geständnisse vernahm, mir aber doch keine Vorwürfe machte.

Mein Vater schrieb dem Grafen auf mein Bitten, daß er ihm sein Wort zurückgebe in dem Falle, wenn die veränderten Verhältnisse auch nur das kleinste üble Streiflicht auf mich in seinen Augen würfen.

Der Graf kam augenblicklich – er nahm seine Freiheit nicht an, ja er bemühte sich, in meiner und meines Vaters Gegenwart der Alte zu sein; aber es gelang ihm nicht.

Das größte Unglück war, daß ich meinen Bräutigam jetzt liebte – sein Erkalten schnitt mir durch die Seele und ich fing an zu kränkeln, ich, die seitdem ich lebte, mich der ungestörtesten Gesundheit erfreut hatte. Meine Schwester im Kloster besuchte ich öfter und konnte mich auch nicht enthalten, dem geistig gereiften Kinde meinen Kummer mitzutheilen.

Sie sagte zornig: Das ist nur Hochmuth von ihm!

Ach, versetzte ich traurig, der Vater sagt, hochmüthig seien alle Menschen – den Fehler dürfe man an Niemand rügen, der sonst gut und edel sei.

Dann hättest du das wissen und ihm nichts sagen sollen! eiferte das altkluge Kind.

Und ihn betrügen?

Sie antwortete mir nichts darauf, und ich muß gestehen, daß ich selbst Stunden hatte, wo ich meine Aufrichtigkeit bedauerte.

Der pariser Aufenthalt ging zu Ende. Mein Vater freute sich der Trennung vom Grafen, weil er hoffte, bis übers Jahr, wo unsere Hochzeit festgesetzt war, werde sich in der Entfernung Alles ausgeglichen haben.

Wir gingen nach Ungarn; mein Bräutigam begab sich nach Schlesien. So reisten wir denn ab – und welch ein Contrast mit meinem Kommen! Damals war mein Herz noch so leicht, die geliebte Schwester saß bei mir, und jetzt war mein Herz schwer von dem Gefühl getäuschter und gekränkter Liebe.

Ich war entschlossen, sobald ich in Ungarn zurück sei, meinem Bräutigam abzuschreiben; aber welche Kämpfe hatte ich da zu bestehen! Denn mein Vater, weil er sah, daß ich den Grafen liebte und durch seine Entfremdung litt, war auf des Grafen Seite. – Dieser selbst, obgleich der verklärende Schein um seine Liebe verschwunden war, fühlte doch zu sehr als Ehrenmann, um nicht die Ungerechtigkeit seines Betragens gegen mich einzusehen, und wollte nicht zurücktreten. Wir schrieben uns lange – mir unbeschreiblich schmerzliche Briefe, denn aus allen seinen Versicherungen klang mir doch nie mehr die alte echte Liebe heraus! Von diesen Qualen und Aufregungen wurde ich immer leidender – so schwach, daß ich beinahe das Zimmer nicht mehr verlassen konnte. – Meine Gouvernante, die treueste Seele der Welt, war meine einzige Vertraute.

Eines Morgens, wo ich mich besonders angegriffen fühlte, es war ein heißer Julitag und die Wärme spannte meine Nerven unglaublich ab, trat mein Bräutigam ganz unerwartet zu mir in das Zimmer. Er war sehr verändert, beinahe so sehr wie ich.

Er kam schüchtern auf mich zu, und indem er vor meinem Ruhebette niederkniete und meine zitternde Hand faßte, sagte er bittend: Paula, ich kann diesen Zustand nicht länger ertragen! Aus Barmherzigkeit ende ihn; lasse dich noch heute mit mir trauen; dein Vater hat dazu Alles vorbereitet, Alles eingerichtet!

Ich erschrak bei diesem Gedanken so sehr, daß ich in Ohnmacht fiel, das erste mal in meinem Leben. Als ich wieder zu mir kam, war auch mein Vater da; er beschwor mich, den Wünschen des Grafen nachzugeben, weil dann ein ruhiger Zustand eintreten werde, der allein meine Genesung möglich mache. Der Arzt versichere, daß ich bei diesen ewigen Aufregungen unfehlbar eine Beute des Todes sein werde.

So gebt mich frei – löst die Verbindung, sagte ich weinend, dann komme ich auch zur Ruhe.

Der Graf erklärte, nur mit seinem Leben seine Rechte auf meine Hand aufgeben zu wollen; mein Vater, der wußte, wie sehr ich ihn liebte, war auf seiner Seite, mein eigenes Herz vielleicht auch – so war ich schwach und ließ mich überreden. An demselben Morgen wurden wir in meinem Zimmer getraut, am Nachmittag reiste mein Gemahl wieder ab, um in drei Monaten zurückzukehren.

Bis dahin, hofften sie, war meine Gesundheit erstarkt, und wir wollten dann zu meiner gänzlichen Herstellung gemeinschaftlich eine Reise nach dem Süden machen.

Ich erholte mich nun wirklich, ich wurde besser, als Sie mich jetzt sehen, denn die Zurückkunft des Grafen hat wieder meinen Zustand verschlimmert, weil in mir durch seine Gegenwart aufs neue Zweifel an seiner Liebe, und der Argwohn, daß seine Ehe blos ein Werk des Mitleids und der Gewissenhaftigkeit sei, aufstiegen.

Aber jetzt, fragte ich schüchtern, nachdem Paula mit diesen Worten ihre Erzählung beendigt hatte, jetzt sind Sie doch ganz über ihn beruhigt, liebe Gräfin?

Sie schüttelte ihr schönes, engelhaftes Haupt. Nein, ich glaube nicht, daß er mich liebt, und habe deshalb einen Plan erdacht, dessen Erfüllung einzig und allein von der Herstellung meiner Gesundheit abhängt.

Ich fragte sie nun, was sie beabsichtige, aber sie wollte mir nichts gestehen; endlich, als ich ihr schwur, sie nicht zu verrathen, theilte sie mir ihr Geheimniß mit.

Wenn die Welt mich wieder als ihres Gleichen aufnimmt, wenn ich wieder gehen, laufen, essen und schlafen kann wie ein siebzehnjähriges Geschöpf, so alt bin ich ja erst, dann verlasse ich auf einige Jahre meine Familie und gehe zu meiner einzigen Freundin, der jungen Gouvernante – wir haben Beide durch die Großmuth meines Vaters gesammelt für Jahre – ich lebe ganz verborgen mit ihr, und das Betragen meines Gemahls soll mir dann zeigen, ob er sich wirklich nach mir sehnt, oder ob er froh ist, meiner ledig zu sein.

Welch abenteuerlicher Plan!

Nicht so abenteuerlich, als er Ihnen scheint. Mein Mann ist mir, trotz meiner Liebe zu ihm, eigentlich fremd und wird es mir täglich mehr; ja, der ewige Zweifel an seinem Herzen erkältet das meinige – wir haben keine Gemeinschaft als den Namen – es ist kein Verständniß zwischen uns. Mein Vater soll, wenn ich ihn verlasse, immer Nachricht von mir erhalten, und sobald er in die Trennung meiner Ehe willigt, kehre ich augenblicklich zu ihm zurück. Dieser Plan, seitdem ich ihn gefaßt, thut Wunder; er beruhigt meinen aufgeregten Stolz, stärkt meinen Muth und stählt meine erwachende Kraft.

Als sie schwieg, sah sie wirklich ganz muthig aus. Auch ihre Gesundheit besserte sich auffallend in der nächsten Zeit – und da meine Besserung auch Fortschritte machte, so konnten wir schon manchen gemeinschaftlichen Ausflug unternehmen.

Ich beobachtete nun natürlich mit großer Aufmerksamkeit das Benehmen des Grafen, aber ich mußte seiner Frau Unrecht geben – er liebte sie wirklich tief und innig. Wenn sie ihr schönes Haupt abwandte, hingen die Blicke des ernsten und stillen Mannes so sehnsüchtig an ihrem reinen Profil – was sie für Kälte hielt, es erschien mir als die zarteste Schüchternheit. Er wußte, wie tief er sie gekränkt, deshalb unterdrückte er noch die Versicherungen seiner Liebe!

Ich sagte ihr das; aber sie sagte schmerzlich lächelnd: Wir werden sehen! Es war offenbar, die frühen schweren Prüfungen hatten das zarte Gemüth ängstlich und mistrauisch gemacht.

Wir mußten uns bald trennen; die Meinigen kehrten mit mir nach Rom zurück, sie gingen nach Sicilien. Paula versprach, mir zu schreiben, aber obgleich heute ein Jahr verflossen ist, seit unserer Trennung habe ich nichts von ihr erfahren. Ob sie ihren Plan ausgeführt hat?



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