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Elftes Kapitel.
Ein Verhör

Hermine saß am andern Morgen unter der Veranda vor ihrem Hause. Die Arbeit, welche sie mit hinausgenommen, ruhte in ihrem Schose, die Hände lagen unthätig darüber, ihre vom Weinen gerötheten Augen hafteten starr auf Einem Punkte. Sie dachte an Dankmar, an die unselige That, die ihn von ihr getrieben, an ihre Verlassenheit – und an Gundobald, und ob es der Zeitpunkt sei, ihr Verhältniß zu ihm der Welt zu gestehen, damit er ihr Beschützer sein könne – sie dachte an ihren Gast, an Anna Morell, und an diese mit eigenthümlich gemischten Gefühlen.

Anna war im Hause, sie war oben in dem Zimmer des geistlichen Rathes, in geheimer Zwiesprache mit diesem; Hermine hatte in ihrem Herzen eine Menge der bittersten Vorwürfe gegen dieses Mädchen; wann hätte eine Schwester, der ein Bruder gestanden, daß er ein Mädchen liebe, daß er ihretwegen eine rasche, unselige That begangen, die ihn in das Exil treibe, nicht solche Vorwürfe gehabt? Und doch konnte sie Anna nicht zürnen. Es lag etwas in der Persönlichkeit dieser Gouvernante, das sie anzog, ihr imponirte, ihr selbst zum Trotze sie gewann; sie ärgerte sich darüber, sich selbst gestehen zu müssen, daß, wenn sie ein Mann sei, sie Anna würde lieben können.

Und dann dachte sie wieder an Gundobald. Sie war sich bewußt, ihn gestern hart behandelt zu haben; um sich zu entschuldigen für diese Behandlung, machte sie ihm im stillen Vorwürfe, daß er nicht heute schon gekommen, um ihr Nachrichten über Beltram's Zustand zu bringen; er wußte doch, wie furchtbar gespannt sie auf solche Nachrichten sein mußte von dem Ausgange von Beltram's Zustand hing ja so gut wie alles ab! Warum war Gundobald nicht da, ihre Spannung zu befriedigen? Weshalb kam er nicht, er, der so unermüdlich im Dienste aller Damen war, weshalb vergaß er heute sie und ihre entsetzliche Spannung auf Nachrichten von Edern?

Sie hatte unrecht, ihm zu zürnen, denn in der That, er war ihr näher, als sie glaubte; er war bereits in der Allee, und raschen Schrittes, gerötheten Antlitzes trat er wenige Minuten nachher auf den Hof, unter die Veranda.

Ach, da sind Sie, Gundobald! rief Hermine. Sie bringen mir Nachrichten – aber welche? Sie sehen so erhitzt aus – ist er todt? O reden Sie!

Beruhige dich, Hermine, er ist nicht todt; aber weiter werde ich nichts sagen, bis du mich um Verzeihung wegen deiner harten Worte am gestrigen Abende gebeten hast.

Verdienten Sie die nicht?

Nein, nein, und abermals nein, und ich bin wüthend darüber! Von hier haben Sie mich gestern fortgesandt in heller Verzweiflung über Ihre Härte, und als ich nach Edern in der unbeneidenswerthesten Stimmung von der Welt heimgekehrt war, hat mich die Gräfin Edern, meine gnädige Frau Cousine, vorgenommen und mich mit den zornigsten, maßlosesten Vorwürfen überschüttet; sie ist außer sich, daß Fräulein Anna Morell sich so plötzlich von Edern entfernt hat, Außer sich, rasend, sag ich Ihnen – sie speit Feuer und Flammen! Und doch habe ich nichts gethan, als einem armen, jungen Mädchen, welches mich um ihren Schutz auf einem kurzen Wege, den sie bei Nacht und Nebel nicht allein machen konnte, anflehte, diesen Schutz, den ich gar nicht versagen konnte, gewährt! In der That, die Gräfin ist abscheulich ungerecht, und Sie, Sie auch waren abscheulich, Hermine, und ich bin heute wie ein stetiges Pferd, und wenn Sie nicht ein wenig Balsam in die Wunde gießen, so werden Sie sehen, was geschieht!

Und was wird geschehen?

Ich werbe rabiat werden, ich werde fortgehen von Edern, von hier, ich werde in die Welt, in den Untergang, gehen, und wenn ich untergehe, ausrufen: Das ist meine Rache, weshalb hast du mich von dir gesandt!

Du bist ein Kind, Gundobald, sagte Hermine; damit hast du schon einmal gedroht; damals konntest du's noch ausführen, aber jetzt müßtest du doch mich erst um Erlaubniß bitten, und die Erlaubniß bekämst du nicht; deshalb sei ruhig und sag' mir von Beltram …

Ich kann nichts von ihm sagen; der Arzt ist dagewesen; was er erklärt hat, theilt man das Gundobald Burghaus mit? Edwine macht ein Leichenbittergesicht und betheuert, es stehe sehr schlimm um den armen, jungen Menschen; der Prinz hat die Nacht über bei ihm gewacht; Boto hüllt sich in diplomatisches Schweigen, und die Domestiken schleichen mit Katzentritten stumm und eilig vorüber – ich glaube, die Gräfin hat ihnen verboten, sich auszusprechen kurz, ich weiß nichts, als daß du sogleich einen Besuch erhalten wirst, den du sicherlich nicht erwartet hast!

Und welchen Besuch?

Den des Staatsanwalts.

Des Staatsanwalts? rief Hermine erblassend aus. Er will Dankmar vernehmen, verhaften?

Möglich, daß er die Absicht hätte, wenn ich ihm nicht in Edern erzählt, daß Dankmar abgereist ist. Der Zweck seines Kommens ist jetzt nur noch, Fräulein Morell zu vernehmen.

Mein Gott, wie hat er denn erfahren …

Daß sie hier ist? fiel Gundobald ein.

Das werden Sie natürlich gestern noch brühwarm in Edern berichtet haben, versetzte Hermine nein, daß Fräulein Morell überhaupt mit der Geschichte zu thun hat – wie hat er überhaupt so rasch davon erfahren?

Gundobald zuckte die Achseln. So etwas wird rasch kund. Die Todten reiten schnell. Und Graf Boto auch. Er ist gestern spät abends noch in der Stadt gewesen …

Mein Gott, er wird doch nicht zum Angeber Dankmar's geworden sein?

Gundobald wußte darauf keine Antwort zu geben. Wenn er es geworden, sagte er nur, dann möcht' ich fast behaupten, er sei es aus Eifersucht geworden, aus Aerger, den Ritterdienst, welchen Dankmar Fräulein Morell leistete, ihr nicht selbst geleistet zu haben – er behauptet, in Fräulein Morell verliebt zu sein.

Boto?!

Er sagt es selbst, und also muß es wol wahr sein. Fräulein Morell dagegen traut ihm eine entsetzliche Intrigue zu …

Aber, unterbrach sich Gundobald hier, sage mir, wo ist Fräulein Morell?

Sehnen Sie sich nach einem Sonnenstrahle aus ihren Augen, die, wie es scheint, die Macht haben, alle Herzen, auch die kühlsten, wie das Boto's, in Flammen zu setzen?

Wenn ich dich ansehe, Hermine, erwiderte Gundobald, könnte mir die Sehnsucht nach gütiger blickenden Augen allerdings kommen – ohne daß du mir einen Vorwurf daraus machen dürftest!

Ach, reden Sie einmal vernünftig – Sie können denken, Gundobald, wie grenzenlos schwer es mir ums Herz ist!

Gundobald ergriff ihre Hand; die seine zitterte dabei, als er plötzlich leidenschaftlich bewegt ausrief:

Und ist es dir denn nichts, gar nichts, daß ich mein Herz so gern, ach, wie gern! dafür hingäbe, wenn ich dadurch die Last von deinem nehmen könnte?

Gewiß, Gundobald, gewiß! Aber du mußt Geduld mit mir haben und du würdest sie haben, wenn du wüßtest, mit welchen Gedanken und Sorgen um uns Beide ich mich heute schon beschäftigt habe. Glaube nicht, du habest allein jenes Gefühl, jenen Drang, der ganzen Welt zu verkünden, daß …

Hermine unterbrach sich, denn eben sah sie Boto und neben ihm den Staatsanwalt über den Hof auf die Veranda zukommen.

Boto sah sehr erregt und erhitzt aus und kam sehr rasch heran; er ließ kaum dem Beamten, einem Manne in mittlern Jahren mit einer goldenen Brille, einer großen, kahlen Glatze und einer außerordentlich scharfen, lauten Stimme, Zeit, Fräulein Gohr seine Entschuldigung zu machen, daß seine Amtspflicht ihn herführe; er fragte offenbar sehr besorgt nach Fräulein Morell, ob sie vielleicht von Haus Gohr ebenfalls bereits abgereist, da sie leider, zu seinem unendlichen Leidwesen, sich so plötzlich und unerwartet von Edern entfernt habe, so sehr unter Umständen, die den gewiß ganz ungegründeten Verdacht, welchen sein verehrter Begleiter gegen sie hege, zu seinem Aerger und Kummer bestärkt hätten …

Fräulein Morell ist oben bei Herrn Zander, versetzte Hermine; sie hat mit ihm zu reden und wollte, wie sie mir gesagt hat, nachher schriftlich von Gräfin Edern Abschied nehmen. Ich will sie rufen, wenn die Herren sie zu sprechen wünschen …

In der That, sagte der Beamte, ich komme nur deshalb – wenn Sie die Gnade hätten …

Ach, bemühen Sie sich nicht, liebe Hermine! fiel Boto ein und eilte mit langen Schritten ins Haus. Hermine sah ihm, verwundert über diesen Eifer, nach. Dann bat sie den Staatsanwalt, sich zu setzen. Nach kurzer Frist erschien Anna auf der Schwelle der Salonthür, die unter die Veranda führte; hinter ihr Boto, der ihr eifrig Worte zuflüsterte, von denen Hermine, welche ihr entgegenschritt, nur vernahm:

Vor allem fürchten Sie nichts, fürchten Sie nichts! Sie wissen, daß ich eher alles aufbieten, alles über mich ergehen lassen würde, als …

Boto hörte auf, weil Hermine herantrat. Als diese den Staatsanwalt Anna vorstellte, sagte der Beamte mit einer Höflichkeit, zu der der harte Ton seiner Stimme und der scharfe Blick, welcher durch seine Brille auf Anna fiel, nicht recht im Einklange standen:

Ich bitte Sie um Entschuldigung, mein verehrtes Fräulein, daß ich Sie zu belästigen komme – ich mußte mir leider die Freiheit nehmen. Sie waren unglücklicherweise die einzige Zeugin des Unfalls, der den Baron Beltram gestern betroffen hat; die Sache ist mir zu Ohren gekommen, und um nicht die Untersuchung in die Hände der Polizei fallen zu lassen, welche Sie vielleicht ärger belästigt hätte, bin ich auf den Wunsch des Herrn Grafen von Edern selbst hierher gekommen, um mich ganz im allgemeinen über die Sachen zu orientiren und zu sehen, ob und in welcher Weise eine amtliche Untersuchung einzuleiten wäre. Ich komme also nur wie ein Bittender zu Ihnen, nur mit dem Wunsche, daß Sie mir einige Fragen beantworten wollen.

Anna nahm ihm gegenüber Platz. Ihre Gesichtsfarbe war ein wenig blässer als gewöhnlich; sie blickte mit einem gewissen Ausdrucke von Beängstigung den Beamten an.

Ich bitte Sie, fragen Sie, antwortete sie.

Wünschen Sie nicht, daß wir allein seien?

Wenn es Ihr Wunsch nicht ist, der meine ist es nicht – ich möchte nur, daß auch der geistliche Rath zugegen sei. Würden Sie so gütig sein, ihn herzubitten, Herr von Burghaus?

Gundobald ging, um ihren Wunsch zu erfüllen.

Sie heißen Fräulein Anna Morell?

Anna nickte.

Würden Sie die Güte haben, mir Ihren Paß zu zeigen, sagte der Beamte, indem er mit einem freundlich sein sollenden Lächeln hinzufügte: Es ist nur, damit ich nicht genöthigt bin, Sie mit den weitern allgemeinen Vorfragen zu belästigen.

Anna's Paß war in ihrem Taschenbuche und dies in der Reisetasche, welche sie oben in ihrem Schlafzimmer hatte; sie wollte gehen, ihn zu holen; der Beamte aber bat Fräulein von Gohr, danach zu senden.

Während Hermine aufstand, seinen Wunsch zu erfüllen, fuhr der Staatsanwalt mit seinen Fragen fort. Anna beantwortete sie fest und bestimmt. Sie erzählte den Vorgang auf der Kapelleninsel ganz, wie er sich zugetragen. Sie deutete Beltram's Betragen gegen sie mit Worten an, die, wie ihr Erröthen bewies, ihr schwer werden mochten, die sie aber in dem augenscheinlichen Entschlusse, durchaus wahr zu sein, über sich gewann.

Und Herr von Gohr, sagte der Beamte, als sie ihre Erzählung beendet hatte, während deren Gundobald mit dem geistlichen Rathe herabgekommen war und ein Dienstmädchen Anna ihre kleine Reisetasche gebracht hatte – Herr von Gohr hat sich noch gestern Abend von hier entfernt?

Mein Bruder ist fortgereist, antwortete Hermine, ohne das Ziel seiner Reise anzugeben.

Herr von Beltram aber ist in einem Zustande, der noch nicht erlaubt, ihn zu vernehmen, fuhr der Staatsanwalt fort; Sie müssen deshalb nicht übel nehmen, Fräulein Morell, daß ich in Beziehung auf einige Punkte Ihre Geduld noch weiter auf die Probe stelle. Darf ich um Ihren Paß jetzt bitten?

Anna reichte ihn dem Beamten. Es war ein belgischer Ministerialpaß. Der Beamte prüfte ihn mit augenscheinlicher Vorsicht; er hielt ihn gegen das Licht, er studirte das Signalement; dann gab er ihn zurück mit den Worten:

Der Paß ist richtig!

Das sagen Sie fast mit einem Tone, als ob es Sie überrasche! bemerkte Anna lächelnd.

Nun, Sie wissen, die Justiz ist mistrauisch, mein liebes Fräulein, und wenn sie eine Person in dienen der Stellung findet, die eine geheime Kassette bei sich verbirgt, eine Kassette, welche eine halbe oder eine ganze Million enthält; wenn diese Person sich ohne allen sichtbaren Grund mit dieser Kassette bei Nacht und Nebel davonmacht, so nehmen Sie mir das nicht übel – ist ihr Verdacht in einer Weise erweckt, daß sie sich eine völlig befriedigende Aufklärung darüber ausbitten muß!

Der Beamte war bei diesen Worten aus seinem lächelnden Tone größter Höflichkeit plötzlich in den schärfsten, schonungslosesten Inquirententon gefallen, der sicherlich darauf berechnet war, Anna zu überraschen, sie aus der Fassung zu bringen.

Anna war in der That erschrocken. Wer hat Ihnen das gesagt? rief sie aus.

Bitte, das Fragen ist an mir! antwortete der Beamte. Ich wünsche eine directe Antwort auf meine Frage, eine genügende Aufklärung!

Die kann, die werde ich Ihnen nicht geben!

Sie werden sie geben!

Sie haben kein Recht, sie zu fordern!

Wenn Sie die Auskunft weigern, habe ich ein Recht, die Sache für noch verdächtiger zu halten, als sie mir bisher scheint!

Die Sache hat mit der Angelegenheit, welche Sie herführt, nicht das Geringste gemein – ich betheuere Ihnen das …

Mag sein, Fräulein Morell; sie ist nichtsdestoweniger mir amtlich zur Kunde gebracht, und deshalb verlange ich eine offene, unumwundene Rechenschaft, woher Ihnen all das Geld kommt! Verweigern Sie diese, so thun Sie es auf Ihre Gefahr!

Auf welche Gefahr?

Daß ich Sie verhaften lassen müßte, Fräulein Morell!

Das junge Mädchen fuhr entsetzt empor.

Ist das Ihr Ernst? Sie würden wagen …

Herr Staatsanwalt! rief Boto hier aus, ich werde nun und nimmer zugeben, daß eine Dame, die unter meinem Schutze steht, beleidigt wird! Fräulein Morell, kommen Sie mit uns nach Edern zurück, und kein Haar soll Ihnen gekrümmt werden!

Ich ziehe vor, nachzugeben! sagte Anna stolz.

Sie wollen Ihre Aussagen machen?

Ich will es – es zwingt mich nichts, zu schweigen, als die Rücksicht auf andere, die sicherlich nicht wollen, daß ich die Rücksicht so weit treibe, mich dem auszusetzen, womit Sie mich glauben bedrohen zu dürfen …

Der geistliche Rath, welcher bisher still zur Seite hinter Herminens Stuhl gestanden, war in diesem Augenblicke an Anna herangetreten, und die Hand auf ihre Schulter legend, sagte er:

Fräulein, reden Sie in Gottes Namen – Sie können freilich nicht anders!

Anna reichte ihm über die Schulter die Hand. Verzeihen Sie mir! sagte sie, und dann sich zu dem Beamten wendend, fuhr sie fort:

Wiederholen Sie mir: ist es Ihre Amtspflicht, von mir eine Erklärung über die in meiner Kassette befindliche Summe, die Ihnen auf eine mir unbegreifliche Weise kund geworden, zu verlangen, und können Sie meine inständige Bitte, von dieser Erklärung abzustehen, nicht erfüllen? Sie ahnen nicht, in welche Verhältnisse Sie eindringen, und ahnen ebenso wenig, was die Folgen meiner Erklärung sein werden!

Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich gesagt habe, antwortete der Beamte trocken; wünschen Sie jedoch Ihre Mittheilungen mir unter vier Augen zu machen, so sprechen Sie – ich werde dann nur Herrn von Burghaus, der Referendar unsers Kreisgerichts ist, ersuchen, bei uns zu bleiben und nöthigenfalls als Protokollführer zu fungiren.

Herrn von Burghaus? Gerade ihn? Nein, nein, was Sie glauben in die Oeffentlichkeit reißen zu dürfen, mag dann auch gleich ganz öffentlich werden! Vernehmen Sie also meine Erklärung: das Geld in meiner Kassette war früher bei einem unter der Verwaltung des Barons von Chevaudun stehenden Bankhause in Antwerpen deponirt. Der Baron Chevaudun hat es, als ich hierher in diese Gegend reiste, mir anvertraut, um es dem geistlichen Rathe Zander zu übergeben, an den er die Weisung hatte, es im Mai oder Juni dieses Jahres auszuliefern. Damit Ihr Verdacht nun nicht auf den Rath Zander falle, da, wie es scheint, der Besitz dieser unglücklichen Kassette hinreicht, um die Justiz aufsässig zu machen, so erkläre ich Ihnen ferner, daß das Geld an den geistlichen Rath zu übergeben war als den Executor eines Testaments, welches diese Summe dem Herrn von Burghaus hier zuwendet, nebst Gütern, Höfen und andern Erbstücken mehr. Hier, Herr Staatsanwalt, fuhr Anna fort, indem sie aus ihrem Taschenbuche ein Papier hervorzog, ist die Contocorrent-Berechnung des Bankhauses – und wenn Sie noch ein weiteres Zeugniß für die Wahrheit dessen, was ich erkläre, verlangen, so wird der geistliche Rath hier auch dieses Zeugniß für mich abgeben.

Alle blickten mit der Miene der höchsten Ueberraschung auf Anna und dann auf Burghaus, der erblaßt war und mit höchst gepreßter Stimme sagte:

Aber, Fräulein, Sie scherzen wol – Sie – reden von einer Erbschaft – für mich?

Dem geistlichen Rathe war der helle Schweiß auf die Stirn getreten.

Herr, sagte er, sich mühsam fassend und sich an den Staatsanwalt wendend, da Sie sich nun einmal in die Sache gedrängt haben, Gott weiß, durch wen veranlaßt, so bin ich allerdings gezwungen, mich zu der Aussage des Fräuleins Morell, die selber weiter nichts damit zu schaffen hat, als daß sie die Summe aus Gefälligkeit mitbrachte und einige Tage lang aufbewahrte, zu bekennen. Ich bin der Executor eines zweiten, letzten Testaments des alten Freiherrn von Nesselbrook, meines verstorbenen Freundes, und nach diesem Testament habe ich jene Summe dem Herrn von Burghaus hier, dem Enkel meines alten Freundes, zu überantworten, sobald derselbe mündig geworden. Dieser Augenblick tritt in wenig Wochen ein, und ich bitte Herrn von Burghaus deshalb, das Geld schon heute an sich zu nehmen; ich habe dann die Angst und Sorge, es noch lange bewahren zu müssen, von mir gewälzt.

Nun, wahrhaftig, rief hier Boto mit einem Tone von wirklichem Entsetzen aus, das ist etwas, wozu ich Ihnen gratuliren kann, Gundobald!

Mir gratuliren – zu so viel Geld? – warten Sie damit, bis ich mich gefaßt habe, denn jetzt ist mir; als hätte mich ein Donnerschlag betäubt, versetzte Gundobald mit einer Miene, als ob er sich der That vernichtet fühlte.

Ich denke, wandte sich unterdeß Anna an den Beamten, ich habe Sie vollkommen befriedigt?

Der Beamte hatte das Contocorrent angeblickt; er faltete es zusammen, und es dem geistlichen Rathe übergebend, sagte er:

Vollkommen – ich wünsche nur, daß Sie ebenso vollkommen von der Entschuldigung befriedigt werden mögen, die ich mich genöthigt sehe, Ihnen zu machen – ich werde Ihre Aussagen über die Umstände, welche die Verwundung des Herrn von Beltram begleiteten, zu Protokoll nehmen; hoffentlich wird damit alle Belästigung für Sie in dieser Sache zu Ende sein können. Ich werde im Hause drinnen das Protokoll niederschreiben und später um Ihre Unterschrift bitten.

Der Beamte erhob sich, um, von Hermine geführt, in einem Zimmer des Hauses seinen Vorsatz auszuführen. Unterdeß war der Rath Zander davongeeilt, um die Kassette zu holen, und Anna wandte inzwischen sich an Boto:

Alles, was ich seit gestern erlebt, sagte sie, hat mich in eine Erregung versetzt, daß ich nicht weiß, ob es mir gelingen würde, in diesem Zustande Ihrer Frau Mutter zu schreiben und ihr meine plötzliche Abreise von Edern in einer Weise zu erklären, die mir ihre Verzeihung gewinnen würde. Ich bitte Sie deshalb, Herr Graf, mein Schutzredner bei Ihrer Frau Mutter für heute sein zu wollen; ich werde, sobald ich irgendwo zur Ruhe gekommen bin und mich gefaßt habe, bei ihr nachholen, was ich heute versäume bitte, sagen Sie ihr das …

Anna hörte plötzlich zu sprechen auf, denn sie bemerkte, daß Graf Boto sie wol mit großen Augen ansah, aber daß er sie gar nicht anhörte; die Thatsache, welche er eben vernommen, schien ihn so zu erfüllen, daß er für nichts anderes mehr Sinn hatte als für diese, und am wenigsten für Anna, der er vor kurzem noch so lebhaft seine Neigung betheuert. Der Zauber, den Anna für ihn hatte, schien vollständig von ihr gewichen.

Rath Zander kam zurück, seine schwere Kassette unter dem Arme. Bleich, aufgeregt, mit zitternder Lippe sagte er, die Last auf den Tisch legend:

Es ist mir lieb, daß ich Ihnen das Geld vor Zeugen übergeben kann. Fräulein Morell, seien Sie so gut, die Kassette zu öffnen, und Herr von Burghaus wird dann sogleich die Summe zählen und sich vergewissern können, daß sie mit der Contocorrent-Berechnung stimmt.

Anna öffnete die Kassette und nahm eine gestickte Tasche mit einem Bündel Papiere darin heraus, von der sie erklärte, daß sie ihr gehöre – es seien Wechsel auf die Bank des Barons Chevaudun, bei welcher sie ihre kleinen Ersparnisse angelegt habe. Gundobald indeß fiel lebhaft ein:

Und Sie glauben, ich werde das so ohne weiteres nehmen und damit als mit meinem Eigenthum auf- und davongehen, bevor ich weiß, wie alles zusammenhängt, bevor ich klar sehe, was es mit dem Testament, von dem Sie reden, Herr Zander, für eine Bewandtniß hat, bevor mir vollaus Rechenschaft über die Art und Weise wird, wie ich plötzlich der Erbe meines Großvaters sein kann, nachdem dessen Erbschaft längst an andere gefallen? Nun und nimmermehr!

Sie haben recht! rief Boto. Sie können sich unmöglich auf diese fabelhaften Dinge einlassen, Gundobald, Sie können es als Ehrenmann nicht – bevor Sie nicht völlig klar vor Augen haben, was dies alles bedeutet!

Der Rath Zander sah mit einem erschrockenen Blicke auf Boto; der arme Mann mochte aus der heftigen, barschen Stimme, womit Boto sprach, in einer Weise, als ob er einen Widerspruch erwarte, den er völlig gerüstet sei niederzuschmettern, den Beginn der Stürme heraushören, vor denen so lange schon seine schüchterne Seele bangte und denen er keinen hinreichenden Muth entgegenzusetzen hatte.

Was die Lage der Sache ist, habe ich angegeben, sagte er kleinmüthig, da er auch Gundobald's Züge in höchster Spannung sich zugewendet, Gundobald's Augen fragend auf sich gerichtet sah. Ich habe angegeben, daß der Freiherr von Nesselbrook vor seinem Fortgehen aus diesem Lande ein letztes Testament errichtet hat; daß er darin mich zum Executor ernannte; daß er in diesem Testament, welches er mir von seiner Reise, von Meran aus sandte, eine Geldsumme, die er in Belgien niederlegte, für seinen Enkel Gundobald Burghaus bestimmte; daß er mir aufgab, diese Summe Herrn von Burghaus zu überliefern, sobald dieser zur Volljährigkeit gekommen. Die Summe ist hier, und ich übergebe sie Herrn von Burghaus mit dem Verlangen, daß er den Belauf derselben mit der vom Bankhause beigegebenen Berechnung vergleiche und daß er mich von jeder weitern Verpflichtung in dieser Sache als der, dem Bankhause meine Quittung zu geben, entbinde.

Sie erklären also, daß diese Summe aus dem Nachlasse des Freiherrn von Nesselbrook, meines Großoheims, herrühre? rief Boto aus.

Allerdings

Und wo ist das Testament, welches diesen Theil seines Nachlasses Gundobald Burghaus zuwendet?

Dieses Testament kann ich Ihnen nicht vorlegen, Herr Graf, versetzte der Rath Zander.

Sie können es nicht? Und weshalb nicht? Wo ist es?

Ich glaube nicht, daß ich genöthigt bin, Ihnen darüber sofort eine Auskunft zu geben. Sie werden fürs erste meiner einfachen Versicherung, die ich Ihnen auf meine priesterliche Würde gebe, daß die Sache sich so verhält, Glauben beimessen!

Ihre Versicherung in Ehren, mein hochwürdiger Herr, aber Sie können nicht verkennen, daß sie in einer solchen Angelegenheit auch nicht den allermindesten Werth hat. Ich verlange, Ihr Testament zu sehen, augenblicklich zu sehen, und so lange, bis ich es gesehen, es geprüft habe, lasse ich das alte, anerkannte, gerichtlich deponirte Testament nicht anfechten, welches den sämmtlichen Nesselbrook'schen Nachlaß meinem verstorbenen Onkel und als dessen Erbin meiner Mutter zuwendet. Als Vertreter meiner Aeltern lege ich die Hand auf diese nach Ihrer eigenen Angabe zum Nesselbrook'schen Nachlasse gehörende Summe. Ich nehme diese Summe in Hut, bis Gundobald Burghaus bessere Ansprüche darauf nach weist. Gundobald, ich hoffe, Sie denken zu vernünftig und billig, um nicht einzusehen, daß ich gezwungen bin, so zu handeln.

Gewiß, Boto, sagte Gundobald, sich aufrichtend, Sie haben recht, so zu reden. Aber ich meinerseits nehme einen andern Standpunkt ein. Ich kann an den Worten des geistlichen Raths nicht den geringsten Zweifel hegen. Danach hat mein Großvater ein großes Unrecht, welches er an meiner Mutter begangen, vor seinem Lebensende wieder gut zu machen gesucht. Der Gedanke, daß er es gethan, ist ihm sicherlich in seiner Todesstunde ein Trost und eine große Erleichterung gewesen. Mir muß das heilig sein; mir muß es eine Ehrenpflicht sein, für den Willen und die Absichten des alten Mannes, für die Rehabilitation meiner Mutter, welche darin liegt, einzutreten; darin habe ich allein meine Richtschnur zu sehen. Ich habe auf Gold und Besitz nie großen Werth gelegt. Aber wenn es sich auch nur um eine einzige, winzige Rolle von diesen vielen Hunderten handelte, so würde ich sie vertheidigen mit meiner ganzen Kraft und mit dem eisernsten Willen. Um meiner armen Mutter willen! Dieses Geld ist mein, und wehe dem, der daran tastet!

Lieber Gundobald, sagte Boto mit vor Zorn zitternder Lippe, Sie wollen Jurist sein – ich begreife nicht, wie Sie eine so einfache Sachlage so kindlich verkennen können! Ihre Betheuerungen sind leerer Schall, und solange Sie nichts anderes haben als sie, zucke ich nur die Achseln darüber!

Alle Sachen werden freilich einfach, versetzte Gundobald, sobald ein ernster Wille sich ihrer annimmt. Denn sehen Sie sich vor. Ich nehme diese Kassette an mich und habe über alles Weitere zunächst nur mit dem geistlichen Herrn zu reden!

Sie vergessen, daß wir das Nesselblatt Ihres Großvaters in unserm Schilde führen, fiel Boto giftig ein – wollen Sie sich daran reiben – auf Ihre Gefahr!

Nesseln stechen nicht, wenn man sie mit fester Hand anfaßt! erwiderte Gundobald.

Während dieses ganzen Streites hatte sich Gundobald's gewöhnliches nachgiebiges, selbstironisirendes Wesen in merkwürdiger Weise wie mit Einem Schlage verändert. Er hatte sich hoch aufgerichtet, seine gerötheten Züge zeigten einen merkwürdigen Ausdruck von Adel und Stolz, seine Augen blitzten. Hermine hatte ihre Blicke keinen Augenblick von diesen Zügen abgewendet, und während des Wortwechsels war sie unwillkürlich immer näher an ihn herangetreten, so nahe, daß sie jetzt mit ihrer Schulter seinen Arm berührte.

Wir wollen hier nicht länger ein Schauspiel aufführen, antwortete Boto, sich fassend. Ich mache Sie für die Summe dort verantwortlich. Wem sie gehört, das werden ja die Gerichte bald genug, entscheiden. Adieu!

Und mit einem kurzen Gruße wandte er sich und ging.

Habe ich recht gehandelt oder nicht? fragte Gundobald Hermine.

Ob nach dem Rechte, das weiß ich nicht, versetzte sie, indem sie ihm die Hand reichte, aber recht und so, wie Sie mußten!

Anna schloß die Kassette, und der geistliche Rath ließ sich bewegen, sie wieder auf sein Zimmer zu bringen, bis Gundobald sie mit sich nähme. Anna wurde dann gerufen, um sich drinnen von dem Beamten sein Protokoll vorlesen zu lassen und es zu unterschreiben; nachdem sie dieser Formalität genügt, verabschiedete sich der Staatsanwalt, um nach Ebern zurückzugehen und sich zu vergewissern, ob er die Aussagen des Barons Beltram entgegennehmen könne – und so blieben nur Anna und Hermine, Gundobald und der geistliche Rath zurück, um über die Lage der Dinge zu rathschlagen, oder besser, um zunächst alles anzuhören, was der geistliche Rath Gundobald jetzt zu eröffnen hatte. Gundobald bat Hermine mit einem sprechenden Blicke, bei dieser Eröffnung zugegen zu sein, und der geistliche Herr wünschte, daß Anna bliebe, da sie ja doch einmal von ihm bereits in alles eingeweiht war.

Die eigenthümliche Fügung der Umstände, welche den Geistlichen gezwungen, in dieser Stunde ein Geheimniß auszusprechen, welches er ohne diese Macht der Umstände vielleicht noch lange, lange bei sich getragen und in seiner ängstlichen Seele verschlossen, bewirkte es auch, daß diese vier Menschen, die jetzt unter der Veranda von Haus Gohr saßen, sich enge zu einer Art von Bund zusammengeschlossen fühlten; das Interesse für Gundobald's Angelegenheit war das gemeinsame Band, das sie vereinte.

Der geistliche Rath begann seine Mittheilung damit, daß er von dem Leben auf Dornegge sprach, in jenen Tagen, als der Großvater Gundobald's noch darauf hauste. Der Freiherr von Nesselbrook hatte früh seine Gattin verloren. Männer wie er haben keine Frauen. Man braucht für die Ehe das Bild des Epheus, der sich um die Eiche schlingt. Zu gewaltige Stämme, deren Wipfel zu weite Schatten werfen, ersticken den Epheu, der sich an sie anklammern will. Die Erinnerung an den Epheu, der eine so kurze Zeit seine Ranken um den starken Stamm geschlungen, lebte in einer Tochter, Hedwig, fort. Sie war epheuhaft genug. Hohen Wuchses, ein schlankes, liebliches, lenksames Kind, doch, wie die Folge zeigte, auch so zäh wie eine gute Epheuranke. Aber still, träumerisch, ein wenig indolent, anziehend durch ihr Wesen, ihre Sanftheit, ihre Anmuth. Diese Eigenschaften waren nicht geeignet, ihren Vater zu bezaubern. Ihr träumerisches Wesen konnte sich nicht mit ihm für seine Plane erwärmen, ihre Anmuth seinen Gedanken nicht nachfliegen, ihre Sanftheit sich nicht dem kriegerischen Gedankenleben des geistsprudelnden Mannes verbünden.

Neben der Tochter Nesselbrook's wuchsen zwei andere junge Leute in seinem Hause auf, die Kinder seiner verstorbenen Schwester, Wallburg und Rudolf. Junker Rudolf war ein schwacher, schlaffer, geistig unbedeutender Mensch, dem es zur Nahrung seines Selbstbewußtseins genügte, daß er eben Junker Rudolf war, just so viel werth wie andere Junker auch.

Anders war die ältere Schwester, Wallburg. Sie war gescheit, sehr bildungsfähig, wenn hinter der Bildung ein praktischer Vortheil stand – im Grunde war es ihr sehr gleichgültig, ob sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne drehe, aber sie wußte vom Thierkreise von Denderah und der Astronomie der Chaldäer zu reden, wenn sie dem Onkel Nesselbrook an einem Tage, wo sie etwas von ihm wollte, damit einreden konnte, sie selbst sei ein Stern von Gelehrsamkeit; und dazu war sie für das Haus eines alten, sozusagen alleinstehenden und reichen Mannes wie geschaffen.

Ein solches Haus wird immer der Mittelpunkt von Intriguen werden. Man kämpft darin eifersüchtig um das Vorrecht, ihn zu leiten; man sucht von ihm fern zu halten, was, wie man glaubt, ihn ausbeuten will, und sucht sich den Einfluß auf ihn zu sichern, der am Ende doch auch meist nur eine Ausbeutung beabsichtigt. Man schmeichelt ihm und hat noch hinter seinem Rücken ein ganzes Klageregister über die Thorheiten, zu welchen fremde Einwirkung ihn verführt haben soll.

So auch auf Dornegge, wenigstens eine Zeit lang, bis Fräulein Wallburg, vollständig flügge geworden, die Schwingen ihres weiblichen Naturells zu rühren vermochte. Mit siebzehn Jahren hatte ihre werkthätige Natur sich dadurch geltend gemacht, daß sie allmählich die Oberaufsicht über die Führung des Hauswesens an sich genommen; mit achtzehn war sie es, welche für alle Bequemlichkeiten des alten Herrn sorgte; mit neunzehn wußte sie ein verständnißinniges Gesicht zu seinen gelehrten Auseinandersetzungen zu machen, mit zwanzig ihm zu widersprechen und mit ihm zu disputiren, mit einundzwanzig war sie der Schrecken seiner Rentmeister und Beamten.

So ward Fräulein Wallburg alles im Hause. Hedwig ging scheu und still ihre eigenen Wege und gähnte mit rührender Aufrichtigkeit, wenn der Papa von Dingen sprach, die sie nicht verstand. Fräulein Wallburg hörte ihm zu, Aufmerksamkeit und Verständniß in jedem Zuge ihres frischen, nicht unschönen Gesichtes. Hedwig hatte nie Bitten an den Vater zu stellen. Wallburg übte aufs unbefangenste dieses Mittel, sich bei stolzen Menschen in Gunst zu setzen. Hedwig sah nie eine Schwäche in ihm; in ihren Augen war er der gelehrteste, geistreichste und verehrungswürdigste Mann auf Erden. Wallburg kannte sehr viele Schwächen an ihm und wußte sie zu benutzen.

Mit Einem Worte, im Hause des Freiherrn von Nesselbrook war sicherlich die stille, innige, träumerische Hedwig die Maria; aber sie hatte nicht den bessern Theil erwählt, sondern Martha-Wallburg hatte ihn für sich genommen.

Hedwig brachte im Winter einige Monate bei einer Verwandten, einer Stiftsdame, in der Hauptstadt zu. Hier lernte sie Gundobald's Vater, den Herrn von Burghaus, kennen; er war ein braver, schöner, aber armer Offizier, der deshalb Herr von Burghaus hieß, weil sein Vater, der als Major außer Diensten in Danzig gestorben, ebenfalls als von Burghaus in der Regimentsliste stand. Das war alles, was der junge Mann über diesen Punkt Zuverlässiges und Sicheres schwarz auf weiß beibringen konnte – und das war in einer Gesellschaft, worin jeder ein scharfer Genealog ist, verzweifelt wenig.

Für Hedwig von Nesselbrook aber wäre weniger genügend gewesen; sie las in den Augen des treuherzigen, vorwurfsfreien jungen Mannes Adel genug, und dazu, was ihr wichtiger war, ein Gefühl für sie, welches ihr aus den insipiden blauen Augen der übrigen Bewerber um die Hand einer so reichen Erbin nicht entgegenblickte. Dies bestimmte sie, ihn den andern ganz entschieden vorzuziehen, und als dies wahrgenommen wurde und die Verwandte, in deren Schutze sie sich befand, ihr auseinandersetzte, wie von einer Verbindung zwischen Hedwig von Nesselbrook und dem Lieutenant von Burghaus nie die Rede sein könne, entwickelte sich in dem stillen jungen Mädchen plötzlich ein ganz neuer, ungeahnter Geist der Widersetzlichkeit; sie zeigte sich leidenschaftlich, störrisch, ja, sie ging so weit, zu behaupten, daß der Umstand, daß Burghaus protestantisch sei, für sie ohne alle Bedeutung geworden, seitdem sie ihn kennen gelernt.

Du meinst, er werde deinetwegen sofort übertreten? sagte die Tante, was freilich glaublich ist …

O nein, wenn er das aus einem solchen Grunde thun könnte, würde ich ihn nicht mehr lieben. Aber der Unterschied der Religion soll mich nicht von ihm trennen. Mein Vater sagt, das Glück mache den Menschen gut, das Unglück schlecht. Da nun die Religion blos da ist, uns gut zu machen, darf sie uns auch nicht unglücklich machen; und die meine würde mich unglücklich machen, wenn sie mich von ihm trennte. Sie wäre dann also nicht die rechte, die gutmachende Religion für mich!

Um Gottes willen, Kind, wohin geräthst du? Das ist ja fürchterlich! Da sieht man, wie gefährlich es ist, wenn geistreiche Leute wie dein Vater sich der Religion und der Kirche annehmen wollen – sie stiften nur lauter Ketzereien!

Was sind Ketzereien? Verschiedene Ansichten hat es immer gegeben, und wie der Vater uns erzählte, hat sich schon der Apostel Paulus mit dem Apostel Petrus auf dem Platze vor der ersten Christenkirche in Antiochia gezankt. Wir können nicht darüber entscheiden; wir thun am besten, uns nach dem zu richten, dem wir am meisten vertrauen.

Gewiß, und so magst du dich nach deinem Vater richten, der dir sagen wird, daß er dich lieber verstoßen würde, als zugeben, daß seine Tochter, die Erbin der Nesselbrook, aus deren Hause zwei Bischöfe, ein Heiliger und ein Ordensgeneral hervorgingen, einen Protestanten heirathe!

Ich richte mich lieber nach Burghaus, versetzte Hedwig, denn ich vertraue auch ihm und ich verstehe ihn besser, es ist so viel einfacher und glaublicher, was er sagt! Burghaus sagt, wenn man nur treu dem lieben Gott diene und im Heere Christi wider seine Feinde streite, sei es ganz einerlei, ob man bei der Cavalerie oder der Infanterie stehe!

Verlorenes Geschöpf! zürnte die Tante – wie kann man nur so grenzenlos frivol von solchen Dingen reden!

Frivol? weshalb? fiel Hedwig ein – einem Soldaten liegt es nahe, von seinem Kriegshandwerk zu reden, und wenn du glaubst, Burghaus sei frivol, so irrst du sehr. Er hat mir sehr viel Ernstes und Schönes darüber gesagt, aus einem tiefbewegten Herzen. Er sagt, die Religion müsse uns das Lebenslicht sein, in welchem wir wandeln, der Glaube an Gott müsse uns die Sonne sein, die Wärme in unser Herz gieße. Es käme aber nicht darauf an, durch welches Fenster dieses Licht auf uns niederscheine und diese Sonne auf uns herabstrahle, ob durch ein gothisches Domfenster mit vielem Maßwerk und vielem buntem Farbenspiel darin, oder durch die großen Scheiben eines modernen Bethauses – es käme nur darauf an, daß der Mensch ein gesundes Auge habe, das Licht in sich aufzunehmen. Ist denn das nicht wahr?

Hedwig von Nesselbrook war, wenn auch nicht ganz die Tochter ihres Vaters, doch darum nicht weniger jenes adelichen Blutes, das die freie Selbstbestimmung mit weniger Verkümmerung unter Bedenken und Rücksichten vertheidigt, als es in kleinbürgerlichen Kreisen der Fall ist. Vielleicht wäre ihre Neigung zu Burghaus ein ziemlich stilles und laues Wasser geblieben; aber die Hindernisse, die ihr entgegentraten, schürten ein Feuer darunter, welches es ins Kochen brachte, und die Tante fand es bald mislich, ihre Hände in dieses kochende Element zu stecken; sie sandte Hedwig ihrem Vater zurück, und es folgte eine stürmische Scene zwischen Vater und Tochter.

Der alte Freiherr fand es so unglaublich, unerhört und thöricht, daß seine Tochter einen Lieutenant von Burghaus heirathen wolle, daß er ihr am Ende jener Scene erhitzt und zornig die Erlaubniß gab, frei zu thun, was sie wolle, noch morgen mit dem Manne, dem sie sich verlobt, in die Kirche zu gehen – er war überzeugt, daß seine Tochter, wenn ihr ganz allein die Verantwortlichkeit für ihr Handeln zugeschoben werde, niemals den Muth haben würde, den entscheidenden Schritt zu thun; aber Hedwig, die im stillen den zuflüsternden Rath ihrer mit ihrem Herzenskummer unerwartet lebhaft sympathisirenden Cousine Wallburg fand, hatte den Muth; sie ging zwar nicht am andern Tage mit ihrem Verlobten zur Kirche, aber sie reiste zur Schwester desselben nach Danzig, und dort heirathete sie ihn. Der Freiherr von Nesselbrook aber sah sie nie wieder und nannte von diesem Tage an seinen Neffen Rudolf seinen Stammerben.

Der Freiherr, schien es, trug die Wunde, welche sein einziges Kind ihm geschlagen, ziemlich getrost. Nur Wallburg, welche seitdem die Aufgabe hatte, ihm in seinen von jetzt an oft schlaflosen Nächten vorzulesen, die dabei die Beobachtung machte, daß er zuweilen mit Büchern ganz anderer Art, als woraus sie ihm früher vorgelesen, beschäftigt war, mit Büchern, deren eigentlichen Standpunkt zur Kirche und Orthodoxie sie zwar nicht zu bestimmen im Stande gewesen wäre, die ihr aber sehr indexhaft und ungeheuerlich vorkamen – nur Wallburg, die es seitdem schwerer fand, ihn zu erheitern und zu lenken, hätte vielleicht einige Andeutungen darüber geben können, daß jenes Ereigniß doch etwas wie einen Wendepunkt im innern Leben des Freiherrn hervorgebracht, daß es ihn wie irregemacht an sich selbst.

Es begann nun auch des letztern Verkehr mit dem geistlichen Rathe eine größere Lebhaftigkeit anzunehmen, ein Verkehr, der von fortwährendem gelehrtem Streite begleitet war, aber darum nicht weniger ein Bedürfniß des Freiherrn wurde; es war, als ob dieser den Widerspruch suche und die Widerstandsfähigkeit und Unbesieglichkeit seiner alten Ideen und Anschauungen erproben wolle, indem er sie wider einen Gegner ins Feld führte.

Mehr und mehr aber überließ Nesselbrook jegliche äußere Sorge der allwaltenden Nichte, und diese wurde in allen praktischen Lebensangelegenheiten endlich sein vollständiger Vormund. Endlich verlobte auch sie sich; sie hatte sich einen harmlosen, heitern und gutmüthigen Junker, einen »spaßhaften Menschen«, wie man ihn nannte, ausgesucht, dessen Hauptverdienst das war, daß er zwar einer völlig verarmten, aber sehr alten, sehr vornehmen, einst unbestritten im Lande hervorragenden Familie Stammherr war.

Der Freiherr verließ Deutschland, nachdem er Wallburg reich ausgestattet und ihr gesagt hatte, daß er längst ein Testament deponirt habe, welches Rudolf zum Erben aller seiner Güter mache – er ließ sie auf Dornegge schalten und walten – er blieb fern – erst nach Jahren kam eine Nachricht, er sei todt; sein Testament wurde eröffnet, und danach fielen in der That die Güter, deren Verwaltung er während einer Abwesenheit bereits Wallburg überlassen, dem Neffen, dem Stammherrn der Nesselbrook, zu; als dieser nach einiger Zeit ohne Erben starb, gingen sie auf Wallburg über.

Die enterbte Tochter hatte unterdeß das Leben einer Offiziersfrau geführt, still, eingeschränkt, kühl behandelt von ihren frühern Standesgenossen, ihnen allen nach und nach so entfremdet wie mit den Ihrigen zerfallen, das Ideal von Glück, welches ihre Leidenschaft ihr vorgespiegelt, in ihrer Ehe schwerlich findend, und vielleicht dennoch innerlich reicher, glücklicher, das Leben tiefer ergründend, als wenn sie dem Schicksale, das ihr von ihrer Wiege an gewinkt, gefolgt und die Gebieterin auf einem schönen, glänzenden und herzlich langweiligen Grafenschlosse geworden wäre, in welches sie eine vernünftige Conventionsehe geführt.

Sie hatte zwei Kinder, an denen sie Freude erlebte und für deren Erziehung sie alles aufwenden konnte, da ihr aus dem Alodialvermögen ihres Vaters als ihr Pflichttheil eine namhafte Summe zugefallen war. Es waren eine Tochter und ein Sohn, Gundobald, der die Beamtenlaufbahn eingeschlagen hatte. Während der Zeit seiner Studien war Hedwig von Nesselbrook gestorben. Sein Vater lebte als pensionirter Hauptmann mit dem Majorstitel da, wo der Stammvater des Geschlechts, der Großvater, seine letzten Tage zugebracht, in Danzig.

Gundobald aber war in der Mutter Heimatland zurückgekehrt; hier lebte er vom letzten Reste des Vermögens seiner Mutter. Hier auch hatte ihn Graf Boto aufgesucht und ihn nach Edern gezogen, wo ihn Gräfin Wallburg als den Sohn ihrer Cousine mit großer Zuvorkommenheit aufgenommen.

Alles andere war Anna Morell bekannt, und während der Geistliche es Gundobald und Herminen mittheilte, hörte sie nur noch zerstreut zu. Das Bild des Familienkreises auf Haus Dornegge, wie der Rath Zander es geschildert, blieb ihr vor Augen stehen, und vor allem der Mittelpunkt dieses Kreises, der eigenthümliche Charakter des alten Freiherrn, mit seinem excentrischen Gedankenleben, mit seiner Kraft, die nicht blos mit seinen Verhältnissen zu brechen und seinen Umgebungen in dem Augenblicke, wo er zwischen sich und ihnen einen nicht zu überbrückenden Abgrund entdeckte, abzusagen vermochte, sondern die auch mit sich selber, mit all seinem frühern Denken, Dichten und Trachten zu brechen im Stande war.

Es lag in der Gestalt dieses Freiherrn etwas, das Anna wohlthat, das ihr selber ein Gefühl von Kraft gab; es war ein Band der Sympathie zwischen dem Geiste dieses Mannes und dem ihren gewoben, das sie, als handle es sich um ihre eigene Sache, nach jenem Testament verlangen ließ, in welchem sich das Endresultat seines Lebens aufgezeichnet fand.

Gundobald, Hermine und der geistliche Rath sprachen lange über dieses selbe Testament, ohne der Lage der Dinge durch die Erörterung eine Seite abzugewinnen, welche ihnen eine große Hoffnung einflößte.

Könnte ich Dornegge sehen? unterbrach Anna diese Unterhaltung. Wem gehört es heute, wer bewohnt es?

Der geistliche Rath gab die Auskunft: es war von niemand bewohnt; es war von Gräfin Wallburg längst verkauft und stand wieder zum Verkaufe.

Ich habe den dringenden Wunsch, es zu sehen, sagte Anna. Wenn Sie mich hinbegleiten, es mir zeigen wollten? wandte sie sich an den Rath, und dann zu Hermine sich wendend, fügte sie lächelnd hinzu: Um einen solchen kleinen Ausflug zu machen, muß ich freilich voraussetzen, daß Sie mir noch auf einige Tage den gastlichen Schutz Ihres Hauses gewähren – zürnen Sie mir nicht – die Verhältnisse, die mich an Ihr Haus binden, sind stärker als mein Wunsch, Ihnen nicht lästig zu fallen Sie werden das einsehen, wenn ich Ihnen alles, alles gesagt habe – für jetzt nur so viel: ich habe längst von dem Baron Chevaudun für den Dienst, den ich ihm geleistet, einen Gegendienst gefordert. Ich habe von ihm verlangt, daß er Nachforschungen in den alten Papieren des Bankhauses Heckermanns anstellen lasse, ob sich keine genauern Angaben über die Bestimmung jener Summe darin finden; und ich habe zweitens von ihm verlangt, daß er seine mannichfaltigen und weitreichenden Verbindungen dazu benutze, um auf dem Berge Athos nach dem Nachlasse des Freiherrn von Nesselbrook Forschungen und Erkundigungen anstellen zu lassen. Ich möchte nicht scheiden, bevor seine Antwort in meinen Händen ist. Und damit sie sicher in meine Hände gelangt, werde ich den Baron noch heute bitten, sie unter der Adresse des geistlichen Raths an mich gelangen zu lassen.

Die Männer dankten eifrig für das, was sie gethan. Hermine gab ihr die Versicherung, daß sie wünsche, Fräulein Morell fühle sich in Gohr wie zu Hause – aber Anna entging nicht, daß in Herminens Ton und Wesen gegen sie eine Zurückhaltung, etwas von einem Mistrauen lag, dessen Grund Anna zu gut verstand, um es ihr nicht zu verzeihen.

Im Gegentheil; es lag etwas Wohlthuendes für sie darin. Was auch immer Prinz Günther und Graf Boto von ihr wußten – nach dem, was sie heute erlebt, mußte sie ja annehmen, daß man nur in Edern vom Inhalt ihrer Kassette gewußt und ihn für ihr Eigenthum gehalten –, auf Haus Gohr hatte man nur die arme Gouvernante in ihr gesehen, und betrachtete sie noch so, und nur um eine solche hatte Dankmar geworben! –

 

Unterdeß saßen zu Edern schon die Gräfin, Boto und der Staatsanwalt zu einer Berathung zusammen. Boto war sehr erregt heimgekommen, und was er seiner Mutter zu berichten gehabt, hatte auf diese natürlich nicht weniger aufregend gewirkt. Jetzt war der erste Schrecken vorüber, und nach näherer Betrachtung waren die Gräfin und Boto in zuversichtlicher Stimmung und nicht unzufrieden mit der Wendung, welche die Dinge genommen.

Das Testament, von dessen Existenz die Gräfin wußte, das ihr wie ein Damoklesschwert über dem Haupte gehangen, war nicht in Zander's Händen, er hatte nicht einmal erklären können, wo es denn sei! Zander hatte es in all der Zeit von Jahren, die ihm dazu geblieben, nicht herbeischaffen können – es war dann nicht sehr wahrscheinlich, daß er es in Zukunft können werde.

Anna Morell hatte sich als das, was sie war, als eine einfache Gouvernante herausgestellt – mit dem Gelde, welches sie bei sich führte, nur betraut – Boto konnte sich über den erhaltenen Korb trösten, wie die Gräfin sich tröstete, daß ihr Plan einer Verbindung zwischen Gundobald und Edwine zu Wasser geworden. Sie hatte nun das Ihrige gethan. Sie hatte Gundobald entschädigen wollen für das, was ihm entzogen werden. Nicht ihre Schuld war es, wenn ihre gute Absicht nicht zur Ausführung kam. Wenn der Inhalt jener Kassette zum Erisapfel geworden – sie konnte nicht davor – und nur das bekümmerte sie, daß Boto's Plane und Anschläge die sonst vielleicht verborgen gebliebene Testamentsangelegenheit zu einer offenkundigen Sache gemacht. Doch mußte sie das ja durch den Streit um das von Anna mitgebrachte Geld ohnehin werden!

Der Staatsanwalt erklärte, was der Arzt ihm vorhin über Beltram's Verwundung mitgetheilt, nehme der Sache die Bedeutung, welche er nach der ersten Erklärung des Sanitätsraths am gestrigen Abende ihr beigelegt.

Der Sanitätsrath, sagte er, sieht nach dem Befunde von heute Morgen keine eigentliche Gefahr mehr und hofft eine rasche Heilung, wenn nicht störende Zwischenfälle eintreten, wie sie sich allerdings aus der Beschaffenheit der Säfte des jungen Mannes entwickeln können. Aber das wäre abzuwarten.

Wir haben nichts dawider; im Gegentheil, versetzte die Gräfin, Sie werden uns verpflichten, Herr Staatsanwalt, wenn Sie Dankmar von Gohr unverfolgt lassen und ein Verfahren unterbleibt, in welches Bewohner unsers Hauses verwickelt sein würden …

Obwol das am heutigen Morgen nicht ganz Ihre Ansicht schien, Frau Gräfin, antwortete der Beamte, so werde ich doch sicherlich auf diesen Wunsch so viel Rücksicht nehmen, als es mir meine Amtspflicht erlaubt, und nicht mehr thun, als ich eben thun muß. So viel ist gewiß, daß eine Anklage des Herrn von Gohr vor Geschworenen schwerlich mit etwas anderm als einer Freisprechung enden würde. Wir würden ganz ohne Zweifel damit durchfallen: die Geschworenen würden, was Herr von Beltram sich geholt, einen verdienten Denkzettel nennen. Die Vertheidigung hätte eine glänzende Position. Dazu würde ich nur mit innerm Widerstreben Fräulein Morell in die peinliche Lage versetzen, in einem solchen Falle öffentlich als Zeugin auftreten zu müssen.

Fräulein Morell, fiel die Gräfin spöttisch ein, scheint sich schnell auch Ihre Sympathien erobert zu haben!

Ganz gewiß, versetzte ein wenig scharf der Staatsanwalt – die Sympathien, welche man stets mit demjenigen fühlt, den man sich verleiten ließ, grundlos zu beargwöhnen!

Er legte einen bedeutungsvollen Nachdruck auf die Worte, »verleiten ließ«.

Sie werden also gegen Dankmar von Gohr so milde verfahren, wie Sie können, nahm jetzt Boto das Wort – wir werden Ihnen dankbar dafür sein was aber ist Ihre Ansicht in Bezug auf das Testament, auf die in Burghaus Händen befindliche Summe?

Was das Testament angeht, so kann es Sie natürlich nicht im geringsten beirren, solange es Ihnen nicht vorgelegt wird. Bei der Geldsumme aber kommt es darauf an, unter welchen Umständen sie deponirt und Herrn von Burghaus zugewendet ist. Wurde sie ohne weitere Bestimmung deponirt, so gehört sie den Universalerben infolge des ersten Testaments, das ja bisjetzt das einzig existirende ist. Wurde sie mit der ausdrücklichen Bestimmung für den Rath Zander oder für Herrn von Burghaus deponirt, so ist gar kein Grund vorhanden, diese durch eine Handlung ausgedrückte letzte Willensäußerung des Erblassers nicht als eine Art Codicill oder nicht als eine Schenkung unter Lebenden anzusehen, und die Summe gehört Herrn von Burghaus.

Dieser Punkt müßte also untersucht werden – in Belgien, bemerkte die Gräfin.

Unterdeß würde sich gerichtliche Beschlagnahme des Geldes empfehlen? sagte Boto.

Der Staatsanwalt zuckte die Achseln.

Beati possidentes! antwortete er.

Würde das Gericht einen solchen Antrag abweisen?

Das weiß ich nicht, versetzte der Staatsanwalt. Versuchen Sie's!

Und ist ein solches Testament, wie das, von welchem der Rath Zander spricht, überhaupt gültig? Kann eine solche im stillen aufgesetzte Schrift ein gerichtlich niedergelegtes, feierlich eröffnetes und längst zur Ausführung gekommenes Testament wieder umstoßen?

Wenn das zweite Testament in den richtigen Formen errichtet ist, sicherlich!

Welche Formen sind das?

Es muß von der eigenen Hand des Erblassers geschrieben und seine Unterschrift von sieben Zeugen beglaubigt sein.

Müssen diese sieben Zeugen den Inhalt des Testaments gekannt, müssen sie ihn verstanden haben? fragte die Gräfin.

Der Staatsanwalt zog seine Stirnfalten ein wenig zusammen und schien in seinem Gedächtnisse zu wühlen; dann antwortete er:

Ich muß Ihnen gestehen, gnädigste Gräfin, daß ich das nicht weiß – man muß darüber im Landrechte nachsehen.

Es scheint, die Herren Juristen sind über sehr einfache Fragen …

Oft ein wenig im Ungewissen, fiel lachend der Staatsanwalt ein. Seien Sie darüber nicht betroffen, Frau Gräfin, und glauben nicht etwa, ich sei ein vorzugsweise ununterrichtetes Exemplar der Gattung – gerathen Sie in Detailfragen, die mit unserer täglichen Berufsarbeit nichts zu schaffen haben, so wissen wir alle nicht mehr! Der Jurist von ehemals hatte sein Lehrbuch, sein System im Kopfe und konnte die einzelnen Fragen von gewissen Grundprincipien aus in wissenschaftlichem Geiste beantworten; der Jurist von heute, der Jurist unsers Staats ist eine Art gerichtlicher Encyklopädie und es kommt ja oft vor, daß man in der Encyklopädie den Artikel, welchen man eben sucht, nicht findet!

Nach diesem Stoßseufzer über den Stand seiner Berufswissenschaft empfahl sich der Staatsanwalt und ließ Mutter und Sohn sich allein gegenüber.

Das Ergebniß des Gesprächs, welches beide nun pflogen, war, daß Boto in die Stadt zu seinem Advocaten fuhr.


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