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Zehntes Kapitel.
Der Familienrath

Unterdeß saß Gräfin Wallburg Edern in ihrer Sofaecke im Wohnzimmer, auf ihrem gewöhnlichen Hochsitze, von dem herab sie ihre kleine Welt zu beherrschen und zu leiten gewohnt war. Sie war in einer Entrüstung und einer Aufregung wie seit Jahren nicht; und die ersten Ausbrüche ihres Zornes hatte derjenige unter allen Sterblichen, welcher sie am wenigsten verdiente, über sich ergehen zu lassen. Graf Achatz saß ihr gegenüber mit einer stillen Duldermiene, durch die von Zeit zu Zeit ein wehmüthiges Spottlächeln flog. Es war dunkler Abend geworden, und auf den runden Tisch vor Gräfin Wallburg Edern war eine Lampe gestellt; Graf Achatz schraubte von Zeit zu Zeit den Docht ein wenig weiter in die Höhe, als wenn er in seiner sanften Seele bei allem, was ihm die »Norne« verkündigte, sich nach »mehr Licht« sehnte.

Ich glaube gar, du lächelst noch, Achatz, rief endlich die Gräfin aus; laß doch die Lampe, sie qualmt ja bereits – du lächelst noch, wenn ein Sterbender im Hause liegt – o mein Gott, es gibt Menschen, die von der Natur auf eine für sie so angenehme Weise eingerichtet sind, daß jedes Ereigniß, es sei schlimm oder gut, nur dazu dient, ihre Zufriedenheit mit sich selber zu steigern oder ihr Selbstbewußtsein aufzublasen; die aus Wohlgefallen an sich selber lächeln, wenn der Himmel einstürzt – sie haben es dann ja vorausgesagt, oder sie haben die Ueberzeugung, daß, wenn man zeitig genug sie zu Rathe gezogen hätte, der Himmel bessere Stützen bekommen haben würde!

Meine liebe Wallburg, versetzte Graf Achat, du wirfst mir einen Hochmuth vor, den ich wirklich nicht habe. Ich habe genug zu thun, den Himmel meines Eheglücks zu tragen; es fällt mir nicht ein, mich auch an der Aufrechthaltung des andern thätig betheiligen zu wollen. Aber ich glaube, daß, wenn auch der Himmel einstürzt, man sich nicht so aus der Ruhe bringen lassen sollte, wie ich dich eben sehe. Hat der arme Beltram bei irgendeiner mir bisjetzt noch nicht ganz klaren Gelegenheit eine Kugel in den Leib bekommen, so ist das für ihn sehr verdrießlich und uns macht es große Störung und Last im Hause. Ich bin darin völlig mit dir einverstanden. Aber ich glaube, ein weiser Mann bereitet und übt sich am besten zum Ertragen des eigenen Unglücks, das ihm noch bevorstehen mag, dadurch vor, daß er das Unglück seiner Nebenmenschen mit Fassung und ungetrübter Seelenruhe aufzunehmen lernt. Auch geht alles vorüber, liebe Wallburg, es geht alles vorüber!

Und das ist wirklich alles, was du dazu zu sagen weißt?

Ja, liebe Wallburg, alles. Man muß es nur abwarten. Sieh, mein Schatz, wenn eine Kugel dicht in unserer Nähe abgeschossen wird, scheint es uns von großer Bedeutung, ob dieselbe uns in den Leib fährt, oder ob sie zehn Schuh weit von uns vorbeipfeift. Nach einer Reihe von Jahren aber, wenn uns der Teufel ohnehin geholt hat, ist es völlig einerlei. Es geht eben alles vorüber, und man muß nur den Augenblick abwarten, wo alles völlig einerlei ist!

Unsinn! Du bist ein herzloser Mensch, Achatz, so reden zu können, mit einem Sterbenden unter Einem Dache!

Ach, rede mir nicht immer vom Sterben; du weißt, daß meine persönlichen Gefühle dadurch verletzt werden! Ich mag nun einmal vom Sterben nicht hören. Dieser Beltram ist ein guter Mensch; er wird meine persönlichen Gefühle besser zu schonen wissen und mir keinen Weihrauchgeruch ins Haus bringen, sondern seine blaue Bohne schon verdauen – er ist kräftig und jung!

Jung ist er, aber kräftig nicht; solch ein liederlicher Mensch hat gründlich verdorbene Säfte – er wird den Morgen nicht erleben. Aber vor dem Morgen auch noch soll mir die Person aus dem Hause, die all dieses Unheil angerichtet hat, diese hochmüthige, unausstehliche Creatur, die euch allen den Kopf verrückt, diese gottlose Kokette!

Meinst du Fräulein Morell?

Wen anders! Ihr verdanken wir das ganze Unglück. Ihre Koketterien …

Hast du je Koketterie an ihr bemerkt?

In meiner Gegenwart nimmt sie sich in Acht – freilich – aber hinter meinem Rücken – sie verdreht ja euch allen den Kopf!

Und ein Weib sieht einen verdrehten Männerkopf immer wie ein geköpftes Johannishaupt auf einer Schüssel voll vom Salz weiblicher Koketterie liegen. Ich sage dir, Wallburg, es gibt verdrehte Männerköpfe genug, ohne daß eine kokette Herodias dabeiwäre!

Es gibt verdrehte Männerköpfe, versetzte die Gräfin seufzend – ja, freilich!

In diesem Augenblicke kam Comtesse Bertha hereingesprungen. Sie eilte auf die Gräfin zu und flüsterte in großer Aufregung:

Denk dir, Mama, Fräulein Morell ist mit Einpacken beschäftigt, sie scheint abreisen zu wollen.

Das macht wenigstens ihrer Klugheit Ehre, versetzte die Gräfin zornig – sie sieht doch wenigstens ein, daß sie …

Die Gräfin blickte auf, weil die Thür sich abermals öffnete, und als sie sah, daß es Boto war, der eintrat, vollendete sie:

Daß sie keinen Augenblick länger hier in Edern bleiben kann!

Boto kam leisen Schrittes, sich auf einen Stuhl neben seiner Mutter niederzulassen; er legte die Hand auf ihren Arm und sagte:

Mach' keine voreiligen Schritte, liebe Mama; da ich von Bertha hörte, daß du Fräulein Morell zu dir bestellt, habe ich ihr eben sagen lassen, daß du zu angegriffen seiest und sie morgen zu sprechen vorzögest; ich habe erst mit dir zu verhandeln. Fräulein Morell darf Edern nicht so rasch verlassen, wie du beschlossen zu haben scheinst!

Gehört der auch zu den Köpfen auf der Salzschüssel? sagte Achatz spöttisch. Boto blickte ihn an; dann, ohne es der Mühe werth zu finden, sich die Bemerkung des alten Herrn erklären zu lassen, fuhr er zu seiner Mutter gewendet fort: Du mußt wissen, dieses Fräulein Morell ist eine höchst merkwürdige Person … eine Person, die … die es vom höchsten Interesse für uns sein könnte, hier zu halten, vom allerhöchsten, und um dir alles zu sagen – aber laß Bertha dir erzählen, was sie vorgestern gefunden hat.

Und was hat Bertha gefunden? fragte Gräfin Edern verwundert.

Fräulein Morell, fiel Bertha, die mit gespanntester Miene bald Boto, bald ihre Mutter angeblickt, höchst aufgeregt und eifrig ein, hat eine schöne und sehr schwere Kassette, welche sie immer besonders sorgfältig hütet. Ich war längst neugierig, was sie darin bergen könne; aber die Kassette war mit einem Buchstabenschlosse verschlossen, und deshalb konnte ich nichts anderes thun, als mir vornehmen, sie einmal zu überraschen, wenn sie ihre Kassette öffne. Dazu fand ich aber gar keine Gelegenheit, denn sie hielt sie in dem großen Kleiderschranke verschlossen und ging nie daran. Aber neulich morgens sah ich sie am Fenster oben in unserm Zimmer stehen; es hatte in der Nacht geregnet, und die Kälte der Nacht hatte die Scheiben stark beschlagen gemacht. Und nun stand Fräulein Morell vor dem Fenster und schrieb mit dem Nagel des kleinen Fingers ein Wort auf die Scheibe, verwischte es dann und wählte eine andere Stelle der Scheibe, um das Wort von neuem zu schreiben. Ich dachte, was schreibt sie da – gewiß den Namen eines Liebhabers – ganz gewiß – wie mag ihr Liebhaber heißen – ich hätte es gar zu gern erfahren – ich trat näher, ohne daß sie mich hörte; ich bekam das Wort, das sie schrieb, auch zu lesen; aber es hieß Tehuantepec. Tehuantepec – so konnte doch kein Liebhaber heißen – nicht wahr, Mama, das war klar? Aber, dachte ich, was hat sie denn mit dem Worte zu thun, wenn es das nicht sein kann? Und da, da schoß mir ein Gedanke durch den Kopf – wenn Tehuantepec nicht ihr Liebhaber ist, dacht' ich, so ist es vielleicht das Wort zu ihrem Buchstabenschloß! Und nun merkte ich mir das Wort …

Das rührend intelligente Kind! rief hier Graf Achat, die Hände faltend, dazwischen. Wie naiv sich in ihm das ewig Weibliche bewährt!

Um Gottes willen, so unterbrich sie bei so wichtigen Dingen doch nicht! versetzte Gräfin Edern unwillig. Fahre fort, Bertha!

Ich merkte mir das Wort, erzählte Bertha weiter, und schrieb es mir auf, und als Fräulein Morell neulich ausgegangen war, da holte ich mir den Schlüssel des Porzellanschrankes unten in der Anrichte – du weißt, der schließt auch den Kleiderschrank oben in Fräulein Morell's Zimmer …

Davon weiß ich zwar nichts, fiel Gräfin Wallburg ein – aber fahre fort!

Wohl dem, der Freude erlebt an seinen Kindern! unterbrach hier abermals Achatz mit einem Tone, dessen trockene Ironie etwas unbeschreiblich Komisches hatte, ohne von den Anwesenden gewürdigt zu werden.

Bertha berichtete unbeirrt dadurch weiter:

Ich öffnete also damit den Kleiderschrank und nahm die Kassette heraus – sie war so schwer, du glaubst es gar nicht, Mama und dann schob ich die Ringe, die das Schloß bilden, zurecht, bis ich richtig das Wort Tehuantepec daraus bekommen hatte und mit dem Endbuchstaben C waren richtig auch die Ringe zu Ende, und das Schloß ließ sich aufstoßen und die Kassette öffnete sich und – was meinst du, was darin war, Mama?

Nun, was war's denn?

Oben lagen Papiere, in Bündel zusammengebunden, und darunter lagen Rollen, lauter kleine Roller, Hunderte von kleinen Rollen, solche, weißt du, die Gold enthalten; es waren so viele, daß ich erschrocken die Kassette wieder zuschlug und sie wieder in den Schrank stellen wollte; aber da hörte ich Boto's Schritt auf dem Corridor vorübergehen und so lief ich zur Thür und riegelte sie auf.

Sie hatte sie vorher zugeriegelt – das Kind ist zu intelligent! sagte Achatz, die Hände wie vor Bewunderung über dem Magen zusammenschlagend.

Diese Zwischenbemerkung hatte Bertha's Erzählung unterbrochen; es war Boto, der sie wieder aufnahm.

In der That, so war es, fiel er ein; als Bertha mich herbeigerufen und den Deckel der Kassette vor mir aufgeschlagen, erschrak ich gleichfalls vor der ungeheuern Summe von Gold, welche sich in dieser Kassette barg. Als ich dann die Papiere prüfte, welche oben auf den Goldrollen lagen, erstaunte ich noch mehr. Denn denk dir, liebe Mutter, ich fand lauter Werthpapiere – gleich das erste Bündel trug auf dem Umschlage die Notiz: Zweitausend Pfund Sterling in dreiprocentigen Consols.

Das sind ja allein schon fünfzigtausend Francs! rief Gräfin Edern höchst bestürzt aus.

Gewiß – und außerdem fand ich noch viele Bündel mit solchen Werthpapieren; nach der ganz oberflächlichen Berechnung, die ich machen konnte, mußte weit über eine halbe Million in der Kassette sein!

Unglaublich – unglaubliche Geschichte! sagte Gräfin Wallburg außer sich.

Aber das ist nicht alles, fuhr Boto fort; es war noch ein kleines, leichtes, schmales Bündel in einer gestickten Tasche da, die zwischen den andern Papieren lag, und dieses kleine, leichte Bündel war vielleicht noch mehr werth als alles andere.

Was war es? unterbrach ihn eifrig Gräfin Wallburg.

Es waren Wechselblankets, sämmtlich versehen mit Accepten, und unter den Accepten stand in seiner großen, kühnen Hand die Unterschrift des Barons Chevaudun.

Des Barons Chevaudun?

Ja, sodaß es weiter nichts bedurfte, als eine beliebige Summe auf die Blankets zu schreiben, und sie waren alles werth, was man gewollt, daß sie werth seien – in einem Zeitraume von fünf Minuten ließen sie sich in eine Million verwandeln oder in noch mehr!

Die Augen der Gräfin hatten sich immer mehr und mehr erweitert, während sie diesen hastig geflüsterten Bericht ihres Sohnes anhörte.

Ist denn das wirklich alles die Wahrheit, was du sagst, ist das wahr und kein Märchen, kein Traum? sagte sie jetzt. Das ist ja eine Geschichte, wobei mir der Verstand stillsteht!

Ich kann nicht sagen, daß die Entdeckung gerade diese Wirkung auf mich machte, fuhr Boto fort; im Gegentheil, mein Verstand hat seitdem ziemlich gearbeitet.

Und was hat dein Verstand verarbeitet? Hast du eine Lösung zu diesem Räthsel gefunden?

Nein, das nicht. Aber höre mich zu Ende. Zunächst habe ich die Kassette sorgfältig wieder geschlossen und an ihre alte Stelle gebracht und Bertha streng Stillschweigen anbefohlen.

Auch gegen mich, scheint es, fiel Gräfin Wallburg ein.

Zürne mir deshalb nicht, liebe Mutter – ich hatte bestimmte Gründe dazu, die ich dir ein anderes mal sagen werde – also, ich brachte die Kassette an ihren Ort zurück und nahm zunächst der Sicherheit wegen den Porzellanschrankschlüssel an mich.

Das hättest du nicht zu thun brauchen – ich würde es niemand gesagt haben, fiel Bertha ein.

Du brauchst deshalb nicht beleidigt zu sein, versetzte Boto – es konnte auch noch außer dir jemand wissen, daß dieser Schlüssel auch zum Schranke des Fräuleins Morell paßt.

Zankt nicht über den Schlüssel, sag' mir, was du denkst, Boto! fiel Gräfin Edern in ihrer Spannung ein.

Ich denke, daß dieser Reichthum dem Fräulein Morell gehören muß; denn wenn er ihr nicht gehörte, wem sollte er gehören? Es ist niemand so thöricht, einen solchen Schatz einem jungen Mädchen zum Aufheben zu geben. Die schwachen Hände eines schutzlosen jungen Mädchens sind die letzten, in welche man Millionen zum Aufbewahren gibt!

Die Gräfin nickte ihre Beistimmung.

Und dann, fuhr Boto fort, wenn dieser Schatz ihr gehört, ihr Eigen ist, so ist er auch ihr rechtmäßiges Eigen, trotzdem, daß sie ihn verbirgt!

Aber ich bitte dich, eine Gouvernante, ein Geschöpf, das in einer dienenden Stellung sich sein Brot erwirbt!

Und dennoch – ich bin fest überzeugt, daß dieses Mädchen mit ihrem hochmüthigen Charakter, ihrer ruhigen Sicherheit nichts thut und nichts besitzt, was sie verbergen müßte. Daß sie eine Maske trägt, ist klar. Die Gründe, weshalb sie es thut, sind jedoch keine unehrenhaften, das dürfen wir dreist annehmen. Aber die Gründe sind freilich geheimnißvoll …

Geheimnisvoll, wenn je etwas es war! fiel Gräfin Wallburg ein.

Und doch darf man so viel annehmen, daß die Gründe eben in dem großen Reichthume dieses Mädchens liegen.

Allerdings, sagte Gräfin Edern; vielleicht wird sie verfolgt um dieses Reichthums willen, vielleicht besteht eine Verschwörung habgieriger Verwandten, welche sie mit Gewalt verheirathen, um ihr Geld beschwindeln, für irre ausgeben, in ein Kloster zu gehen bereden wollen, sodaß sie zu dem Entschlusse gekommen ist, sich in einem andern Lande, unter einem andern Namen in einer Stellung zu verbergen, in welcher man sie am wenigsten sucht.

Alles das ist möglich, entgegnete Boto. Und das wird sich ja in nicht zu langer Frist ermitteln lassen. Ich habe mir gedacht, es würde das Zweckmäßigste sein, wenn du, liebe Mutter, in die Stadt zum Bischofe führest, dem sie, wie sie einmal fallen ließ, empfohlen ist, um zu erfahren, wie weit er eigentlich in ihre Verhältnisse eingeweiht ist; ich würde unterdeß an den Baron Chevaudun schreiben, denn da sie sich im Besitze einer Anzahl von Blankets dieses Mannes befindet, so ist es augenscheinlich, daß dieser sie genau kennt – es ist ein unbegrenztes Vertrauen, welches er in sie setzt, sonst würde er ihr nicht solche Papiere anvertrauen.

So viel ist gewiß, sagte die Gräfin, und dann setzte sie nach einer Pause nachdenklich hinzu:

Mein Gott, ich fasse mich noch immer nicht über das alles! Wenn ich denke, daß da oben in einem alten Kleiderschranke eine Million – liegt und daß diese Million einem jungen Mädchen – einer Gouvernante gehört!

Gräfin Edern ließ ihre Augen groß und wie fragend auf ihrem Sohne ruhen; es arbeitete augenscheinlich unter der Stirn der »Norne« etwas, das sich noch in chaotischer Verwirrung befand, für das sie noch keinen Ausdruck finden konnte.

Boto blickte sie ebenfalls an; aber seine Blicke waren bestimmter, fester, schärfer; das Chaos seiner Gedanken war längst gelichtet und hatte sich zu einem bestimmten Vornehmen gestaltet.

Bei Graf Achatz hatte es dagegen gar nicht den Anschein, als ob er mit irgendeiner Gedankenverwirrung bei einer solchen überraschenden Lage der Dinge zu kämpfen habe; er warf ganz einfach die Bemerkung hin:

Boto muß sie heirathen! Boto, ich sage dir, du mußt sie heirathen – seht ihr ein, daß ich recht hatte, als mir dieses Mädchen gleich so gefiel! Ja, ja, ja, ich habe Menschenkenntniß, mehr als ihr alle, mehr als ihr alle; ich habe ihr gleich angesehen, daß sie ein Prachtmädel sei – ich habe sie immer gegen euch in Schutz genommen; ich sage dir, du sollst sie heirathen, Boto!

Gräfin Edern blickte ihren Gatten zürnend an; je mehr er den letzten Kern ihrer eigenen Gedanken aussprach, desto verweisender sagte sie:

Wie du gleich so alberne Dinge sprechen magst! Wir wissen ja nicht einmal, ob sie auch noch frei ist!

Wäre sie nicht mehr frei, so hätte sie einen Beschützer und wäre nicht hier, sollt' ich denken, fiel Boto ein.

Darin liegt etwas Wahres, versetzte Gräfin Edern – aber sie ist bürgerlich, soviel wir wissen, wenigstens …

Und wir sind adelich, sehr adelich, ganz furchtbar adelich – der Adel, sagte Achatz in seinem trockenen Tone, von dem nie recht erkennbar war, ob er ernst oder spöttisch gemeint sei – der Adel schaut bei uns aus den Dachluken heraus, er dampft aus unsern Schornsteinen, er klappert in unserm Eßzimmer aus den wappenbemalten Tellern und er rasselt im Zugwinde auf unserm Speicher, wo die paar alten Rüstungen stehen; wir sind adelich bis in die alte Thierbude Noah's, bis in Eva's Schos – Gott sei gepriesen, denn es ist eine schöne Sache und eine angenehme Einrichtung! Aber weißt du, liebe Wallburg, was in diesen schlechten Zeiten noch adelicher ist? Das ist eine gute, baare, goldene, klingende Million! Die hebt eine Stalldirne in unsern Heerschild!

Achatz, du sprichst wieder Dinge, daß ich Bertha hinaussenden muß! antwortete die Gräfin gereizt. Geh' auf dein Zimmer, Bertha!

Bertha ging schmollend. Sie hätte gar zu gern das Resultat dieses Familienraths mit angehört.

Als Bertha verschwunden war, flüsterte Boto:

Ich weiß zwar, Mama, daß du andere Plane, Plane, welche dir gewaltig am Herzen liegen, hast. Wenn ich dir aber sage, daß Fräulein Morell mir persönlich eine anziehende Erscheinung ist, so wirst du vielleicht einräumen, daß des Papas Hindeutung auf …

Meine andern Plane, fiel Gräfin Edern sinnend ein, müssen mir am Herzen liegen – aber vor der Thatsache, welche du mir eben enthülltest, müssen sie freilich zurückstehen. Wenn dir Fräulein Morell eine anziehende Erscheinung ist …

Sie ist es in so hohem Maße, fiel Boto in demselben Flüstertone ein, daß ich mich bereits gegen sie ausgesprochen habe – ich mußte mir den großen Vortheil sichern, den mir der Umstand gab, daß ich jetzt noch mich anscheinend um eine arme Gouvernante bewarb, die hinter meinen Eröffnungen nichts als die reine und aufrichtige Neigung des Herzens erkennen konnte …

Du hast dich schon gegen sie ausgesprochen? Was doch alles hinter meinem Rücken vorgeht! bemerkte die Gräfin scharf.

Ich fürchtete eben deine Misbilligung, liebe Mutter – du weißt, wegen der Eröffnungen von neulich.

Und was erwiderte dir das junge Mädchen?

Nicht viel Günstiges – aber das schreckt mich nicht ab.

Es braucht dich nicht abzuschrecken. Ein erster Korb hat nichts zu bedeuten!

Ich denke auch. Geschmeichelte Eitelkeit ist immer der Schlüssel zu einem jungen Mädchenherzen. Solange sie Gouvernante bleibt, habe ich auch die Hoffnung, daß eine Bewerbung wie die meine sie endlich rühren wird. Aber du siehst ein, liebe Mutter, daß für uns alles davon abhängt, daß sie hier bleibt, und daß sie als Gouvernante hier bleibt; fällt ihr Incognito, so fallen alle Vortheile meiner Bewerbung weg.

Gewiß, gewiß, sie darf nicht gehen!

Nein, sie darf nicht gehen! sagte Boto mit äußerster Bestimmtheit.

Aber wie sie halten, wenn sie nach dem unseligen Vorfalle von heute gehen will? Es kommt noch etwas hinzu, was ihr den Aufenthalt hier peinlich machen wird – der Prinz hat mich verführt, in seinem Namen um sie zu werben.

Wäre der Prinz, wo der Pfeffer wächst! murmelte Boto – sie hat ihm einen Korb gegeben, natürlich?

Ohne alle Umschweife! Ich war entsetzt über ihren Hochmuth, ihren Unverstand. Jetzt begreife ich allerdings ihr Benehmen. Hättest du mir doch früher eine Silbe gesagt – ich würde mich gehütet haben, so gegen dein Interesse zu reden!

Was schadet's, wenn sie ihn so entschieden abgewiesen hat?

Es schadet immer, denn es verstärkt ihr Selbstgefühl, ihren Stolz, und es trägt jetzt dazu bei, sie in dem Wunsche zu bestärken, Edern zu verlassen.

Ich glaube nicht, daß der Prinz eine Persönlichkeit ist, um derentwillen ein Mädchen wie Fräulein Morell Entschlüsse faßt oder ändert. Wenn wir sie sonst zu halten vermögen – seine Anwesenheit wird sie nicht bestimmen, zu gehen!

Wenn wir sie zu halten vermögen! Wir müssen es! Aber wie – wie?

Boto blickte, die Stirnfalten runzelnd, zu Boden.

Sie ist so entschlossen, so willensstark, glaub' ich, bemerkte Gräfin Edern, daß es äußerst schwer halten würde, sie von einem einmal gefaßten Entschlusse zurückzubringen. Was soll man ihr sagen? Man bedürfe ihres Zeugnisses wegen Beltram's Verwundung? Sie kann auch an einem andern Orte ein solches Zeugniß ablegen.

Ich meine doch, man könnte ihr durch eine Gerichtsperson mittheilen lassen, daß sie vorderhand nicht gehen dürfe.

Wünschen wir denn nicht, wenn Beltram nicht sterben sollte, mit den Gerichten außer Berührung zu bleiben?

Das mag Prinz Günther wünschen, fiel Boto ein; er mag es im höchsten Grade wünschenswerth finden, daß eine Geschichte nicht ruchbar wird, welche auf sein Institut ein ganz eigenthümliches Licht werfen muß. Aber haben wir die Gerichte zu fürchten? Weshalb wir?

Schon um Gohr's willen! sagte die Gräfin zögernd.

Was Gohr gethan hat, mag er auch verantworten, versetzte Boto; mir scheint es am allerzweckmäßigsten, wir brauchen gerade das Gericht, um Fräulein Morell zurückzuhalten, wenn sie trotz allem, was du ihr sagen könntest, darauf bestehen sollte, zu gehen. Das Beste ist, ich handle dann so: Ich mache dem Gerichte Anzeige; ich bespreche mich mit dem Staatsanwalte, ich mache ihn nebenbei auf das Geheimnisvolle in Anna Morell's Erscheinung aufmerksam; ich lasse es ihm pflichtmäßig erscheinen, zu untersuchen, wie eine arme Gouvernante in den Besitz einer so gewaltigen Geldsumme kommt. Er wird sie festhalten; er wird das ganze Geheimniß ihrer Erscheinung zu lösen suchen; darüber wird sie erschrecken und, hülf- und beistandslos in eine gerichtliche Untersuchung verwickelt, sich nach einer Stütze, einem Freunde umsehen. Ich werde den größten Eifer zeigen, sie zu vertheidigen, sie zu schützen; ich werde alle Bürgschaften für sie stellen, werde ihr die Freiheit wiedergewinnen – kann es eine bessere Gelegenheit geben, ihr volles Vertrauen, ihre Dankbarkeit, ihre Hingebung zu gewinnen?

Ein zufriedenes Lächeln glitt über das Antlitz der Gräfin; sie sah mit einem Ausdrucke von Bewunderung ihren Sohn an.

Du hast ein fruchtbares Hirn, Boto, sagte sie, und ich glaube, dein Plan ist gut!

Gewiß, gewiß, Mutter, er ist gut! versetzte Boto, von seinem Entwurfe aufgeregt. Was meinst du, wenn ich noch heute Abend zum Staatsanwalt führe? Die Anzeige von der Verwundung Beltram's darf ja auch nicht aufgeschoben werden, wenn sie gemacht werden soll.

Es wird gut sein, wenn du noch heute Abend hinfährst. Fräulein Morell wird ohne Zweifel schon morgen in der Frühe Edern verlassen wollen. Einige Stunden werde ich sie unter Vorwänden halten können – aber nicht lange; und so wird es das Beste sein, daß du nicht säumst.

Wohl denn, ich gehe, sagte Boto, aufspringend. Unterdeß wäre es gut, wenn auch du nicht müßig wärest.

Was soll ich thun?

Du mußt sorgen, daß für Anna Morell nicht andere Vertheidiger sich finden, die mir Concurrenz machen. Der Prinz, Gundobald sind da. Sie müssen davon abgehalten, sie müssen eingenommen werden gegen das Mädchen. Du wirst das verstehen; einige geheimnißvolle Andeutungen, als ob dir genauere Nachrichten über sie zugekommen wären, welche ihren Charakter in einem zweifelhaften Lichte …

Gräfin Edern wollte ihn unterbrechen, als ein Diener die Thür öffnete und der kleine Herr, den wir auf dem Hofe auffahren gesehen haben, in das Zimmer trat. Es war ein höchst bewegliches Männchen, dem das reife Alter, welches sein graues Haupt- und Schnurrbarthaar verrieth, nichts von seiner Lebhaftigkeit genommen hatte.

Sie kommen, uns zu berichten, Herr Sanitätsrath, sagte die Gräfin, während der Arzt seine Verbeugungen machte – sprechen Sie rasch, wie steht es um Baron Beltram?

Es freut mich, daß ich Ihnen eine sehr beruhigende Antwort darauf geben kann, gnädigste Gräfin, versetzte der Sanitätsrath – die Sache ist nicht so schlimm, wie sie aussieht – aussehen thut sie freilich verzweifelt schlimm – nach dem ersten Augenschein zweifelte ich nicht daran, daß die Kugel zwischen zwei Rippen und durch den linken Lungenflügel durch und hinten zum Rücken wieder hinausgegangen sei – ich war überzeugt, daß er unrettbar verloren …

Nun, und das ist nicht der Fall? fiel Boto ein.

Ganz und gar nicht, fuhr der Doctor fort; wir haben hier wieder einen jener merkwürdigen Fälle, wo ein Zusammenspiel des Zufalls körperlicher Bildung mit der capriciösen Natur der Schußwaffe eine ganz absonderliche Rettung hervorbringt, deren providentiellen Charakter die Wissenschaft nicht leugnen soll, wenn sie auch über Ursache und Wirkung vollständige Rechenschaft zu geben vermag …

Das heißt, das heißt? fiel Boto ungeduldig dem wortreichen Manne in die Rede.

Das heißt, verehrter Herr Graf, daß die Kugel, welche den Baron Beltram getroffen hat, nicht durch seine Lunge hindurchgegangen ist, sondern auf eine Rippe aufgeschlagen, unter der Haut um die Rippen herum und drei Zoll vor der Rückenwirbelsäule wieder hinausgefahren ist, sodaß wir es mit einer vergleichsweise leichten Verwundung zu thun haben, deren Wirkungen trotz des großen Blutverlustes sich doch in einer weniger großen Prostration aller Kräfte äußern würden, wenn nicht mentale Zustände hinzukämen; die Angst und die Erschütterung, die Annahme, daß die Wunde lethal sei, haben auf Baron Beltram in einer Weise gewirkt, daß …

Und das nennen Sie eine leichte Verwundung? unterbrach hier Boto den Arzt wieder.

Nun ja, vergleichungsweise – freilich, vergleichungsweise!

Vergleichungsweise oder nicht vergleichungsweise, mir scheint mit einer solchen Sache nicht zu scherzen! Und wenn sie bei andern Menschen am Ende leicht sein könnte, bei Baron Beltram wird sie es nicht sein; der junge Mann hat sicherlich nicht mehr die unverdorbenen Säfte eines jugendkräftigen Körpers, dafür bürgt sein früherer Lebenswandel, und mir scheint es eine höchst bedenkliche Sache! So viel ich davon verstehe, werden sich Eiterungen, Zersetzung der Säfte, zehrendes Wundfieber und was weiß ich alles, daraus entwickeln!

Freilich, freilich, freilich! versetzte der Arzt, überrascht die Gräfin und Boto anblickend, bei der seine guten Nachrichten nur eine so bedingte Zufriedenheit hervorriefen. Man kann nicht einstehen für das, was sich daraus entwickelt, und wenn der junge Herr in seinem Körper eine Prädisposition mitbringt …

Eine Prädisposition zu allem Schlimmsten, verlassen Sie sich darauf, mein lieber Sanitätsrath! Wir würden es deshalb durchaus nicht mit Ihrer sonstigen gerühmten Behutsamkeit bei Ihren ärztlichen Behandlungen in Uebereinstimmung bringen können, wenn Sie die Wunde anders als eine höchst bedenkliche ansähen!

Ich habe durchaus nicht sagen wollen, daß sie das nicht sei, entgegnete der Arzt, noch immer betroffen von Graf Boto zu Gräfin Wallburg blickend und fügsam einlenkend. Indem ich nur die Versicherung gab, daß wir es durchaus nicht mit etwas absolut und augenblicklich Lethalem zu thun haben.

Nun ja, nun ja! fuhr Boto fort. Ich sehe, wir sind ganz einverstanden, und Sie werden auch mit mir darin einverstanden sein, daß es eine Pflicht für uns ist, die ganze Sache nicht etwa verbergen und vertuschen zu wollen, um müßigen Commentaren des Publikums zuvorzukommen, sondern sie zur Anzeige zu bringen!

Allerdings, sagte der Arzt zögernd und die Gräfin fragend anblickend, da er nicht wußte, welche Antwort von ihm verlangt wurde.

Es würde ein Verheimlichenwollen ja auch ganz fruchtlos sein, setzte die Gräfin hinzu, da die Gewissenhaftigkeit unsers lieben Sanitätsrathes bei einer solchen gewaltsamen und von so gefährlichen Folgen begleiteten That ihn selbst veranlaßt haben würde, eine Anzeige zu machen!

Gewiß, gewiß, antwortete der Doctor; es hätte ein wenig zu meinen Amtspflichten gehört, die Aufmerksamkeit der Behörden auf den Fall zu lenken …

So begleiten Sie mich, lieber Sanitätsrath, fiel Boto aufstehend ein; ich werde mit Ihnen in die Stadt fahren und wir werden beide gleich zusammen zum Staatsanwalt gehen; Sie werden sogleich Ihre Aussage über die Gefährlichkeit der Verwundung machen.

Ist mir ganz angenehm, erwiderte der Sanitätsrath, der jetzt ebenfalls aufstand und der bei einem so zwischen Gefährlichkeit und Ungefährlichkeit in der Mitte stehenden Falle durchaus keinen Anstand nahm, die Sache so zu betrachten, wie die ihn mit ihrer Kundschaft beehrende gräfliche Familie es wünschte, daß er sie betrachte. Er beurlaubte sich deshalb bei der Gräfin, und die beiden Männer saßen kurze Zeit nachher zusammen in dem Wagen, der sie in die Stadt brachte.

 

Unterdeß war Anna Morell auf ihrem Zimmer in einer unruhevollen Thätigkeit gewesen. Sie hatte ihre Sachen in ihre Koffer gepackt; sie hatte dieses Geschäft in aufgeregter Hast in kurzer Zeit zu Stande gebracht, und jetzt, wo die Koffer gepackt und verschlossen dastanden, fühlte sie erst die eigenthümliche Unruhe, den unbezwinglichen Drang, fortzukommen, in ihrer ganzen Stärke. Ihre ursprüngliche Absicht war gewesen, sich am andern Morgen von der Gräfin zu verabschieden und im Laufe des Vormittags Haus Edern zu verlassen. Was war es, was ihr den Gedanken unleidlich machte, noch so viel Stunden bei ihren gepackten Koffern hier ausharren zu müssen?

Sie schalt ihre Ungeduld, ihre Rastlosigkeit selber thöricht, aber sie machte die quälende Unruhe, von welcher sie gepeinigt wurde, darum nicht besser. War sie, welche die Kunst der Selbstbeherrschung sonst so gut zu üben verstand, so machtlos über sich, wenn heftige Wünsche in ihr aufstiegen, so verwöhnt vom Schicksal, so wenig geschult, in Umstände und Verhältnisse sich zu schicken, wenn das Verlangen in ihr aufstieg, die Umstände und die Verhältnisse zu durchbrechen? Hatte sie immer so plötzlichen Launen nachgeben oder auf der Stelle vollführen können, was ein rascher Entschluß ihr eingegeben?

Es mußte wol so sein – jetzt wenigstens appellirte sie nicht an ihre Willenskraft, sondern mit einem leisen Ausrufe: Nein, nein, ich ertrage es nicht länger hier! Ich muß sehen, ob Dankmar Wort hielt, ob er fort, geborgen ist oder nicht! ging sie zum Schellenzuge, klingelte, und als ein Dienstmädchen erschien, sagte sie zu diesem:

Ist Herr von Burghaus zu Hause?

Er ist auf seinem Zimmer, Fräulein, antwortete das Mädchen.

So gehen Sie zu ihm und sagen ihm, ich lasse ihn dringend um die Güte bitten, auf einen Augenblick zu mir herüberzukommen.

Gundobald erschien nach kurzer Frist.

Sie haben mich zu sehen gewünscht, mein liebes Fräulein – was ist's, das ich für Sie thun kann? fragte er.

Sie deutete auf einen Stuhl.

Ihre Koffer? fuhr er, sich setzend, fort. Doch am Ende nicht gepackt – zur Reise?

So ist es, Herr von Burghaus, sie sind gepackt zur Reise. Ich habe, als ich mit der Gräfin Edern über meine Stellung in ihrem Hause verhandelte, mir vorbehalten, in den ersten sechs Wochen jeden Augenblick wieder gehen zu dürfen. Von dieser Bedingung will ich Gebrauch machen. Ich will es noch an diesem Abend.

Noch an diesem Abend?

Ja, ich kann Ihnen nicht alle Gründe, welche mich zu diesem Schritte treiben, erklären. Ich bin in der Hoffnung hierher gekommen, in der Familie eines deutschen Landedelmannes in einem alter Sitte anhangenden, kernigen, treuen Lande etwas zu finden, was ich nicht gefunden habe. Vielleicht hätte ich es gefunden in der Hütte eines Bauers. Für die Hütte eines Bauers aber bin ich leider ein zu verwöhntes Kind moderner Civilisation. Es bleibt mir nichts übrig, als um eine Hoffnung, um eine Illusion ärmer heimzukehren. Ich wollte es morgen thun. Ich wollte mich ordnungsgemäß verabschieden und dann gehen. Aber – lachen Sie über mich – ich kann es in Edern nicht aushalten bis dahin. Vielleicht, wenn ich Ihnen alles, was mir hier widerfahren ist, mittheilen könnte, würden Sie dies natürlicher finden.

Ich bin durchaus nicht gewillt, mich zum Beurtheiler Ihrer Entschlüsse aufzuwerfen, liebes Fräulein, sagte Gundobald, sie verwundert anschauend, aber den Rath, nichts zu thun, was so auffallend ist, so fluchtähnlich, möchte ich sagen, aussieht, den Rath dürfen Sie mir nicht übel nehmen!

Ich nehme ihn nicht übel, ich erkenne sogar an, daß er verständig und gut ist; aber ich kann ihn nicht befolgen. Wenn Sie die quälende Unruhe, die in mir ist, dieses aus Empörung und Angst und Beklemmung gemischte Gefühl kennten, würden Sie es nicht von mir verlangen. Es ist mir nun einmal, als hinge eine finstere, unheilbrohende Wolke über mir – nein, es ist schlimmer, es ist, als erstickten mich diese Mauern, und ich habe nur Ein Gefühl in mir: ich muß fort, fort! – Von der Gräfin hätte ich mich verabschiedet, aber sie hat mir sagen lassen, sie sei zu angegriffen, um mich zu sehen …

Aber, fiel Gundobald ein, wohin wollen Sie noch heute Abend?

Nicht fern. Ich habe einen Freund in der Nähe. Dieser Freund ist der gute Geistliche auf Haus Gohr. Ich bin seiner Theilnahme gewiß, ich vertraue ihm, ich bin überzeugt, er wird mir eine freundliche Aufnahme im Hause Gohr gewähren oder vermitteln – ich werde sie ja nicht lange in Anspruch nehmen!

Gewiß wird man Sie in Gohr gern aufnehmen, ich zweifle nicht daran – aber Ihre Flucht von Edern ist doch eine Art Kriegserklärung gegen Haus Edern, und Gohrs sind der Familie Edern so befreundet, daß es eine Verlegenheit für jene sein mag – liebes Fräulein, fuhr Gundobald fort, seien Sie vernünftig, bleiben Sie, sprechen Sie sich gegen die Gräfin offen über das, was Ihnen hier Gründe zur Unzufriedenheit gibt, aus, und …

Nein, nein, nein, rief Anna heftig, ich kann es nicht, es ist stärker als ich! Ich will und muß fort, ich kann nicht eine Nacht noch unter Einem Dache mit diesem Beltram, diesem Grafen Boto zubringen! Es treibt mich mit einem unüberwindlichen Drange von hinnen – und Sie, sagen Sie mir, wollen Sie auf eine ganz kurze Zeit der Beschützer und Begleiter eines unbeschützten jungen Mädchens werden? Wollen Sie mich nach Gohr begleiten? Wollen Sie mir einen Theil meines Gepäcks, den ich nicht von mir lassen darf, tragen helfen? Mir allein würde es zu schwer werden – wollen Sie mir diesen Ritterdienst leisten, Herr von Burghaus?

Sie haben über mich zu verfügen, versetzte Gundobald; ich bin bereit zu allem, worin ich Ihnen dienen kann, und den Zorn der Gräfin über meine Mitschuld an Ihrer Flucht, fügte er lächelnd hinzu, werde ich durch den Hinweis auf meinen Charakter als den allgemeinen Damenritter beschwichtigen. Nach Haus Gohr zu eilen, um nach den Geschwistern zu sehen, stand ich ohnehin im Begriff. Wo ist der Theil Ihres Gepäcks, den ich Ihnen tragen helfen soll?

Anna Morell holte ihre Kassette herbei.

Gundobald nahm sie ihr ab und sagte:

Das würden Sie allerdings nicht bis nach Haus Gohr tragen können; es ist zu schwer dazu.

Es ist schwer, und ich fühle es ganz, wie unbescheiden es ist, was ich Ihnen zumuthe. Aber Sie sehen, die Noth zwingt mich dazu – ich vertraue nur Ihnen in diesem Hause. Auch werde ich darauf bestehen, daß wir uns beim Tragen abwechseln.

Dessen wird es nicht bedürfen, versetzte Gundobald, während Anna sich in einen Shawl einhüllte, ihren Hut aufsetzte und eine Reisetasche in die Hand nahm.

Gehen wir, sagte sie; die Koffer werde ich morgen holen lassen. Verlassen wir das Schloß durch den hintern Eingang; wir werden dort niemand begegnen, was mir lieber ist.

Gundobald eilte davon, Hut und Ueberrock zu holen; dann kehrte er zurück, nahm die Kassette unter den Arm und schritt nun Anna vorauf, die, in der einen Hand ihre Reisetasche, in der andern ihren Regenschirm, ihm folgte.

Anna und Gundobald kamen ohne aufgehalten zu werden ins Freie.

Wie seltsam ist das Leben! sagte Anna, hier tief aufathmend. Es ist, als haben alle einzelnen Verhältnisse ihre Attractionskraft, wie das große Ganze sie hat. Man wähnt sich schicksallos, man setzt zaghaft den Fuß in die Region des Unbekannten und – auf das erste Erlebniß baut das Schicksal sich auf wie eine Macht, die uns zermalmen will. Man macht einen einzigen Schritt in das Abenteuer hinein, und siehe, bald ist man erfaßt und wie von einer übermächtigen Kraft immer tiefer und hülfloser hineingezogen!

Haben Sie gehört, wie es um den Baron Beltram steht? fragte sie dann nach einer Pause.

Der Arzt ist bei ihm gewesen, entgegnete Gundobald; er hat dann der Gräfin seinen Bericht abgestattet und ist gleich darauf, von Boto begleitet, wieder heimgefahren. Ich habe die Gräfin vorhin nur im Vorübergehen gesprochen, und sie hat mir mit bedenklicher Miene gesagt, es stehe eben schlimm um den jungen Mann – weiter nichts. Es ist eine verzweifelte und eine mysteriöse Geschichte!

Ich kann sie Ihnen aufhellen, Herr von Burghaus, erwiderte Anna, während die beiden aus den Anlagen hinter Schloß Ebern traten und nun den nächtlich dunkeln Weg nach Haus Gohr einschlugen; ich will es auch, wenn Sie mir Schweigen versprechen.

Das verspreche ich Ihnen und werde es um so gewissenhafter halten, als es mich rührt, daß Sie mir überhaupt zutrauen, schweigen zu können. Die andern jungen Damen sind so einhellig darin, mir diese Tugend abzustreiten, daß ich in meinem ganzen Leben noch nicht zum Mitwisser eines Geheimnisses gemacht worden bin.

In der That? sagte Anna. Das sollte mich eigentlich stutzig machen. Aber mit dem Vertrauen ist es wie mit den Abenteuern und allem andern. Einmal hinein, sind wir ihm verfallen; wir fühlen uns von der Attractionskraft des Verhältnisses, in das wir gerathen, erfaßt und werden, ohne Rücksicht, ob wir wollen oder nicht, weiter gezogen. Also will ich Ihnen, dem ich so viel vertraut, auch noch mehr, noch jenes Geheimniß vertrauen. Graf Boto zürnt mir, haßt mich, glaubt, sich an mir rächen zu müssen. Um diese Rache auszuführen, hat er es auf eine höchst schlaue Weise dahin gebracht, daß ich ganz allein und hülflos auf der Kapelleninsel dem wüsten Menschen, diesem Baron Beltram, begegnen mußte. Dieser Mensch insultirte mich; zufällig ward Herr von Gohr Zeuge dessen, und da er, jenseit des Wassers, mir nicht anders als aus der Ferne beistehen konnte, so that er es aus der Ferne vermittels einer Büchse.

Das ist des Pudels Kern! rief überrascht Burghaus aus. Aber der arme Gohr – wenn nun Beltram stirbt!

Dankmar von Gohr ist, ich hoffe es zu Gott, schon jetzt in Sicherheit.

Gundobald schwieg eine Weile; er war zu arglos, um sich zu fragen, ob vielleicht Anna's innerer Drang, von Edern wegzukommen, mit ihrem Verlangen zusammenhänge, sich zu überzeugen, daß Dankmar in Sicherheit sei. Nach einer Pause sagte er nachdenklich:

Was Sie da eben von Graf Boto voraussetzten, klingt aber doch völlig unglaublich! Er hätte sich rächen wollen an Ihnen? So schlecht und niedrig? Nein, nein, Fräulein Morell, dazu ist er nicht fähig! Sie sind ungerecht. Wenn Sie wüßten, wie er sich vor wenig Tagen noch gegen mich über Sie ausgesprochen hat! Sie haben seine Eroberung gemacht, er schwärmt für Sie! Es ist unmöglich, daß er gehandelt haben könnte, wie Sie glauben! Und weshalb rächen? Was hätten Sie ihm angethan?

Anna schwieg auf diese Frage.

Gestehen Sie, daß Sie unrecht haben mit Ihrem entsetzlichen Verdachte, fuhr Gundobald fort. Boto würde nie etwas so Häßliches thun, was ihm gar keinen Vortheil brächte!

Wer weiß, antwortete Anna – vielleicht suchte er auch einen Vortheil. Vielleicht war es seine Absicht, als mein Retter aufzutreten, wenn der richtige Moment gekommen. Ich weiß es nicht! Aber mein Gefühl sagt mir, es ist ein abscheuliches Spiel mit mir getrieben und seine Entwickelung nur durch Herrn von Gohr's zornige That gehindert worden!

Gohr's schreckliche That! fiel Gundobald ein. Aber Dankmar von Gohr ist bei allem innern Feuer doch ein sehr klarer und besonnener Charakter. Wenn er eine so rasche Handlung beging, so muß ich annehmen, daß ihn der Anblick, wie Sie, liebes Fräulein, beleidigt wurden, in eine ganz außergewöhnliche Erregung versetzte; ich muß daraus schließen, daß Sie meinem armen Freunde eine Leidenschaft eingeflößt haben …

Sie sind sehr rasch in Ihren Schlüssen, Herr von Burghaus, sagte Anna in wegwerfendem Tone, leichthin. Wie sollte ein Baron von Gohr dazu kommen, einer armen Gouvernante seine Sympathien zuzuwenden!

Sie kennen Dankmar schlecht, wenn Sie glauben, er erkenne solche Rücksichten an, wenn sein Herz spricht, versetzte Gundobald. Er ist allerdings ein Aristokrat, ein furchtbarer Aristokrat, aber seine Aristokratie besteht in einem Gefühle der bevorrechteten Stellung auf einer Lebens- und Bildungshöhe, wo alle blödsinnigen Vorurtheile unter uns liegen, wo der Qualm und Dunst des geistig geknechteten Philisterthums, das in den Tiefen des Lebens vegetirt, nicht emporsteigt zu den freien Höhen, auf denen der Aristokrat des Geistes mitten im Wogen der hellen, kühlen Luft des Gedankens steht. Ich habe mir immer gedacht, er werde noch eine Bauerndirne heirathen, um seine ganze Verachtung wider die Vollblutideen auszudrücken.

Ich danke Ihnen, fiel rasch und spöttisch Anna ein, und dabei bedeckten sich ihre Wangen mit einer Röthe, die Gundobald wegen der Dunkelheit der Nacht völlig entgehen mußte.

Dieser fuhr deshalb unbefangen fort:

Höchstens würde Dankmar sein Gefühl zu unterdrücken wissen, wenn er eine Prinzessin, eine reiche Erbin liebte – denn dann würde es tödlich seinen Stolz beleidigen, daß man glauben könne, sein Gefühl sei durch äußere Dinge, durch äußere Vortheile und die Berechnung bedingt.

In der That? sagte Anna tonlos. Sie scheinen Ihren Freund sehr genau studirt zu haben.

Glauben Sie, es sei bei diesem Studium für mich nichts zu gewinnen gewesen?

Das will ich nicht behaupten, erwiderte sie.

Und ich meine, fuhr Gundobald heiter fort, da nun einmal alle Welt an mir zu erziehen liebt und ich kürzlich besondere Gründe bekommen habe, mir einzuschärfen, daß ich noch einmal ganz anders werten muß, als ich bin, wäre Dankmar das beste Muster, sich danach zu bilden! Oder glauben Sie nicht?

Anna hörte diesem Plaudern Gundobald's gern zu, es hatte etwas ihr Wohlthuendes, so von Dankmar reden zu hören, aber viel antworten konnte sie nicht, sie schritt still neben Gundobald den Waldweg entlang, der nach Haus Gohr führte. Gundobald dachte sich, daß sie in der beklemmenden Sorge um ihre Aufnahme in Gohr schweigsam werde; er sprach deshalb einige Worte, wie um sie zu ermuthigen. Anna antwortete auch darauf nicht; sie erbot sich nur mehrmals, Gundobald im Tragen der Kassette abzulösen. Dieser litt es nicht, obwol er eingestand, daß die Kassette sehr schwer sei.

Wenn Sie vielleicht Ihre kleinen Ersparnisse darin haben, liebes Fräulein, sagte er, so muß man Ihnen, wie dem armen Correggio in Oehlenschläger's Trauerspiel, den Lohn in Kupfer ausbezahlt haben.

Vielleicht ist es so, antwortete Anna; vielleicht ist es auch lauter Gold, womit die Kassette gefüllt ist. Wenn ich Ihnen sagte, es sei lauter Gold, was würden Sie thun?

Was ich thun würde? rief Gundobald lachend. Ihnen den entschiedensten Unglauben entgegensetzen!

Wenn es nun aber doch der Fall wäre und wenn ich Ihnen dabei sagte: all dieses Gold ist dein? Es gehört alles dein?

»Vorausgesetzt, daß du niederfällst und mich anbetest?« Ich würde um des Goldes willen nicht niederfallen!

Sie sind aufrichtig, Herr von Burghaus. Aber ich, ich bin keine Versucherin. Ich habe von diesem von Ihnen improvisirten Zusatze nichts gesagt. Ich habe einfach gefragt: was würden Sie thun, wenn Ihre ganze schwere Last Gold wäre und Ihnen gehörte– wenn Ihnen so eine halbe Million geschenkt würde?

Ich würde sehr erfreut darüber sein. Ich würde die halbe Million zu einem geschmackvollen Lebensgenusse verwenden; ich würde mir ein Schloß bauen und ein Theater für Liebhaberaufführungen darin einrichten. Ich glaube, daß ich für Pferde, Hunde und gute Freunde sehr viel Geld aufwenden würde – wer weiß es! Vielleicht würde ich mich auch für philanthropische Zwecke begeistern lassen und die Besserungsanstalt unsers guten Prinzen in Schwung bringen. Vielleicht würde ich aus Eifer für das Gemeinwohl öffentliche Dinge fördern und zum Beispiel den großen Sumpf eine Stunde von hier austrocknen lassen zum Verdruß der wilden Enten, aber zu Nutz und Frommen der armen Umwohner – wer weiß, liebes Fräulein, was man in einem solchen Falle thun würde! So viel ist gewiß, ich würde, möchte ich mich nun für das Theater, die Besserungsanstalt oder den Sumpf entscheiden, jedenfalls am Ende in den Sumpf gerathen!

Das sind schlimme Aussichten! versetzte Anna mit einem Seufzer.

Weshalb schlimme? Wenn man so wenig Aussichten hat, jemals reich zu werden, wie ich, ist man nicht gehalten, einen wohlüberlegten Plan zu haben, was man mit Reichthümern beginnen würde!

Nein, versetzte Anna; aber in unserm Charakter muß die Bürgschaft liegen, daß wir sie weise benutzen würden.

Um Gottes willen, Fräulein, wünschen Sie mir keinen Charakter!

Und weshalb nicht?

Weil ich mir dann wie ein viereckiger Stein vorkäme, den man in ein rundes Etui preßt, oder wie ein gerader Dolch, der in eine krumme Scheide gestoßen ist. Mit viel Charakter wäre ich längst davongelaufen, und was würde Comtesse Edwine dann anfangen, wenn sie niemand mehr hätte, um ihn zu necken und sich die Garnstränge von ihm halten zu lassen, und Fräulein Hermine niemand, um ihn zu schulmeistern, und Boto, wenn niemand dawäre, an Sonntagnachmittagen Sechsundsechzig mit ihm zu spielen, und Graf Achatz, wenn niemand ihm mehr bei der Erklärung einer neuerfundenen Devise zuhörte? Für sie alle bin ich unendlich nützlich und unentbehrlich und erfülle aufs liebenswürdigste meinen Lebenszweck. Nun denken Sie sich mich aber mit Charakter ausgestattet, mit einem Charakter, der spräche: ich denke und fühle in hundert Dingen anders wie ihr! und der dies männlich verföchte und der charaktervoll sein Bündel schnürte und davonginge – ich bitte Sie, wo könnte ich mich an einer andern Stelle so nützlich machen? Wo in aller Welt würde der arme Gundobald Burghaus wieder zu einer ihm so schmeichelhaften Unentbehrlichkeit wie in Haus Edern gelangen?

Anna hätte diese Selbstironie misfallen, wenn nicht eine gewisse Bitterkeit durchgeklungen, die ihr bewies, daß Gundobald plötzlich zur Selbsterkenntniß gekommen. Er hatte mit einem Tone gesprochen, welcher das erwachende Bewußtsein verrieth, daß es für ihn an der Zeit sei, eine andere Stellung in der Welt zu erstreben. Aber fürs erste, sagte sie sich, hatte der geistliche Rath mit seinem Bedenken, Burghaus sein Erbe in die Hand zu geben, freilich recht. Es schien in der That etwas wie eine große Unmündigkeit in ihm. War er die Persönlichkeit, der man unvorbereitet plötzlich Macht, Einfluß und die Pflichten der Vertheidigung großer Interessen übergeben durfte?

Anna ahnte nicht, welcher Umschwung sich unter dem Einflusse seiner letzten Erlebnisse in ihm vorbereitet hatte und wie rasch dieser Umschwung sich vollziehen sollte; sie ahnte nicht, daß in Gundobald schon ein gut Theil von der klaren, festen und thatkräftigen Seele Herminens war.

Sie sahen in der Ferne ein Licht durch die grünen Laubschatten glänzen. Man war in der Allee angekommen, welche auf Haus Gohr zuführte. Bald nachher war es erreicht. Ein Knecht, der auf dem Hofe beschäftigt war, meldete die beiden späten Wanderer an und führte sie dann in Herminens Wohnzimmer. Hermine war bleich, aufgeregt der geistliche Herr war bei ihr beide starrten mit dem unverkennbaren Ausdrucke der Ueberraschung Anna an.

Sie? Sie hier, Fräulein Morell? sagte Hermine mit einem Tone, der weit mehr Verwunderung als Freude über Anna's Erscheinung ausdrückte.

Anna blickte ihr groß und voll ins Auge.

Ich lese, was in Ihrer Seele vorgeht, Fräulein von Gohr, sagte sie. Ihr Bruder ist abgereist, er hat Sie verlassen, nicht wahr, er ist fort … gerettet?

Er ist fort …

Gottlob! … und Sie in Ihrem Kummer legen auf mich eine Schuld, die ich nicht habe – nennen den Schritt, den ich thue, indem ich ein Asyl von Ihnen verlange, verwegen, keck, vielleicht noch schlimmer und doch thue ich ihn, denn ich kann nicht anders! Lassen Sie Ihren alten Freund dort meinen Fürsprecher bei Ihnen sein! Es treibt mich fort aus dieser Gegend, es trieb mich mit unwiderstehlicher Gewalt aus Edern fort, als ob dort das Unglück über mir hange! Aber ich konnte nicht fort, ohne noch einmal nach Gohr zu Ihrem ehrwürdigen Freunde zu kommen – er wird es mir bezeugen, daß ich zu ihm kommen mußte – nicht wahr, Sie bezeugen es mir? – und so bin ich gekommen und bitte demüthig um eine bescheidene Ruhestätte für die Nacht!

Es ist wahr, fiel hier der geistliche Herr ein, Fräulein Morell, wenn sie unsere Gegend verlassen will, konnte es nicht, ohne eine Unterredung mit mir zu suchen, und Sie, liebe Hermine, werden gewiß misverstanden, wenn das Fräulein voraussetzt, Sie gewährten ihm nicht gern die Gastlichkeit von Haus Gohr für die Nacht …

Dann werde ich freilich misverstanden, fiel Hermine ein. Haus Gohr hat von seiner Schwelle noch keinen Gast in die Nacht hinausgesandt – ich werde gleich gehen und für Sie sorgen – bitte, legen Sie ab, ruhen Sie sich aus und machen Sie sich's bequem!

Gundobald hatte unterdeß die schwere Kassette niedergesetzt, auf welcher die Augen des alten Geistlichen mit einem eigenthümlichen Ausdrucke scheuer Angst haften blieben. Hermine sah mit einiger Verwunderung, welchen Dienst Gundobald Anna geleistet; indem sie hinausging, um Anordnungen für Anna's Unterkunft zu treffen, flüsterte sie ihm zu:

Haben Sie sich einmal wieder als Dienstmann gebrauchen lassen?

Gundobald zuckte sichtlich zusammen bei diesem scharfen Worte; er eilte Herminen nach. Draußen auf dem Hausflur sagte er:

Du bist aber doch gar zu bitter! Wie konnte ich denn anders, als dem armen Mädchen in ihrer Verlassenheit beistehen – ich versichere dir, die Last war schwer genug, du brauchst mich nicht noch darüber zu verspotten – es war ein Ritterdienst!

Und wissen Sie denn nicht, daß dieses arme Mädchen mit meinem armen Bruder Dankmar kokettirt hat, bis er ihretwegen den Kopf verloren und sich unglücklich gemacht und eine That begangen hat, die ihn von mir getrieben – der arme, arme Dankmar!

Hermine brach plötzlich in helle Thränen aus, denen Gundobald mit einem äußerst verblüfften Gesichte gegenüberstand.

Um Gottes willen, du glaubst, sie habe eine Schuld bei dem Unglücke? rief er aus.

Aber Hermine wandte sich ab und ließ ihn in großer Verzweiflung stehen, während sie ihr Tuch an die Augen drückte, und hinter der Thür zum nächsten Raume verschwand.

Gundobald konnte nichts thun, als in höchster Betroffenheit zu Anna und dem geistlichen Herrn zurückkehren, die er offenbar im Beginne einer lebhaften Unterredung unterbrach. Als nach einiger Zeit Hermine wieder eintrat, suchte Gundobald umsonst einen freundlichern Blick von ihr auf sich zu lenken; er mußte sich, da es spät war, entschließen, aufzubrechen und ohne diesen Trost heimzukehren ihr ganzes Herz, schien es, war bei ihrem Bruder.


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