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6.

Paul Würfel wurde vom Gericht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Er erwies sich in der Verhandlung als feige und brutal zugleich, und Anna Hagen erschrak darüber, daß sie überhaupt jemals daran gedacht hatte, den Mann zu heiraten. War auch Würfels Versuch, einen Teil der Schuld auf Olga Krause abzuwälzen, von vornherein verfehlt, so war er doch Amtsrichter Mendel willkommen. Witwe Berndts Lädchen war ein Unsegen für Langenbrück. Eine unmittelbare Schuld der Schwätzerinnen, die dort zusammenkamen, war nie nachzuweisen gewesen, und doch hatten sie im Laufe der Jahre viel Unfrieden gestiftet und hatten viel Not auf dem Gewissen. Man soll nie leichtherzig von »behaglichem« Klatsch als von Sturm im Wasserglas sprechen. Die kleinen Dörfer oder Städte sind nicht mehr als Wassergläser, die auch eine kleine Welle schon zum Überlaufen bringt. Was in der Großstadt spurlos versickert, brandet hier als erschütternde Welle an.

Die Frauen wurden alle vier vor das Gericht zitiert, und wenn sich auch Witwe Berndt noch leidlich wacker hielt, so war das Bild, das die drei anderen boten, um so widerlicher. Halb Langenbrück war gekommen, der Verhandlung zuzuhören, und ganz Langenbrück schämte sich nachher. Amtsrichter Mendel sprach es ganz offen aus, daß er bedauere, keine gesetzliche Handhabe zum Vorgehen gegen die Frauen zu haben.

Witwe Berndt verkaufte ihren Laden und zog fort, Olga Krause starb später in Frieden mit Gott und der Welt, die anderen beiden waren geheilt.

Und nun ging es auf den Frühling zu. Er stand bereits im Kalender, und wenn auch der Frost noch immer regierte, der Frühling kam doch.

Es war Anfang April. Die Flößer hatten allenthalben wacker auf den Lagerplätzen an der Saale gearbeitet. Sie lauerten nun auf den Eisgang mit dem ihm folgenden großen Wasser.

Heinrich Pimpfel war gesund. An den Abenden bastelte er bereits wacker an der Kunstuhr, die zu bauen er sich vorgenommen. Am Tage gab es Arbeit genug. Meister Hempel war fast alle Tage unterwegs. Der Mann war ein anderer geworden. Er war gutmütig, freundlich und hilfsbereit wie immer, aber sein Selbstvertrauen war gewachsen, denn er fühlte zwei hinter sich, die man achtete. So erzählte er denn auch gern von den Änderungen und Erweiterungen, die seinem Hause bevorstanden. Man nahm es ernst, spürte Kraft und Willen und hörte auf, geringschätzig vom Kreuzweis zu reden, wenn auch der Name blieb.

Die Schneeglöckchen wagten sich an den Sonnenseiten der Berge hervor, aber das Eis stand noch fest. Da kam über Nacht der warme Wind, der immer der gefürchtete Vorbote plötzlicher Eisgänge ist. Alle Gründe heulten, und alle Täler brüllten. Den Menschen ward die Brust zu enge. Der warme Sturmwind legte sich wie ein Panzer um sie. Dazu kam die Sorge des bevorstehenden Eisganges wegen, mit dem man im Laufe des Tages rechnen mußte.

Vom Morgen an standen die Leute an der Saale, um das unheimlich schöne Schauspiel nicht zu versäumen. Auch Heinrich Pimpfel war unter ihnen, und zum erstenmal kannte er sich in seinem Heimatlande nicht aus. Es war ihm fremd in seiner drohenden Gewalt. Selten kommt der Frühling da droben »auf leisen Sohlen«. Fast immer ist es ein stürmisches Geborenwerden unter viel Not und Kampf.

Von Lobenstein her war durch den Telegraphen gemeldet worden, daß sich das Eis in Bewegung gesetzt habe. Staute es sich nun nicht unterwegs, dann konnte man es am Nachmittag in Langenbrück erwarten. Der Druck des Eises eilt den Schollen selbst mit dem rinnenden Wasser weit voraus. Das stemmt sich von unten her gegen den Panzer, der da und dort mit lautem Knall zerreißt und an anderen Stellen mit dumpfem Knirschen zerbricht. Damit wird der Druck stoßweise ausgelöst, aber das Eis bleibt als Ganzes trotz der vielen Sprünge stark, fest und bewegungslos. Dann kommt von oben her die unheimliche weiße Mauer gewandert, deren Weg nichts aufhält. Das Eis poltert eben droben an der Fernmühle vorüber, da beginnt das Prasseln und Brechen bereits am Nähermühlenwehre, das dreitausend Meter weiter unten liegt. Weite Flächen sinken ein, das Wasser schießt herauf wie aus einem Kessel, nimmt den mächtigen Eisblock und stellt ihn auf den Kopf. Der nächste Schwall kehrt ihn wieder um, er stößt gegen einen ebenso großen Klotz, als er selber ist, beide brechen prasselnd auseinander. Die Flut hebt sie empor und schiebt sie auf die noch stehende Eisdecke, die dem Gewicht nicht standhält. So den ganzen Fluß hinauf. Da brechen zwanzig Meter auf einmal ein, da zwei Meter. Der Wind hat aufgehört zu blasen, der Eisgang macht sich seine eigene Musik. Jetzt dröhnt ein Kanonenschuß, dann ist es wie der Ton einer unheimlichen Säge; da scheint, eine Riesenfaust von unten heraufzulangen, mit den Blöcken Fangball spielend, dort ist ein heimtückischer Feigling am Werke, der leise zwischen den Zähnen pfeift.

Auf einmal ist alles laute Krachen und Brechen vorüber. Nur die Sage zischt und knirscht. Das ganze Tal voll unheimlichen Knirschens, das Eis hat sich in Bewegung gesetzt, es geht. Und nun ein lautes, übermütiges Brüllen vom Wehre her, dessen Wellen hoch aufsprühen. Bis zum nächsten Wehre ist nun kein Halten mehr. In einer Stunde ist das Eis vorüber. Da liegt eine niedergebrochene Erle, dort hat sich am Ufer eine Eismauer gebildet, zwischen deren Schollen geschäftige Hände Fische auflesen, die herausgeschleudert wurden. Kurz nach dem Eis der Saale hat sich in diesem Jahre das des Stadtbachs in Bewegung gesetzt. Auf dem aber haben die Jungen seit Tagen Schollen losgeschlagen, sind darauf gesprungen und, eine lange Stange zum Abstoßen benutzend, hin und her gegondelt.

Unter den Jungen ist der zehnjährige Franz Klein, dessen Vater Brauereikutscher ist. Der Eisgang auf der Saale ist im Abflauen, die Jungen sind an den Stadtbach zurückgekehrt, Franz Klein springt mit beiden Beinen zugleich auf seine Scholle, damit ihm keiner zuvorkomme. Die Scholle aber stützt sich nur leicht gegen einen Stein, schaukelt, dreht sich und fährt den Bach abwärts. Das hat der Junge gewollt, und er jauchzt auf. Die Fahrt aber wird schneller und schneller, die Scholle stößt da und dort an. Franz Klein schreit auf. Ein Stoß gegen das Brückengeländer gegenüber der Nähermühle, die Scholle bricht auseinander, kopfüber stürzt der Junge in die brodelnde gelbe Flut. Er treibt eine Weile, von Schollen halb getragen, oben, versinkt für eine Weile, taucht wieder auf. Der ungeheure Zug vom Wehr her wird wirksam. Die Wellen spülen den Kinderkörper auf den Wehrsturz zu, der ein einziger wild gischtender Kessel ist.

Mehr als hundert Menschen schreien auf. »Da! Da! – Jetzt ist er weg! Da kommt er wieder! Allmächtiger Gott!?« Einer hat auf dem Holzlagerplatze die langen, aufgerollten Flößerseile gesehen und erinnert sich ihrer, Heinrich Pimpfel. Etliche lange Sprünge, er hat zwei der Seile errafft und rennt auf die Halbinsel zwischen Saale und Mühlgraben zu. Im Rennen hat er einige Männer angestoßen. »Kommt mit! Schnell!« Sie treffen einen Augenblick nach ihm auf der Spitze der Landzunge ein. Einer hat unterwegs eine der langen Stakstangen an sich genommen, mit denen man die Flöße leitet, und die eine scharfe Eisenspitze mit seitwärts gekrümmten Haken haben. Heinrich Pimpfel hat sich bereits das Seil umgelegt und es fest verknotet. Er reißt dem Manne die Stange aus der Hand. »Her! Die kann ich brauchen. Nun haltet fest. Wenn das Seil nicht reicht, das zweite anknüpfen. Fest-halten! Hier geht's ums Leben!«

Wer sich bislang noch keine Gedanken darüber gemacht hat, sieht jetzt unwiderleglich deutlich den Unterschied zwischen dem Zugezogenen und den hier Geborenen. Heinrich Pimpfel steht da, strack wie ein Pfahl, das Haupt von den blonden Haaren wild umflattert, die blitzenden blauen Augen scharf auf den Fluß gerichtet. Jetzt ist er der Nachfahre der Männer, die des Meeres Wellengang berechnen, kämpfen, ausweichen und im Augenblick der höchsten Not aufjauchzen. Auch er beobachtet den Zug der Wellen. Wo das Wasser des Mühlgrabens gegen das der Saale stößt, hat sich eine breite Bucht gebildet. An deren Grenze hin schießen die Wellen. Es ist deutlich sichtbar, daß sie vom Wehre her alle den Weg gradlinig nach der Bucht zu nehmen und erst kurz oberhalb scharf abbiegen. Auf die Stelle zu muß der Helfer streben. Er erreicht sie, aber das Wasser geht ihm fast bis an die Brust.

Das Wehr ist des gräßlichen Fangballspiels müde. Es stößt den Kinderkörper von sich, er treibt flußabwärts. Einen Schritt tut Heinrich Pimpfel noch. Es geht nicht weiter. Er muß den Fuß zurückziehen. Die Strömung ist zu stark. Die blauen Augen, jetzt stahlhart, verfolgen den Weg, den die Wellen das Kind treiben, und berechnen ihn. Er führt nicht in die Bucht hinein, aber dicht an ihr vorüber. Wiederum aber nicht so dicht, daß der Arm das Kind erlangen könnte. Es bleibt Heinrich Pimpfel nur eine Sekunde Zeit, den schwersten Entschluß zu fassen. Die hakenbewehrte Stange zischt in das Wasser. »Hilf, Herrgott!« Er hilft. Der Haken verbeißt sich in die Jacke, nicht in das Gesicht oder die Brust des Kindes. Vom Ufer her ein hundertstimmiger Aufschrei.

Da kehrt der Retter, das Kind auf dem Arme, zurück und – lächelt, einen verlegenen, kindlichen Ausdruck im Gesicht.

Nach zwei Stunden ist der Junge wieder am Leben und warm und wohl gebettet. Der Arzt war rasch zur Hand, und sein Bemühen war nicht umsonst. Das gräßliche Spiel des Wehres war des Kindes Heil gewesen. Immer wieder in die Luft geschleudert, hatten sich die Lungen lebenshungrig immer wieder voll gesogen. Die Menge wich scheu zurück, als Heinrich Pimpfel durch sie hinschritt. Ein großer Mann aber drängte sich hervor, nahm des Blonden eiskalte Hand, preßte sie, stöhnte förmlich auf: »Mensch! Oldenburger!« riß sich die Jacke vom Leibe, zog Heinrich Pimpfel die seine aus und hing ihm die trockene und warme über. Es war der Christmannsdorfer Müller, der an dem Tage zufällig in Langenbrück war. Er schrie die Leute, die sich um sie drängten, an, stieß sie aus dem Wege: »Gelt, das hätte keiner von euch fertiggebracht,« nahm Heinrich Pimpfel am Arme und führte ihn in die Nähermühle. Zehn Minuten darauf saß der, trocken und warm, vor dem dampfenden Kaffee. Eine Viertelstunde darauf brachte ihm einer der Mühlburschen seinen Sonntagsanzug, den er von Meister Hempel geholt. Der kam mit, zitternd wie Espenlaub. »Heinrich!«

Menge wollte ihn grob anfahren, aber Heinrich Pimpfel sah den Müller ernst an. Da lehnte der sich knurrend in die Sofaecke zurück. Aus langem Schweigen heraus sagte er: »Heinrich, du bist ein Kerl! Wenn du mich einmal brauchst, ich laufe zehn Stunden. Egal.«

Als sie nachher zu dritt das Städtchen hinaufgingen, sahen die Leute aus allen Fenstern, und der Blonde war ihnen beinahe unheimlich um seines Mutes willen. Die drei Männer saßen um Meister Hempels Tisch, hatten viel erzählt, und es dämmerte. Da stieß jemand ungestüm die Tür auf. Anna Hagen vermochte sich zum erstenmal in ihrem Leben nicht zu beherrschen. Sie schrie nicht auf, weinte nicht laut, aber sie vergaß alle Scheu, warf sich Heinrich Pimpfel an den Hals, küßte ihn und hielt ihn fest.

Da lachte Menge behaglich. »Mädel, wenn meine Frieda zehn Jahre älter wäre, kriegtest du den da nicht.«

Heinrich Pimpfel aber erklärte lachend, daß zum Heiraten von jeher zwei gehört hätten.

»So,« sagt der Müller ebenso behaglich wie vorher, »dann muß ich aber wenigstens Pate werden.«

»Darüber läßt sich reden,« ruft der frohe Oldenburger.

Es kam, wie es bei derlei Dingen immer geht. Die Zeitungen brachten lange Artikel, der Landrat belobte den Retter öffentlich, der Bürgermeister kam mit zweien der Stadtväter, im Namen der Stadt zu danken, die Eltern des geretteten Jungen wußten nicht, was sie dem Retter zugute tun sollten. Das alles war schön. Wertvoller aber war es, daß die Langenbrücker Meister Hempel sagten, er möge dafür sorgen, daß der Geselle nicht wieder fortzöge, daß Schuster Müller, der Vorsitzende des Turnvereins, kam und Pimpfel fragte,, ob er nicht Mitglied werden wolle, daß ihn Männer auf der Straße anredeten, einfach um ihm zu zeigen, daß sie ihn schätzten.

Und von alledem fiel ein Teil für Meister Hempel ab. Er hatte den Mann aufgenommen, bei ihm war er und würde er bleiben. Der gute Meister geriet wahrhaftig dann und wann ein wenig ins Prahlen. Er war es, der die seinem Gesellen, – ach, er war ja längst sein Sohn – gebotenen Möglichkeiten in ihren Auswirkungen erkannte.

»Heinrich,« stellte er ihm vor, »du bist nun lange genug bloß bei mir gewesen. Jetzt mußt du unter die Leute. Vom Ofen aus kannst du nichts werden.«

»Was soll ich denn noch weiter werden? Etwa Bürgermeister?«

»Bürger–meister? Nein, das geht wohl nicht gut, aber Magistrat kannst du werden. Magistrat!«

»Jawohl, ich ganz allein.«

»Heinrich, berede nichts.«

»Ach, Meister, du bist ja wohl nicht ganz klug.«

»Aber zu den Turnern mußt du gehen.«

»Ja. Das werde ich. Ich habe immer gern geturnt.«

»Und zu den Schützen mußt du auch gehn.«

»Nein, wenn's knallt, dann falle ich auf den Rücken.«

»Dann geh wenigstens noch zu den Sängern.«

»Ich kann ja nicht singen. Leierkasten kann ich drehen.«

»Ach, Heinrich, nun wird dir das alles so geboten, und du greifst nicht zu.«

»Ich mache mir doch nichts aus den Leuten.«

»Aber die Leute sollen sich etwas aus dir machen. Heinrich, wenn du wüßtest, wie das ist, wenn man gern da und dort hinein möchte und immer draußen stehen muß. – Gelt, du tust mir den Gefallen?«

»Laß es gut sein, Meister. Ich will sehen, was sich machen läßt.«

Das kam dabei heraus, daß Heinrich Pimpfel Mitglied des Turnvereins ward, und daß ihn die Schützengilde aufnahm, etwas, das einem Nichteinheimischen bislang noch nicht widerfahren war. So gestaltete sich denn das Leben im Uhrmacherhause ganz und gar anders, als es früher gewesen war.

Dazu kam nun noch der Umbau und Ausbau. Heinrich Pimpfel stand ganz fremd vor all dem, das auf ihn zuströmte, aber er war nie ratlos. Anna Hagen hatte der Mutter etliche Zeitungsblätter geschickt, in denen über des Sohnes wackere Tat berichtet war. Die Antwort war ein Brief, so frei, so herzlich und so voll mütterlichen Stolzes, daß Pimpfel sein Mädel um die Hüften nahm und es übermütig durch die Stube wirbelte. Kein Wort aber stand darin von Maria Pimpfels eigenem großen Erlebnis an dem Tage, da ihr Sohn die wackere Mannestat vollbrachte.

Zwei Monate hatte sich Maria Pimpfel still in ihrem Hause gehalten, fertig und doch nicht am Ende. Es war eine Zeit, nicht des Ausruhens, aber des befreienden Atemholens. Stille, starke Briefe gingen zwischen ihr und der Greisin, deren Häuschen nicht weit von dem tausendjährigen Turme stand, hin und her. Die Vergangenheit schien ausgelöscht, und doch spürte man die Fragen von der einen Seite her ebenso deutlich wie die Antworten von der anderen. So war Maria Pimpfel, soweit es überhaupt in ihrer Natur lag, heiter geworden. Um die völlige Freiheit rang sie noch einen letzten Kampf.

Die Entscheidung veranlaßte ein Brief, der letzte, den Hermann Pimpfel an seine Mutter geschrieben und den die nun, ohne ein Wort darüber zu sagen, aber in kluger Absicht, der Schwiegertochter beilegte. Noch vor einem Vierteljahr hätte Maria Pimpfel den Brief abgelehnt. Heute saß sie, wenn auch mit gerunzelter Stirn, wehmütig sinnend darüber. Hermann Pimpfel erzählte seiner Mutter, daß er Gott alle Tage für das starke, reine Weib danke, das er ihn habe finden lassen. Weder eine versteckte Anklage noch eine verhaltene Klage. Überhaupt kein Wort von Kampf und Widerstand.

Das Weib grübelte. Waren sie glücklich gewesen? Ja, jeder Tag und jede Stunde hatten Glück bedeutet. Und doch das Ringen. Es war ein einseitiges gewesen. Sie hatte gerungen, ihr Mann hatte beharrt.

Es vergingen Tage, in denen Maria Pimpfel grübelte, ohne mit dem Briefe fertig zu werden. Dann schloß sie die Tür hinter sich zu und fuhr an das Meer. Nicht an den nächstgelegenen Strand, sie fuhr höher hinauf, dahin, wo das Meer zwischen den Inseln her stärker anbrandet, und mietete sich in dem Häuschen eines der Fischer ein. Von da ging sie jeden Tag an den Strand und schickte ihre Seele hinter den Männern ihres Geschlechtes her, die das Meer geliebt und es beherrscht hatten, bis sie ihm doch erlegen waren. Sie sah den Kampf heute nicht mehr als wilde, in das Blut hineingeborene Luft an, sondern als zwingende Notwendigkeit, die den Strandleuten ebenso auferlegt war wie denen vom Frankenwalde die Fahrt auf vereister Steilstraße, die Pferde vor dem Schlitten mit den hundertjährigen Tannen. Wieder ebnete sich ein Stück ihres Innenlebens, und es galt nur noch, die Antwort auf die letzte Frage zu finden.

Der Wind war Sturm geworden. Weit draußen sprang eines der weißmähnigen Wellenrosse um das andre aus der Tiefe, kam dahergaloppiert, stürzte brüllend an den Strand und brach nieder. Höher sprangen die tollen Rosse heraus, wilder ward ihr Ritt, lauter ihre Stimme. Und mitten im Sturme das Notzeichen eines Schiffes, das draußen vor dem Sturme lag. Die Männer kamen aus ihren Häusern, zwar mit langen Schritten, aber ohne Hast. Das stählerne Rettungsboot ward aus dem Schuppen gezogen, die Männer sprangen hinein. Dunkel gekleidet, glühenden Auges stand Maria Pimpfel zur Seite. Sie durfte nicht mitfahren, aber das konnte niemand hindern, daß ihre Seele mit im Schiffe saß, mitten unter den Männern, zwischen denen es keines Wortes bedurfte.

Seht, wie die Wellen das Boot fassen! Es fliegt hoch herauf und sinkt tief hinab. Eines der wildesten Rosse springt dagegen an; es wirft es nicht aus der Bahn. Vorwärts! Wir kämpfen nicht aus Übermut, sondern weil wir müssen! »Christ Kyrie, komm zu uns auf die See.« Maria Pimpfel spricht das Wort nicht aus, sie formt nicht einmal den Gedanken, aber sie spürt ihn auf dem Grunde ihrer Seele. Rundum blasse Gesichter der Weiber, aber kein Aufschrei. Auch kein Trotz, keine Wildheit. Das eiserne Muß macht sie still.

Seht da, jetzt werfen sie die Leine. Achtung, daß das Boot nicht gegen das Schiff geschleudert wird. So, das war gut, sehr gut! Es liegt abseits des Windes. Das Werk ist vollbracht, die Männer kehren zurück. Peter Jansen führt das Steuerruder, und er steht, als wäre er aus Eisen. Wendet! Um Gottes willen, wendet! Seht ihr denn nicht die weiße Woge? Vorbei, vorüber, durch! Ha, das war ein wackeres Stück Arbeit! Jetzt wird es leichter. Achtung! Gut. So muß es sein.

Meer, du bist ein Ungeheuer, aber – ich liebe dich! Behaltet den Frieden eurer Höhendörfer, die Stille eurer Wälder, ich muß mit dem Meere leben! Ja, ich achte euch, ihr fleißigen, schlichten Männer und Frauen, die ihr hart auf kargem Boden ringt. Nein, ihr seid nicht weniger, nicht geringer als wir, aber meine Seele lebt im Rauschen und Donnern der Wogen. Ihr tut recht daran, wenn ihr eure Heimat liebt. Mann, den mir Gott zugeführt, du warst kein Schwächling, als du an deiner Heimat starbst, ich bin schuldig, schuldig, – Gott, vergib mir meine Schuld, – aber laß mir meine Heimat, laß mich am Meere, das in meinem Blute lebt! Ich kann nicht anders!

»Du, Junge, den sie eben dem Tode entrissen haben, sag, willst du denn wieder auf die See?«

»Wieder auf die See? Wohin sollte ich denn sonst?«

»Und du, Alter, der du blutest und der du den Arm im Kampfe brachst, hast du denn noch nicht genug von der See?«

»Genug von der See? Ich will doch leben.«

Es geht ein stolzer Zug über Maria Pimpfels Gesicht. Sie unterdrückt das Wort Schuld nicht, bekennt sich nach wie vor zu ihr, und wagt es doch zum erstenmal, sie, ohne das Wort auszusprechen oder auch nur innerlich zu prägen, dem Verhängnis mindestens zu gesellen, wenn nicht gar sie für ein solches anzusehen. Endlich hat die Last ihre Bitternis verloren, endlich, endlich ist Heimat zwar Last, aber auch Befreiung und Rechtfertigung, sieht Maria Pimpfel ihr großes, unwiderstehliches Heimweh als dieselbe Triebkraft an, die den wilden Schwan über die Meere treibt. »Ich muß nicht nur, ich darf dich lieben, du wilde, weite, herrische See.« Sie breitet die Arme ins Leere. »Liebster Mann, ich habe dich wieder!« – –

Als der Brief der Schwiegertochter sie erreicht, hat sie eben ihr Haus vermietet, um ganz in das Fischerhaus am Strande überzusiedeln. Sie liest den Brief, liest die Zeitungsblätter, lächelt, geht auf den Friedhof, streichelt ihres Mannes Grabkreuz und sagt: »Wir leben beide in dem Jungen, du und ich. – Ich komme jedes Jahr ein paarmal zu dir, aber jetzt muß ich an das Meer, Hermann. Schlaf gut. Ich glaube, ich komme nun auch bald in die Kammer.«

Der lange, lange, schwere Weg ist zurückgelegt. Maria Pimpfel schreibt am ersten Abend im neuen Heim einen Brief an Sohn und künftige Schwiegertochter. Zum erstenmal legt sie ihrem Heinrich dar, was sie besitzt und was seiner einmal wartet, und sagt ihm: Greif zu, richte dir dein Leben ein.

Der Brief erregt im Uhrmacherhause Verwunderung. Heinrich Pimpfel ist ein vermögender Mann. Um so besser. Es ist schön, frei schalten und walten zu können. Aber es wäre gefährlich, stünde dem Planenden und Aufbauenden nicht ein kluges, trotz aller Herzensgüte gesund nüchternes und praktisches Weib zur Seite.

Was hätten die beiden, Meister Hempel und sein Geselle, in Langenbrück für einen unsinnigen Laden aufgemacht! Wer in aller Welt hätte die goldenen Uhren und Armbänder und Ringe kaufen sollen? Sie sitzen da wie zwei arme Sünder, als sie Anna Hagen fragt, was sie sich denn eigentlich unter Langenbrück dächten. Wenn die Kirche nicht im Dorfe bleibe, dann sollten sie überhaupt die Finger von der ganzen Sache lassen. Das seien die richtigen Uhren, diese und diese, und wenn man davon drei, davon vier, von der teuren Sorte eine, ein Dutzend Wecker, eine Tafel mit billigen Ringen, die aber etwas von sich machten, habe, dann sei das für Langenbrück vollauf genug. Ginge das Geschäft wirklich so gut, wie die beiden Männer dächten, dann könne etwa Fehlendes jeden Tag ersetzt werden. Das koste eine Postkarte, mehr nicht. Auch in das Haus brauche man nicht so viel hineinzubauen. Das mache sie sich übrigens aus, daß sie ihre gesamte Aussteuer selber kaufe.

Es gab keine Kämpfe um all dieser Dinge willen. Die Männer sahen sich an und lachten. Nur einmal sagte Meister Hempel, ohne Anna Hagen wäre am Ende auch aus Heinrich nicht gar so sehr viel geworden; und als der fragte, was denn durch sie aus ihm werden solle, sagte der frohgelaunte Meister: »Was du werden sollst? Nun, erst einmal ein Mann, der was hinter sich hat, und dann Magistrat.«

»Ach, was du immer mit deinem Magistrat willst. Ich kann doch höchstens Ratmann werden.«

»Das meine ich ja eben.«

»Ich will aber meine Ruhe haben.«

»Heinrich, alles wünsche ich dir, bloß keine Ruhe. Ich weiß, wie das ist, wenn man seine Ruhe hat, aber jetzt ist das ja, Gott sei Dank, anders.«

Es war Mai. Man weiß nicht, wann es am schönsten droben an der Saale ist, wenn der Schnee auf den Hängen liegt, und der Rauhreif jeden Zweig zu einem Wunder macht, wenn von allen Kirchen her Glockentöne wallen, wenn die Saale am Sommerabend Mären raunt, und um alle Büsche die frohen blauen Laternchen gaukeln, oder wenn der Mai wie ein wonnetrunkener Verschwender durch die Täler geht. Am Flusse stehen Rotdornbäume. Könnt ihr euch überhaupt denken, daß es so etwas von Übermut gibt? Man sieht vor lauter roten Blüten nicht ein einziges grünes Blatt. Alle Wiesen sehen aus, als wäre das Mädchen, das die Sterntaler in seiner Schürze auffing, über sie hingegangen und hätte die Taler mit vollen Händen darüber gestreut. An allen Bächen blühen die blauen Vergißmeinnicht, und im Schilf kauern die gelben Blüten der Schwertlilien, die man Fledermäuse nennt, und wissen nicht, sollen sie heute schon ausfliegen oder morgen. Das ganze Land ist ein einziges Hochzeitland.

Da ist Hochzeit im Uhrmacherhause, und Olga Krause spricht zu Frieda Silge, die ihr zufällig begegnet und ihr standhalten muß: »Da hat man's nun. Aber wie ich's dazumal gesagt habe, da hätten sie mich am liebsten eingesperrt. Ach ja, so eine Welt! Aber in die Kirche gehe ich! Die Trauung ist doch um drei? Um halb drei schon? Dann ist es gut, daß ich noch einmal gefragt habe. Ich wäre ja sonst zu spät gekommen.«

Das Rathausglöcklein bimmelt hastig: Es ist halb drei. Hört ihr denn nicht? Meister Hempels Haustürglocke antwortet: Wir kommen ja schon, und überschlägt sich dabei, so daß ihr nachher der Mund so lange gestopft ist, bis sie Heinrich Pimpfel wieder in Ordnung bringt. Aber das geschieht erst zwei Tage nach der Hochzeit.

Der Hochzeitszug tritt aus Meister Hempels Haustür. Voraus geht das Brautpaar, der blonde Mann mit strahlendem Gesicht, die Braut ernst, ein wenig wehmütig. Dann folgen Meister Hempel und ihm zur Rechten und zur Linken die heitere Greisin aus Lobenstein und die ernste Frau vom Strande des Nordmeeres. Hinter Hempel schreitet ein ungewöhnlich großer, starker Mann. Das ist der Christmannsdorfer Müller. Rechts von ihm geht breit, behäbig, in schwerer, schwarzer Seide, seine Frau, links Frau Amtsrichter Mendel, die ihrer treuen Helferin gern die Ehre antut, ihre Hochzeit mitzufeiern.

Das ist der ganze Zug, und es gibt in Langenbrück selten einen solch kleinen, selten aber auch einen, über dem so viel stille Würde schwebt. Dafür ist die Zahl der Neugierigen um so größer. Der Pfarrer sagt hernach, er wollte, er hätte an jedem Sonntag so viel Kirchgänger.

Das Gotteshaus trägt bescheidenen Schmuck. Ein grünes Gerank fällt in tiefen Bogen vom Altar herab, aus zwei Vasen jauchzt blühender Rotdorn. Laut hallen die Glocken über den Häuptern der Hochzeitsleute, als sie in die Kirche treten. Die Orgel jauchzt auf. Der frohe Mai selber singt mit. Dann setzen helle Mädchenstimmen ein. Das ist das Werk der Frau Amtsrichter. Sie liebt die Musik, hat in jeder Woche einen Kreis junger Mädchen um sich und hat ihnen gesagt, sie möchten doch Anna Hagen und ihrem tapferen Manne eine Freude machen. So schallt es denn rein und voll: So nimm denn meine Hände und führe mich, und nach der Trauung: Wenn ich ihn nur habe. Die beiden Lieder singt niemand sonst mit. Aber als die Orgel spielt: Jesu, geh voran auf der Lebensbahn, da hört man deutlich Großmutter Pimpfels helle Stimme. Das ist ihr Lied, das kann sie jeden Tag singen, und danach hat sie ihr Leben eingerichtet.

Der Geistliche spricht von Heimat und Daheim. Wunderbar seien Gottes Wege, und wen er in seine irdische Heimat bringen wolle, das heißt dahin, wo er der Erde Lobgesang am lautesten und der Väter Stimme am deutlichsten höre, den bringe er heim; Heimat sei nicht immer gleichbedeutend mit Jugendland, aber es sei vergeblich, den geheimen Strömen nachspüren zu wollen, die im Blute der Geschlechter rauschten. Niemand könne sich schuldig sprechen, erläge er den Kräften, die ihn an die Heimat bänden. Der Mensch aber, der in der Heimat oder im fremden Lande nicht in Gott lebe, sei niemals daheim.

Der Pfarrer kannte der Friesen Heimat und Art. Sie habe sich, sagte er, in einer wackeren Tat ausgewirkt und offenbart, die der Mann an jenem Frühlingstage vollbracht, da die Wasser ein Leben bereits halb zerstört hatten, das noch nicht viel Schritte auf seinem Wege getan. Und mit der Friesenart werde sich der Berge und der Wälder Lieblichkeit und Innigkeit vermählen. Das schönste aber sei, daß einem guten, alten Manne, der bislang nur eine Heimat, aber kein Daheim gehabt habe, endlich Tage voller Sonnenlicht und Wärme bevorstünden. Zuletzt wünschte er dem jungen Paare alle Tage den rechten Hausgast und den rechten Hausgeist.

So schön und herzlich hatte der liebe alte Pfarrer Siebert selten gesprochen.

Die Trauung war vorüber, der kleine Zug kehrte zurück in das bescheidene Uhrmacherhäuschen, die Neugierigen verliefen sich; aber man muß es zur Ehre der Langenbrücker sagen, das ganze Städtchen nahm frohen Anteil an dem Glück, das sich da auftat, wo lange Jahrzehnte eine stille, aber tiefe Not gesessen.

Maria Pimpfel hatte ihren Platz am Tische links von Frau Amtsrichter Mendel. Ihr Antlitz war licht und klar, aber sie sprach wenig. Dafür plauderte Christine Pimpfel um so mehr. Immer wieder versicherte sie, daß sie sich freue. Weiter gar nichts als freue darüber, daß sie nun doch noch sähe, wo hinaus eigentlich der Herrgott gewollt habe. Das sähe man längst nicht immer, und es sei eine besondere Gnade, es erkennen zu dürfen. Überhaupt der Herrgott! Man könne ihm gar nicht gut genug sein.

Frau Mendel interessierte sich für Meister Hempels Altertümer. Was hätte er lieber getan, als mit ihr von Stück zu Stück zu gehen. Sie verstand nicht viel davon. Nun, das war bei dem Meister kaum anders. Darin waren sie beide einig, daß da entzückende Formen stünden, daß die auf die alten Gläser gemalten Sprüche fast alle gut und kernig seien, daß eine große Liebe und eine auf jede Kleinigkeit verwendete persönliche Sorgfalt aus allen Stücken spräche. Frau Mendel nahm dies und jenes Stück in die Hand und ließ die Finger liebkosend darübergleiten. Das freute den Meister und war ihm mehr wert, als hätte ihm irgend jemand ein Geschenk gemacht. Er wuchs unter der Anerkennung. Was ihm viel Spott eingetragen, ward gewürdigt und anerkannt; es war nicht wahr, daß er seine Tage unnütz vertrödelt hatte, Alles, was er zusammengetragen, wäre eines Tages sinn- und zwecklos in der Welt zerstreut worden, hätte er es nicht heimgeholt.

»Jawohl,« sagte der Meister lebhaft, »ja, und niemand hätte sich richtig daran gefreut.«

»Meister,« fiel Frau Amtsrichter Mendel ein, »ich verstehe nicht viel davon, aber ich habe einen Bruder, der um so gründlicher Bescheid weiß. Er ist Universitätsprofessor und reist dieses Jahr durch Tirol, um in den alten Kirchen herumzustöbern. Ich denke, daß er mich übers Jahr einmal besucht, – er nimmt sich immer so wenig Zeit, – dann darf ich ihn doch einmal zu Ihnen führen?«

»Ja.« Der Meister lächelte spitzbübisch. »Bis dahin habe ich auch vielleicht noch ein paar Stücke mehr. Ich weiß noch etliche, aber die Leute fangen an, zu viel Geld dafür zu verlangen.«

»Ich glaube, Meister, daß Sie immer noch sehr billig kaufen, und daß Sie alles in allem einen großen Wert zusammengetragen haben.«

»Nein, nein,« wehrte Hempel ab, »wer sollte denn dafür etwas geben? Das will ich auch gar nicht. Ich habe bloß so viel Freude daran.«

Am Tische hat man derweile allerlei erzählt. Jetzt sitzen Maria Pimpfel und der Christmannsdorfer Müller nebeneinander. In ihm findet die Frau, was in ihr selber lebt. Die Rede ist auf die einsam gelegene Mühle und das oft entsagungsreiche Leben, das man dort zu führen gezwungen ist, gekommen. Die Müllerin wohnte lieber im Dorfe und wäre gern bereit, auf die Freiheit zu verzichten, die ihnen das kleine Fürstentum gewährt. Der Mann lacht dröhnend. »Ich aus der Mühle fort? Nicht eher, als bis sie mich hinaustragen.« Er wendet sich an Maria Pimpfel. »Wissen Sie, wie das ist, wenn das Wasser brüllt?«

»Ja, das weiß ich.«

»Ist es Ihnen schauerlich?«

»Nein, niemals.«

»Sehen Sie, das ist richtig. Schauerlich? Wozu ist denn mein Haus fest? Auf einmal ist das Wasser da, man weiß gar nicht, woher es kommt, aber man ist auch da und ist starker, und wenn es ganz und gar hart auf hart geht, dann hat man immer noch seinen Herrgott. Und dann im Sommer! Heinrich,« ruft er über den Tisch, »morgen kommt ihr alle zu mir, Forellen essen. Sie auch, Großmutter Pimpfel, und den guten Kreuzweis – ach, das soll ich ja nicht mehr sagen, aber es ist nicht böse gemeint, – den alten Meister Hempel, den nehmen wir auch mit. Wie ist's, schlagt ihr ein?«

»Ich würde die Mühle gern einmal kennenlernen,« sagt Maria Pimpfel.

»Abgemacht,« dröhnt Menges Stimme. »Um zehn sind die Pferde da, die jungen Leute laufen, die alten fahren. Einverstanden, Heinrich?«

»Ich weiß nicht recht. Es liegt so viel Arbeit da.«

»Laß sie liegen. Übermorgen kannst du wieder feilen. – Frau Pimpfel, daß der Heinrich überhaupt Uhrmacher geworden ist!«

»Es ist ein besinnlicher Beruf.«

»Ja doch, aber ein Kerl, der Zentnergewichte stemmt und in das Wasser hineinrennt! Ich kann's nicht zusammenreimen.«

»Und mir ist nichts lieber, als daß er Uhrmacher wurde,« fällt Großmutter Pimpfel ein. »Der Herrgott und der Uhrmacher, die machen die feinste Arbeit. Säcke schleppen kann zur Not jeder.«

Wieder lacht der Müller. »Freilich, Großmutter. Ich bin's ja auch zufrieden. – Also morgen sehen wir uns alle in der Mühle.«

Die Hochzeitsgesellschaft blieb nicht gar lange zusammen. Als die Turner und die Schützen am Abend ihre Vertreter schickten, um zu gratulieren, da trafen sie nur noch die an, die in das Haus gehörten.

Am anderen Tage kamen die vom Müller Geladenen gerade noch vor einem schweren Gewitter unter Dach. Heinrich Pimpfel und seine Frau hatten den kürzeren Weg über Waldburg und die Teufelswand genommen und waren früher da als die anderen, die gefahren waren. Die Forellen plätscherten noch im Fischkasten. Der Müller sagte ernst: »Wir wollen erst das Gewitter vorüber lassen.«

Es wurde eines der schweren Gewitter, unter deren Donnerschlägen alle Gründe widerhallen und die Wasser sich dem blasenden Sturme entgegenstemmen. Die Stube war dunkel, die Hoflinden brausten, die Blitze knatterten. Kein frivoles Wort kam aus des Müllers Munde. Seine Frau nahm das Gesangbuch vom Bord und betete den Wettersegen, der Mann senkte den Kopf und schwieg. Maria Pimpfel stand am Fenster und sah in das Wetter hinaus. Im fahlen Lichte gingen lange Wogen durch die Ährenfelder. Die Regensträhnen prasselten hart auf. Der Regen war so dicht, daß er den Wald, der kaum hundert Schritte hinter der Mühle stand, verbarg.

Eine Hand legte sich auf die Schulter der Sinnenden. »Wir sehen das nicht gerne, wenn jemand bei Gewitter am Fenster steht.« Es war der Müller. Kein Zug von Furcht lag in seinem Gesicht, aber er hatte Ehrfurcht vor dem, der im Wetter redete. Maria Pimpfel trat zurück in den Kreis der anderen. Das Wetter ging vorüber, ein leuchtender Regenbogen überspannte das Tal.

»Nun wollen wir lustig sein,« sagte der Müller. »Jetzt ist Zeit dazu. Frau, wir gehen derweile hinaus. Wenn die Fische fertig sind, rufst du uns. – Nee, Hempel, du gehst auch mit. Was, du willst dir keine nassen Füße holen? Ich kenne dich doch. Wenn ich die Tür hinter mir zugemacht habe, rennst du wieder auf den Boden. Komm nur, alte treue Seele. Jetzt ist es viel zu schön draußen, als daß man im Hause bleiben dürfte.«

Sie traten alle hinaus und wanderten der Wiese zu, auf der die sonnenfunkelnden Regentropfen wie buntfarbige Edelsteine blitzten. Der Müller dehnte und reckte sich. »Es gibt nichts Schöneres als solch ein Maigewitter. Ach!« Er zog den Atem tief ein. Vom Waldrande her dufteten die Birken. Das ganze Tal war eine einzige lichte Feier. Die Vögel sangen aus allen Hecken und von allen Wipfeln herab, die vom Regen zerzausten Blüten ordneten Gewand und Haar wieder und lachten der Sonne zu, die sprießenden Ähren begannen die Häupter wieder zu heben, und am Himmel zogen die weißen Wolken gegen Norden hin ab. Über eine Bodenwelle her guckte der Kirchturm des Nachbardorfes, und das Wasser sang ein lautes, lebensstarkes Lied. Einsamkeit und Weite einten sich mit Lieblichkeit und Innigkeit. »Ja,« sagte Maria Pimpfel, »das ist schön, das ist sehr schön!«

Der Müller begann aus der Geschichte seines Geschlechtes zu plaudern. Einer seiner Vorfahren, der als dritter Sohn nicht recht hatte unterkommen können, sei 1813 zu den Preußen gegangen und mit Blücher in Paris eingezogen. Die Briefe von ihm lägen noch drin in der Lade. 1806 hätte man übrigens den Kanonendonner von Schleiz und Saalburg aus deutlich gehört. Kaum eine knappe Stunde weiter das Wasser aufwärts hätten die Franzosen versucht, über das Tal zu kommen, um den Preußen in den Rücken zu fallen, aber der Tauentzien sei gescheiter gewesen, als sie gedacht. Er hatte da eine kleine Abteilung aufgestellt, und die hatte den Feind zurückgeschickt. Es tue ihm, dem Müller, wohl, fast bei jedem Schritt zu wissen, daß seine Vorfahren ihren Mann so gestanden hätten, wie es die Zeiten verlangten. Sie hätten es sich behaglich gemacht, wenn sie es sich leisten konnten, aber sie seien auf dem Posten gewesen, wenn es nötig war. So wie er, denke übrigens sein Junge auch schon. Man müsse die Kinder so erziehen, daß sie wüßten, woher sie kämen, nicht dächten, sie stünden allein und hätten nicht mehr zu verantworten als sich selber.

Das alles gefiel Maria Pimpfel so, daß sie sich aufrichtig der Freundschaft zwischen dem Müller und ihrem Sohne freute. Als sie zufällig neben Heinrich herging, sagte sie: »Der Mann weiß, was er will und wer er ist, und ist ein zuverlässiger Freund.«

Das Essen war, wie gewöhnlich, reichlich. Die Forellen waren in der Mühle keine Delikatesse, sondern galten fast für Hausmannskost. Was sollte man damit anfangen? Der klare Bergbach wimmelte, niemand begehrte die Fische.

Menge aß und aß, und als alle anderen fertig waren, aß er immer noch, so daß man zuletzt anfing, zu lachen. Er ließ sich nicht stören, plauderte nach rechts und links, lachte, als ihm seine Frau scherzend die Schüssel fortnahm, und erklärte, dann müsse er sich eben nachher an Kaffee und Kuchen schadlos halten.

Die Müllerin führte die Gäste durch das Haus, man sammelte sich wieder um den Kaffeetisch. Der Hausherr und Maria Pimpfel waren nicht dabei. Sie saßen in der Mühle auf dem stillen Bänkchen, neben dem das Wasserrad knarrte und wuchtete. Die Frau hatte ein solches Zutrauen zu dem Mann, daß sie ihr Herz weit auftat. Als sie ihm Jürgen Detlefsens Geschichte erzählt, sah der Müller tiefernst an ihr vorüber in eine Ecke.

»So,« sagte er. »So! Das könnte man wahrscheinlich hier von keinem erzählen. Ich weiß nicht, vielleicht hätte auch ich das nicht fertiggebracht. Obwohl – –« Er strich sich übers Gesicht. »Mein Zeug ist mein, und ich ließe es mir von niemand nehmen. An unsereines tritt aber so etwas nicht heran. Aber das muß ich sagen: Wenn das in Ihrem Stamme vorgekommen ist, dann stirbt das überhaupt nicht. Das geht durch alle Zeiten. Ich meine, da kann einer nachher gar nicht aus der Reihe brechen.«

»Das weiß ich nicht. Es sind längst nicht alle so gewesen wie Jürgen Detlefsen.«

»Dann haben sie sich nicht die richtigen Frauen ausgesucht. Das ist überhaupt so eine Sache, und es ist gar nicht so falsch, wenn die Alten den Jungen dabei helfen. Man muß den jungen Leuten natürlich ihre Freiheit lassen, aber bloß um des Gesichtes willen zueinander laufen, das tut nicht gut. So gehen die besten Geschlechter zugrunde.« Wieder sah der Müller still in die Ecke. Er nickte vor sich hin, wandte sich mit einem Ruck Maria Pimpfel zu und sagte: »Da habe ich mit dem Heinrich auch gesessen. Er gefiel mir, aber ich wurde nicht ganz klug aus ihm. Uhrmacher und beim Kreuzweis! Nun hat sich das ja alles herausgestellt, aber nun hat sich auch mehr herausgestellt. Heute ist er seines Vaters Sohn, der nicht mehr braucht als seine Arbeit, seine Frau und seine Ruhe. Dazumal, als er in das Wasser lief – und, Frau Pimpfel, es kam auf die Sekunde und auf den Zoll, zu kurz oder zu weit, an –, da war er Ihr Sohn. Ich mag so alt werden wie Methusalem, aber ich werde das Gesicht nie vergessen, als er im Wasser stand und als er zuhieb. – Er ist doch ein glücklicher Mensch! So Vater und Mutter in einem habe ich noch keinen gesehen. Er wird alles können, was die Zeit von ihm verlangt, und seine Frau paßt zu ihm.«

Sie sprachen noch dies und das, und es erwies sich, daß der Müller so stark im Geiste seiner Ahnen lebte, daß er nicht einmal ganz frei von Aberglauben war. Auch das gefiel Maria Pimpfel, und es ist ganz gewiß besser, an einen guten Hausgeist zu glauben als den Geist überhaupt zu verneinen.

Der Tag brachte allen Gewinn. Auf der Heimfahrt erklärte Meister Hempel, daß er nun bei dem Gericht die Überschreibung seines Besitzes auf die beiden jungen Leute in die Wege leiten werde. Maria Pimpfel widerriet, auch Christine Pimpfel hielt es für richtiger, sich erst dann auszuziehen, wenn man sich schlafen lege. Der Meister war und blieb starrköpfig.

»Gut,« sagte er, »wenn ich mich in den zweien täusche, dann will ich das auf mich nehmen. Dann ist die Welt wirklich so schlecht, wie ich sie immer gehalten habe. Aber ich mache es doch. Ich will mir guttun lassen. Ja, das will ich.«

Maria Pimpfel sprach am anderen Tage mit Sohn und Schwiegertochter darüber. Sie reiste hernach ohne alle Sorge ab. An das Meer mußte sie wieder, aber sie dachte mit leiser Wehmut an die im Berglande. Mein Schicksal ist es, das Urgewaltige, Erschütternde, Ungeheure vor mir zu haben, immer den letzten Gewalten verbunden zu sein. Glücklich ihr, die ihr in Frieden, Stille und Lieblichkeit daheim seid.


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