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3.

Es war so schön gewesen, daß Heinrich Pimpfel davon träumte, und daß er im Wachsein beschloß, den nächsten Tanz, der in Langenbrück stattfände, zu besuchen. Das war vier Wochen nach der Christmannsdorfer Kirmes.

In der Zeit war allerlei geschehen. Hempel hatte vorerst wieder ein paar alte Krüge gekauft, nun, das war nichts Ungewöhnliches, die Kasse war um einen Taler gewachsen, obwohl die Arbeiten in Altenbeuten auf die Krüge verrechnet worden waren. Anna Hagen war vier Sonntage hintereinander da gewesen. Es war wirklich Ordnung in der Hundetürkei, und, was die Hauptsache war, Adolf Hempel war mit ihr einverstanden. An die zwanzig große und kleine Bordbretter waren aufgehängt worden und standen voll. Die Dinge kamen auf die Weise zur Geltung, und selbst Anna Hagen freute sich an ihnen. Bei den gemeinsamen Arbeiten waren sich Pimpfel und das Mädchen nähergekommen, aber der Geselle dachte nicht im Ernst an Heiraten. Er fühlte sich jedoch dabei keineswegs beengt, sondern war die ganze Zeit über zu allerlei Scherz aufgelegt. Darin blieb ihm Anna Hagen nichts schuldig, aber ihre Antworten hatten lange einen eigenartigen Unterton. Immer war es spürbar, daß sie Pimpfel zwar für einen herzensguten Menschen, aber nicht für einen rechten Mann hielt. Zunächst glaubte sie nicht, daß er über nennenswerte Körperkräfte verfüge. Als sie sah, wie er eine vollgepackte alte Truhe kurzerhand auf die Schulter nahm und die Treppe hinauftrug, ward sie förmlich verlegen. Das war weit mehr, als sie erwartet. Und ein andermal. Ein Bauer kam, dem Meister eine alte Schüssel aufzudrehen. Sie war schön. Es war ein altes Taufbecken, auf dessen Grunde eine Taube eingehämmert war. Der Bauer verlangte einen für die Uhrmacher viel zu hohen Preis. Trotzdem hätte Hempel die Schüssel genommen. Da warf sich Pimpfel dazwischen. So weit dürfe die Liebhaberei nicht gehen, und daß es hier darauf angefangen sei, den Meister zu prellen, sehe jeder Mensch. Nun wollte der Sammeleifer den alten Hempel überrennen. Der Bauer sah es und reizte ihn.

Da nahm Pimpfel den Besucher kurzerhand beim Kragen und schob ihn zur Tür hinaus.

Er trat nachher vor den Meister. »Jetzt kannst du mich auch hinauswerfen; denn ich habe in deine Rechte eingegriffen. Mach's, ich bin dir nicht böse. Aber das sage ich dir, die alte Schüssel kommt entweder für den dritten Teil oder gar nicht herein, wenn du nicht willst, daß ich gehen soll. Seinen Kopf muß man oben behalten.«

Ein Jahr später kostete die Schüssel den fünften Teil.

Anna Hagen hatte dem Handel von der Treppe aus schweigend zugehört. Wieder hatte ihr Pimpfel eine angenehme Enttäuschung bereitet.

Das waren einige der kleinen Erlebnisse in der Hundetürkei. Im Städtchen war das bedeutsamste, daß die alten Parzen wieder ihre Heimstätte bei Witwe Berndt hatten. Sie kamen aber nicht mehr durch die Vordertür, sondern verstohlen durch das Hintertürchen. Nun war zwar im Hause des Heinert alle Tage Zank, aber schließlich gab es der Mann abermals auf, arbeitete, wie es paßte, trank, wie es paßte, und verarmte immer mehr.

Der Herbst zog sich merkwürdig lange hinaus. Es regnete öfters, dann und wann spielten auch ein paar Schneeflocken, die Bäume waren kahl, die Tage kurz, das Leben langweilig.

Nun kam der Tanz im Gasthof zur Linde, der mitten im Städtchen lag. Der Wirt durfte von sich aus im Jahre vier Tänze veranstalten, und der Herbsttanz war der letzte. Als Anna Hagen am Sonntag wieder in Hempels Hause gewesen war, hatte Heinrich Pimpfel gefragt, ob sie zum Tanze gehe.

»Zum Tanze?« hatte sie entgegnet, »das weiß ich noch nicht.«

»Ach, Tanzen ist das Schönste, das man sich denken kann.«

»So gern tanzen Sie?«

»Ja. Ganz versessen bin ich darauf.«

»Dann gehen Sie doch hin.«

»Das werde ich auch, aber – können Sie nicht mitgehen?«

»Wenn Sie mich einladen, warum nicht?«

»Ich lade Sie ein.«

»Dann kann ich ja mitgehen.«

Sie traten gegen acht Uhr in den Saal. Der war voll. Anna Hagen war nicht ohne Befürchtung gegangen, aber ihre Sorge war doch nicht so groß, daß es das Mädchen für richtiger gefunden hatte, fernzubleiben. Es wäre zudem kaum etwas anders gekommen, als es kam, wäre sie weggeblieben, denn Paul Würfel würde den Tanz ebenso bestimmt aufgesucht haben wie Pimpfel, da mit ihm zusammengetroffen sein und Streit gesucht haben.

Würfel stand mit etlichen jungen Leuten in der Ecke und unterhielt sich. Als er Anna und den Uhrmacher sah, zogen sich seine Brauen finster zusammen. Eine ganze Weile aber ging alles gut. Das Mädchen war beliebt, andere Mädchen kamen plaudernd heran, Burschen gesellten sich dazu, und der blonde Oldenburger war wahrlich kein Spielverderber. Er lachte, war witzig und necklustig, riß die anderen mit fort, und der Kreis um ihn und Anna ward immer größer. Es ging durch den ganzen Saal, daß der Fremde ein lieber, lustiger Mensch sei.

Pimpfel tanzte keineswegs nur mit Anna Hagen. Er griff sich dieses und jenes Mädchen aus der Reihe und wirbelte sie herum.

Mitternacht war nahe, der Abend schien gut auszugehen, die Freude war auf der Höhe. Heinrich Pimpfel tanzte mit Anna Hagen. Ihnen in den Weg tanzte Paul Würfel. Es kam zu einem Zusammenstoß, aber der Oldenburger sah darin keine Absicht. Er lachte und machte einen Scherz. Für ihn war die Sache damit abgetan, und er wollte weitertanzen.

Paul Würfel aber unterbrach den Tanz und fiel Pimpfel an.

»Wenn du nicht tanzen kannst, dann bleib andermal daheim.«

Zunächst glaubte der Uhrmacher, der seiner Kunst noch nicht sicher war, er sei in der Tat ungeschickt gewesen. Also erklärte er lachend, er werde sich andermal besser vorsehen.

Jetzt wuchs dem Kutscher der Mut. »Überhaupt,« sagte er, »du gehörst in die Hundetürkei, nicht hierher.«

»Das laß meine Sache sein,« wehrte Pimpfel scharf ab, immer noch Anna Hagen im Arme haltend.

»Deine Sache?« Würfel trat dicht an den Uhrmacher heran. »Deine Sache? Das kann jeder Hergelaufene sagen, aber uns paßt das nicht. Wir wollen unter uns bleiben.«

Nun erkannte Pimpfel, daß die Auseinandersetzung gewollt und ernst war. Er ließ Anna Hagen los und trat, ohne Würfel zu beachten, vor die Burschen, die sich im Kreise um. die Streitenden gestellt hatten. »Ist das bei euch wie auf dem Hühnerhofe, wo der neue Hahn erst dann etwas gilt, wenn er sich mit den anderen gerauft hat?«

»Ach,« fiel einer ein, »uns geht das gar nichts an. Das habt ihr zwei miteinander auszumachen.«

»So, wir zwei,« der Uhrmacher wandte sich wieder an Würfel, »dann sagen Sie mir, was Sie wollen.«

Der Kutscher lachte brüllend. »Seht doch bloß den Affen. Jetzt sagt er Sie. Jawohl, Sie, Herr Geselle vom Herrn Kreuzweis – –«

»Lassen Sie den alten Mann aus dem Spiele.«

»Ach so, den alten Mann, der dich aufgelesen hat, wie du dazumal zerlumpt und verlaust an der Schwedenschanze gesessen hast, wo dich die dort gefunden hat.«

Pimpfel war glühend rot. Seine Fäuste flogen. Er sah auf Anna Hagen. Sie stand finster zur Seite, tat jetzt einen raschen Schritt auf Würfel zu, ihm ins Gesicht zu schlagen. Der Uhrmacher fing ihre Hand ab und sagte freundlich: »Das müssen Sie nicht.« Und wieder zu Würfel: »Wie sagten Sie, hätte ich an der Schwedenschanze gesessen? Zerlumpt und verlaust? Ich müßte Sie ins Gesicht schlagen – –«

Würfel lachte abermals.

»– – aber Sie tun mir leid.«

Wieder war Anna Hagens Gesicht, das vorhin licht geworden war, finster. Er fürchtet sich und macht Worte. Auch die Burschen rundum waren enttäuscht. Sie wußten nicht, daß es einerseits jedem Handwerksburschen einmal geschieht, daß er Läuse aufliest, und daß Pimpfel andererseits wirklich Mitleid mit dem groben, ungewandten Menschen hatte, dem er sich vielfach überlegen fühlte.

Der aber ging kurzerhand zum Angriff über und versuchte, Pimpfel mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Da brach ein Pfeifen über Pimpfels Lippen, das die Umstehenden zusammenfahren ließ. Er erhielt den Schlag, aber er hatte im gleichen Augenblicke seinen Gegner umfaßt und preßte ihn an sich. Würfel war zwar ungewandt, aber er war kräftig. Er schlug, trat, biß, ward frei. Nun wollten die anderen zuspringen, aber schon hatten sich die Ringenden wieder ineinander verbissen. Jeder erkannte, daß Pimpfel der Überlegene war. Mit lautem Krach polterte Würfel auf die Diele. Heinrich Pimpfel schlug, wohin er traf und – – schrie auf, versuchte sich zu erheben, schlug neben dem anderen nieder. Würfel hatte ihm das Dolchmesser, das er heute abend griffbereit gesteckt, in die Brust gerannt. Nun war der Streit aus.

Ein entsetzter Mensch machte sich Bahn durch den Haufen, rannte in die Nacht hinaus und irrte drei Tage und drei Nachte durch die Wälder.

Der Streit war aus und der Tanz. Das Entsetzen schritt grauenhaft durch den Saal. Keiner der jungen Menschen hatte an einen solchen Ausgang gedacht; in Langenbrück hatte seit Menschengedenken keiner den andern mit dem Messer gestochen.

Anna Hagen jammerte nicht. Sie keuchte es in den entsetzten Haufen: »Holt den Doktor!« Und zu anderen: »Nicht heimtragen. Eine Bank her. Den Kopf hochlegen. Wasser!« Und zu einer Freundin: »Geh zum alten Hempel. Schlagt schnell eine Bettstelle in der Stube auf.«

Sie hatte keinen Blutstropfen in den Lippen, aber sie handelte auch nicht einen Augenblick unbesonnen.

Der Arzt kam. Was war zu tun? Wenig genug. Wer wollte sagen, wie tief der Stich gegangen war? Er verband den Verletzten, man trug ihn den kurzen Weg in das Uhrmacherhaus, man bettete ihn so sorglich, wie es ging, und mußte das andere dem Herrgott überlassen.

Meister Hempel war vollkommen gebrochen und zu jedem Schritt und jeder Handreichung unfähig. Die Untat war etwas so völlig Neues in dem Leben des bislang nur durch Nadelstiche, wenn auch damit wahrlich genugsam, verwundeten Menschen, daß er starr und hilflos dastand. Und dann: Das war seinem Heinrich geschehen, diesem besten aller Menschen, diesem klugen, fleißigen, heiteren! Die blonden Haare waren von Blut verklebt, die blauen Augen waren geschlossen, die geschickten Hände kraftlos.

Zitternd drängte sich der Meister an den alten Arzt. »Wird er sterben?«

»Weiß ich nicht. Ich kann nicht in ihn hineinkriechen. – Ruhe! Fräulein, Sie bleiben wohl vorerst hier. Der alte Mann macht ja alles verkehrt. Also nicht essen, nicht trinken, die Lippen feucht machen. – So was ist ja überhaupt in Langenbrück noch nicht passiert. Wo ist denn der Deibelskerl, der Mühlenkutscher hin? Ausgerissen? Na, vielleicht baumelt er sich auf. Wenn der junge Mann stirbt, ist es das beste, wenn sich der Messerstecher auch wegputzt.«

Der Arzt hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als Pimpfel die Augen aufschlug. Er versuchte nicht, sich zu erheben, aber er wollte sprechen. Anna Hagen legte ihm die Hand auf den Mund.

»Nicht reden. Tut es sehr weh? Nicht? Gott sei Dank!«

Der Meister drängte sich heran. »Heinrich, wärest du doch bloß nicht fortgegangen! Aber das war kein Hiesiger, der das getan hat. Und nun ist er ausgerissen, und der Doktor sagt, vielleicht hängt er sich auf. Ach, Heinrich, gelt, du stirbst mir nicht. Was soll ich denn ohne dich anfangen?«

Der Verwundete lächelte, aber Anna Hagen machte ein finsteres Gesicht. »Meister Hempel, was Ihr da zusammenredet!« So fix stirbt sich's nicht. Es geht ja schon wieder besser. – Haben Sie Durst?«

Hempel fiel ein. »Warum sagst Du denn immer Sie, Anna? Das sagt man zu fremden Leuten, aber der da ist doch unser Heinrich.«

Das Mädchen lächelte. »Ich kann ja auch du sagen, und wenn er es später nicht mehr haben will, dann sagen wir wieder Sie.« Damit strich sie Pimpfel über die hohe Stirn. »Du hast Durst? Der Doktor hat gesagt, vor morgen dürftest du nichts trinken.« Sie feuchtete ihm die Lippen an.

Heinrich Pimpfel sah ihr dankbar ins Gesicht, lächelte wieder und sagte: »Das Reden müßt ihr mir nicht verbieten. Ich weiß genau, was nun kommen wird. Jetzt kriege ich Fieber, und da rede ich doch. Das geht mir immer so. Aber deswegen sterbe ich noch lange nicht.«

Er sprach leise, aber zuversichtlich und deutlich.

Meister Hempel rannen vor Glück die Tränen über die Wangen. »Den Würfel, den holen sie. Da kannst du dich drauf verlassen.«

»Das sollen sie auch.«

»Gelt? Und das machen sie. Aber was tu ich dir bloß zugute?« Hempel rannte an die Vitrine, zog einen kleinen, verborgenen Schub auf und entnahm ihm zwei alte goldene Louisdors. Die legte er auf Pimpfels Zudecke.

»Das hast du nicht gedacht, was? Die sind noch von meiner Mutter. Die hat sie wieder von ihrer Großmutter. Sie stammen aus der Zeit, wie damals Anno 1806 die Franzosen da waren.«

Pimpfel drückte ihm die Hand und bat: »Geh schlafen.«

»Wo werde ich denn jetzt schlafen gehen?«

»Ich bitte dich darum.«

Er bat wiederholt, und als Anna Hagen dem guten Alten vollends bedeutete, er dürfe den Kranken jetzt nicht aufregen, ging er traurig hinaus.

»Du mußt doch nun auch heim,« wandte sich Pimpfel an das Mädchen.

»Wer sollte denn dann bei dir bleiben?«

»Ich – bleibe allein.«

»Nein, das geht nicht.«

»Aber ich werde irre reden. Es geht bald los.«

»Hab keine Sorge. Du bist nicht der erste Kranke, bei dem ich bin. Liegst du gut? – Hätte ich bloß von dem Tanze abgeraten.«

»Das konnte man nicht wissen. Und nun ist es ausgetragen.«

»Ich habe gar nicht gewußt, daß du so stark bist.«

»Warum sollte ich denn keine Kräfte haben? Weil ich Uhrmacher bin?« Er schwieg eine Weile, dann begann er mit halbgeschlossenen Augen zu murmeln. Das Gemurmel ward deutlicher. »Nein, Mutter,« sagte er, »ich gehe nicht wieder fort. Mach, was du willst. Ach, das, mit dem Mädchen weiß ich ja noch gar nicht. Ich weiß doch nicht, ob sie mich will, und ich muß auch erst zu was gekommen sein. Wieviel habe ich auf der Sparkasse? Fünfunddreißig Taler? Sechzehn Taler haben wir hier. Davon können wir den Laden anfangen. Was, Meister Hempel soll mir Lohn geben? Aber er hat doch nichts! Daß du nichts zu ihm sagst! Ich will nicht, daß du etwas sagst! Du bist überhaupt nicht freundlich genug. Wenn ich dich nicht besser kennte, müßte ich sagen, du brauchtest gar nicht herzukommen.«

Es wurde eine lange, lange schwere Nacht. Das Fieber wechselte. Mit ihm schwankten die Reden. Jetzt war Pimpfel in der Christmannsdorfer Mühle, dann auf dem Rathausboden, dann wieder hatte er Würfel unter sich und knirschte mit den Zähnen. Gegen Morgen ward er ruhiger. Da schrieb Anna Hagen einen Brief an seine Mutter. Der Kranke hatte sie selber auf die Fährte gesetzt. Und einen zweiten Brief schrieb sie. Mit dem jagte sie Meister Hempel im Morgengrauen nach dem Schlosse. Frau Amtsrichter Mendel war es gewiß nicht angenehm, die Helferin entbehren zu müssen, aber sie dachte menschlich und wußte, daß Anna jetzt wirklich nicht abkömmlich war.

Ein grauer Dezembermorgen wanderte in das Städtchen. Es war kalt und windig.

Noch vor der Sprechstunde kam der alte Arzt. Er fand den Kranken matt und in leichtem Fieber, aber er war mit dem Befund zufrieden. Die Blutung hatte aufgehört, das Atmen schien keine besonderen Beschwerden zu machen, wenn auch die Atemzüge kürzer waren als bei dem gesunden Menschen. Er gestattete vorsichtiges Trinken und leichte Kost. Im übrigen, erklärte er, müsse man abwarten und könne noch nichts sagen.

Im Laufe des Vormittags kam Amtsrichter Mendel zur Vernehmung. Es ward alles genau aufgeschrieben. Anna Hagen erstattete Bericht, und der Kranke bestätigte ihn. Der Amtsrichter bat Hempel bei der Gelegenheit, ihn durch das Haus zu führen und ihm seine Schätze zu zeigen. Er verstand nicht allzuviel davon, aber er war verwundert über die Fülle und Vielgestaltigkeit der Dinge.

Daheim berichtete er seiner Frau. Die erklärte: »Das muß ich meinem Bruder schreiben. Du weißt doch, daß er auch sammelt, aber wie du mir den Reichtum da unten schilderst, ist er ja ein Waisenknabe gegen den alten Uhrmacher.«

Das ganze Städtchen war durch die Untat erregt. Wohl fühlte sich dabei nur Olga Krause. Sie hatte alles gewußt, alles vorausgesagt. Sie wußte auch, daß Würfel geradeswegs nach Amerika sei. Bei ihm liege das übrigens in der Familie. Was sein Großvater, der alte Floßmeister Ehrenfried Würfel gewesen, der sei auch nicht auf rechtmäßige Weise zu seinem Gelde gekommen. Man habe allerlei gemunkelt von einem Viehhändler, den er erschlagen. So was erbe sich fort. Es überspringe ein Geschlecht, aber im anderen sei es dann wieder da. Und der Oldenburger? Nun, nun, der Totenvogel, der Kauz, hat nicht umsonst die ganze Nacht geschrien, und gestern habe es in das Vaterunser geschlagen. Gerade wie der Pfarrer das Vaterunser gebetet, habe es zehn geschlagen.

Man müsse übrigens einmal nach dem Oldenburger sehen. Das sei Christenpflicht. So, die Anna sei drüben? Dann erst recht. Die solle nicht sagen, daß sich niemand um die Hundetürkei kümmere.

Also ging Olga Krause geradeswegs auf Hempels Haus zu. Anna Hagen sah sie kommen und trat in den Hausflur.

»Tag, Anna.«

»Guten Tag.«

»Was macht denn der Kranke?«

»Er ist schon wieder halb gesund.«

»Nein, so was! Aber ich hab's ja immer gesagt, und wenn du den Mühlenkutscher geheiratet hättest – –«

»Wer hat denn gesagt, daß ich ihn heiraten wollte?«

»Das haben alle Leute gesagt.«

»So. Und von wem haben sie das?«

»Du denkst wohl von mir? Nein, von mir nicht. Wo ich doch schon die ganze Zeit her weiß, wie du mit dem Oldenburger stehst.«

»Woher weißt du denn das?«

»Er hat es mir doch selber gesagt. In sechs Wochen, hat er gesagt, wäre Hochzeit. Wenn der Mond Junge kriege, hat er gesagt, und es stünde schon in allen Blättern.«

Fast hätte Anna Hagen aufgelacht. Sie war innerlich froh, daß es dem Kranken nicht schlechter ging. »So,« sagte sie, »wenn der Mond Junge kriegt. Ja, ja, das stimmt, aber wir hatten uns in der Zeit verrechnet. Es dauert länger, als wir dachten. Aber wenn es so weit ist, dann paß auf. Die Mondjungen fallen alle vom Himmel herunter. Sieh zu, daß du eins erwischst. Sie sind von Gold. Sag das aber den anderen nicht, sonst wollen die auch welche haben, und sind immer bloß zwei!« Und ernster werdend: »Wann hat dir denn der Heinrich das gesagt?«

»Das war dazumal an dem Abend, wie er an der Saale heraufkam. Es ist am Ende vier Wochen her. Und nachher kam der Mühlenkutscher auch.«

»Und dem hast du auch gesagt, daß bald Hochzeit wäre.«

»Ach, der hat es ja nicht geglaubt.«

»Ja, der hat es geglaubt.« Das Mädchen richtete sich hoch empor und sah die Alte flammend an. »Der hat es geglaubt. Du hast ihm den Kopf verdreht. Du bist schuld, daß er nach dem Messer griff, und wenn der da drin stirbt, so bist du wieder schuld, und du bist eine Mörderin!«

Sie drehte die erschrockene Alte herum. »Solange ich hier bin, kommst du nicht wieder in dies Haus.«

Als Olga Krause nachher wieder in Witwe Berndls Laden trat, wußte sie zu erzählen, dem Oldenburger stünde der Tod auf dem Gesicht geschrieben. Es sei ein Jammer, so ein junges Blut, aber sie habe es ja immer gesagt. Heinrich Pimpfel aber dachte nicht ans Sterben. Es ging ihm drei Tage lang sehr schlecht. In der Zeit bekam Anna Hagen kaum ein Auge voll Schlaf, aber sie hielt durch, weil sie es wollte. Am vierten Tage sagte der Arzt, nun dürfe man hoffen, daß alles gut gehen werde.

Inzwischen hatte es angefangen zu schneien. Es schneite so, wie man das in dem Berglande gewohnt ist, und wie es in der Ordnung ist. Ganz still, ganz leise und ausgiebig.

Heinrich Pimpfel sah hinaus in das Rieseln und Wirbeln, und man wußte nicht recht, glänzten seine Augen im Fieber oder in knabenhafter Freude. Am vierten Tage war es dann bestimmt Freude.

Meister Hempel hatte über Land gemußt, eine Uhr abzuliefern. Er hatte all die Tage her gearbeitet und seinen Schätzen keinen Blick gegönnt.

Es war dunkel, aber der Abend war von dem weißen Licht der Schneeflocken durchflossen.

Anna Hagen hatte die ganze Zeit her neben Heinrich Pimpfels Bett gesessen. Sie hatten geplaudert. Schließlich waren die beiden, eines den Kopf neben dem des anderen auf dem Kissen, eingeschlafen. Fast zu gleicher Zeit erwachten sie auch beide, und das Gespräch ging weiter.

Heinrich Pimpfel wollte etwas aus des Mädchens Jugendzeit wissen.

»Ach,« sagte Anna, »was soll ich da erzählen? Es ist mir nicht gerade schlecht gegangen, aber wenn halt ein Kind ganz ohne Eltern aufwächst, so ist das nicht leicht.«

»Ganz ohne Eltern bist du aufgewachsen?«

»Ja. Ich dachte, das hätten sie dir lange erzählt.«

»Ich habe niemand gefragt, und es hat es mir niemand von selber gesagt.«

»So. Nun ja, heute spricht man nicht mehr darüber. Man hat lange genug davon geredet und hat getan, als wenn mir ein Makel anhinge, als wäre ich halb und halb schuld.«

»Du redest nicht gern davon?«

»Warum soll ich nicht davon reden? Ich kann doch nichts dafür. Ich bin am Karfreitag geboren. Mein Vater war Flößer und soll ein frommer Mann gewesen sein. Er wollte auch an dem Karfreitag durchaus nicht auf die Saale. Es war aber die ganze Zeit her kleines Wasser gewesen. Am Gründonnerstag und am Mittwoch vorher nun hatte es ohne Aufhören geregnet. Da kam am Gründonnerstagabend der Schaffner und sagte, sie müßten morgen flößen. Nein, sagte mein Vater, morgen geht es nicht. Es ist Karfreitag, und außerdem weiß ich nicht, wie es mit meiner Frau wird. Wir rechnen doch nun jeden Tag mit dem Kinde. Der Schaffner aber ließ nicht nach. Mein Vater konnte auch nicht viel machen. Er hatte sich verpflichtet, und aussuchen konnte er sich die Tage nicht. Da ging er denn am Karfreitag früh um drei fort. Die Flöße hingen bei Burgk. Um zehn gedachten die Männer in Langenbrück zu sein, und Karoline Sindermann, die im Haus neben uns wohnte, sollte kurz vor zehn an der Nähermühle warten, meinem Vater zu sagen, ob alles in Ordnung wäre. Um drei war der Vater fortgegangen, um vier mußte die Mutter nach der Wehfrau schicken. Nun war es derweile halb elf geworden. Da reißt Karoline Sindermann die Tür auf und schreit: ›Ach Gott, ach Gott, Anna! Nee, nee, ich kann's ja gar nicht sagen! Wie sie über das Wehr hinabgefahren sind, hat's deinen Mann vom Floße gerissen. Nun suchen sie schon eine halbe Stunde und haben ihn noch nicht.‹ Da schreit meine Mutter auf und fällt zurück ins Bett. In demselben Augenblick bin ich auf der Welt. Ich weiß nicht, war meine Mutter schon tot, als ich geboren wurde, oder starb sie, wie ich auf die Welt kam. Die Wehfrau hat es erst nachher gemerkt, daß meine Mutter am Herzschlag gestorben war. Meinen Vater hat das Wasser an der Ludwigshütte angetrieben. Sie liegen beide in einem Grabe. Mich hat meiner Mutter Bruder aufgezogen. Ich habe es gut gehabt, aber was eine Mutter ist, das weiß ich doch nicht.«

Nun war es lange still in der Stube. Da sagte der Kranke leise: »Da hat der Herrgott viel an dir gutzumachen.«

Anna Hagen schüttelte den Kopf. »Das mußt du nicht sagen. Entweder man hält still, und dann ist nichts gutzumachen, oder man kommt überhaupt nicht zurecht.«

»Das hast du auch nicht leicht gelernt.«

»Was blieb mir übrig? Man lernt, was man eben lernen muß. Du hast auch etwas lernen müssen, das dir nicht lieb ist.«

»Das, was du meinst, will ich nicht lernen. Wenn einer heimtückisch war, so will ich deswegen noch nicht allen Menschen mißtrauen.«

»Man kommt aber weiter damit.«

»Aber man macht sich das Leben schwer, und du selber bist ja auch gar nicht so, wie du tust.«

»Ich nehme es, wie es kommt. Wenn man bei Gott überhaupt von Wiedergutmachen reden darf, dann, glaube ich, hat er es bei mir schon getan, indem er mich werden ließ, wie ich eben bin.«

Pimpfel lächelte. »Wie bist du denn?«

»Ich denke, du kennst mich genug. Ich setze mich durch. Wer mir weh tut, dem tue ich wieder weh, wer gut zu mir ist, mit dem bin ich auch gut.«

»Wie meine Mutter.«

»Ich – habe an deine Mutter geschrieben.«

Der Kranke war betroffen. »An meine Mutter? Warum?«

»Man konnte doch nicht wissen, was werden würde.«

»Wann ist der Brief fort?«

»Am Montag früh.«

»So. Und nun?«

»Wird sie wohl herkommen.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Aber sie macht sich doch nun Sorge um dich.«

»Das wird sie wohl. Deswegen aber muß sie noch lange nicht denken, daß es schlimm ausgehen könnte.«

»Sie ist doch deine Mutter und hat nur dich.«

»Ich – bin nach meinem Vater geartet. Der Mutter bin ich zu weich.«

»Du bist ja gar nicht weich.«

»Sie denkt es aber.«

»Und wenn du es wirklich wärst, was wäre weiter dabei?«

»Was dabei wäre? O, das weiß ich ganz genau. Das hat mir meine Mutter oft genug gesagt. Dann bin ich – nun, wie Meister Hempel, gutmütig, komme zu nichts, drücke mich überall beiseite und bin froh, wenn mir niemand etwas tut. Meine Mutter hat mich lieb, das weiß ich. Aber weil sie mich liebhat, ist sie härter gewesen, als wohl manchmal nötig war. Sie hat mich bis in den Winter hinein ins kalte Wasser gejagt, sie hat mich auf die höchsten Bäume geschickt. Als ich Uhrmacher werden wollte, hat sie mich acht Tage lang geschlagen. Alles, weil sie mich so haben wollte, wie ich nach ihrer Meinung sein sollte. Und ich habe doch Uhrmacher gelernt und bin geworden, wie ich mußte.«

»Wenn deine Mutter am Sonntag dabei gewesen wäre, würde sie anders denken.«

»Vielleicht kommt sie. Ich kann mir denken, was sie zuerst fragt.«

»Was wird sie fragen?«

»Sie wird fragen, wer angefangen hat und wer Herr geworden ist.«

»Ach nein. Sie wird zuerst fragen, wie es dir geht.«

»Wir wollen abwarten.«

»Aber sie meint es doch gut.«

»Das tut sie, und das weiß ich.«

Indem trat Meister Hempel hastig ein. Der Mann war tief erregt, »'n Abend,« sagte er. »Ihr habt ja noch kein Licht. Ach, ist das ein Wetter! Ich habe gesagt, wer seine Uhren gemacht haben wolle, müsse sie bringen. Nein, da holt man sich ja den Tod. Nun will ich euch was sagen, aber du darfst nicht erschrecken, Heinrich.«

»Nein, nein, erzähle nur. Du hast wieder einen alten Krug gekauft?«

»Daran denke ich jetzt nicht. Sie haben Würfel gefangen.«

»Was war denn da viel zu fangen?« fragte Anna Hagen.

»Mehr als du denkst,« wußte der Meister. »Heute früh war er in der Linkenmühle gewesen. Kaum war er fort, kam der Drognitzer Gendarm. Dem sagte es der Müller. Der ist ihm nach. Über die Teufelskanzel, – jetzt über die Teufelskanzel! – Hinter Poffek im langen Holze hat er ihn gekriegt.«

Heinrich Pimpfel seufzte.

»Tut er dir leid?« fragte Anna Hagen.

»Ich weiß es nicht. Strafe muß er haben.«

»Das denke ich auch.« Das Mädchen sprach hart. »Was hat das denn überhaupt für Sinn gehabt, daß er ausgerissen ist? Wenn er das schon wollte, dann mußte er sich auf die Eisenbahn setzen. Aber hier sich herumtreiben – –«

»Ist genau so unüberlegt, wie mir das Messer in die Brust zu stoßen.«

»Das war schlecht.«

»Wenn er mir aufgelauert hätte, wäre es schlechter gewesen.«

»Man muß es Gott und dem Gericht überlassen,« sagte Hempel leise. Anna Hagen senkte den Kopf und schwieg. Sie fühlte, daß ihr Heinrich Pimpfel überlegen war.

Die kommende Nacht war die letzte, die das Mädchen im Uhrmacherhause blieb. Sie sprach auf ihren Gängen in die Stadt vor, blieb auch wohl ein Weilchen sitzen, kam am Sonntag darauf auf etliche Stunden, war aber im übrigen jetzt weit zurückhaltender als in den Tagen, da die Sorge sie beherrscht hatte.

Und immer mehr schneite es. Heinrich Pimpfel lag in seinem Bett, hatte einen kleinen Fieberrückfall gehabt, hatte sich wieder erholt, ließ die Tage und Stunden an sich vorübertrödeln, grübelte und plante viel.

Ohne alle Hast ging er auch dem Gedanken nach, Anna Hagen zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Er war nicht verliebt. Es war anders als damals, da er die junge Dorfschneiderin von Christmannsdorf im Arm gehabt. Das Feuer war ausgebrannt. Es war wohl überhaupt nur ein Feuerchen gewesen. Ein Wind hatte es nicht angefacht, sondern ausgeblasen. Der Wind war der harte Abend in der Linde gewesen, der ihm den Messerstich eingetragen.

Heinrich Pimpfel wußte nun auch, warum Würfel Streit begonnen und zugestochen hatte. Ein anderer wäre schon nach dem Steinwurf an der Schwedenschanze darauf gekommen; aber wer sich zum Grundsatz gemacht hat, den Menschen nichts Schlechtes zuzutrauen, der denkt auch nicht an das Nächstliegende, zumal wenn es seinem eigenen Wesen zuwiderläuft.

Nun wußte es Pimpfel, und – er ward immer hellsichtiger – andere wußten es auch. Ja, auch Anna Hagen wußte es. Und nun gehörten sie zusammen.

Die Erkenntnis kam nicht wie rollender Sturmwind daher. Sie war eher wie ein Frühlingssprießen, wenn die liebe Sonne wieder wärmer scheint. Das überstürzt sich auch nur scheinbar. In Wirklichkeit geht alles still, aber unbedingt zuverlässig vor sich. Mag der Winter wiederkehren, mag er sich noch so ungebärdig anstellen, es wird Frühling, weil es Frühling werden muß.

So wird es bei Anna Hagen und Heinrich Pimpfel sein. Es wird alles zum guten Ende kommen, aber zuvor wird es noch stürmen und schneien. Daß die Mutter einverstanden ist, damit rechnet der Kranke nicht. Aber er wird seinen Willen gegen den ihren setzen und wird durchdringen. Überhaupt ist es ganz merkwürdig. Wenn er jetzt an die ersten Briefe denkt, die ihm die Mutter schrieb, dann ist ihm, als ginge er auf tief verborgenen Fährten. Es bricht geradezu ein Haß auf das Land aus den Zeilen. Versteckt und offen immer der herrische Befehl: Geh fort! Er kann nicht fortgehen, wird auch hierin der Mutter trotzen müssen. Das Land droben an der See hat ihn immer mit starren, drohenden Augen angesehen. Hier ist es, als breiteten sich ihm offene Arme entgegen. Und droben war doch Heimat, und hier ist Fremde! Aber die Fremde wird Heimat, wird lieb, vertraut, schlägt die Augen immer weiter auf, läßt den Mann ihren Herzschlag deutlicher fühlen.

Nun vollends, seit er ihre Vergangenheit kennt. Das Uhrmacherhaus hat in diesen Tagen manchen Besucher gehabt. Keiner war dem Kranken so lieb als der des alten Rektors Steiger. Der Mann ist seit über vierzig Jahren in Langenbrück, schnupft gern, trinkt auch gern, aber er ist einer der alten Musikanten, die, wenn sie die Finger auf die Tasten legen, das Gefühl haben, der Herrgott selbst hört zu. So ist Steiger, und außerdem kennt er nicht nur die Geschichte seines Städtchens, sondern des ganzen Landes an der oberen Saale. Wenn er sie lebendig werden läßt, dann spricht er nicht im Schulmeisterton, dann beginnt er: »Ja, da waren die alten Sorben und – –« So, im Märchenton, spricht er, und das ganze Land schlägt die Augen weit auf, die Wälder raunen, die Bäche singen, der Wind heult in Opfernächten schauerlich um die Teufelskanzel, und die Waldweiblein und -männlein huschen freundlich über die Haustürschwelle armer, ringender Menschen. Heinrich Pimpfel hört mit leuchtenden Augen zu. Er ist fremd in sich, er findet sich nicht zurecht und hat doch das glückliche Gefühl: Das alles ist deinem Blute vermählt. Das hast du alles schon in deinem Herzen verspürt. Weil dem aber so ist, bist du hier daheim. Hierher hat dich Gott geführt, hier mußt du bleiben und dein Leben vollenden. Nicht allein. Nein, du wirst das tapfere, herbe Mädchen, das es in der Not so gut mit dir meinte, heiraten.

Zuvor aber mußt du etwas vorwärtsgebracht haben. Er hat es versucht, das Arbeiten geht noch nicht. Nun, in acht Tagen wird es gehen. Der Meister legt alle Uhren, deren Wiederherstellung mehr Geschick erfordert als das, worüber er verfügt, beiseite. Es sind ihrer schon eine ganze Reihe. Die warten darauf, daß die kranken, blassen Hände auf der Zudecke wieder die feinen Feilen, die kleinen Hammer und Zangen führen können.

Und noch etwas geschieht in der Zeit, in der Heinrich Pimpfel krank liegt. Es ist nichts natürlicher, als daß man in solcher Zeit viel plaudert. Man denkt viel, man denkt an allerlei, und man spricht darüber. Also kommt die Rede auch auf den Christmannsdorfer Müller. Er war ein ganz anderer, als ihn Hempel zu finden gemeint. Gewiß, er war grobschlächtig, aber ein Grobian und ein Protz war er nicht.

Den Mann hatten gleicherweise seine Ahnen wie das Land geprägt. Durch sie war er so selbstsicher geworden, hatte seine harten Ecken und Kanten, und es lebte doch in ihm eine tiefe, heilige Liebe zu beiden, zu dem Lande mit seiner Kreatur und zu seinen Ahnen. Wie breit er die Hand auf die alten Dokumente legte! Das bin ich, da komme ich her. Und ihr könnt mir ein Vermögen geben: Von den alten Blättern kommt keines weg!

Darüber sprachen die beiden Uhrmacher. Pimpfel verstand den Mann ganz. Auch Hempel würdigte ihn, aber – den alten Siegeln Wert beilegen, nein, das war töricht. Du liebe Zeit: Solche Siegel, ach nein, viel, viel größere und schönere, lagen dutzendweise auf dem Rathausboden. Kein Mensch kümmerte sich um sie. Sie steckten in Holzkapseln, und mit denen hatten, als das Dach umgedeckt wurde, die Dachdecker gekollert, wie die Kinder mit kleinen Rädern.

Am anderen Tage brachte Hempel zwei der alten Kapseln mit. Heinrich Pimpfel ließ sich die Lupe reichen und studierte die in Siegellack geprägten Bildwerke. Eine Unzahl Dinge waren darauf, Löwen, Störche, Männer- und Frauengestalten, Helmbüsche mit wallenden Federn. Stundenlang studierte sie der Kranke. So kamen an die acht große Siegelkapseln in das Uhrmacherhaus, ohne daß der Meister etwas für sie übrig oder gar die Absicht gehabt hätte, sie zu behalten. Sie waren eine Leihgabe, und dann kam so viel an Geschehnissen, daß sie vergessen wurden und eines Tages in der oberen Stube in einen Schub wanderten. Von da sollten sie gelegentlich, wenn der Meister daran dachte, wieder auf den Rathausboden zurückkehren. Man vergaß sie und gedachte ihrer erst Jahre später wieder.

Anna Hagen kam nach wie vor zu Besuch. Wohl sah sie es dem Kranken an, daß er sich innerlich anders zu ihr zu stellen begann als früher, aber sie kam ihm auch nicht einen Schritt entgegen. Die Gespräche waren behaglich, ruhig, alltäglich. Es lag viel, viel Schnee. Aus allen Dörfern hatten sich die Männer aufmachen müssen, die Wege für die Post frei zu halten. Im Forst gab es nun wohl auch Schneebruch. Die Kinder drückten sich bereits die Nasen platt an den Fensterscheiben und spähten aus nach Knecht Ruprecht und Christkind.

Heinrich Pimpfel hatte einen Plan. Wenn er gesund wäre, wolle er anfangen, eine Kunstuhr zu bauen. Er würde die Berge aus Holz schnitzen, die Hemmkoppe, das Gottesrödel, die Fernsicht, das Schloß, den Hainbühl.

»Auch die ganze Stadt?« fragte Anna Hagen lachend.

»Ja, die ganze Stadt. Wenn es zwölf schlägt, lasse ich aus der Kirche einen Hochzeitszug kommen.«

»Ach, du bist ja wohl nicht ganz gescheit. Das geht doch gar nicht.«

»Warum soll das nicht gehen? Es geht noch viel mehr. Um eins ruft der Kuckuck.«

»Na ja, das gibt es.«

»Um zwei kommt ein Reiter auf der Straße her.«

Anna Hagen lacht. »Fährt vielleicht auch die Eisenbahn?«

»Ja, die wird auch fahren. Die fährt über eine Brücke über die Saale in die Hemmkoppe hinein.«

»So. In den Berg hinein? Wie willst du denn das bloß machen?«

»Das geht alles.«

»Und wie lange willst du daran bauen?«

»Vielleicht fünf, vielleicht auch zehn Winter.«

»Dann hast du die Lust daran längst verloren.«

»Das kann möglich sein, aber anfangen tue ich es.«

Anna Hagen schüttelte den Kopf. Was alles in dem Menschen steckte! Man kam aus den Überraschungen nicht heraus. Einmal ein Mann, ein ganzer Mann, und dann wieder – ein Kind. Ganz, ganz tief im Inneren, verborgen hinter einer Tür, die man gewaltsam zuhalten mußte, das Gefühl: Der Mann ist reich und kann reich machen. – –

Vier Wochen waren seit dem unglücklichen Abend vergangen. Das an sich schwer zugängliche Land war fast abgeriegelt von der Welt. Der Schnee lag meterhoch, die Wege über die Höhen waren kaum gangbar. Das war die Zeit der Mären und der alten, uralten Gestalten, die die Volksseele einst im Zusammenklang von Natur, Überlieferung und Bibelwort geschaffen und geformt. Und sie waren in jeder Spinnstube zu Gast und tummelten sich um jeden Hohlweg und jeden Kirchturm.

Der Postschlitten fuhr von Pößneck aus den Bergen zu. Bis in die Stadt im Orlatale ging die Bahn. Sie mied das enge Saaletal und leitete draußen dem flacheren Gelände zu.

Es war ein bitterkalter Morgen. Aus dem Zuge stieg eine hohe, hagere Frau, der man nicht ansah, daß sie die zweite Nacht fast ganz durchwacht hatte. Sie hatte sich unterwegs erkundigt, wie man nach Langenbrück kam, und wußte, daß die Post auf etwaige Fahrgäste wartete.

Der gelbe Schlitten mit dem hohen Aufbau hielt dicht am Bahnhof. Es fanden sich nur vier Fahrgäste ein, und von denen beharrte einer, eben die Frau, darauf, neben dem Kutscher auf dem Bock zu sitzen. Sie sprach hart und knapp und ließ sich trotz des Hinweises auf die bittere Kälte nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

Keine Handbewegung tat Maria Pimpfel rascher als sonst, kein Finger zitterte ihr. Und doch bebte das Weib innerlich. Jetzt hätte sie die Zeit um vier Wochen zurückdrehen mögen. Es ging so wenig, wie es damals gegangen war, als ihr Mann nach freudlosen Jahren starb. Auch damals hätte sie eine Hand darum gegeben, hätte sie gutmachen können. Ein Starrkopf trägt sich schwer durch die Welt, und es ist bitter, viel, viel härter scheinen zu müssen, als man ist.

Der Postillon bläst: »Wer da will mit mir fahr'n,« die Pferde ziehn an, der Schnee knirscht, die Schellen klingeln, tapfer greifen die Pferde aus. Der Weg steigt an. Dann bleibt Pößneck zurück. »Hü!« Es geht im Trabe. Nun beginnt die lange, hoch ansteigende Bahrener Höhe. Jetzt geht es fast eine halbe Stunde Schritt für Schritt. Postillon Schaufel brennt sich eine Pfeife an, schiebt Frau Pimpfel noch eine Decke zu und rät abermals, in den Kasten zu steigen, da es nun immer kälter wird.

Das Letztere überhört die Frau. Sie wickelt sich in die Decke und beginnt zu fragen. Und zu schauen beginnt sie rechts und links und vorwärts und rückwärts. Was für ein Land! Rauch steigt in Pößneck aus hohen Fabrikschornsteinen, quirlt, senkt sich und legt sich wie ein feiner grauer Schleier drüben, jenseits, um die Berge, die dürftigen Kiefernwald tragen. Rechts, diesseits, ragt ein Berg, der aussieht wie ein Bienenkorb. Ganz steil steigt er auf, und es weht so eigenartig von ihm her, daß man fühlt: Hier sind Jahrtausende versteinert, und Jahrhunderte gruben ihre Runen in den Berg. Er hat rechts und links Gefährten. Auf etlichen stehen alte, trotzige Schlösser, etliche haben sich mit weißstämmigen Birken geziert. Vor den Bergen aber lagert eine Ebene, flach wie eine Wanne. Durch diese Ebene schreiten, ungesehen, lange versunkene Geschlechter.

Der Postillon erklärt nichts – er weiß es nicht –, Maria Pimpfel fragt nicht, aber sie fühlt es alles. Sie wehrt sich dagegen, will das Land Lügen strafen und kriecht doch ganz in sich zurück in bitterem Schmerz. Es ist alles, alles wahr, was dir einst ein heute lange stiller Mund sagte, womit er um dich warb. Das Land redete aus ihm und rang durch ihn. Du hast es verwünscht, dies abseitige Land, hast dich verschworen, nie einen Fuß hierher zu setzen, und heute kommst du, kommst in doppelt bitteren Schmerzen.

»Postillon, wo liegt eigentlich Langenbrück?«

»Ach, da kommen wir noch lange nicht hin. Erst geht es hinauf auf die Bahrener Höhe, dann geht's wieder hinunter, dann wieder hinauf und wieder hinunter an den heiligen Berg. Nachher sind wir bald da. Dann geht's noch einmal hinauf, da liegt rechts die Schwedenschanze, und nachher sehen wir schon Langenbrück. Das liegt ganz drunten.«

Es ist merkwürdig: Die Frau fragt jetzt mit heiserer Stimme:

»Man kann von Langenbrück nach Lobenstein kommen?«

»Ja. Drei Stunden. Ach, da wollen Sie wohl hin?«

»Später. – Ist es ein friedliches Städtchen, das Langenbrück?«

Schaufel lacht. »O ja. Manchmal hauen sie einander die Bierseidel auf den Kopf.«

»Ach, doch wohl nicht!«

»Nicht? Nein, alle Tage nicht, aber manchmal. Neulich haben sie sogar einen gestochen.«

Ein starres Antlitz neigt sich dem Postillon entgegen. »Ist – er – tot?«

»Nee, tot nicht, aber beinahe. Jetzt geht's ihm wieder ganz gut. Der andere, der ihn gestochen hat, sitzt. Ich weiß nicht, ob er schon verdonnert ist.«

Das Gesicht der Frau ist jetzt ohne alle Spannung und ist müde, ganz müde. Es geht ihm gut. – Maria Pimpfel friert.

»Ich habe es Ihnen doch gesagt, daß es kalt ist,« spricht der Postillon.

»Ich will lieber in den Kasten steigen.«

»Freilich. Brrr. – Nehmen Sie mal die Decke mit. Da drin zieht's auch.«

Maria Pimpfel lehnt sich in die Ecke, legt die Hände ineinander und schläft binnen Ja und Nein ein. Als der Postschlitten den Schloßberg hinabfährt, erwacht sie. Sie blickt durch das Fenster. Gerade fahren sie am Langenbrücker Friedhof vorüber. Er ist klein und sieht unter seiner weißen Decke, aus der die Kreuze ragen, traulich und friedlich aus. Der Frost schüttelt die Frau, daß ihr die Zähne aufeinanderschlagen. Lieber Gott, wenn sie an das Grab ihres Jungen hätte treten müssen! Wäre sie doch nicht gekommen! Das Land schlägt Jahrzehnte in ihr zusammen. Und sie hat doch keine Schuld! Sie will sie nicht haben, und nichts und niemand, kein Berg, kein Tal, kein Mensch soll sie schuldig sprechen. Hart werden ihre Züge. Festen Fußes steigt sie aus dem engen Kasten, nimmt ihre Tasche, blickt sich um. Dort ist die Kirche, nicht weit davon muß das Uhrmacherhaus sein. Sie macht einen Umweg, geht, anstatt die untere Gasse zu wählen, die obere, steht am Rathause, fragt keinen Menschen, schreitet zielsicher auf das Haus zu, das sich tiefer duckt, als es die anderen Häuser tun.

Aus der Tür tritt Meister Hempel. Harte Augen sehen ihn überlegen an.

»Ich bin Heinrich Pimpfels Mutter.«

Hempel vermag vor Überraschung nicht zu sprechen. Maria Pimpfel schreitet an ihm vorüber und öffnet die Tür.

»Guten Tag, Heinrich.«

»Guten Tag, Mutter. Du bist also doch gekommen.«

Zwei Hände ruhen einen Augenblick ineinander. »Natürlich bin ich gekommen.«

»Aber eilig hast du es nicht gehabt.«

»Nein. Warum sollte ich denn? Es geht dir ja wieder gut.«

»Ich hätte aber auch ebensogut schon unter der Erde liegen können.«

»Ach, mach nicht so viel her. Ehe das bis ans Leben geht! Hast du dich denn wenigstens gewehrt?«

»Das mußt du dir von anderen Leuten sagen lassen.«

»Wer sind denn die anderen Leute?«

»Anna Hagen wird wohl heute noch kommen.«

»Die geht mich nichts an. – Wer war denn der Stärkere von euch beiden?«

»Wenn du es denn durchaus wissen willst: Ich war es.«

»Hast du Glück gehabt?«

»Es wäre auch ohne Glück gegangen.«

»So.« Nun legt Maria Pimpfel Haube, Mantel und Handschuhe ab. Sie setzt sich an das Bett des Sohnes, blickt wie verzweifelt starr vor sich hin, nimmt ihres Jungen Hand und sagt leise: »Heinrich!«

Nichts weiter, nur seinen Namen, aber die Mutterseele zittert darin. Und wieder: »Heinrich!«

»Ja, Mutter, es fehlte nicht viel, so sahen wir uns nicht wieder.«

Abermals wird das Gesicht hart. »Hat man so was schon erlebt? So ein Land! Als ob die Berge alle verrückt geworden wären und keiner wüßte, wohin er gehört. Sie stehen einander im Wege, es geht immer hinauf und hinab, und ganz weit drüben sieht es aus, als wäre die Welt überhaupt zu Ende.«

Jetzt steht Meister Hempel vor ihr, streckt ihr seine schmale, feine Rechte entgegen und sagt: »Willkommen.«

Maria Pimpfel sieht ihn an. »Ich denke, wir können nun bald heimreisen.«

Da richtet sich Heinrich Pimpfel im Bett auf, und sein Gesicht ist glühend rot. »Mutter, das will ich dir sagen: Meister Hempel ist mir ein Vater geworden und – –«

Frau Pimpfel sieht den Sohn erwartungsvoll, fast freundlich, an. »Und? – –«

»Du fährst allein zurück, wie du allein gekommen bist.«

»Du bist krank, Heinrich.« Sie streicht ihm über den Scheitel.

»Ich war krank. – Du fährst allein zurück, und das will ich dir noch sagen – –«

»Laß, Heinrich.« Sie nickt ihm zu. »Wenn ich dran denke, wie du warst – –«

»So bin ich noch.«

»Nein, nein.«

»Ja. So bin ich noch. Ich weiß, was du meinst. Du brauchst es gar nicht zu sagen, aber – ich bin schon immer so gewesen, und – ich werde auch nicht anders. – Meister, hast du nicht noch eine Tasse Kaffee?«

»Gleich koche ich frischen.«

Maria Pimpfel rührt keine Hand. Sie läßt sich bedienen. Nicht, daß sie Meister Hempel nicht beachtete, aber sie tut es von oben her, wenn auch nicht in ausgesprochener Feindseligkeit, so doch überlegen und abweisend. Die Altertümer in der Vitrine hat sie längst gesehen, aber sie fragt nach nichts, dankt für nichts, ist da und ist doch mit ihren Gedanken abseits.

Um elf geht der Meister, die Uhren aufzuziehen. Mutter und Sohn sind allein.

Da sieht Heinrich Pimpfel der Mutter bitter ernst ins Gesicht: »Mutter, ich kenne dich. Du bist genau so an mein Bett getreten, wie ich Anna Hagen gesagt hatte, daß du kommen würdest. Es ist deine Art, du kannst nicht anders. Aber das bitte ich dich: Gegen den Meister sei nicht unfreundlich. Du tust ihm weh, und er hat verdient, daß du ihm wohltust. Und auch gegen Anna Hagen sei nicht unfreundlich.«

»Heinrich!« Es ist ein Schluchzen aus zitterndem Herzen.

»Du wirst nicht unfreundlich sein! Ich habe ihr noch nichts gesagt, aber ich werde es ihr sagen.«

»Heinrich!« Matter klingt es und noch schmerzvoller.

»Ja, Mutter, ich werde es ihr sagen, und es liegt bei dir, ob es bald oder später geschieht. In dies Land und zu diesen Menschen hat mich Gott geführt. Ich bin droben im Flachland geboren, aber daheim bin ich hier. Warum, das weiß ich nicht. Hier bin ich daheim, hier bleibe ich.«

Maria Pimpfel hat sich gegen das Fenster gewendet. Hinter ihr spricht der Sohn hart und anklagend. Er sieht nicht, daß der Mutter Antlitz in Schmerzen zuckt, sieht nicht, daß sie hinschmelzen möchte und sich dagegen wehrt mit der eisernen Kraft, mit der sie Schuld, im innersten Herzen bejahen müssend, verneint.

Es ist still; langsam wendet sich die Frau. »Heinrich, Gott verlangt, daß du deine Mutter in Ehren hältst. Und nichts geht über Gottes Gebot.«

»Mein Recht geht darüber,« sagt Heinrich Pimpfel hart.

Das Gespräch wird unterbrochen, Meister Hempel kehrt zurück. Jetzt achtet er der Frau nicht. Wieder einmal ist seine Seele voll zum Bersten.

»Heinrich, Anna läßt dich schön grüßen.«

»Danke, Meister.«

»Und läßt dir sagen, daß nun auch Olga Krause vor das Gericht muß.«

»Olga Krause?«

»Ach, das ist doch eine von den dreien, die immer zu Mutter Berndt laufen, und die du dazumal an der Saale getroffen hast.«

Heinrich Pimpfel lacht. »Richtig, der ich die Geschichte von den Mondjungen erzählt habe.«

»Freilich. Und Würfel hat gesagt, sie hätte ihn aufgehetzt und hätte gesagt – –«

»in sechs Wochen wäre Hochzeit.«

»Das wird's wohl sein.«

»So, die kommt auch vor das Gericht?«

»Der Amtsrichter hat gesagt, anhaben könnten sie ihr wohl nichts, aber schaden täte es auch nichts.«

»Nein. Das schadet nichts. – Und nun, Meister, kocht uns meine Mutter das Mittagessen. Der Fleischer wohnt im dritten Hause rechts, Mutter.«

Drei Tage quälen sich mühselig in das Land. Maria Pimpfel weiß es, daß sie dem Uhrmacherhause eine Last ist. Sie will es sein. Meister Hempel soll den Tag herbeisehnen, an dem sie geht. Der Wunsch, sie los zu sein, soll sich zu dem Entschlusse steigern, auch auf Heinrich zu verzichten. Er soll ihm sagen: Heinrich, wenn denn deine Mutter durchaus will, daß du mit heimkehrst, dann ist es das beste, wenn du ihr den Willen tust. Ihr gehört doch immer noch enger zusammen als du und ich.

Maria Pimpfel kennt den Alten nicht. Bis jetzt hat sie nichts weiter für ihn übrig als höchstens ein wenig Mitleid. Wehrte sie sich nicht dagegen, würde daraus Verachtung. Man kann sich keinen unpraktischeren Mann denken. Die Altertümer hat sie ja nun gesehen, aber welcher Mensch mit fünf gesunden Sinnen steckt Geld in solchen Plunder? Dabei ist das ganze Haus heruntergekommen. An der Rückseite, zwischen Haus und Bach, ist ein hübscher freier Platz. Jeder vernünftige Mensch hätte daraus längst einen Garten gemacht. Statt dessen ist der Platz hart wie eine Tenne. Von den Hauswänden blättert der Putz, die Dielen sind ausgetreten, Spinnweben hängen in allen Ecken. Maria Pimpfel rührt keine Hand. Zeigt sie, was aus dem Hause zu machen ist, dann kriegt sie den Sohn erst recht nicht los. Zeigt sie es nicht, kann sie wenigstens entrüstet auf die Vernachlässigung hinweisen. »Daher gehörst du nicht. Bedenke, wie schmuck und sauber es daheim ist.«

Sie läßt dann und wann ein klug berechnetes abfälliges Wort fallen. Weder Heinrich noch der Meister antworten. Der Sohn schweigt, mühsam an sich haltend. Hempel sinkt ganz in sich hinein. »Sie hat ja recht. Alles, was sie sagt, ist richtig. Ich bin ein ganz unnützer, unbeholfener Mensch.« Der ruhige, sorglose Schlaf des Alten ist weg. Er bangt vor jedem neuen Morgen. »Heute wird Heinrich sagen, daß er fortgeht, und dann – dann habe ich niemand mehr und kriege niemand mehr.« Der Meister drückt sich, sooft er kann, aus dem Hause. Die Wege sind beschwerlich, aber lieber den Schnee unter den Füßen als die Dielen des freudlosen Heims, in dem er so übrig ist.

Dem Kranken geht es schlechter. Man muß den Arzt wieder holen. Die Wunde sieht gut aus, und doch hat der Kranke Fieber. Der Arzt fragt, ob er sich denn über irgend etwas aufgeregt habe. Beide, Mutter und Sohn, sehen an ihm vorüber. »Nein,« sagt Heinrich Pimpfel, »ich habe mich nicht aufgeregt.«

Als der Arzt die Haustür geschlossen, will Maria Pimpfel aus der Stube gehen. Heinrich bittet: »Mutter, setz dich her zu mir.«

Sie sitzt neben dem Krankenlager, hart, hoch aufgerichtet, hager.

»Mutter, willst du, daß ich noch länger liegen bleiben soll?«

»Wie sollte ich denn das wollen?«

»Du siehst, daß es mir schlechter geht.«

»Der Doktor sagt aber doch, daß die Wunde gut heilt.«

»Die Wunde kann heilen, und ich kann doch kränker werden. – Mutter, du bist immer streng gegen mich gewesen. Jetzt bist du – herzlos.«

»Heinrich, – komm heim! Berta Jansen kommt an den meisten Tagen und fragt nach dir.«

»Dann sage ihr, sie soll das Fragen lassen.«

»Sie erbt das schöne Haus. Von dem Giebel aus sieht man eine Meile weit.«

»Von unsern Bergen aus drei Meilen. Mutter, dich macht das Land da droben frei und mich erdrückt es. Ich bin nie heimisch droben gewesen und werde es nicht. Gott mag wissen, woran es liegt. – Mutter, Meister Hempel hat sich immer im Leben geduckt, jetzt drückst du ihn vollends zusammen. Was hat er dir getan? Siehst du nicht, daß er sich kaum noch aufzutreten getraut?«

»Ich bin ihm nicht im Wege. Wenn er mich nicht hier lassen will, mag er es sagen.«

»Er bisse sich eher die Zunge ab.«

»Heinrich, ich habe wohl manches falsch gemacht in meinem Leben. Das falscheste war, daß ich dich auf Wanderschaft schickte.«

»Das nicht, aber du hättest mir verbieten müssen, hierher zu gehen.« Heinrich Pimpfel sah ernst vor sich hin. »Und ich hätte doch herkommen müssen.«

»Heinrich, du – meinst, ich hätte einen Stein in der Brust.«

»Hart bist du.«

»Ja, ich bin hart, und ich verlange, daß du deiner Mutter gehorchst. Meine Väter sind Nordseefischer gewesen.«

»Und Vaters Väter?«

»Ich – weiß es nicht. – Meine Väter waren Männer. Friesen sind sie gewesen.«

»Und Vaters Väter?«

»Ich – weiß es nicht.«

»Warum hast du mir nie vom Vater erzählt? Seid ihr so unglücklich miteinander gewesen? Hast du ihn nicht geheiratet, weil du ihn leiden mochtest?«

Maria Pimpfels Stimme ist wie Stahl. »Gut, ich will es dir sagen, warum ich streng war gegen dich, warum ich hart wurde. Du bist, wie dein Vater war, und du sollst meinen Sinn kriegen. Ich verachte den Mann, der jammert. Dein Vater hat gejammert. Ein Mann muß stärker sein als das Leben. So zwingt er es. Anders nicht. Was ist das für ein Beruf, Uhrmacher! Zwing den Acker, zwing das Meer, aber feil nicht an Stecknadelköpfen.«

»Mutter, meinst du, daß du mich heute noch änderst? Daß ich mich wehren kann, habe ich gezeigt. Was willst du also, und was soll ich tun? Wäre das etwa männlich, wenn ich den alten, weichherzigen Mann ohne Liebe behandelte? Ich könnte ihm heute sagen: Gib mir deinen Besitz, er würde es tun. Wäre ich dann in deinen Augen ein Mann? Bin ich nur dann ein Mann, wenn ich – im Steinbruch arbeite? Gibt es Männer nur im Friesenlande?«

»Das sind müßige Fragen.«

»Ja, Mutter, genau so müßig wie alles, was du jetzt tust. Du verleidest mir weder Haus, noch Meister, noch Mädchen. Ich will dir eines sagen: Wenn du nicht willst, daß es mir noch schlechter gehen soll – –«

»Warum geht es dir denn schlechter?«

»Weil – du meine Mutter bist, und ich dir nicht sagen will: Geh.«

»So. Das willst du nicht sagen?«

»Nein, aber bitten will ich dich: Geh.«

»Ich gehe, wann ich will.«

»Dann will ich mir überlegen, ob ich mich nicht ins Krankenhaus bringen lasse.«

Maria Pimpfel ging hinaus. Sie ging den Hausflur entlang in das Gewölbe, das rechter Hand lag. Darin war es finster. Das Weib lehnte am Türpfosten, durchblutet von aufwühlender Not. Langsam, widerstrebend sank sie in die Knie und lehnte die Stirn an die kalte, feuchte Mauer. Keine Träne rann ihr lind vom Auge, aber das sind die bittersten Tränen, die nach innen brennen.

Es war gegen Abend. Meister Hempel war eben zurückgekehrt. Er berichtete, daß der Frost seit zehn Jahren kaum so arg gewesen sei. Der Schnee knirsche und singe unter den Füßen. Aber es sei wundervoll weihnachtlich draußen. Er habe am Wege von Liebenberg herein eine kleine Fichte abgeschnitten. Die wollten sie zu Weihnachten putzen. Zum erstenmal kochte ihm Maria Pimpfel Kaffee und wärmte ihm die dicken Filzschuhe.

Der frühe Vollmond stand eiskalt am klaren Himmel. Da ging Heinrichs Mutter, dick vermummt, aus dem Hause. Sie sagte nicht, wohin sie ginge, verabschiedete sich nicht, nahm nichts mit. In brennendem Verlangen ging das Weib. Sie wollte des Landes Seele suchen. Es war ein aus verzweifeltem Kampfe entstiegener Entschluß. Die starren Augen der Schuld wiesen sie auf den Weg. Ist das Land wirklich so stark, daß es für deinen Mann nichts anderes gab als Heimkehr oder kalten Tod in der Fremde? Wärst du stark genug gewesen, du Kind der Meeresküste, deine eigene Heimat dranzugeben und hier neu zu wurzeln oder hast du recht gehabt, als du es, umgekehrt, von deinem Manne fordertest?

Die Wandernde weiß nicht, wohin sie will, sie kennt nicht Weg und Steg, hat kein Ziel, das sie ihren Füßen weisen könnte. Ihre Seele hat ein Ziel, und das kann sie da und dort erreichen. Oder – auch nicht. Sie will es erreichen und hofft doch, daß sie es nicht erreicht.

Das Städtchen hinabwandernd, kommt sie an die Saale. Der Winter hat sie gefesselt. Nur am Wehr der Nähermühle quirlt und brodelt es. Tiefes, rauhes Murren, Keuchen, Aufbegehren, Zurücksinken. Im ganzen ein gleichmäßiges, fast eintöniges Lied, aber unvermittelt keucht dann und wann ein Laut hervor wie ein hohler, verzweifelter Schrei. Das Lied hat nicht das Gewaltige, Unüberwindliche der Meeresbrandung. Es ist ein Kampf in engeren Grenzen, aber es ist ein harter, verzweifelter Kampf. Unüberwindlich ist das Meer. Es zerschlägt jede Fessel. Der Fluß aber wird gefesselt. Unausbleiblich, unabänderlich. Aber ist er darum ein minderwertigerer Kämpfer, weil sein Kampf sieglos enden muß?

Der Steilhang rechts drüben lockt. Nein, lockt ist nicht richtig. Er zwingt. Maria Pimpfel schlägt den schmalen Pfad ein, der durch den Wald zur Höhe leitet. Mondlicht fließt vor ihr über den Schnee. Es ist so still wie im Grabe. Zur Rechten liegt ein verlassener Steinbruch. Eine mächtige Schirmtanne steht droben am Rande des Bruches. Königlich stolz und still steht sie da, und doch langt eben der Tod nach ihr. Sie ist von unten bis oben mit Schnee beladen, der auf den breiten Ästen erstarrte, wundervolle Zier und zugleich erwürgende Last.

Maria Pimpfel hat eine scharfe Falte in der Stirn, als sie zu dem Baume hinaufblickt. Und auf einmal kommt ein dumpfes Murren von drüben her. Der Baum! Er wankt, er zittert, stöhnt auf, Schnee stiebt herab. Kein Lufthauch, aber der Riese wankt, neigt sich, schmettert krachend herab und liegt erschlagen an der aufgerissenen Felswand. Einen Augenblick stand das Weib vom stiebenden Schnee umhüllt. Die Frostnacht hat ihr Opfer.

Zögernd schreitet die Frau weiter, erreicht die Höhe, gelangt auf verschneites Feld. Eine Lichtung gibt den Blick in das Tal frei. Weiße, vielgestaltige Weite und in der Weite Enge. Bergzüge, einer hinter dem anderen, in Fernen leitend, von denen her der geheimnisvolle Atem des Unerforschten weht. Ein Bergzug hinter dem anderen. Zwischen ihnen heraus leuchtend die Lichter ferner Dörfer oder einsamer Höfe. Drunten im Tale an der erstarrten Saale entlang eine Perlenkette nebeneinandergereihter Lichter.

Jenseits des Feldes wieder lockender Wald. Er ist halbwüchsig. Ein Pfad leitet hinein, und drüben thront eine, über die Umgebung hoch hinausragende Kuppe. Maria Pimpfel schreitet auf das niedere Waldtor zu, durchschreitet es, durchwandert den Wald und tritt in das Allerheiligste der Einsamkeit. Tief drunten der gefesselte Fluß. Nirgends mehr ein Lampenlicht. Berge und Täler, schweigender Wald, Einsamkeit. Ein ungeheurer Steinturm steigt jäh vom Tale auf. Er ist so steil, daß keines Menschen Fuß Halt an ihm fände.

Ist es Grauen, das aus seinen kalten Wänden weht? Darf man das Land als ein unheimliches ablehnen? Maria Pimpfel schrickt zusammen. Kein Flügelrauschen ist hörbar, aber eines mächtigen Vogels Schatten huscht über sie hin. Sie ist in dem Reiche des Uhus, der, von allen Plätzen verjagt, den letzten Horst an der Teufelskanzel bezog. Der Schatten schwimmt auf dem Mondlicht hinüber zum jenseitigen Berghange. Ein Schrei kollert talauf und talab. Hu, huhu, kurz, herrisch, hohl.

Des Weibes Augen weiten sich. Sie suchen die lebendigen Fernen, die ihre Seele ahnt. Menschen kämpfen sich herein in die Täler, trotzig und doch sich nach nichts weiter sehnend als nach Arbeit und Arbeitsfrieden. Heilige Bäche rinnen von allen Feldern her, die des Weibes Seele draußen sucht. Es ist der Schweiß, der in tausend Jahren vergossen ward in schwerem Ringen. Tausend Jahre haben sie Glauben und Liebe und Treue und Tapferkeit in die Erde gesät. Und die Saat sollte nicht aufgehen? Sie sollte nicht aufgehen in denen, deren Leiber aus dieser Erde wurden und zu ihr zurückkehrten? Des Landes lebendige Seele sollte nicht hineingeboren werden in die Menschen, die hier ihren ersten Schrei tun? Sie sollte nicht rauschen in ihres Blutes Strömen?

Weib, siehst du deinen Mann nicht neben dir? Hält er dich nicht an der Hand und fragt: »Verstehst du mich nun?«

Wie war es denn? Niemand weiß es außer dir. Auch dein Kind weiß es nicht.

Also so war es: Du standest am Strande. Da kam ein schlanker Mann daher. – Er sagte nachher, du habest ihn an Ingeborg erinnert. – Der Mann trat neben dich und sah dir in die Augen, ohne dich ansehen zu wollen. Eine Künderin suchte er in dir. das Meer solltest du ihm künden. Als er das sagte, haßtest du den Mann. Wie kann man das Meer künden? Kann es einen Menschen geben, der es nicht versteht, einen, der nicht hinsinkt, in seine Gewalt? Obwohl du dem Manne feindlich gesinnt warst, erlagst du doch dem merkwürdigen Empfinden, das du hattest. Es war so: Ich kann dich zwar nicht liebhaben, aber ich muß dich behüten um der großen Keuschheit willen, die in dir lebt. Ja, so war es. Dann hast du gedacht, – das war Monate später – ja, ich habe dich lieb, aber ich habe dich lieb wie eine Mutter ihr Kind. Nachher war auch das anders. Da sagtest du ganz schlicht bei dir selbst: Ich habe dich lieb, aber ich werde dich nicht heiraten; denn ich muß einen harten Mann haben, einen, der die Woge zwingt, um den ich bange, wenn er draußen ist, Und jedesmal, wenn er heimkehrt, haben wir aufs neue Hochzeitstag. Aber du konntest nicht los von dem Manne. Da dachtest du, ich will ihn so formen, wie ich ihn sehen will. Es kam dir nie die Frage, ob der Mann etwa schon geprägt war, geprägt, so wie du, von dem Lande, aus dem er herkam und dessen Seele in seiner Seele lebte. Ja, und er war schon geformt und trug in sich einen schönen Traum. Heim wollte er, heim mit dir in ein Bergland, das er vor dir aufbaute mit seinen Heimlichkeiten und Herrlichkeiten, mit der Stadt am Fuße eines grauen Turmes, der tausend Jahre alt war, und den ein Blitz gespalten. Du wolltest aber nicht in dieses Land. Da begann der Kampf. Ein zäher, verbissener Kampf, in dem du deinem Manne hundertmal Verachtung vor die Füße warfst, weil du verlangtest, er solle dich überwinden. Wie er dich überwand, war einerlei. Er konnte dich schlagen, konnte dich in den Wagen zwingen, gebunden an Händen und Füßen. Beherrscht wolltest du sein. Er aber beherrschte dich nicht; denn er hatte dich lieb und war sanft. So kämpfte er nicht gegen dich, sondern gegen sich, bis es ihm ging wie der Tanne am Steinbruch. Die Last ward zu schwer; da brach er zusammen. Er klagte nicht, er starb stumm. Das Herz zerbrach. Der Mann war angesehen bei allen, die ihn kannten. Die Stadt hatte ihn in jungen Jahren zum Kämmerer gemacht, und es war nachher ein großes Trauern um ihn. Er trug dir einen Gruß an seine Mutter auf. Die wohnt in dem Städtchen, das sich zu Füßen des grauen Turmes lagert und dort drüben, drei Stunden hinter jenen Bergen, liegt. Hat je ein Mensch deine Tränen gesehen? Weiß einer, außer Gott, um die Nächte, in denen du das Haupt weinend in die Kissen wühltest, weil du den liebsten Menschen, den du auf Erden hattest, tötetest? Und denselben Kampf hast du um deinen Jungen geführt. Den Kampf gegen die Väter, den Kampf gegen das Land. In dir ringt das Land an der See gegen das Bergland, dessen Seele du suchen gegangen bist. Findest du sie, dann sieht dich Weihnachten zu Füßen einer weißhaarigen Frau, in deren Schoß hinein du allen Jammer klagen wirst. Findest du sie nicht, dann – gehst du morgen schon davon, um nicht abermals schuldig zu werden; denn das wäre mehr, als ein Mensch ertragen kann.

Maria Pimpfels Blick ringt sich an dem Steinturm empor. Das Mondlicht wirft den Felsenschatten lang und schmal den Hang hinab, eine dunkle Bahn im weißen Schnee. Kommt nicht ein Tönen daher gewallt? Ja, ein schweres dunkles Lied, so wie es die Lastträger singen. Es berstet nicht vor Kampfestrotz, es hat einen freudigen Unterton. So liegt es im Auge eines Menschen, der nach hartem Tagewerk das Licht aus seinem Hüttenfenster schimmern sieht. Das ist das Lied der Geschlechter, die ringend über das Land wallen.

Die Tochter der Ebene erschauert. Grauen schreitet auf sie zu, Strafe dafür, daß sie sich erhob über die Starken und Treuen. Gewaltig, drohend, schreitet des Landes Seele auf sie zu. Es hat eine Seele. Harfenton, von des Frostes Fingern geweckt, umgeistert den Steinturm. »Die Feste verkündet seiner Hände Werk.« Das Wort springt aus des Weibes Seele. Es ist das Wort. Ein Psalm ist das Land. Ein erschütternder.

Maria Pimpfel, die Unerschütterliche, ist erschüttert. Sie hetzt den Steilhang hinan, keuchend, ringend. Will das Land Rache nehmen? Wenn sie gleitet, nimmt sie der Frost in seine Arme und läßt sie erstarren. Sie findet einen Pfad. Er leitet zur Höhe. Sie ist baumlos. Eine Hütte steht da, spitz zulaufend, eine Köhlerhütte. Es tut wohl, zu wissen, daß Menschen hierher kommen, daß sie hier arbeiten. Die nichts von Geborgenheit wissen wollte, fühlt sich geborgen.

Und war drunten das Grauen, so ist hier Erlösung. Nichts mehr von Starrheit. Man sieht über alle Bergkuppen hinweg und über alle Wälder. Überall, in der Nähe und in der Ferne, Lichtfunken aus stillen Häusern. Der Schlag einer Dorfuhr hallt herüber. Wundervolle, trauliche Heimlichkeit rundum. Weihnachten sinkt aus dem Himmel.

Wieder steht einer neben ihr und sieht ihr ins Gesicht. »Weißt du nun, warum ich das Land so liebhaben mußte, daß ich an ihm zerbrach?«

»Laß mich! Ja, das Land hat eine Seele, aber sie ist voller Grauen.«

»Nein, sie ist voller Lieblichkeit und Güte. Hörst du nichts?«

»Ich will nichts hören!«

»Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Das Weihnachtsland! Frieden, Stille, Kraft und Glück! Wo ist Glück!? In dir ist es, in dir!

Das Weihnachtsland! Voller Lichter aus stillen Stuben, aus Häusern, die sich an die Brust der Berge schmiegen. Ach, es ist eine große, große Wallfahrt heim in das Land, eine Wallfahrt aller Friedesuchenden. Laß dich überwinden.

Du bist überwunden!

Das Weib ermuntert sich, blickt bewußt hinauf zum weiten, lichten Himmel, spannt seine Seele. Ich – gehe zu der alten Frau in dem Städtchen, das zu Füßen des grauen Turmes liegt!

Zwei Stunden war Maria Pimpfel unterwegs. So rasch kann man droben an der Saale aus der Menschengemeinschaft heraus in die tiefste Einsamkeit und wieder zurück in den Bannkreis der Lampe über dem Tische kommen. Der Sohn hat sich nicht um die Mutter gesorgt, aber er hat auf sie gewartet. Kein Wort hatte es ihm verraten, aber als die Mutter langer fortblieb, als ein kurzer Weg an Zeit beansprucht, wußte er, daß sie sich selber suchen ging. Das machte ihn fröhlich. Wenn sie erst einmal sucht, dann findet sie auch, findet das Land und findet sich selbst. Ich habe ihr Unrecht getan. Wie kann sie mich verstehen? Sähe sie das Land, wie ich, am funkensprühenden Juniabend, wenn der Duft von allen Hängen her weht, dann wäre es wohl anders. Ich will es ihr zu schildern versuchen, und ich will sie um Vergebung bitten. Wie konnte ich zu meiner Mutter sagen: Geh?

Wenn ihn das Wort auch schmerzt, so ist er doch im Grunde fröhlich. Und die frohe Erwartung rötet ihm die Wangen und bannt das Fieber.

Maria Pimpfel aber erschrickt, als sie in die Stube tritt und die roten Wangen ihres Sohnes sieht. Ganz gegen ihre ruhige, karge Art schreitet sie rasch heran und streicht dem Kranken über das Gesicht.

»Du hast wieder Fieber?«

»Nein, Mutter, ich freue mich bloß.«

»Worüber freust du dich?«

»Daß du fortgegangen bist.«

»So gut tut es dir, wenn du mich nicht siehst?«

»Ach nein, aber ich weiß ja, warum du gingst. War es schön draußen?«

»Sprich nicht so viel. – Meister, ich will das Abendessen herrichten.«

Freudig geht ihr Hempel zur Hand. Die Frau schweigt. Sie fühlt, daß des Sohnes Augen alle ihre Bewegungen begleiten. Wäre sie noch einen Schritt weiter, einen großen allerdings, dann bräche wohl das leise Lachen, das ihr um des törichten lieben Jungen willen in der Kehle sitzt, über die Lippen. Hätte sie doch den Gang, den sie morgen tun wird, vor acht Tagen getan! Es würde vielleicht das schönste Weihnachten ihres Lebens. Das schönste darum, weil sie sich selber untreu ward? Sie starrt einen Augenblick in die Glut des Ofens. Das Feuer reißt Funken um Funken aus den brennenden Scheiten. So reißt Gott an ihrer Seele. Muß sie sich untreu werden? Oder gibt es eine Brücke, die Vergangenes und Kommendes verbindet, auch die Schuld überbrückend?

Das Abendessen geht bei dürftigem Gespräch vorüber. Hempel versucht zu plaudern, Heinrich neckt ihn, aber es bleibt bei kurzen Anläufen. Als das Abendbrot beendet ist, seufzt der Kranke leise auf. Er hat sich doch getäuscht. Meister Hempel fröstelt und geht in seine Kammer.

Da setzt sich die Mutter an des Sohnes Bett. »Was ist das für ein hoher Felsen drin im Walde über der Saale?«

»Ich weiß nicht, welchen du meinst. Es gibt hier viele hohe Felsen.«

»Man geht den Berg hinan an einem Steinbruch vorüber.«

»Steht da eine hohe Tanne?«

»Stand, Heinrich. Sie ist eben niedergebrochen.«

»Die Schwedentanne ist niedergebrochen? Der Schwedenkönig Gustav Adolf soll unter ihr gelagert haben.«

»So. Wenn man sie erhalten wollte, durfte man ihr nicht den Boden unter den Füßen wegnehmen.«

»Ganz recht,« sagt der Sohn hart.

Die Mutter schweigt einen Augenblick und atmet tief.

Über das Gesicht streichend, fährt sie fort:

»Wohin kommt man dann?«

»An die Teufelskanzel.«

»Warum Teufelskanzel?«

»Dort sollen unheimliche Geister wirken.«

»So. Man braucht solch alte Überlieferungen nicht ganz von sich zu weisen. – Und wie heißt der Berg rechts davon?«

»Die Fernsicht. – Dort warst du?«

»Warum sollte ich nicht?«

»Ganz richtig, Mutter. Bei dir ist nichts unmöglich.«

»Heinrich, willst du nicht mit mir heimgehen?«

»Nein, ich bleibe hier.«

»Und du willst auch nicht wieder hinaufkommen, etwa zu Besuch?«

»Solange du lebst, werde ich wohl dann und wann kommen. Nachher nicht wieder.«

»Hm. Und das Mädchen?«

»Heirate ich.«

»Auch wenn ich es nicht will?«

»Auch dann.«

»Das gefällt mir. Etwas hast du doch von mir. Ich denke, wenn du einmal einen Jungen hast, wird er gutes Blut in sich haben. O ja. – Das wollte ich dir noch sagen: Das Friesenblut überdauert die Geschlechter.«

»Vater war kein Friese?«

»Nein. Frag nicht. – Ich gehe morgen.«

»Morgen ist Heiliger Abend. Da willst du in der Bahn sitzen?«

»Vielleicht. Man muß sehen. Heinrich, bleibt es dabei, daß du mich gern gehen siehst?«

Da wirft sich der Kranke herum, umschlingt der Mutter Haupt mit beiden Armen und drückt es an sich. Er hat Widerstand erwartet. Die Mutter leistet keinen Widerstand. Schwer und still ruht ihr Haupt an des Sohnes Brust.

»Mutter!«

Er streichelt ihren Scheitel. Jede einzelne graue Haarsträhne möchte er streicheln; denn ihn dünkt, die Sorge um ihn hat dies Haar ergrauen lassen. »Bleib, Mutter, bleib wenigstens noch über Weihnachten.«

Maria Pimpfel richtet sich empor.

»Nein,« sagt sie, »ich kann nicht bleiben, aber du mußt deshalb nicht traurig sein. Jetzt wird alles gut werden. Ja, ja. Man muß nur endlich einmal wollen. – Es ist ein merkwürdiges Land. Teufelskanzel sagtest du und Fernsicht? Ja. O ja. Wenn man auf der Fernsicht steht, sieht man weit. So weit, daß – – Warum sollte man nicht darüber hinwegkommen können? Ich habe es ja doch nicht gewollt. Was kann ich für das harte Erbteil? Ich habe es mir nicht erwählt.«

»Mutter,« der Sohn sieht ihr ernst fragend ins Gesicht, »kannst du mir nicht sagen, was dich drückt? Es ist ja beinahe unheimlich.«

»Unheimlich? Nein, Heinrich.« Die Frau blickt vor sich hin. »Man wird nicht sagen können, Gott habe es so gewollt. Das ist zu bequem. Aber du kannst ohne Sorge sein. Ich habe nie etwas getan, das gegen das Gesetz gewesen wäre. Ein paar Tage mußt du wohl noch Geduld haben. Dann werbe ich auf der Fernsicht sein. Ich meine nicht auf dem Berge. Nein, nein. Es fängt schon an, licht zu werden. Ach, zwanzig Jahre sind doch eine lange Zeit. – Ich würde übrigens an deiner Stelle später hinaus vor die Stadt ziehen. Da ist es schöner.«

»Vielleicht mache ich es.«

»Dann wollen wir schlafen. – Nein, du hast kein Fieber. Und du mußt dich nicht mit falschen Gedanken quälen. Wir haben lange nicht miteinander gebetet. Komm. – Vater unser, der du bist … Und vergib uns unsere Schuld … Du mußt das nicht so schnell sprechen. Und – vergib – uns … Amen. Das heißt: Ja, ja, also soll es geschehen.«

Maria Pimpfel erhebt sich vom Bettrand. Gütige Augen sehen den Kranken zuversichtlich an.

»Mutter! Jetzt finde ich dich!«

Der Mutter Gesicht wird streng. »Nicht weinen, Heinrich. Jürgen Detlefsen, von dem wir herstammen, ließ sich das Haupt vor die Füße legen, als es um seine Freiheit ging, aber er hat keine Träne gehabt. Lever dod as Slav! Du mußt nicht weinen.« Und das Antlitz wird wieder gütig. »Ich werde morgen abend stark an euch denken. Dein Mädchen wird ja wohl auch da sein.« Ein fester Händedruck. »Gute Nacht, Heinrich. Ich komme morgen früh nicht erst noch einmal an dein Bett, aber es ist möglich, daß ich bald einmal wieder bei euch bin. Gute Nacht.«

Droben tritt Maria Pimpfel an Meister Hempels Bett. »Meister, ich möchte Ihnen danken. Ich glaube, es wird nun alles gut werden. Mein Sohn hat Sie sehr lieb.«

Auch dem alten Uhrmacher ein herzhafter, fast schmerzender Händedruck.

Meister und Geselle liegen lange schlaflos. Maria Pimpfel schläft tief und fest. Heinrich grübelt. Es kommen Augenblicke, in denen es ihm vor seiner Mutter grauen will. Dann sieht er ihr Gesicht vor sich, wie es heute abend war, hört sie von der fernen Sicht sprechen, die sie gewann, und möchte sie vor Liebe und Erbarmen in die Arme nehmen. »Mutter, komm, hier ist es warm. Es ist viel rauher Wind über dich gegangen, und du sehnst dich doch nach Wärme.«

Es ist irgendein Geheimnis um die Mutter, aber – das Weihnachtslicht wird es übergluten, und dann wird alles Licht sein.


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