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2.

Inzwischen hatte Anna Hagen durchgeführt, was sie sich an dem Abend, an dem sie mit Pimpfel an der Schwedenschanze zusammentraf, vorgenommen. Sie war Paul Würfel auf dem Wege von der Nähermühle nach dem ehemaligen Eisenwerk Ludwigshütte, das etwa achthundert Meter unterhalb der Mühle an der Saale lag, begegnet. Der Bursche war Pfeife rauchend am Flusse hinabgegangen, weil er wußte, daß Anna jeden Dienstag dort in dem zum Werke gehörenden Bauerngut Butter holte.

Nun muß man bedenken, daß inzwischen Tage seit Pimpfels Ankunft vergangen waren, und daß die Nornen Schicksal gesponnen hatten. Zufälliges Zusammentreffen an der Schwedenschanze? Alle zahnlosen Münder des Städtchens lachten. Anna war anderthalb Jahr als Mädchen auf dem Schlosse in Konitz gewesen. Das lag ja zwar nicht außerhalb der Welt, aber es war immerhin vier Wegstunden von Langenbrück entfernt. So weit reichten die eigenen Augen nicht, und auf so weite Entfernung ist auch die Nachrichtenübermittlung nicht unbedingt zuverlässig, auch wenn in den Dörfern unterwegs drei Basen sitzen. Also – – Der Heinert ihre Base, die am Sonntag in Langenbrück gewesen war, wußte zudem genau, daß Anna dazumal immer mit einem großen Blonden getanzt hatte. Lina Karsten sagte, Pauline Heinert hätte gesagt, der Mann hätte dazumal auch aus Oldenburg gestammt, und Olga Krause erzählte Paul Würfel, die Heinert und die Karsten hätten gesagt, Anna hätte schon in Konitz ihr Gehänge mit dem Oldenburger gehabt.

So stand denn Anna Hagen einer ganz klaren Sachlage gegenüber.

»'n Abend,« grüßte Würfel.

»Guten Abend, Paul. Willst du auch noch Luft schnappen?«

»So'n bißchen, wenn man auch den ganzen Tag in der frischen Luft ist.«

»Habt ihr viel zu fahren?«

»Das haben wir immer. Man könnt's wohl kommoder haben. Ich brauchte ja bloß daheim zu bleiben, aber man will doch was vorwärtsbringen.«

»Du hast gewiß schon ordentlich was.«

»Wie man das nimmt. Ich bin kein Vertuer.«

»Das weiß ich.«

»Ja, und da hätte ich dich jetzt gern einmal gefragt, wie es werden soll. Ich dächte, wir wären nun beide alt genug und wären auch lange genug miteinander gegangen.«

»Miteinander gegangen?« begehrte Anna Hagen auf. »Wieso sind wir denn miteinander gegangen?«

»Na, ich meine bloß.«

»Da ist nichts zu meinen. Wenn du so was anderen Leuten sagst, was müssen die dann von mir denken?«

»Ach, nun ja.«

»Ich bin weder mit dir gegangen, noch mit sonst einem. Und jetzt will ich dir was sagen: Ich habe den guten Willen gehabt, dich zu heiraten, aber es geht nicht.«

»Es geht nicht? Seit wann geht's denn nicht?«

»Seit ich mir die Sache ernsthaft überlegt habe.«

»Was hast du dir denn überlegt?«

»Ich kann dir das nicht alles haarklein erzählen.«

»O ja. Das muß ich doch wissen.«

»Man kann es nicht sagen. Es ist auch ganz einfach. Wir passen nicht zueinander.«

»Warum passen wir denn nicht zueinander?«

»Herrgott, frag nicht so! Warum paßt denn das Feuer nicht zum Wasser? Da kann man auch nicht sagen warum, aber es ist halt so. Fertig.«

»Nein, das ist noch lange nicht fertig. Das fängt erst an.«

Anna Hagen war eine furchtlose, schlagfertige und kluge Kämpferin und ahnte, was hinter Würfels mürrischer Verbissenheit steckte. Sie blieb stehen, schob ihren Korb vom rechten auf den linken Arm, stützte die Hand in die Hüfte und sagte kurz: »Nun rede du!«

»Was soll ich denn reden?« fragte Würfel brummig.

»Das sollst du sagen, was dir die alten Weiber erzählt haben.«

»Ach,« sagte der Mann mit wenig verhülltem Spott, »von den alten Weibern soll es jetzt herkommen?«

»Lehr du mich Mutter Berndts Klatschweiber kennen! Daß die sich den Mund darüber zerreißen würden, weil ich zufällig den Fremden an der Schwedenschanze und dann am anderen Tage ebenso zufällig – –«

»Lauter Zufall? Wir haben uns heute auch zufällig getroffen.«

»Nein. Du hast mich treffen wollen.«

»Und die anderen Male hast du treffen wollen, weil – –«

»Weil?«

»Weil ihr euch schon vorher getroffen hattet.«

»In Konitz. Denn sollst bin ich ja nirgends gewesen.«

»Du kannst gut raten.«

Anna Hagen klatschte sich mit der Hand an die Hüfte. »Der Bürgermeister müßte die alten Schachteln eine wie die andere einsperren und den Laden schließen lassen. Also das haben sie ausgeheckt, und das glaubst du? Schön. Glaub das ruhig weiter. Wir zwei sind fertig miteinander.«

»Man kann sich doch aussprechen, und wenn's vorbei ist, dann ist's wieder gut.«

»Dazu mußt du dir eine andere suchen. Aber das will ich dir noch sagen: Wenn es noch nicht ganz aus gewesen wäre zwischen uns – und ich bin manchmal immer noch nicht einig mit mir –, jetzt ist es aus. Du willst ein Mann sein und läßt dir von jedem alten Weibe die Ohren vollblasen?«

»Ich will ja nichts gesagt haben.«

»Du hast es aber gesagt.«

»Wenn du so störrisch bist, dann muß ich denken, es wäre dir ganz recht, daß die Gelegenheit so kam.«

»Schäm dich.«

»Nein, das mache ich nicht, aber das kannst du dem Strohkopfe sagen, daß er sich vor mir in acht nehmen soll. Ich bin eine Seele von einem Menschen, aber wenn mich einer wild macht, nachher kenne ich mich nicht mehr.«

»Ich werde das dem Fremden nicht sagen. Was geht er mich an. Aber mach nur, was du dir vorgenommen hast. Immer mach's. Ein Uhrmacher ist ja zwar kein Pferdeknecht, aber vielleicht geht es doch nicht ganz so leicht, wie du denkst. – Wir zwei sind fertig für immer, und jetzt weiß ich auch, warum ich es nicht fertigbrachte, dir zu sagen, ich will dich heiraten.«

Raschen, festen Schrittes ging sie ihres Weges. Paul Würfel erkannte, daß er eine haushohe Dummheit gemacht, grollte sich, grollte Anna, grollte aber am meisten der alten Olga Krause.

Und die lief ihm, gerade als er in den Mühlenhof einbiegen wollte, in den Weg. Sie wohnte gegenüber der Mühle und konnte den Weg nach der Ludwigshütte übersehen. Die zwei jungen Menschen hatten sich länger unterhalten, als ein alter, neugieriger Mensch warten kann. Also so oder so, es ist einerlei, wen Olga Krause trifft, es dürfen auch beide sein. Wissen muß sie, ob und wie ihre Saat aufgegangen ist. O weh, sie hat lauter Distelsamen gesät. Dabei wäre nichts. Das tut sie immer, harmlos und falsch zugleich, aber nie haben die Disteln so gestochen. Würfel nennt sie ein einfältiges altes Weib, eine Schlange, eine faule Hexe, die selbst für den Teufel zu schlecht sei, denn sonst hätte er sie längst geholt. Er läßt sich auch weder durch Keifen abbringen noch durch Tränen rühren, noch durch Drohung mit dem Amtsrichter einschüchtern, er sagt, wenn sie nicht so alt wäre, schlüge er ihr den Mund noch schiefer, als er schon ist.

Darauf dreht sich Olga Krause auf ihrem rechten Pantoffel um und schlurft in das Haus zurück. Es ist bitter, ja, es ist bitter! Einfältiges Weib, Schlange, Hexe! Ach, es ist bitter! Aber es ist noch viel, viel süßer, als erste vollkommen einwandfrei die große Neuigkeit zu wissen, daß es zwischen Würfel und Anna Hagen aus ist. Als erste und einwandfrei! Und wenn man das eine so sicher weiß, dann kann man mit ruhigem Gewissen auch weiter folgern. Die Sache mit dem Oldenburger stimmt. Der Beweis liegt auf der Hand.

Olga Krause kuschelt ihre welken alten Glieder in das Bett. Lieber Gott, was einem doch alles passieren kann! So viel Bitteres und noch viel mehr Schönes! Lieber Gott, ich danke dir für den heutigen Tag. – Wer hätte das am Morgen ahnen können! Dem Würfel darfst du ruhig ein paar Schwären schicken. – Und laß mich gesund aufwachen. – Das hätte übrigens keiner von der Anna gedacht, und wenn das die Frau Amtsrichter erfährt – –

Mit der hatte Anna am anderen Vormittag eine kurze Aussprache. Frau Mendel war eine gesunde, in ihrem ganzen Wesen klare und natürliche Frau. Ernsthaft hörte sie den Darlegungen Annas, in der sie mehr ihre freundliche Helferin als ihre bezahlte Hausangestellte sah, zu, um dann lachend zu sagen: »Das ist ja ein richtiger Romananfang, Anna. Den alten Hempel – heißt er nicht der Kreuzweis? – kenne ich und habe ihn gern, den Sonderling, aber den anderen muß ich bei Gelegenheit doch auch kennenlernen. Laufen Sie mir nur bloß nicht Knall und Fall davon. Na, na. Sie werden mir zu rot, Anna. Was ist denn auch weiter dabei? Jedes ordentliche Mädel will und soll heiraten. Bloß daß ich so leicht nicht wieder eine kriege, wie Sie sind. – Was? Sie wollen der alten Berndt Ihre Meinung sagen und nicht mehr dort kaufen? Immer los. Das ist ganz recht. Meinetwegen kaufen Sie, wo Sie wollen. Aber wenn Sie ganze Arbeit leisten wollen, dann müssen Sie den vier Waschweibern, die da immer zusammenhocken, miteinander über den Kopf kommen. Das wollen Sie? Na, viel Vergnügen. Schade, daß ich nicht dabei sein kann.«

Indes kam der Amtsrichter in die Küche. »Frau, ich habe einen Mordshunger! Mach mir doch mal'n Brot. – Was ist denn mit Ihnen los, Anna? Sie tun ja, als wollten Sie den ganzen alten Kasten hier umhauen.«

»Sie will bei Frau Berndt aufräumen.«

Der Amtsrichter ließ sich von seiner Frau kurz erzählen, was vorlag, lachte und schüttelte zugleich den Kopf.

»Meine Liebe,« sagte er, »der Rat, den du Anna gegeben hast, ist falsch. Was meinst du, was das für eine Beleidigungsklage gibt. – Nein, Anna, Sie müssen sich schon damit abfinden, die Damen einzeln vorzunehmen. Wie ich sie kenne, wird es nicht ganz sanft hergehen. Sie haben dann unter Umständen vier Klägerinnen gegen sich und in jedem Falle drei Zeuginnen. Die Sache kann unangenehm werden. Aber deswegen brauchen Sie nicht an Herzdrücken zu sterben.«

Damit ging er hinaus. Anna grübelte im Hantieren und sagte schließlich: »Ich werde ihnen schon beikommen.«

Frau Amtsrichter Mendel war nunmehr der Meinung, daß die Sache eigentlich überhaupt keiner Aufregung wert sei, aber Anna Hagen trotzte: »Ich lasse nichts auf mir sitzen.«

Am Nachmittag brachte ein Junge einen Brief von Frau Berndt. »Geehrte Frau Amtsrichter! Indem, daß Ihre Anna gesagt hat, sie wolle nun nicht mehr bei mir, sondern alles bei Amalie Hübner kaufen, bin ich verletzt und bitte Sie, dem Fräulein zu sagen, daß sich das nicht gehört, denn ich bin achtundfünfzig Jahre, und mir kann niemand etwas Rechtschaffenes nachsagen, wo ich immer die beste Ware habe, und Amalie Hübner kauft die zweite Güte, wie mir der Reisende selber sagt, aber ich will nichts gesagt haben, bloß kann ich nicht meinen drei Freundinnen Knall und Fall die Tür verbieten, indem sie auch kaufen und sehr angesehene Frauen sind, die auch kein unrechtes Wort über den Herrn Pimpfel und die Anna gesagt haben, wo es doch mit Konitz klar zutage liegt, aber es ist alles nicht wahr, und Sie werden bei mir immer gut bedient, wie es sich für eine ordentliche Witfrau gehört, womit ich verbleibe Ihre Auguste Berndt.«

Frau Amtsrichter Mendel gab Anna den Brief und sagte: »Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben. Niemand kann der Frau etwas Rechtschaffenes nachsagen.« Sie lächelte dabei ein wenig.

»Ich kann's auch nicht,« trotzte Anna.

»Machen Sie, was Sie wollen. Ein Fehler ist es nicht, wenn in das Wespennest gestochen wird.«

»Jawohl, Frau Amtsrichter. Das hätte schon lange geschehen müssen. Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube, der Klatsch über Emma Seifert ging im vorigen Jahre auch von dort aus. Sie sollte gestohlen haben. Kein Wort war wahr, aber nachher haben sie sie drunten am Hauenstein aus der Saale gezogen.«

»Das arme Menschenkind! Kaufen Sie mal ruhig eine Zeitlang bei der Hübner. Das schadet gar nichts.«

Nun lag Witwe Berndt jeden Tag auf der Lauer. Sie litt bittere Schmerzen nicht nur am Geldbeutel, sondern mehr noch am Herzen. Anna Hagen ging vorüber. Drei Tage hatte Auguste Berndt ihre Freundinnen, die sie mißtrauisch ansahen, getäuscht. Das sei Zufall, sei schon früher manchmal vorgekommen, und die Hübner müsse auch etwas verdienen. Die Blicke der drei Parzen wurden von Tag zu Tag eindeutiger; denn noch süßer als Freundschaft war Schadenfreude.

Als nun Olga Krause am vierten Tage bittersüß zu Frau Berndt sagte, es müsse aber doch einen Grund haben, daß Amtsrichters nicht mehr da kauften, und es ginge doch sozusagen nicht nur um das Geld, sondern auch um das Ansehen, da explodierte Auguste Berndt.

Sie neigte sich über den Ladentisch, vergaß ganz auf die Würde einer Frau, der niemand nichts Rechtschaffenes nachsagen kann, und warf es Olga Krause ins Gesicht, daß sie schuld sei, ganz allein sie, niemand weiter; denn sie hätte gesagt, daß Anna und Pimpfel schon in Konitz miteinander gegangen seien.

Was, das habe sie gesagt? Sie?! Das wäre unerhört!

»Pauline, wie war das mit deiner Base?« Die Krause wandte sich an Pauline Heinert.

»Was soll denn mit der gewesen sein?«

»Ach so, jetzt willst du wohl nichts wissen? So ist es richtig, ganz richtig! Erst macht ihr die Leute schlecht, – ja, das macht ihr, – und nachher habt ihr nichts gesagt. So ist es richtig! Ihr seid nicht wert, daß man sich mit euch abgibt. Und da hat man gedacht, man hätte es mit ehrlichen Leuten zu tun!«

»Meinst du etwa mich?« Lina Karsten schob ihr die spitze Nase fast ins Gesicht.

»Dich? Ja, dich mein ich auch!«

»Da hört sich doch alles auf! Ihr seid Zeugen. Ich weiß, wo der Weg ins Gericht geht.«

»Hast du mir etwa nicht gesagt, die Pauline hätte gesagt, die Anna wäre schon dazumal mit dem Pimpfel gegangen?«

»Das soll ich gesagt haben?«

»Ja, drei Schritte vor Schneider Ziemann seinem Hause standen wir, und ich will nicht gesund hier stehen, und gerade kam der alte Engler dazu. Ich habe meine Zeugen.«

Kühl mischte sich Pauline Heinert ein. »Jetzt lernt man doch seine Leute kennen. Sag's gleich noch einmal, Lina.«

Die fuhr mit einem Ruck herum. »Hast du das etwa nicht gesagt?«

Und die Heinert hoheitsvoll: »Dann wollen wir doch der Sache auch richtig auf den Grund gehen. Auguste,« sie wandte sich an die Berndt, »du wirst wissen, wie das dazumal war. Du hast gesagt – –«

»Ich? Ich will euch gleich allen dreien etwas sagen.«

Sie langte mit raschem Griff nach ihrem Kontobuch. »Bei dir, Pauline, sind's 38 Mark 73 Pfennig, bei dir Lina – –«

»Bei mir?« Lina Karsten schob das Buch zurück. »Deine Buchführung! O je!«

Schwapp, schlug ihr Auguste Berndt das Buch um die Ohren. Das hätte sie nicht tun sollen, denn nun stand sie drei einigen Gegnerinnen gegenüber. Eine Stallmagd benehme sich nicht so, stellte Pauline Heinert fest. Sie habe das Gehör verloren, Lina Karsten; die ganze Stadt wisse, daß die Berndt die größte Klatsche sei, Olga Krause. Da machte die Besitzerin des Ladens kehrt, ging auf ihr Stübchen hinter dem Laben zu und verbot, in der Tür stehend, den dreien, ihr Geschäft jemals wieder zu betreten.

Die Frauen gingen, aber weil ihre Herzen allzu voll waren, blieben sie auf dem Marktplatz stehen und redeten weiter miteinander, sich immer wieder dahin einigend, daß keine etwas gesagt habe, die einzige, die das alles ausgeheckt, die brutale Berndt sei, in der man sich gründlich getäuscht habe. Als sie zum zehntenmal so weit waren, daß keine von ihnen etwas gesagt – es war darüber eine gute Stunde vergangen –, kamen aus dem Rathause zwei Bauern, ganz ernsthaft und langsam, und einer trug einen Stuhl, und der andere deren zwei. Die boten sie den Frauen freundschaftlich an, versichernd, daß es ihnen schon lange leid getan habe, daß die drei fortwährend stehen müßten. Da stoben die Parzen auseinander.

Anna Hagen aber erhielt am Nachmittag einen Brief. »Liebes Fräulein Anna! Jetzt sind sie draußen, und sie kommen nicht wieder, indem daß ich ihnen gesagt habe, was sie für Menschen sind, und die Heinert hat noch 38,73 Mark Schulden, die Lina 19,10 Mark und die Olga 11,17 Mark, was ich Ihnen aber bloß im Vertrauen sage, und der Gerichtsvollzieher wird das Geld schon kriegen, und jetzt können Sie auch wieder zu mir kommen, indem daß die Luft nun rein ist, und sie hat gestunken von den Lügen, was ich Ihnen alles noch sagen will, wenn wir allein sind, womit ich mit Freuden bin Witwe Auguste Berndt am Markt, Kolonialwaren und Kurzwaren.«

Die drei Parzen wollten sich rächen und zunächst die Hübner mit ihrem Besuch beglücken. Das gelang nicht. Amalie Hübner war eine kluge, fleißige Frau. So gerne sie den Kundenzuwachs sah, zu einem Plauderstündchen am hellen Vormittag hatte sie keine Zeit und in Dinge, die sie nichts angingen, mischte sie sich nicht. Ihr sei es einerlei, sagte sie, ob die Anna den Oldenburger schon früher gekannt habe oder nicht. Sie frage auch nicht danach, wen sie heirate. Das möge jedes mit sich selber ausmachen.

Anna ging am andern Tage zur Witwe Berndt und erklärte ihr, jawohl, sie kaufe wieder, aber sie tue das jetzt einmal da und einmal dort, und wenn die drei wiederkämen, sei es ein für allemal aus.

Etliche Tage danach knallte Bauer Heinert 38,73 Mark auf den Ladentisch der Witwe und lachte aus vollem Halse. Wenn er nicht so ein armer Teufel wäre, hätte er die 50 Mark voll gemacht. Jetzt kriege er wenigstens sein Mittagessen, und das könne er ja nun in allem Vertrauen sagen: Wäre die Sache so weitergegangen, dann hätte er eines Tages die ganze Bude in die Luft gesprengt, so wahr er Heinert heiße. Nichts für ungut, es sei ja nun alles in Ordnung.

 

Inzwischen hatten Hempel und sein Gehilfe weiter Ordnung in dem Hause gemacht und sich aneinander gewöhnt. Es war wundervoll, wie sie sich ergänzten. Wenn auch der Haushalt etwas üppiger geworden war, so war doch Pimpfel im Grunde kaum anspruchsvoller als der Meister. Die Arbeitsteilung war im übrigen die glücklichste, die man sich denken konnte. Heinrich Pimpfel brachte die Uhren in Ordnung, und Meister Hempel putzte alte Krüge und zinnerne Gerate. Nur daß der Geselle nach wie vor flink und fleißig war, beengte den Meister. Das Geschäft hob sich, hob sich zusehends. Es kam sogar Geld ein; denn es war nicht nur bei dem besten Willen unmöglich, in den bereits reichlich abgeklapperten Dörfern immer wieder neue Altertümer aufzutreiben, sondern Heinrich Pimpfel verwahrte sich auch dagegen, daß grundsätzlich kein Pfennig im Hause sein dürfe. Es sei ja ganz gewiß schön, den Herrgott sorgen zu lassen, aber manchmal könne man halt doch nicht wissen, wie er es meine. Was sollte werden, wenn etwa einer von ihnen einmal krank würde. Krank? Meister Hempel war in seinem Leben noch nicht krank gewesen, und er, der Heinrich, werde doch nicht etwa Dummheiten machen wollen!

Der hatte wahrlich keine Lust dazu. Die Hundetürkei gefiel ihm, das Bergland vollends durchwanderte er nie ohne Andacht. Er hatte manchen Berg von weitem gesehen, war auch durch das Wesergebirge gewalzt, aber alles, was er bis jetzt kennengelernt, hielt keinen Vergleich aus mit dem Lande an der oberen Saale. Über dem lagen zugleich stille Wehmut und lachende Freude. Die Ferne war voller lockender Versprechungen und die Nähe voller Heimlichkeiten. Auf Schritt und Tritt huschten Mären und Sagen über den Weg, ferne, ferne Geschehnisse lebten, als hätte sie der heutige Tag eben geboren. Meister Hempel war kein guter Künder der Vergangenheit. Abergläubisch war er, fühlte sich von Geistern umlauert, wagte es nicht, allein an der Teufelskanzel vorbeizugehen, deutete des Uhus Schrei als das Wimmern armer Seelen, empfand aber nicht des Landes stille, treue Kräfte, wußte sich in keiner der tausend grün umblühten oder vom Walde gehüteten heimlichen Kammern wohlig geborgen, faselte dann und wann vom Mordtale und dem grauen, unheimlichen Kobersfelsen, spürte aber nicht den Herzschlag heimgegangener Geschlechter in den schwer zu bestellenden und doch so sorglich gepflegten Äckern oder den in das Tal gekuschelten, vom Bache umsungenen alten Mühlen. Und doch hatte er es gerade auf die besonders abgesehen. Es war nicht eine einzige unter ihnen, die nicht Jahrhunderte alt gewesen wäre. Ihrer einige lagen unmittelbar an der Saale. Die meisten bargen sich, weit von den Dörfern entfernt, an den Bächen in den Wiesengründen. Da zu wohnen, wäre nicht jedermanns Sache gewesen. Immer führten die Wege, noch dazu meist schlecht gehalten, steil bergan. Lag die Mühle günstig, dann war es von ihr aus eine halbe Stunde bis in das nächste Dorf. So bevorzugt waren nur wenige. Von den anderen aus hatte man eine Stunde zu gehen. Und von dem Dorfe aus war es wieder zwei Stunden weit nach Langenbrück. Da wohnte der nächste Arzt, da war die Apotheke. Kriege sind über das Land gegangen, man hörte in den Mühlen den Geschützdonner, sah den Feuerschein brennender Höfe über das kleine Stück Himmel lohen, das den Menschen im Engtale offen stand, die schweifenden Horden aber fürchteten die drohende Düsternis der weiten Wälder und gingen draußen vorüber. Die Mühlen blieben verschont.

So waren sie denn auch für den sammelnden Meister Hempel die ergiebigsten Plätze. Unvergeßlich bleibt es ihm, wie er einmal in die Waldburger Mühle gerade in der Stunde kam, in der das Seitengebäude niedergerissen werden sollte. Das war das Auszüglerhaus des Geschlechtes und war allzu baufällig geworden. In der niedrigen Stube stand ein mächtiger runder Ofen aus Spucknapfkacheln, und in denen standen alte, gemalte Gläser, die ältesten aus dem 17. Jahrhundert. Was wäre mit ihnen geschehen? Soweit sie nicht von vornherein zertrümmert wurden, wären sie um ihrer bunten Malerei willen den Kindern zum Spielen gegeben worden. Keines der Gläser wäre älter als einige Wochen geworden.

Adolf Hempel aber war es, als trete er in das Paradies, als er die alte Auszüglerstube betrat. Die Augen gingen ihm über vor ehrfürchtigem Staunen. Er konnte kaum sprechen, wagte gar nicht, den Müller zu fragen, ob er dieses oder jenes Stück haben könne, grübelte, was er zu bieten vermöchte, und hätte nicht einen Augenblick gezögert, einen Acker zu verkaufen, um zu Geld zu kommen. Es kam alles ganz anders, als er erwartet. »Kreuzweis,« sagte der Müller, »was gibst du für den Plunder? Ach, du hast ja selber nichts, du armer Krautspopel. Pack ein, was soll ich mit dem Dreck? Die Kinder schlagen's ja doch bloß kaputt. Weißt du was? Bringst mir ein ordentliches Halbliterseidel mit. Hecker in Langenbrück hat welche.«

Das war einer der schönsten Tage in Hempels Leben. Und heute kam einer, der ebenso schön war. Hempel und Pimpfel lieferten Uhren ab. Sie gingen um zwölf aus Langenbrück fort, waren kurz vor eins in Maßbich und eine halbe Stunde später in Christmannsdorf. Da mußten sie Seiler Handmann und Bauer Menge aufsuchen. Der war einer der größten Bauern im Dorfe, aber er galt als gradeso klobig und protzig wie sein Bruder, der auf dem Vaterszeuge, der Christmannsdorfer Mühle, geblieben war. Murrend zahlte Menge seine 18 Groschen für die Reparatur und spottete: »Kreuzweis, die Jacke hast du wohl schon gehabt, wie dir dazumal der alte Hindemit die Hosenträger kreuzweis knöpfen mußte? Haha.« Traurig ging Hempel aus der Haustür. Der Bauer rief ihm nach: »Du, Kreuzweis, du sollst zu meinem Bruder kommen. Bei dem geht keine Uhr mehr. Mach das gleich heute mit ab.«

Das war eine Überraschung für Hempel. Er fieberte vor freudiger Erwartung und war eiskalt vor Furcht. Sosehr es den Meister in jede Mühle zog, in die Christmannsdorfer hatte er sich noch nicht gewagt. Er war zwar heute etwas sicherer als sonst, einmal, weil er gerufen wurde, zum anderen, weil er alles Geld in der Tasche hatte, das er und sein Geselle in den vergangenen Wochen und Monaten gespart hatten, zwölf Taler und acht Groschen, – beides gab ihm eine gewisse Sicherheit, – aber die Scheu vor dem Müller war dennoch so groß, daß den Alten eine Gänsehaut überlief. Der Weg nach der Mühle war eine Stunde weit. Er stieg vom Dorfe aus vorerst an, ging dann ein Stück leidlich eben zwischen den Feldern hin und führte zuletzt steil durch den Wald hinab. Es war ein sonniger Herbsttag, als ihn die beiden Uhrmacher zurücklegten. Auf der Höhe, von der aus man so unendlich weit sehen konnte, wollte Heinrich Pimpfel stehenbleiben. Der Meister zog ihn weiter. »Dazu haben wir ein andermal Zeit, Heinrich.«

Die Waldränder, von Buchen und Eichen gebildet, standen in feuriger Glut. Hinter ihnen hoben sich dunkel und ernst die hohen Nadelbäume heraus. Ebereschenbäume am Wege prahlten mit den Korallentrauben ihrer Beeren. Herbstzeitlosen blühten auf den Wiesen. Ein feiner, blauer Dunst lag in der Ferne, Rauch von Kartoffelfeuern wehte wie ein Hauch daher. Heinrich Pimpfel war schier weltentrückt. Auch das höchste Lobeswort aus seinem Munde wäre in dieser von Stimmung übersättigten Stunde unzulänglich gewesen. Der Mensch fühlte und war reich, unendlich reich. Meister Hempel fühlte nicht. Er hastete, hoffte und bangte.

Sie sahen die Mühle nicht eher, als bis sie davorstanden, so tief war sie hinter Felsen und Bäumen versteckt. Der breite, hünenhafte Müller trat ihnen entgegen. »Da bist du ja endlich, Kreuzweis. Ich habe lange genug auf dich gewartet. Drei Uhren haben wir, und alle drei sind kaputt. Wer ist denn der da? Dein Geselle? So viel trägt's? Du, das sage ich dir, mich haust du nicht über die Ohren! Wer versteht denn nun mehr von euch beiden, du oder der? Was? Der? Ach sei still, ihr versteht alle beide nichts. Na, kommt rein. – Frau, gib mal den zwei Uhrmachern erst was zu essen. Sie haben am Ende heute alle beide nicht viel mehr wie Wassersuppe gekriegt.«

Pimpfel wehrte sich ärgerlich. Der Bauer schlug ihn mit seiner Tatze auf die Schulter. »Was, Kreuzweis, der kann wohl noch nicht mit den Leuten umgehen? – Und nun langt zu.«

Der Müller erwies sich nachher als gar nicht so ungemütlich, wie Meister Hempel gefürchtet. Er hieb wacker mit ein, aß mehr als die beiden anderen zusammen und plauderte ganz behaglich, wenn auch immer wieder plump ausfällig werdend.

»So, und nun seht euch die drei Uhren an und macht mir einen Preis. Ich kaufe keine Katze im Sacke und verkaufe auch keine. Also was verlangt ihr?«

Heinrich Pimpfel studierte die Werke und schüttelte den Kopf.

»Welcher Grobian ist denn da drüber gekommen?«

Der Müller lachte. »Die hat mein Junge kaputt gemacht, die mein Mädel und die habe ich vor vierzehn Tagen selber runter geschmissen.«

Es waren Wellen geknickt, Radzinken herausgebrochen, Hämmer abgeschlagen. Heinrich Pimpfel machte ein ernstes Gesicht.

»Raus mit der Katz!« sagte der Müller.

»Alle drei zusammen zwei Taler fünf Groschen,« entgegnete Pimpfel.

Der Müller lachte dröhnend. »Mehr nicht? Du bist ja wohl ganz verrückt? Zwei – Taler – fünf Groschen? So viel haben ja die Dinger neu nicht gekostet.«

»Da waren es auch andere Zeiten. Die Uhr ist wenigstens ihre 80 Jahre alt,« sagte Pimpfel.

»Das kann stimmen. Sie stammt von meiner Großmutter. Du scheinst was zu verstehen.«

Jetzt mischte sich Hempel bebend ein. Vielleicht ließe sich ein Geschäft machen. Menge wisse doch, daß er, Hempel, Altertümer sammle. Ob nicht auf dem Boden oder im Gewölbe alter Kram stehe? Der Müller sah den kleinen Mann erst zweifelnd an. War der wirklich so dumm, wie er schien, oder war er schlauer, als man ihm zutrauen durfte?

»Wohin verschacherst du denn den alten Dreck?«

»Ich verschachere ihn überhaupt nicht.«

»Nein,« fiel Pimpfel ein, »das kann ich bezeugen. Das ganze Haus steckt voll.«

Menge schüttelte den Kopf. Er rief seine Frau.

»Du, der Kreuzweis will auf dem Boden Altertümer suchen. Haben wir denn davon noch was?«

»Nein. Wir haben nichts mehr.«

»Da hörst du's.«

»Laßt mich selber einmal nachsehen,« bat Hempel.

»Dann geh mal mit ihm hinauf, Alma; aber paß auf, Kreuzweis, daß dich die Ratten nicht fressen.«

Die beiden gingen. Der Müller schlug Pimpfel vor, mit ihm hinauszugehen. Er wolle ihm die Wirtschaft zeigen. Heinrich Pimpfel war gern bereit. Der Müller prahlte nicht, aber aus jedem Worte sprach der Stolz auf sein kleines Königreich. Einsamkeit und Arbeit hatten den Mann geprägt. Über das Draußen urteilte er wegwerfend; selbst für die Dörfer und ihre Leute hatte er nicht viel übrig.

»Bis da hinüber ist alles mein.« Kurz und stolz. Und: »Heute haben wir bloß ein paar Eimer voll Wasser, aber du mußt einmal kommen, wenn das Eis geht. Bis hier vor das Hoftor haben mir letztesmal die Schollen gelegen. Ich dachte schon, es wäre alles verloren. Da guck die Stämme an. Die habe ich in der Nacht alle vor das Tor gebaut. Ihr hebt beide zusammen nicht einen einzigen. Ich habe jeden herangetragen. Da kriegt man Kräfte, kann ich dir sagen. Wie alt bist du eigentlich? Sechsundzwanzig Jahre? Zehn Jahre jünger als ich. Aber du mußt mehr Fleisch auf die Rippen kriegen. Ihr wißt in der Stadt nicht, was Arbeit ist. Der alte Kreuzweis ist doch ein komischer Kauz. Was will er bloß mit dem alten Plunder? Ich weiß schon, jeder hat seine Närrischheit. Meine ist die Jagd. Wenn du nicht gekommen wärst, wäre es mit dem Alten nicht mehr lange gegangen. Er liefert ja unter einem halben Jahre nicht ab. Das sage ich dir, lange warten kann ich nicht. Über acht Tage sind die Ferien aus. Da müssen die Kinder wieder in die Schule.«

»Da sind zwei Uhren bestimmt fertig, vielleicht alle drei.«

Sie gingen wohl anderthalb Stunden über Wiesen und Felder, am Bach entlang und durch Waldstreifen und kamen im Bogen wieder an die Mühle. Da sagte der Müller, nun müsse Hempel wohl mit dem Boden fertig sein, und er wäre neugierig, was er gefunden habe.

Die Müllerin hantierte bereits wieder in der Wirtschaft und erklärte, sie habe keine Zeit gehabt, so lange auf dem Boden herumzustehen. Der närrische Mann krieche wie ein Maulwurf in alle Ecken und habe wirklich schon ein paar alte Scherben und Zinnkrüge gefunden. Da bekannt war, daß Hempel eher seine Hand hingegeben, als auch nur eine Nadel veruntreut hätte, der Müller zudem heute in besonders guter Laune war, er endlich Gefallen an Pimpfel gefunden hatte, murrte er lachend: »Laß ihn noch eine halbe Stunde krebsen. Nachher sieht er sowieso nichts mehr. – Komm, Geselle, wir gehen in die Mühle. Da bin ich am liebsten.«

Und wieder einmal war es Heinrich Pimpfel wie im Märchenlande. Die Männer saßen auf einem Bänkchen in der Nähe des Wasserrades. Sage niemand, daß das Lied, das ein fleißiger Bach beim Umdrehen des Rades singt, eintönig wäre oder daß es seelenlos sei. In dem Liede leben Zeit und Ewigkeit. Es ist nicht mit dem Liede einer Menschenstimme oder eines Vogels zu vergleichen. Tausend Stimmen spielen durcheinander, aufgebaut über einem tiefen, wellenweise ruhig auf und ab wogenden Grundton. Der stammt unmittelbar von Gott und ward geboren, als er die Ewigkeit gründete. Er ist zeitlos, fast klanglos, wenigstens läßt er sich nicht auf eine der von Menschen geschaffenen Formeln bringen. Ganz ruhig ist er in sich, steht fest und ist heute, wie er vor hunderttausend Jahren war. Was darüber spielt, das ist Zeit. Die hat am sonnenhellen Sommertage einen anderen Ton als am müden Herbstabend, klingt anders am frohen Hochzeitsmorgen als in der Stunde, da der Tod müde Augen schließt, trägt in sich alles Bangen, wenn die Menschen etwa zittern vor des draußen schweifenden Krieges furchtbarem Schritt, und läutet selber feierlich mit, wenn am Sonntag die Kirchenglocken vom Dorfe her zu Besinnung und Andacht rufen.

Die Sonne sank rotglühend hinter das Gewände am Teufelswehr, und ihr Schein lag wie Blut auf den durch viele Füße blank geglätteten Dielen.

»Mein Stamm sitzt hier seit über 200 Jahren,« begann Menge ernst. Alle Plumpheit, hinter der er sonst sein Gefühl verbarg, war von ihm abgefallen. »Den ersten Lehnsbrief hat uns die Sibylle von Obernitz im Jahre 1654 ausgestellt. Es ist aber ganz gut möglich, daß die Mühle noch viel älter ist, und auch wir schon länger da sind.«

»Müller,« entgegnet« Pimpfel, »ist es Euch denn hier nicht manchmal gar zu einsam?«

»Nein. Daran gewöhnt man sich.«

»Ihr habt es halt auch nie anders kennengelernt.«

»O ja. Ich bin Kürassier gewesen. Sieh, hier kommt mir niemand ins Gehege. Was ich mache, ist richtig, wie ich's mache, ist's recht. Ich könnte es nicht vertragen, wenn mir jeden Tag einer in die Schüssel gucken wollte. Und dann will ich dir noch etwas sagen: Man wird ein ganz anderer Kerl, wenn man sich, außer auf den Herrgott, nur auf sich selber verlassen kann. Da wird man erst gewahr, was man überhaupt ist und kann. Meinst du, ich möchte in Langenbrück wohnen? Nicht um alles in der Welt. Drei alte Klatschweiber schon können das ganze Nest auf den Kopf stellen. Hier bin ich Herr, und wehe, wer mir in den Weg kommt. Übrigens, das will ich dir sagen: Wenn's dir einmal beim Kreuzweis nicht mehr paßt, dann zieh nach Christmannsdorf. Da sind auch 800 Leute, und rundherum liegen ein Dutzend Dörfer, die alle keinen Uhrmacher haben.«

»Nein,« wehrte Pimpfel ab, »das tue ich nicht. Meister Hempel teilt jeden Bissen mit mir – –«

»Wird nicht viel zu teilen sein. Außerdem wohnt ihr ja doch nun einmal in der Hundetürkei. Kein Frauenzimmer im Hause. Ich kann mir denken, wie es da aussieht. Und Hempel selber? Er ist ja doch der reine Lumpenmann, der alte Hansnarr.«

»Du magst in manchem recht haben. Wir machen alle Tage Ordnung, aber es bleibt, wie es ist.«

»Da möchte ich euch zwei Kerle sehen.«

»Kann sein, daß du lachtest. Aber du müßtest Meister Hempel beobachten, wenn er über seinen alten Sachen sitzt. Da ist nichts zu lachen. Wenn er heute bei euch ein schönes Stück findet, dann ist es wenigstens vierzehn Tage Weihnachten für ihn. Dann putzt und scheuert er den ganzen Tag.«

»Und die Arbeit?«

»Die mache ich.«

»So mag es angehen, aber ich hab dir's vorhin schon gesagt: Anders geht es auf die Dauer nicht gut.«

»Das kann wohl sein. Ich verstehe nichts von dem alten Kram, mache mir auch nichts daraus, weiß auch nicht, ob die Dinge das wert sind, was der Meister dafür aufwendet, aber – –«

»Das wird nicht viel sein. Immerhin ist es seine Arbeit, die er darangibt. Der alte Kram ist aus der Mode, die Jungen schmelzen die Teller zu Bolzenköpfen ein, wir haben vor drei Wochen erst dem Klempner eine Zinnschüssel mitgenommen, weil er die Gießkanne löten sollte. – Eigentlich kann einem der alte Narr leid tun.«

»Nein, nein,« wehrte Pimpfel ab. »In den ersten Wochen habe ich auch wohl manchmal so gedacht, aber jetzt weiß ich, daß er glücklicher ist als wir anderen alle zusammen.«

»So. Wie halt das Glück aussieht. Bei dem einen ist's ein Haufen Geld, bei dem andern sind's alte Krüge. – Nun wird er ja wohl fertig sein, der Kreuzweis. Gelt, hier sitzt sich's gut? Ich hocke jeden Abend da, wenn ich nicht grade draußen bin. Wir wollen in die Stube gehen.«

Da stand Meister Hempel und hatte einen Haufen schmutziges altes Zeug um sich gebaut. Wie ein Kind stand er da, so glücklich, so unbeholfen und so ängstlich.

»Mehr nicht?« fragte Menge lachend mit seiner dröhnenden Stimme. »Du räumst mir ja das ganze Haus aus.«

»Wenn du etwa nicht alles weggeben willst – –«

»Zeig erst einmal her. Ach, Mensch, du bist ja ganz von Gott verlassen. Guck bloß den Dreck, Alma.«

Die Frau stand kopfschüttelnd beiseite. »Nee, Kreuzweis, das kann ich ja gar nicht verantworten, daß du dich mit dem Zeuge schleppst. Das laß mal liegen, und wenn der Lumpenmann kommt, kann er es mitnehmen.«

Hempel standen Tränen in den Augen. Heinrich Pimpfel sah es. »Müller,« sagte er, »laß ihn, wenn es ihm Spaß macht.«

»Aber wie wollt ihr denn das fortbringen?«

»Besorg uns zwei alte Säcke. Was willst du denn haben?«

»Ja, verschenken kann ich nichts. Verschenken ist liederlich. Bring's her, Kreuzweis. Wir wiegen's auf der Brückenwaage. Der Klempner gibt 30 Pfennig für das Pfund Zinn. Was ist denn das für ein altes Faß?« Es war ein Fäßchen aus Eschenholz mit Zinnkränzen, Schraubverschluß, vier dicken kugeligen Füßen und zwei Plaketten an den runden Seiten. Der Müller hielt es in der Hand. Knack, brach einer der Füße unter seinen harten Fingern.

»Tu ihm doch nicht so weh,« bat Hempel.

Der Meister mußte drei Taler auspacken. Er tat dem Müller leid, aber was die Waage auswies, mußte bezahlt werden. Menge hielt Verschenken für Verschwendung.

Heinrich Pimpfel wandte die Sache ins Scherzhafte. Wenn sie den Preis für das Herrichten der Uhren noch nicht vereinbart hätten, würden sie dem Müller die drei Taler wieder abknöpfen.

Das gefiel dem Manne. Nicht etwa, daß er nun seinerseits erklärt hätte, man wolle wenigstens gleich auf gleich handeln, aber es gefiel ihm, daß der Geselle rechnete und offenbar auf das hielt, was ihm zukam.

Der Handel war abgeschlossen, Menge hatte weit mehr als einen Acker verschenkt.

Hempel und sein Geselle standen bereits in der Tür, da sagte der Müller: »Kreuzweis, ich will dir mal was zeigen. Das kriegst du nicht, und wenn du mir dein ganzes Haus mitsamt dem alten Plunder gibst. Da, guck her.« Er zog am Schreibschrank einen Schub auf und entnahm ihm zwei Hände voll alter Urkunden. Es waren Lehnsbriefe vom Jahre 1654 ab. Auf die war Menge stolz. In ihnen sah er die Geschichte seines Geschlechts verwahrt. »Sieh dir mal die Siegel an.« Er wies auf die gut erhaltenen Siegel. »Das ist was,« erklärte er stolz. »Da die Störche und die Helme mit den Federn. Das müßtest du sammeln. Aber das kriegst du nicht. Na, gute Nacht ihr zwei. Lauft hin, sonst brecht ihr mir auf dem Wege die Knochen. – Aber daß meine Uhren zur rechten Zeit fertig sind!«

Heimwärts wählten die Uhrmacher einen kürzeren Weg. Sie schritten über die Wiesen, überquerten den Bach und stiegen drüben die Teufelswand hinan. Die war ein schmaler Rücken zwischen Saale und Wiesental, dem Bache, an dem die Christmannsdorfer Mühle lag, und hier offenbarte es sich noch deutlicher als in Langenbrück, daß das Land, im ganzen gesehen eine große Hochfläche mit aufgesetzten Kuppen, durch zahllose tiefe Engtäler geradezu gitterartig gegliedert war.

Der Anstieg, die Teufelswand hinauf, war beschwerlich. Meister Hempel, der alte Mann, aber hastete, daß er keuchte. Nur fort aus dem Bereich der Mühle; denn wer bürgt dafür, daß dem Müller der Handel nicht leid wird. Dachte der Meister daran, daß er ein gutes Geschäft gemacht habe? Nein, nicht mit einem Atemzuge. Er war glücklich über die wundervollen Stücke wie ein erfolgreicher Schatzgräber, war ein reicher Mann, dessen Reichtum aber weit jenseits der Zahl lag.

Heinrich Pimpfel lag in innerem Widerstreit. Die scharfen Ränder der alten Humpen und Schüsseln drückten ihn, der Sack war schwer, und – der Meister hatte drei Taler ausgegeben, mehr also, als für die langwierige Herstellung der Uhren bezahlt wurde. Anfangs hatte er nicht nur geschwiegen, sondern Hempel sogar geholfen, weil er ihm leid tat. Als sie den Berg hinanstiegen, langsam gehen mußten, also Zeit zu Erörterungen gewesen wäre, tat ihm der keuchende, kurzatmige Alte abermals leid. Auf der Höhe aber nahm ihn das Land gefangen, und so schwieg er. Die Mondsichel stand am Himmel. Es war still, so still, daß man sogar dann und wann das Rauschen der Saale aus der Tiefe her hörte. Ganz in der Ferne, weit drüben über dem Tale, rollte ein Wagen. Rauchgeruch von Kartoffelfeuer lag abermals in der Luft. Kein Mensch begegnete den zweien. Aber so still das Land war, es war nicht erstarrt. Man spürte, daß es wohlig ausruhte. Es schien mit einem Lächeln eingeschlafen zu sein.

Der Wald lichtete sich, es ging ein wenig bergab. Da hatten die Leute des Gutes Dörflas heute wacker auf den Feldern gearbeitet. Die Erde roch herbe. Im Gutshofe bellten die Hunde, Rinder brüllten in den Ställen. Der Weg ward schlechter, steiniger und fiel stärker. Wieder ein kleiner Waldstreifen. Durch dessen Bäume leuchtete der weiße Schaum des Waldburger Mühlenwehres. Einst war hier ein alter Eisenhammer gewesen.

Und dann, länger als eine Stunde auf schmalem, stellenweise kaum gangbarem Pfad durch den Wald, die Saale drunten zur Linken. Meister Hempel ging voran. Die beiden sprachen kaum. Am Schmerlitzfelsen mußten sie vorsichtig, Schritt für Schritt, dahintappen. Ein Ausgleiten konnte den Tod bedeuten. Es ging turmtief steil hinab. Ein Wässerlein rann klingend in schmaler Rinne, um sich zuletzt kopfüber in die Saale zu stürzen.

Zum erstenmal ging Pimpfel in der Nacht auf schmalem Pfade durch den Bergwald an der Saale. Er hatte als Junge ab und zu in den Nächten in moorige Ebenen hinausgeträumt, hinter denen er das Meer wußte, und er hatte dabei mit leisem Schauern den schweren Ernst der Unendlichkeit geahnt, hier aber umfing ihn eine so tiefe, lebendige Stille, Geborgenheit atmend, in sich die Stimmen einer unbekannten, aber männlich starken Vergangenheit tragend, daß er auf alles vergaß, daß auch nicht der leiseste Verdruß mehr in ihm war, er die drückende Last auf seiner Schulter nicht spürte.

Das Tal, zwar noch immer eng, ward doch weiter, als es zuvor gewesen. Links drüben stand der Mond über dem Gottesrödel und warf den dunklen Schatten der davor lagernden Hemmkoppe in den Spiegel der Saale; rechts stiegen steil, fast unersteigbar, die Felsen der Fährklippe zur Höhe. Als die Lichter von Langenbrück schimmerten, wich die andächtige Befangenheit aus Pimpfels Herzen. Er begann wieder nüchtern zu erwägen und nahm sich vor, daheim ein ernstes Wort mit dem Meister über seine Verschwendung zu reden.

Da waren sie daheim, standen in der kalten Stube, legten die Säcke auf die Dielen. Pimpfel entnahm dem seinen die drei Uhren und stellte sie auf den Werktisch. Der Meister wollte sich sofort an das Auspacken machen, aber der Geselle erklärte, jetzt werde vorerst Feuer gemacht, dann gegessen. Wenn der Meister nachher noch nicht müde genug sei, möge er sitzen, solange er wolle.

Hempel sah seinen Gehilfen betroffen an. »Bist du böse?«

»Böse? Es ist nicht mein Geld, mach damit, was du willst.«

»Aber es ist doch dein Geld. Du hast es verdient. Da ist es, und die drei Taler arbeite ich ab.«

Was wollte Pimpfel machen? Wirklich zürnen? Nein. Er konnte nur seinen Kopf schütteln und lächeln. Er machte sich vorerst über den Ofen her. Das Feuer prasselte, er setzte den Kaffeetopf auf. Der Meister aber, ach, er konnte es ja nicht lassen auszupacken, ein Stück neben das andere zu bauen. Dabei sah er verstohlen zu dem hantierenden Pimpfel auf und war glücklich, als dessen Gesicht wieder so freundlich war wie sonst. Wäre er allein gewesen, kein Bissen wäre heute abend über seine Lippen gekommen. So hart es ihn ankam, er wollte seinem Gefährten nicht weh tun, aß hastig ein paar Bissen, stand auf, schob einen großen Topf Wasser in die Röhre, holte Zinnkraut aus dem Gewölbe, lief zur Witwe Berndt und kaufte drei Pfund Soda und zwei Pfund Schmierseife.

»So,« sagte er, »nun können wir anfangen.«

Als hätte er kostbares Kristall unter den Fingern, legte er Stück um Stück in das kleine hölzerne Waschschaff. Heinrich Pimpfel hatte indes begonnen, eine der Uhren auseinanderzunehmen, und warf nur ab und zu einen nicht eben freundlichen Blick auf die Dinge zu seinen Füßen. Jedes einzelne Stück war bis zur Unkenntlichkeit verschmutzt. Einige waren auch verbeult.

Hempel hatte indes den schwersten Humpen gescheuert und hielt ihn dem Gesellen unter die Nase. »Da, was steht da?«

»1693. So viel kann ich noch lesen.«

»Hast du das vorher gesehen? Hast du ihm überhaupt angesehen, was er für ein Kerl ist?«

Der Krug begann den Gesellen in der Tat zu interessieren. Matt silberglänzend entstieg er dem starrenden Schmutze wie ein Schmetterling der Puppe. Es dauerte nicht lange, da stand Pimpfel neben dem Meister und scheuerte mit ihm um die Wette. Ein Topf Wasser nach dem anderen ward in die Ofenröhre geschoben. Ein Stück nach dem anderen ward sauber und blank. Das Glanzstück hob der Meister in einer gewissen Wollust bis zuletzt auf. Es war das Fäßchen aus Eschenholz mit Zinneinlage. Das reinigte Hempel selber. Ganz zart und vorsichtig rieb er es ab, und siehe, auf den breiten Zinnrändern traten schöne Zierlinien zutage, auf den Plaketten aber waren ganze Bildwerke. Eines davon war ohne Tadel, das andere leider am Rande beschädigt.

Das Stück war gereinigt. Hempel setzte sich auf das Wellenkanapee und begann, die Plaketten zu studieren. Sein Gesicht ward hell, zuletzt strahlend. »Heinrich,« sagte er vor lauter Glück ganz scheu, »das gibt es nur einmal! So was habe ich noch nie gesehen. Lieber Gott, ob ich da nicht ein Unrecht getan habe? Das hat der Müller nicht gewußt, und das habe ich auch nicht gewußt.«

»Was sollst du denn für ein Unrecht getan haben?«

»Ob drei Taler da nicht – zu wenig sind?«

»Was? Du willst wohl dem Manne noch mehr hinschmeißen? Wir verdienen die Taler nicht so leicht. Und drei Taler sind ein ordentliches Stück Geld.«

»Ja, aber – ach, wenn man das nur wüßte!«

Pimpfel setzte sich neben ihn. »Was ist denn mit dem Dinge los?«

»Da, Heinrich, sieh,« ein vorsichtiger Finger tastete über das Bildwerk. »Das ist doch – – die Krippe mit Maria und dem Jesuskind.«

»Dummes Zeug. Das kann doch keiner machen.« Der Geselle nahm das Fäßchen und studierte das Bild.

»Du hast recht. So was! Das ist richtig die Krippe. Da ist der Joseph, da sind die Hirten, da ist die Maria. – Sogar das Vieh ist da.«

Greisenaugen sahen scheu zu ihm herüber. »Das – habe ich nicht gewußt.«

»Egal. Gekauft ist gekauft.«

»Aber ich will doch niemand betrügen.«

»Hast du das etwa getan? Hat der Müller nicht selber den Preis gemacht? Und sollte das alte Ding auf dem Boden vollends kaputt gehen?«

Der Einwand erleichterte den Meister. »Ja, das ist wahr. – Gib her. Nein, das habe ich doch noch nicht gesehen. Da steht etwas.« Er buchstabierte: » Glo–ria in ex–cel–sis deo. – Weißt du, was das heißt? – Ich auch nicht. So haben die Leute hier auch nie gesprochen. Gloria in … Ich will morgen den Pfarrer fragen. Er kann sieben Sprachen.« Er drehte das Fäßchen um. »Da ist weniger darauf: Ein Mann sitzt auf einem Stein und bläst die Flöte. Das da ist eine Frau. Die hat die Hand auf den Kopf eines Hundes gelegt. Solche Hunde gibt es hier nicht. Und da steht: Tua fis–tu–la dul–cis.« Wieder ein unbeholfener Blick und ein Achselzucken. »Ich will den Pfarrer fragen. Wenn man doch mehr gelernt hätte!«

»Das habe ich auch schon manchmal gedacht.«

»Ach, du hast genug gelernt.«

Hempel legte das Stück vorsichtig beiseite. »Und der Müller hat da gleich ein Bein abgebrochen!«

Er langte ein Stück nach dem anderen heran. Zwei zierliche Zinnvasen aus dem Jahre 1791 waren so schön, daß er beschloß, die morgen mit zum Pfarrer zu nehmen und sie der Langenbrücker Kirche zu stiften, damit sie auf den Altar gestellt und am Sonntag Blumen hineingesteckt würden. Auf einem mittleren Humpen war ein pflügendes Kuhgespann mit dem Bauern, der den Pflugsterz hielt, eingraviert. Darüber stand der Vers: »Der Ackerbau in Segen steht, bis einst die Welt zugrunde geht. Drum will ich mich auch immer freun, ein braver Bauersmann zu sein.« Den Humpen hatte Hempel heute zum dritten Male erhalten. Er bewertete ihn nicht hoch. Dagegen schätzte er einen anderen um so höher, obwohl er bereits fünf oder sechs ähnliche Stücke hatte. Es war ein Brauthumpen. Einst waren diese Humpen zur Hochzeit geschenkt worden. Mann und Frau eingraviert, beide Gestalten mit Emaillefarbe übermalt. Der Mann graue Hosen, roten langen Rock und roten Zylinder, die Frau in reichlich gerafftem roten Gewand. Der Humpen war nicht alt. Er stammte aus dem Jahre 1816. Zu beiden Seiten des Paares rot und grün gemalte Blumen und Gräser. War der Humpen auch an sich nicht selten, so war er es doch um der Malerei willen.

Inzwischen hatte die Turmuhr von St. Bartholomäi Stunde um Stunde geschlagen, und das Rathausglöcklein war hinterdrein gehüpft. Fluß und Bach hatten ihre Nebel in die Nacht geschickt, das ganze Tal war vergraben in dem weichen, linden Geriesel. Die beiden Eifrigen merkten weder, daß der neue Tag gekommen, noch daß Langenbrück wieder einmal, wie so oft, in seinem Nebelpelz vollends vor der Welt verborgen war.

Es war gegen zwei, als sie zur Ruhe gingen; Pimpfel versöhnt, zum ersten Male des Meisters Glück mitfühlend, Hempel aber glücklicher als ein Kind unter dem Christbaum. Und wie ein Kind sprach er sein Abendgebet. Heute strömte aus dem übervollen Herzen wieder einmal nichts als Dank. Er stammelte es hundertmal, stammelte es noch halb im Schlaf: »Lieber Gott, ich danke dir.« Eins machte ihm immer wieder Not. »Lieber Gott, wenn ich bloß kein Unrecht getan habe.« Trotz Pimpfels entschiedenen und beruhigenden Einwendungen war die Freude des Alten keine ganz reine und volle. Wenn ich bloß kein Unrecht getan habe! Meister Hempel schlief ein.

In allen Räumen des Hauses aber, in den Stuben, den Kammern, den Fluren, auf dem Boden, stand Stück an Stück, das lange, lange mißachtet, verborgen unter Schmutz in dem Winkel gelegen hatte und durch einen Greis, den alle Welt für einen halben Narren hielt, wieder dazu erweckt worden war, Freude zu machen. Es nahm sich in seiner schlichten Schönheit und seinem kunsthandwerklichen Werte wunderlich genug aus gegenüber dem dürftigen Geschirr, das, aus der Gegenwart stammend, wenn auch spärlich genug, doch auch im Haushalt des verschrobenen Uhrmachers von Langenbrück vorhanden war.

Stück stand neben Stück, Humpen, Schüsseln, bunte Fayencekrüge, blaue Tonkrüge, gemalte Gläser, alte Kirchenfiguren. Ein unendlicher, von keinem erkannter Reichtum, nach dem, außer Hempel, niemand fragte. Noch war es nicht Mode, Altertümer zu sammeln, noch wollten die Bürgersfrauen in den Städten keine Bauernstuben haben; noch fragten nicht einmal die Museen nach den Zeugen handwerklichen Kunstschaffens. Soviel hundert Stücke Meister Hempel hatte, es war nicht ein einziges großes, durch sich selber prunkendes dabei. Kein dreibeiniger Kaffeekessel, wie man ihn in den reicheren Ebenen fast in jedem besseren Bauernhause fand, keine große schwere Zinnplatte, kaum ein Teller über Durchschnittsgröße, keiner der hohen Humpen, wie sie Norddeutschland kennt, keine schön geschwungene Weinkanne. Derlei Schätze mußte man in reicheren Landstrichen suchen. Das Land an der oberen Saale war rauh und arm. Die Äcker waren steinig und lockten nicht. Grob fuhr der Wind über die Hochflächen, laut brüllten die Gewitter, düster und ernst standen die weiten Wälder. Und doch war grade hier eine Fülle guten alten Hausrates zusammengeströmt.

Das Land hatte auch einmal eine andere Zeit gesehen. Hier und da gab es noch Nürnberger Gerichte, Plätze, die einst die freie Stadt Nürnberg angekauft, um den auf frischer Tat ertappten Spitzbuben oder den gefangenen Wegelagerer zu hängen. Das aber durfte nach altem Recht nur auf eigenem Grund und Boden geschehen. Das Saaletal war nicht zugänglich. Es konnte an zwei oder drei Stellen überquert werden. Brücken aus starken Bohlen mit schrägen Schindeldächern leiteten über den Fluß. Das war alles. Diese Straßen aber waren einst viel begangen und befahren worden. Sie kamen von Frankfurt herein, von Augsburg, Nürnberg herauf, führten nach der bayrischen Stadt Hof und darüber hinaus ins Böhmerland und hinüber nach Leipzig. Die Urgroßväter des heute lebenden Geschlechtes hatten für Vorspann oder lange Handelsfahrt manchen harten Taler mit heimgebracht, auch manchen Krug, der ihnen gefiel und aus dem sie unterwegs oder daheim ihr Bier tranken.

Die Zeiten waren schlafen gegangen. Das Land lag still und abseits. Draußen rollten die Eisenbahnzüge, die Nürnberger Straße sah längst keinen Nürnberger Frachtwagen mehr. Die Mode aber war eine andere geworden. Das Porzellan ward billig, wusch sich leicht und sah bunt und hübsch aus. Völlig aufgeräumt mit dem silberblinkenden Zinn hat erst die Emaille. Gerissene Händler haben noch lange Zinnteller gegen Emailleteller eingetauscht. Meister Hempel hatte gewiß viel zusammengetragen, aber Jahre nach seinem Tode noch vermochte ein Schloßherr mehr zusammenzukriegen als der brave Meister. Nur daß er tiefer in den Geldbeutel greifen mußte.

Die Nacht war still. Eine rechte Schlafensnacht. Nicht einmal das Brummeln des Baches war vernehmbar. Der Nebel legte seine weiche Hand auf alles, und jeder Ton verstummte darunter. Meister Hempel aber schlief unruhig. Noch vor Tagwerden stand er auf. Als Pimpfel in die Stube trat, saß der Alte bereits wieder, halb glückhaft verklärten, halb traurigen Gesichts vor dem Eschenholzfäßchen. Er wartete mit Schmerzen darauf, daß er zum Pfarrer gehn konnte. Endlich war es neun Uhr. Nun konnte er gehen. Er nahm also die Zinnvasen und das Fäßchen und ging in die Pfarre.

Der kluge, gütige Pfarrer lachte ihm entgegen.

»So früh, Meister Hempel?«

»Ach, Herr Pfarrer, ich muß etwas mit Ihnen bereden.« Er offenbarte seine Herzensnot. Wieder lächelte der Pfarrer, gütig und freundlich.

»Meister, Sie überschätzen die Stücke. Ihnen sind sie so viel wert, daß Sie sogar Geld dafür ausgeben. Ja, ja, das Fäßchen ist schön und interessant, aber wer hat danach gefragt? Sie sagen, der Müller hatte gerade gute Laune. Nun, dann hätte es jeder andre auch erhalten. Und der – hätte keine Gewissensbisse darum gehabt. Die Vasen wollen Sie der Kirche schenken? Lieber Meister, nehmen wir es als geschehen an. Sie freuen sich an den zierlichen Dingern. Den guten Langenbrückern sagen sie gar nichts. Und Blumen auf dem Altar? Lieber nicht, Meister. Die Kinder verschütten Wasser beim Auffüllen, die Altardecke wird naß, wir müssen die Bekleidung oft abnehmen, das macht viel Arbeit, und dann fallen die Blumen aus.« Er reichte Hempel herzlich die Hand. »Nichts für ungut, Meister, nicht wahr? Wir nehmen es als geschehen an. Sie wollen Ihrem Gotteshause etwas schenken, das Ihnen lieb ist. Das ehrt Sie, und das danke ich Ihnen. Damit lassen wir es genug sein. Und nun wollen Sie noch wissen, was da steht? Gloria in excelsis deo heißt: Ehre sei Gott in der Höhe. Das Wort aus der Weihnachtsbotschaft der Engel. Tua fiscula dulcis? Dulcis heißt süß. Warten Sie, ich will mal nachsehen.« Er nahm ein Buch aus dem Schranke. »Ja, man kann es übersetzen: Deine süße Hirtenflöte. Ich vermute, daß ein frommer alter Bauer in dem Fäßchen zur Erntezeit frisches Wasser auf das Feld bringen ließ. So, nun wissen Sie, was Sie wissen wollten. – Wie macht sich denn der Geselle?«

»Ach, Herr Pfarrer, den hat mir der Herrgott geschickt. Der ist ein Mensch, ein Mensch – –«

»Beinahe so gut wie Sie.«

»Ach nein, ganz anders. Viel klüger und,« des Meisters Stimme sank und war ein bißchen traurig, »viel fleißiger.«

Jetzt lachte der Pfarrer hell auf. »So, viel fleißiger? Ei, ei, Meister. Sie müßten doch im Gegenteil mit gutem Beispiel vorangehen.«

»Freilich, Herr Pfarrer. Ich will's ja auch, aber ich komme doch nicht dazu. Wir finden uns schon. Er kann ja mein ganzes Zeug kriegen.«

»Langsam, Meister. Nicht ausziehen, bevor man sich schlafen legt. Mir gefällt der junge Mensch auch. Er scheint weder zum Tanze noch zum Biere zu gehen.«

»Danach verlangt es ihn gar nicht. Er arbeitet.«

»Auch am Sonntag?«

»Nein, aber sonst. Und wenn er nicht arbeitet, dann liest er.«

»Haben Sie denn so viel zu lesen?«

»Ach ja. Viele, viele Gartenlauben.«

»So. Dann ist ja alles in Ordnung. Also auf Wiedersehen, Meister. Und wegen der Kostbarkeit, die Sie da unter dem Arme haben, schlafen Sie ruhig.«

Meister Hempel ging sehr viel leichteren Herzens, als er gekommen war. Auf dem Markte begegnete er Anna Hagen, die von der Witwe Berndt kam. Nun hatte er einen Menschen, mit dem er seine Freude teilen konnte. Vorerst streckte er ihr die beiden Vasen entgegen.

»Da, Anna, die schenke ich dir.«

Die lachte. »Was soll ich denn damit?«

»Blumen hineinstellen.« Über das Gesicht des Meisters flog ein Schatten.

Da tat er dem Mädchen leid. »Ach so. Das ist richtig. Dann danke ich auch schön.«

Nun strahlte der Alte wieder. »Hast nichts zu danken. Wenn ich dir nur eine Freude damit gemacht habe.«

Es half nichts, Anna Hagen mußte abermals bei ihm einkehren. Sie mußte seine neu erworbenen Schätze sehen, das Fäßchen zumal, und das konnte er ihr doch nicht auf der Straße erklären.

In der Stube saß Pimpfel über den Arbeitstisch gebeugt.

»Guck dich um,« gebot der Meister, »wen ich da bringe.« Die jungen Menschen lachten sich an, und zum erstenmal sprang auf beider Wangen eine leichte Röte. Sie reichten sich die Hände, aber der Meister ließ sie zu keiner Unterhaltung kommen. Er zupfte Anna Hagen an der Schürze. »Da, sieh her. So was hast du noch nicht gesehen.« Und nun war er so eifrig, daß wahrlich keine Zeit zu anderem blieb. Gutmütig ließ sich das Mädchen mit freudigen Ausrufen überschütten und war so zartfühlend, weder zu lächeln noch an den Dingen vorbeizusehen.

Als sie ging, war sie wieder völlig die alte. Sie sah sich in der Stube um und warf Pimpfel einen mißbilligenden Blick zu. »Ich denke, ihr habt Ordnung gemacht?«

»Natürlich,« beeilte sich Hempel zu versichern. »Siehst du denn das nicht?«

»Nein, das sehe ich nicht. Ich sehe bloß, daß der Geselle auch nicht mehr von Ordnung versteht als der Meister. So aber kann das nicht weitergehen. Ich will euch was sagen: Am Sonntagnachmittag habe ich frei. Da will ich mal Ordnung machen. – Wie gehen die Geschäfte?« Sie lachte zu dem Gesellen hinüber. »Heute schon wieder drei Uhren fertig?«

»Nein,« gab der zurück, »bloß eine, aber die war auch danach.«

»Wird denn auch ordentlich was verdient?«

»Für die drei Uhren kriegen wir zwei Taler fünf Groschen.«

»Was? Das ist ja ein Sündengeld! Da müßt ihr bald reiche Leute werden.«

Pimpfel sah Hempel an, der den Gesellen. »Reiche Leute,« sagte der Meister in plötzlichem Übermut, »zwei Taler nehmen wir ein, drei haben wir ausgegeben.«

Jetzt war Anna Hagens Blick ernst und streng. »Wenn ihr freilich so wirtschaftet, ist es kein Wunder – –«

»Was denn?« fragte Pimpfel lachend.

»Daß ihr alle beide ausseht wie das Leiden Christi.« Bautz, war die Tür hinter ihr zu. Entrüstet stieg sie den Berg hinan.

Frau Amtsrichter Mendel fragte, ob sie etwa wieder einen Zusammenstoß mit Witwe Berndt gehabt habe. »Nein,« entgegnete Anna, »aber die beiden in der Hundetürkei müßte man mit den Köpfen zusammenschlagen.«

»Warum denn?«

»Zwei Taler nehmen sie ein, und drei geben sie aus. Und wofür? Da,« sie wies ihrer Herrin die Vasen, »für solch alten Plunder.«

Frau Mendel nahm die Vasen, sah ernst darauf nieder, blickte ebenso ernst zu dem Mädchen. »Dafür drei Taler?«

»Nein, dafür nicht. Es ist ein ganzer Haufen Krempel.«

»Was denn?«

»Ach, so fünf oder sechs zinnerne Krüge, ein paar gemalte und ein Fäßchen, ach, ich weiß gar nicht mehr alles. Die ganze Stube steht voll.«

»Die Vasen hat Ihnen Hempel geschenkt?«

»Ja, ich soll Blumen hineintun.«

»Das machen Sie mal.«

»Nein, Frau Amtsrichter, dazu habe ich keine Zeit. Mir stehen sie im Wege herum, aber wenn Sie sie haben wollen – –«

»Ist das Ihr Ernst, Anna?«

»Ja. Warum denn nicht?«

»Weil es kleine Kostbarkeiten sind.« Und nun redete die kluge, feingebildete Frau von schönen Formen, handwerklicher, leider sterbender Kunst, von Altertumswert, und alles lief darauf hinaus, daß Meister Hempel entweder sehr viel klüger sei, als ganz Langenbrück glaube, oder aber, wenn das nicht der Fall, aus einem eigenartigen natürlichen Fühlen heraus Schätze zusammengetragen habe, deren Wert gar nicht abzumessen sei.

Anna Hagen riß verwundert die Augen auf.

»Frau Amtsrichter, Sie müßten einmal sehen, wie es bei den Uhrmachern aussieht. Die Leute haben ganz recht, wenn sie sagen, das wäre die Hundetürkei.«

»Ich würde das gern einmal sehen.«

»Das können Sie jeden Tag, aber es ist besser, Sie warten, bis ich da ein bißchen mehr Ordnung gemacht habe.«

» Sie? Sie wollen da Ordnung machen?«

»Ja. Am Sonntag. Es ist doch weiter niemand da.«

Frau Amtsrichter Mendel lächelte. »Dann machen Sie mal Ordnung. Vielleicht kommt dann alles – in Ordnung.«

»Wie meinen Sie denn das?«

»Ich meine gar nichts. Aber sagen Sie's mir nur rechtzeitig, wenn es so weit ist, damit ich mich anderweit umtun kann.«

»Ach, was Sie denken, Frau Amtsrichter!«

»Was macht denn Mutter Berndt? Ist es da besser geworden?«

»Ja. Die drei sind noch nicht wieder dagewesen.«

»Wohin gehen sie denn dann jetzt?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe der Berndt gesagt, wenn die wiederkämen, käme ich nicht mehr.«

»Ei, ei, Anna, Sie sind recht niederträchtig.«

»Da kann man gar nicht niederträchtig genug sein.«

Der Sonntag war ein ereignisreicher Tag. Hempel und sein Geselle waren eben aus der Kirche gekommen, als der Christmannsdorfer Müller bei ihnen eintrat. Der Alte erblaßte bis in die Lippen und lehnte schlotternd am Tische. Menge beachtete ihn nicht. Er lachte vorerst dröhnend auf. »Also, so sieht's aus bei euch? Nee, ganz so schlimm hatte ich mir's doch nicht gedacht. Bloß gut, daß ich da nicht wohnen muß. So tief drin steckt das Haus! Den ganzen Tag habt ihr die Pferdestallmauer vom Rathause vor euch. Da kriegt man ja keine Luft. Wo ist denn der Himmel? Das nennt ihr Himmel? Das ist doch bloß ein Handtuch. O je!« Er reckte die Arme und stieß hart an die alte Vitrine. »Ich sag's ja, wenn man bloß die Hand ausstreckt, schmeißt man schon was runter. Ihr seid zwei verrückte Kerle miteinander. – Also weswegen ich komme: Der Sindermann will eine große Scheune bauen und will die Bretter von mir haben. Deswegen bin ich da, und da habe ich gedacht: Gehst gleich einmal und siehst, wie weit die Uhren sind. Da hängen ja zwei. Sind sie fertig? Und gehen sie auch richtig?« Er schlug Pimpfel auf die Schulter: »Das lobe ich mir. Was man verspricht, muß man halten. Kreuzweis, bei dir hätte ich ein halbes Jahr warten müssen.«

»Vielleicht nicht ganz.«

»Ach, red' nicht. – Mensch, wie siehst du denn aus? Ist dir schlecht?«

»Es ist schon wieder besser. Willst du nicht einmal sehen, wie dein altes Zeug jetzt aussieht?«

»Ach, laß mich mit dem Dreck in Ruhe. Mach deine Uhren, da bist du besser dran, als wenn du Lumpen sammelst.«

»Ich sammle keine Lumpen.«

»Was nicht ist, kann noch werden.«

»Aber du mußt dir wirklich einmal das Zeug ansehen. Guck, so sieht der Krug aus.«

Der Müller nahm ihn in die Hand. »Jetzt sieht er halt blank aus, das ist alles. Jünger ist er nicht geworden, und daraus trinken tut heute kein Mensch mehr. In den Gläsern sieht man wenigstens, wenn Pech drin ist. Früher hat man's mit hinuntergeschluckt. – Was, da ist die Geburt Christi drauf? Wie sie das bloß zuwege gebracht haben! Ob ich's wieder haben will? Nee. Was soll ich denn damit? Verkauft ist verkauft!«

»Aber du könntest denken, ich hätte dir zu wenig gegeben.«

Wieder lachte der Müller. »Kreuzweis, daß du's faustdick hinter den Ohren hast, weiß ich schon lange. – Dummer Kerl, da brauchst du doch nicht solche Augen zu machen. Verträgst du keinen Spaß mehr? Nee. Da sei ganz ruhig. Wer den Christmannsdorfer Müller betrügen will, der muß eher aufstehen wie du. Und gerade du wärst der Richtige, die Leute zu betrügen. – Also die Uhren nehme ich nicht mit. Ich zerbreche die Dinger unterwegs wieder. Laßt euch euren Gänsebraten gut schmecken. Was, Rindfleisch gibt's? Auch was zu essen, wenn das Stück nicht zu klein ist. Also die Uhren bringst du mir morgen raus.«

Pimpfel nickte. »Vormittags oder nachmittags? Gegen Mittag? Ist recht. Da kannst du gleich bei uns essen. Kreuzweis, du kommst nicht mit. Du maust mir zuletzt den Stuhl, auf dem ich sitze.« Lautes Lachen. »Nichts für ungut. Aber eure Stube? Nee, nicht tot.«

Ein Händedruck hinüber und herüber, daß den Uhrmachern die Finger weh taten. Hempel hätte nicht gejammert, wenn es ihn einen Finger gekostet hätte. Jetzt war sein Gewissen frei, jetzt konnte er sich ganz freuen.

Heinrich Pimpfel bereitete das Mittagessen nicht ohne Geschick. Er hatte allerdings nur den Braten übernommen. Es war immerhin ein Pfund Rindfleisch, das sich die beiden Schlemmer geleistet hatten, und das briet und schmorte, duftete und schwamm in der Brühe. Und nachher kam doch der rechte Einklang nicht zustande.

Ein Sonntag-Mittagbrot ohne Klöße ist sowohl in Langenbrück wie auch in allen umliegenden Dörfern unvollkommen. Nun hatte sich zwar Meister Hempel daran gewöhnt, ohne Klöße, hergestellt im eigenen Heim, auszukommen, aber tief auf dem Grunde seiner Seele malte sich ein schönes Bild. Es war zwar nicht viel darauf, nur Klöße, rund, so groß wie eine gute Männerfaust, und ein Stück Rindfleisch, beides schwimmend in duftender brauner Brühe, die von einer Fettschicht überzogen war, aber um das Bild her lag es wie ein leuchtender Heiligenschein. Des Alten Jugend war es, auf deren lichtem Grunde das Bild lebte, die es heraufzauberte, von der es unzertrennlich war. Jugend, nun ja, Hempels Jugend war wahrlich nicht notfrei, aber alle Not ward von einer guten Hand zugedeckt, der Mutter Hand.

Seit die erkaltet, hatte der Meister, nur in fremden Häusern Klöße gegessen. Er aß sie leidenschaftlich gern. Heute hatte ihn der Übermut über sich selber hinausgerissen, er hatte am frühen Morgen die rohen Kloßkartoffeln gespült und gedachte, sich ein Festmahl, dem Gesellen eine lukullische Überraschung zu bereiten. Als der Christmannsdorfer Müller eingetreten war, hatten dem Meister alle ungegessenen Klöße wie Steine im Magen gelegen. Nachdem sich die Tür hinter Menge geschlossen, waren die Steine auf einmal weg, der Übermut aber noch lustiger dagewesen als am Morgen.

»Also, Heinrich, heute essen wir Klöße.«

»Gut. Aber machen kann ich sie nicht.«

»Die mache ich.« Hempel zog die Jacke aus, knöpfte den Vollbart in die hochgeschlossene Weste, wusch sich die Hände, und fing an auf dem Reibeisen die rohen Kartoffeln zu reiben. Daß ihm nach einer Viertelstunde vier Finger der rechten Hand bluteten, trübte weder Freude noch Eifer.

Man muß aber wissen, daß, wer weiß, wie man Thüringer Klöße herstellt, sie deswegen noch nicht fertigbringt. Es ist das vielmehr eine Kunst, die auch manche Hausfrau niemals richtig lernt. Wie hätte das also Hempel können sollen. Er rieb, er preßte in einem Säckchen so viel an Wasser aus dem Kartoffelbrei, als er vermochte, mischte ihn mit gekochten Kartoffeln, heißes Wasser zugießend und beim Kneten den Schmerz an den wunden Fingern verbeißend, formte stolz Breikugeln in der Größe eines Kinderkopfes, ließ sie sacht in das kochende Wasser gleiten und wartete, den neugierigen Pimpfel überlegen ansehend, auf das Ergebnis seines Bemühens.

Das stellte sich zwar ein, aber es war nicht das erwartete. Die Kugeln hatten alle miteinander ihre Form verloren, hatten sich in einem unbegreiflichen Hange zu- und ineinander aufs innigste verbunden, wirbelten bald als geschlossene Masse gegen den Deckel des Topfes, ihn aufhebend und das Wasser auf der heißen Herdplatte versprühend, polterten bald gegen den Boden mit deutlich hörbarem Schlage. Weil Hempel meinte, sie müßten am Ende länger kochen, wartete man. Indes verzehrte sich die von Heinrich Pimpfel so ausgezeichnet hergestellte Fleischtunke in sich selber, und das Fleisch hing sich, mißgelaunt darüber, daß es so lange dem Feuer ausgesetzt war, am Pfannenboden fest. Der Geselle meinte zwar, es sei nur gebräunt, aber Hempel wagte in aller Bescheidenheit zu fragen, ob denn halb verbranntes Fleisch nicht ebenso aussähe.

Wie das so geht. Die einen kommen später zu Ende, als sie angenommen, die andern so rasch, wie das bei gutem Willen und Geschick wohl möglich ist. Die Uhrmacher hatten noch lange nicht mit dem Besuch Anna Hagens gerechnet, da trat sie ein. Die wiederum glaubte die zwei längst nach genossenem Mittagsmahl ausruhend in den Sofaecken sitzen, da hockten sie einander am Tisch gegenüber und wagten nicht, einer von des anderen Erzeugnis zu essen. Jeder aß nur das seinige, um zu beweisen, daß er seine Arbeit für gelungen halte.

Anna Hagen sagte kaum guten Tag, hob die Nase in die Luft und stellte fest: »Euch ist das Fleisch verbrannt.«

Hempel lachte. »Er glaubt's ja nicht.«

Darauf achtete Anna Hagen wenig. Sie trat an den Meister heran. »Was eßt ihr denn?«

»Klöße,« sagte Heinrich Pimpfel lachend.

Jetzt stemmte Anna Hagen die Hände in die Seiten.

»Ist das immer so bei euch?«

»Nein,« bekannte Pimpfel, »bloß wenn wir Rinderbraten und Klöße essen.«

»Und wie oft eßt ihr das?«

»Heute das erstemal.«

»Gott sei Dank!« Sie langte kurz entschlossen nach Tellern und Schüsseln, leerte alles in einen Holzeimer und sagte: »Schweinefutter.«

Pimpfel lachte wie ein Junge. Die Tränen kollerten ihm über die Wangen.

»Was ist denn da zu lachen?« fragte das Mädchen streng.

»Ach, ich muß immer an meine Mutter denken.«

»Eine so tüchtige Mutter haben Sie?«

»Ja, eine sehr tüchtige.«

»Wie kommt sie dann zu einem solchen Sohn?«

»Das muß ich doch einmal fragen. Von mir aus: Ich weiß es nicht.«

»So. Und nun?«

»Können wir Ordnung machen.«

»Ohne was gegessen zu haben?«

»Hm,« sagte Meister Hempel, der geradezu ausgewechselt war, lustig, »man braucht dich bloß anzusehen.«

»Dann vergeht euch der Appetit?« fiel Anna spitz ein.

»Nein, nein, gar nicht, ich meine halt, weil du so, so appetitlich bist und – –«

»Meister, soll ich wieder gehen?«

»Aber Anna!«

»Also!«

Zehn Minuten darauf hatten die beiden Uhrmacher ein leckeres Eiergericht auf dem Tische stehen, aßen mit Appetit und Behagen und hätten gerne die Mahlzeit möglichst lange hinausgezögert. Es half nichts. Nach einer Viertelstunde begann Anna Hagen Ordnung zu machen, und die Männer mußten ihr zur Hand gehen. Sie hatte in den letzten Tagen wiederholt mit Frau Amtsrichter Mendel über alte Krüge, Gläser und Zinnsachen gesprochen und war nun nicht mehr so unwissend, daß sie das Sammeln des alten Hausrates kurzerhand als Unfug abgetan hätte. Nach einem Plane, den sie sich zurechtgelegt, gedachte sie die Ordnung so durchzuführen, daß sie die wertvollsten Stücke in der größeren Stube im ersten Stock unterbrachte, im übrigen einen Raum für Zinn, den anderen für Glas und Porzellan, den dritten für Tonkrüge, den vierten für Figuren und Möbel in Anspruch nahm. Von jeder der verschiedenen Arten wollte sie, wie gesagt, die wertvollsten Stücke in die vordere Stube bringen. Was sich aber zweifelsfrei als Krempel erwies, das gedachte sie auf den Boden oder in den Keller zu verbannen.

Sie fragte also Meister Hempel vorerst, welches die wertvollsten Stücke seien, und forderte ihn auf, die heranzubringen. Der alte Mann verriet nicht, daß ihn die Frage in ein unlösbares Netz verstrickte, rannte davon und brachte, was ihm in die Hände fiel. Eine ganze Weile ließ sich das Anna Hagen gefallen. Als er ihr aber eine Porzellan-Madonna mit der polnischen Krone auf dem Kopfe brachte, deren rechter Arm abgeschlagen war, indes dem Kinde das linke Ärmchen fehlte, da kam sie dem Alten auf die Sprünge.

»Die soll was wert sein?«

»Aber es tut einem doch so leid.«

Anna Hagen sah ihn mit großen Augen an, blickte hinüber zu dem Aufbau, an dem sie war, reichte Pimpfel die Madonna und sagte: »Die gehört auf den Boden. – Und jetzt will ich mal selber anfangen.«

Wenn Hempel, wie sie jetzt sah, denn schon nicht mehr verstand als sie selber, dann gedachte sie sich immer noch lieber auf ihr Urteil zu verlassen als auf das des Meisters. In den meisten Fällen setzte sie ihren Willen durch, in einigen gab sie dem Alten nach.

Und nun wählte sie aus ihrem Gefühl heraus. Die Vitrine in der Stube ward ausgeräumt, alle halb zerbrochenen Porzellanfigürchen wurden verbannt. So ging es durch das ganze Haus. Anna Hagen erkannte, daß heute nicht mehr zu tun war, als eine kleine Auslese zu halten. Irgendeinen Gegenstand endgültig wegzuwerfen, scheute sie sich. Sie war durch ihre Herrin unsicher gemacht worden und wagte es nun doch nicht, sich lediglich auf ihr eigenes Urteil zu verlassen. Der Hausflur ward frei, der Boden füllte sich. Treppauf, treppab ging es in dem Hause, und auf einmal begann die Dunkelheit über die engen Stiegen zu huschen. Da erklärte das Mädchen, für heute sei es genug; in acht Tagen käme sie wieder.

Weil nun, obschon es in dem Hause bereits dunkelte, draußen die Sonne noch alle Hänge mit goldenen Bändern zierte, fragte Heinrich Pimpfel, ob sie denn nicht noch ein Weilchen spazierengehen könnten. Ja, das könnten sie, erklärte Anna Hagen, aber sie müßten dann schon auf den Schloßberg steigen, denn mit dem Dunkelwerden wolle sie zu Hause sein.

Meister Hempel war von der Arbeit erschöpft.

Er streckte also seine kurzen Glieder auf dem Sofa aus, sich gewandt zwischen Wellenbergen und -tälern durchfindend, und überließ sich einem behaglichen Träumen. Dabei jedoch gab er sich keineswegs einer zügellosen, abseitigen Phantasie hin, sondern ging von dem heutigen Erleben aus, es ausgestaltend, wie es seine Kindesseele wünschte. Am Anfang des Weges stand das Wort: Heiraten. Das war die feste Säule, um die er das Rankenwerk seiner Wünsche zu schlingen gedachte. Er hatte sie gar nicht hingesetzt, diese Säule, sie hatte auf einmal von selber dagestanden. Also heiraten. Wer? Wen? Erst: Wen? Anna Hagen. Die Frage war erledigt. Wer? Natürlich Heinrich. Heinrich? Und: Natürlich? Der Besitzer des Hauses, des Geschäftes, der tausend Dinge im Hause und der zwanzig Morgen Feld draußen war er, Adolf Hempel, und er war ein Mann! Ach nein, er war der Kreuzweis, sein Haus war die Hundetürkei, und Menge, der Christmannsdorfer Müller, nannte ihn einen Lumpenmann. Er war ja auch schon, wenn auch noch keine siebzig, so doch immerhin über die sechzig hinaus, war ein kleiner vertrockneter Kerl, und wenn man heiratet, kriegt man Kinder, und Adolf Hempel würde sich schämen, Kinder zu kriegen. Ja, schämen. Also Heinrich. Das aber ist selbstverständlich: Eine Frau muß her. So geht das nicht weiter. Schließlich paßt dem Heinrich eines Tages die Wirtschaft doch nicht mehr, dann ist das Elend da. Also Heinrich. Acht Tage vor der Hochzeit sagt Hempel: »So, ihr zwei, nun wollen wir mal miteinander ins Gericht gehen. Ihr kriegt alles von mir, alles.« Dann kommen Kinder. Ja, Kinder sind etwas Wunderschönes, wenn sie artig sind, das heißt keine Gläser zerbrechen, keine Krüge zerschlagen und keine Zinnstücke zu Bolzen einschmelzen. Und das tun Anna Hagens Kinder nicht. Also das ist in Ordnung. Er geht aber noch viel weiter. Heinrich ist ein fleißiger, geschickter Mensch. Das Geschäft geht heute schon dreimal so gut als früher. Bald geht es zehnmal so gut. Dann ist die Werkstatt in der oberen Stube. Drunten ist der Laden. Da hängen Uhren, große, kleine, rasche, langsame, solche mit Perpendikel und solche ohne. Draußen prahlt ein Schild: Adolf Hempel, Uhrmachermeister. Die Ladenklingel bimmelt. Frau Anna Pimpfel fragt: »Und Sie wünschen? – Ja, die Uhr ist fertig. Mein Mann wollte eigentlich den Lehrling schicken. – Was die Uhr da drüben kostet? Ja, die ist sehr schön und schlägt so tief wie eine Kirchenglocke. Einen Augenblick. Die Uhr ist gestern erst hereingekommen. Ich will mal rasch den Großvater fragen.« – – Der Großvater ist er, der Kreuzweis. Aber kein Mensch sagt mehr Kreuzweis. Jeder sagt: »Tag, Nachbar. Na, so gut wie du möcht ich's auch mal haben.«

Ja, er hat es gut, der liebe Meister Hempel, er – – schläft.

Indessen steigen Anna Hagen und Heinrich Pimpfel den Schloßberg hinan, und das Mädchen hält dem Manne unterwegs eine ernste Rede. »Wissen Sie, so geht das nicht. Das ist keine Wirtschaft, das ist wirklich eine Hundetürkei.«

»So. Hm. Weswegen heißt der Meister eigentlich Kreuzweis?«

Anna wird rot und sieht zur Seite. »Das – – müssen Sie sich von anderen Leuten erzählen lassen. – Aber so geht das nicht weiter. Wenn ich heute mittag nicht dazukam, verdarbt ihr euch alle beide den Magen. Und das Haus! Das ist liederlich! Die Spinnweben!«

Bis sie auf der Höhe sind, redet das Mädchen. Sie spricht knapp, entrüstet, und es klingt doch so herzenswarm zu dem Manne herüber, daß er sich gern davon überrieseln läßt. Er sagt gar nichts. Nur einmal, als das Mädchen erklärt, die Männer müßten entweder selber Bordbretter machen oder sie bei dem Tischler bestellen, weil man ohne sie das Zeug gar nicht unterbringen könne, horcht Pimpfel auf. Dann geht alles wieder über ihn hin wie ein laues Rieseln.

Als sie auf der Höhe sind, unterbricht er das Mädchen, mit dem Finger in das Tal und auf die Berge weisend: »Sehen Sie doch bloß!«

Anna Hagen blickt ihn verwundert an. »Was soll ich denn sehen?«

»Sehen Sie doch bloß, wie das alles ist!«

»Das ist jedes Jahr so. Wissen Sie eigentlich, was ich Ihnen gesagt habe?«

»Ach ja, ich werde es schon wissen.«

»Was sagte ich denn?«

»Von den Brettern.«

»Mehr nicht?«

»Ich glaube, – es war noch mehr.« Das klingt so kindlich hilflos, daß das Mädchen die Hände ineinander schlägt und laut auflacht. »Nein, euch zweien ist wirklich nicht zu helfen. Das muß man schon gehen lassen, wie es ist, und ich glaube, ihr seid gar nicht einmal unzufrieden dabei.«

»Nein. Warum sollten wir denn unzufrieden sein? Wir haben viel mehr, als wir brauchen.«

»Wenn ihr zwei Taler einnehmt, dann gebt ihr drei aus.«

»Ach, das ist doch schon lange her.«

»Acht Tage! Und heute habt ihr das Geld für das Mittagessen auch wieder zum Fenster hinausgeworfen.«

»Wieso denn? Es hat doch sehr gut geschmeckt.«

»Was hat gut geschmeckt?«

»Die Eier, die Sie uns gebraten haben.«

Anna Hagen sah den Menschen von der Seite her an. Seine Augen strahlten und gingen von Kuppe zu Kuppe. Wiederum war es so, daß sie denken mußte: Was ist er doch für ein sonderbarer Mann! Von der Art habe ich noch keinen kennengelernt, und den gibt es auch unter den harten Leuten hierherum nicht. Sie verglich ihn mit Adolf Hempel, aber es tat ihr gut, feststellen zu können, daß er trotz aller Weichheit und Versonnenheit doch entschieden freier und fester und damit männlicher war. Zu fragen, wie weit die Männlichkeit reichen, wie sie sich im gegebenen Falle offenbaren würde, war keine Ursache. Und wäre die Frage auch natürlich und angebracht gewesen, so scheute sich das Mädchen doch, sie zu stellen; denn sie fühlte, daß sie in demselben Augenblicke noch weitergehen und fragen mußte: Inwieweit traust du dir nun zu, mit den Unzulänglichkeiten fertig zu werden und sie zu ergänzen? Die Frage stellen, hätte also bedeutet, die allergeheimsten Türen zu öffnen, Türen, an die Annas Herrin bereits wiederholt neckisch geklopft, die sie, Anna Hagen, aber selber kaum in stiller Nachtstunde einen Spalt öffnete, um sie rasch wieder zuzuschlagen.

Heinrich Pimpfel spürte nichts von den Regungen der Mädchenseele. Er lächelte und bewegte wie im Traum die rechte Hand entlang den Linien der fernen Berge.

»Kommen Sie,« sagte Anna Hagen.

Sie führte ihn an die Schwedenschanze, an der sie am warmen Juniabend mit ihm zusammengetroffen war. Unmittelbar unter dem steilen Felsen stand eine Bank. Auf die ließen sie sich nieder. Es war tiefe, stille Einsamkeit um sie her. Unter ihnen lag das Sornitztal, aus dem herauf turmhohe Tannen stiegen, gegenüber, in der klaren Herbstluft ganz nahe, hob sich das Konrod heraus, dessen Spitze die Fernsicht hieß und an dessen Hange der Felsturm der Teufelskanzel trotzte. Vor ihnen ragte das steile Dach des Schlosses über die Baumwipfel; zehn Schritte links gehend, konnte man das Städtchen in seinem Engtale liegen sehen. Auf der Spitze der Schwedenschanze standen einige Bänke, und der Platz war gegen den Steilhang hin von einem Geländer umgeben. Da hinaufzusteigen, war Anna Hagen heute als zu spät erschienen, obwohl die Aussicht von droben weiter und freier war.

Das Plätzchen, an dem sie saßen, war tief in Einsamkeit gesponnen, eng und still wie eine Kammer. Aber man sah von dieser Kammer aus des Landes Wucht und Schönheit.

»Ich werde meiner Mutter schreiben,« sagte Heinrich Pimpfel aus seinem Sinnen heraus.

»Ist Ihre Mutter wie Sie?«

Der Uhrmacher lachte. »Nein. Mutter sagt immer: Hille, hille.«

»Was heißt das?«

»Das heißt: Vorwärts.«

»So. Das habe ich gern.«

»Ich auch, aber es ist nicht einer wie der andere. – Ich habe einmal einen Mann gekannt, das war der Fischer Petersen. Das war ein reicher Mann und hatte viel Geld ausgeliehen, aber vom Leben hat er nichts gehabt. Er war meiner Mutter ein bißchen verwandt. Als wir einmal bei ihm waren, rechnete er uns vor, was er hatte und wieviel er in diesem Jahre noch zu verdienen gedachte. Meine Mutter sagte: Jochen, ich will mir das überlegen. Ich weiß heute, daß er sie heiraten wollte, aber meine Mutter konnte an dem Tage nicht mit sich fertig werden, und sie sagte: Jochen, arbeiten wollen und Geld verdienen wollen, ist zweierlei. Nee, sagte er, das ist dasselbe. Und jetzt muß ich Aalreusen legen. Es war ein schwüler Nachmittag, und ein Gewitter stand schon lange am Himmel. Mutter sagte: Jochen, fahr nicht hinaus. Das Wetter kriegt dich zu fassen. Aber der Fischer lachte sie aus und sagte: Wenn ich morgen um zehn Taler ärmer sein will, bleib ich daheim. Ich will aber um zehn Taler reicher sein. Sehen Sie, der Mann kam nicht wieder. Sein Knecht wollte nicht mitfahren, aber er mußte. Und der kam auch nicht wieder. Drei Tage darauf fanden wir Petersen im Röhricht angeschwemmt. Meine Mutter war ganz still. Sie ist eine rasche Frau und kann nicht müßig gehen und niemand müßig sehen. Aber es hätte ein Unglück gegeben, wenn sie Fischer Petersen geheiratet. Arbeiten wollen und Geld verdienen wollen ist nicht dasselbe. Ich will arbeiten und will verdienen, was ich brauche, und einen Sparpfennig will ich auch zurücklegen, aber zehnmal lieber will ich kein Geld haben als nur um Geld arbeiten.«

Das war eine Darlegung, vor der Anna Hagen zunächst verstummte. Sie mußte sie erst in sich verarbeiten, fühlte aber doch, daß viel Schönes und Nachdenkliches in der Auffassung lag und daß sie sehr wohl auch mit einem männlichen Charakter in Einklang zu bringen war.

Nach einer Weile fragte sie mit sanfterer Stimme, als sie sonst zu sprechen gewohnt war: »Das Land bei Ihnen ist ganz anders als hier?«

»Ganz anders. Es hat nur Weite. Die Wiesen sind weit, und der Himmel ist weit, und das Meer ist weit. Ich habe mit dem Lande nie zurechtkommen können. Es liegt zu oft Angst darüber.«

»Angst über dem Lande?«

»Ja. Man kann sich nirgends verstecken.« Er wies in das Tal hinab. »Sehen Sie, da drunten gehe ich zehn Schritte in den Wald, und niemand sieht mich.«

»Sind Sie furchtsam?«

Pimpfel lachte. »Nein, das bin ich nicht. Ich meine bloß so, man ist – – Ich meine, man ist aufgehoben. Aber am Meere da ist man nicht aufgehoben. Da stehen die Fischerfrauen bei jedem Sturm und beten und ringen die Hände. Und wenn es einen schon nichts angeht, und wenn man niemand draußen hat, man ist so ganz, ganz klein, ohne auch nur ein bißchen Freude, und alles ist unheimlich. Hier freue ich mich, wenn der Sturm geht, und ich laufe am liebsten über das Land, wenn mich der Wind zaust; denn ich sehe überall Dörfer, und in der Nacht sehe ich Lichter, und ich weiß, daß da Menschen wohnen.«

»Sie wollen bei Meister Hempel bleiben?«

»Ja, das will ich. Ich kann den guten Mann nicht allein lasten, und allmählich fange ich auch an zu hören, wenn die alten Dinge Geschichten erzählen.«

Dazu schüttelte Anna Hagen nicht den Kopf. Sie sah still vor sich hin und sagte nur leise: »Aber anders muß es doch werden.«

»Ja,« bekräftigte Pimpfel, »und Sie müssen wiederkommen.«

Das Mädchen ward einer Antwort enthoben. Von der Spitze der Schwedenschanze herab polterte ein großer Stein, schlug da auf und dort und sprang zuletzt in hohem Bogen über die beiden hin.

Anna Hagen riß Pimpfel empor. »Kommen Sie. Das war nicht von ungefähr.«

Sie hastete hinüber auf die Straße, drückte Pimpfel die Hand und bat: »Gehen Sie heim.«

Ehe er zu antworten vermochte, lief sie auf schmalem Steige dem Schlosse zu. Heinrich Pimpfel stand einen Augenblick verdutzt, dann aber ging er raschen Schrittes ein Stück auf der Hauptstraße zurück und bog links ab, den Fußsteig auf die Schwedenschanze zu. Da hörte er einen Mann daherkommen. Er war kurz und kantig.

»'n Abend,« sagte Pimpfel. »Haben Sie einen Stein von dem Felsen herabgeworfen?«

»Ich? Warum soll ich denn einen Stein herabgeschmissen haben?«

»Aber Sie waren auf der Schwedenschanze?«

»Das geht dich den Dreck an, wo ich war.«

»Ja. Aber wenn du den Stein herabgeworfen hättest, dann würden wir anders miteinander reden.«

Würfel lief brummend davon, und Pimpfel hörte nur noch von weitem etwas von hergelaufenen Leuten.

Er stieg höher, kam auf die Spitze, der Platz war leer. Aber es war hier oben noch schöner als drunten. Die Sonne sank, die Berge dunkelten, schwarze Schatten woben in den Tälern. Und alles in tiefen Frieden gebettet.

Anna Hagen war nicht heimgegangen. Sie hatte den Steig eingeschlagen, der rechts am Schlosse vorüberführte, stand da und wartete. Es geschah, wie sie gerechnet hatte, Paul Würfel kam daher.

Da trat ihm das Mädchen in den Weg. »Also ich habe doch richtig gedacht. Du willst einer rechtschaffenen Mutter rechtschaffener Sohn sein?«

»Was willst du denn von mir? Ich denke, wir zwei sind fertig miteinander?«

»Ja, so fertig, daß du mich totwerfen wolltest.«

»Dich? Ich – weiß überhaupt nicht – –«

»Das weißt du ganz genau. Du hast es ja auch eben verraten. Schäm dich in deine Seele hinein! Und das sage ich dir: Geh fort, ehe es ein Unglück gibt.«

Würfel lachte. »Mach keinen Schimmel schwarz. Mit dem Uhrmacher werde ich doch noch alle Tage fertig.«

Anna Hagen lohte auf. »Überhaupt kann ich dich jetzt schon anzeigen.«

»So. Was weißt du denn? Gar nichts. Denkst du etwa, die Leute reden schön von dir? Das bilde dir nicht ein. Kaum kommt der Kerl daher – –«

»Ach, ich denke, ich habe ihn schon früher gekannt.«

»Das kommt extra dazu.«

»Geh zu den alten Weibern. Da gehörst du hin. Ich hatte mehr von dir gehalten. Wir brauchen uns aber gar nicht zu streiten. Der Fremde geht mich so wenig an wie dich.«

Husch, war sie weg. Würfel ging heim.

Auch Heinrich Pimpfel kehrte zurück, die Seele zum Bersten voll von der Herrlichkeit des Abends. Er schlug den Weg in das Tal ein, ging an der Saale entlang und begegnete »zufällig« Olga Krause, die ihn von weitem hatte kommen sehen.

Ach, was war die Alte süß und mitteilsam, und was wußte sie Gutes von Anna Hagen zu erzählen! Es war so viel, daß selbst der harmlose Pimpfel merkte, wohinaus sie wollte, und ganz übermütig ward. Nicht wahr, sie hatten sich schon früher in Konitz kennengelernt? Konitz? Lag das nicht im Monde, gleich rechts, wenn man hereinkam? Richtig, er erinnere sich ganz genau. Wenn man so viel gesehen habe wie er, komme man manchmal nicht gleich zurecht. Also natürlich. Sie kannten sich schon von Konitz her. Nicht wahr? Ja, ja. »Aber was hast du denn so Großes gesehen?«

Pimpfel hatte alles gesehen, wovon er gelesen oder gehört. Das Meer. Nun, das hatte er gesehen, aber die Wellen, so hoch wie der Turm von St. Bartholomäi, die hatte er nicht gesehen, obwohl er es erzählte. Und die Sägefische, die den Menschen mitten entzweisägen, auch nicht, bis auf die Säge in Fischer Petersens Haus. Auch die Haifische hatte er nicht gesehen, aber von den hohen Bergen, auf denen ewiger Schnee lag, hatte er herabgesehen, behauptete er. Ewiger Schnee? Ach nein, das konnte Olga Krause doch nicht glauben. Was, das glaubte sie nicht? Wie sie sich denn überhaupt solch einen Berg dachte? Dahinauf gelange man nur auf allen vieren, und wenn man beherzt genug sei, könne man mit der Hand glatt einen Blitz einfangen. Aber man müßte Handschuhe anziehen, um sich nicht zu verbrennen. Dann habe er wohl auch wilde Tiere gesehen? Wilde Tiere? Ach, du liebe Zeit, nach denen gucke er überhaupt nicht mehr hin. Das Schlimmste seien die Giraffen. Darum hießen sie auch Gier-Affen. Aber, um wieder auf Anna Hagen zu kommen, meinte Olga Krause: Wenn es nicht zu unbescheiden sei, man habe doch das Mädel aufwachsen sehen, also, wenn es nicht zu unbescheiden sei: Wann solle denn nun die Hochzeit sein?

Pimpfel lachte hell auf und neigte sich herab zu der Neugierigen. Er rechne auf ihre Verschwiegenheit. Nicht wahr, das könne er doch? Unbedingt. Ja, also, sie hatten gedacht, wenn der Mond Junge kriege. Das stünde bevor. Wahrscheinlich sei es in höchstens sechs Wochen. Alle Zeitungen schrieben schon darüber. »Gute Nacht,« Pimpfel ging lachend davon.

Olga Krause kniff den Mund ein. Das mit dem Monde, das war am Ende nicht wahr, aber von den Gier-Affen hatte schon ihre Mutter erzählt. Und all das andre! Wenn man es sich zurechtlegte, dann war alles wahr. Und sie wußte es! Sie! Unter diesen Umständen war der Weg zu der stolzen Witwe Berndt wieder frei; denn die Neuigkeiten schlugen die Brücke zu ihr unter allen Umständen wieder. Es war eine jammervolle Zeit gewesen. Man hatte gar nicht mehr gewußt, wohin. Das Leben war so schal und nüchtern gewesen.

Ei, sieh da, da kam ja auch Würfel durch das Mühlengehöft. Nein, solch ein Glück! Und er blieb stehen und sagte: »Na, alte Schachtel, hast du den Oldenburger nicht gesehen?«

»Freilich habe ich ihn gesehen. Und ich weiß noch viel mehr.«

»Ach, was du schon weißt!«

»Nun, vielleicht interessiert es dich, daß in sechs Wochen Hochzeit ist.«

»Was? In sechs Wochen?«

»Auf den Tag genau. Hempel gibt ihnen sein ganzes Zeug.«

»Der Teufel soll's ihnen segnen!«

»Was sagst du?«

»Ich meine, mir kann's egal sein.«

»So, so. Es wird doch kein Unglück geben?«

»Das kommt darauf an, wer stärker ist.«

War es ein Wunder, daß, als sich Olga Krause in ihr Bett kuschelte, ein glückliches Menschenkind schlafen ging? Ach, die schöne, schöne Welt mit ihren Neuigkeiten!

Adolf Hempel war inzwischen erwacht. Es war finster und er fror. Indes er Licht anzündete, stellte sich ein unangenehmer Gast ein. Der Meister hatte sich auf dem Sofa erkältet. Er hatte nur noch einen einzigen Zahn, den Eckzahn im linken Unterkiefer, und der tat weh.

Als Pimpfel heimkam, saß der Alte auf der Ofenbank, einen Lappen um den anderen an den nunmehr fast glühenden Ofen hallend, und wärmte die schmerzende Stelle. Aber das Rumoren hörte nicht auf. Da schlug Pimpfel ein kaltes Fußbad vor. Von dem wurde es noch schlimmer. Da schlug er ein heißes Fußbad vor. Die Schmerzen wurden unerträglich. Jetzt wußte er nur noch ein Mittel. Heraus mit dem Zahn. Ob er denn wackle? Nein, nein, er sitze ganz fest. Der Meister möge doch einmal herzeigen. Um alles in der Welt nicht. Dann sei der Geselle am Ende so niederträchtig, den Zahn herauszureißen.

»Was wäre denn weiter dabei?«

»Du hast die Schmerzen nicht.«

»Ach, Zahnschmerzen! Wenn's weiter nichts ist.«

»Was, Zahnschmerzen sind die allerschlimmsten Schmerzen. Eher kann man sich ein Bein abhacken lassen. Das tut nicht so weh.«

»So. Zahnschmerzen habe ich auch schon gehabt. Das mit dem Beine weiß ich nicht.«

Es war inzwischen halb zehn geworden. Keiner der beiden hatte an Essen gedacht. Da schlug Hempel vor, zu Bett zu gehen. Vielleicht werde es im Bett besser. Es wurde vollends schlimm. Gerade als die Uhr von St. Bartholomäi zwölf schlug, setzte sich der Meister auf Pimpfels Bettrand und sagte: »Fühl einmal.«

Der Zahn saß nur noch im Fleische und wackelte wie eine Weide im Winde. Nun Pimpfel einmal den Finger in des Alten Mund hatte, begann er auch, den Übeltäter stärker zu bewegen. Hempel umklammerte des Gesellen Hand mit beiden Händen. Ja doch, er war damit einverstanden, daß der Zahn herauskam, aber weh durfte es nicht tun. Knack, hinüber, knack, herüber. So, jetzt nur noch in die Höhe. Ja, wenn der Meister nicht mit in die Höhe gegangen wäre! Er ging aber hoch, immer höher, so hoch er vermochte. Den Finger in des Alten Mund, sprang Pimpfel aus dem Bette, ein Stöhnen, da war der Zahn.

Hempel nahm den Scherben und ging schweigend in seine Kammer, indes sich der Gehilfe wieder einhüllte. Er war eben im Einschlafen, da kam der Alte wieder und sagte: »Ich habe es mir überlegt, du wirst sie heiraten.«

Draußen war er, die Tür schnappte hinter ihm zu.

Pimpfel aber lachte in sich hinein. Das Lachen war nicht ganz frei. Heiraten! Du wirst sie heiraten. Wenn ein junges Mädel und ein junger Mann drei- oder viermal miteinander geredet haben, dann ist das nächste: Heiraten. Es ist zum Lachen, das heißt, es ist im allgemeinen zum Lachen und wäre es auch in diesem besonderen Falle, wenn das Mädchen nicht eben Anna Hagen wäre, in ihrer Art der Mutter ähnelte und so schlank und gesund und – hübsch wäre. Denn das weiß Heinrich Pimpfel jetzt: Sie ist hübsch. Wie und warum? Das weiß er nicht. Aber ihr Gesicht ist hübsch, ihre Hände sind es, ihre Augen, ihre Arme. Warum sollte er sie also nicht heiraten wollen? Nun, vorerst muß sie gefragt werden, und das ist schwer; denn er, Heinrich Pimpfel, was hat er denn in die Waagschale zu werfen? Sich selbst? Was ist er? Er hat noch nie gehört, daß er ein hübscher Kerl wäre, hat überhaupt mit den Mädeln noch nichts zu tun gehabt, kann nicht einmal tanzen. Und dann: Die Mutter hat immer ein einfaches Rezept gehabt. Bring's zu was, dann heirate! Bislang hat er es zu nicht mehr gebracht als zu fünfunddreißig Talern, die daheim auf der Sparkasse liegen. Hier, bei dem guten Adolf Hempel bringt er es überhaupt zu nichts. Er hat ja nicht einmal einen bestimmten Lohn ausgemacht. Was sie haben, das haben sie beide. Das ist töricht, ja, gewiß doch, aber ihm, Pimpfel, ist das Geld immer so nebensächlich gewesen. Es dauert lange, bevor er einschläft.

Am anderen Vormittag hat er so viel mit des Christmannsdorfer Müllers dritter Uhr, die er auch gern mitnehmen möchte, zu tun, daß das Gespräch zwischen den Uhrmachern nicht über das Alltäglichste und Nötigste hinauskommt.

Der Meister hat irgend etwas im Städtchen zu besorgen. Als er an der Post vorübergeht, tritt gerade der alte Ender, einer der Briefträger, aus der Tür und gibt ihm einen Brief von Heinrichs Mutter. Der legt ihn dem Gesellen auf den Arbeitstisch.

Pimpfel achtet nicht darauf. Er nickt dem Alten nur zu und arbeitet weiter. Um ihn nicht zu stören, geht Hempel stillschweigend hinaus, die Turmuhren aufzuziehen. Indes ist der Geselle mit der Arbeit fertig und langt nach dem Briefe.

Die Mutter schreibt: »Lieber Sohn! Ich muß mich über Deine Briefe wundern. Es mag gewiß schön bei Euch sein. Du darfst aber nicht vergessen, daß es daheim immer am schönsten ist. Mit Jochen Petersen hast Du recht. Er wollte mich heiraten und war ein ansehnlicher und fleißiger Mann. Aber er glaubte, er sei nur zum Geldverdienen da, und wiewohl niemand so leichtfertig sein darf wie Du, so ist es doch nicht richtig, wenn das Geld Herr wird über den Menschen. Wenn aber der Mensch immer dessen Herr ist, so mag er so viel verdienen, als er will, er wird keinen Schaden davon haben. In der Hinsicht mache ich mir nun bei Dir keine Sorge. Aber das gefällt mir doch nicht, was Du über Euer Leben schreibst. Von hundert alleinstehenden Frauen werden neunundneunzig gut wirtschaften, aber bei den Männern ist das umgekehrt. Du, lieber Sohn, brauchst eine feste Hand; denn Du bist zu gutmütig, und das ist liederlich. Dein Meister aber scheint noch gutmütiger zu sein, und also ist er auch noch liederlicher. Womit nichts gegen des Mannes gutes Herz gesagt ist, aber die Welt tritt gute Herzen mit Füßen. Seit Du in Langenbrück bist, hast Du mir noch keinen Pfennig geschickt. Du weißt, daß ich das Geld nicht für mich verlange und auch nicht brauche. Ich lege es für Dich auf die Sparkasse. Aber seit einem halben Jahre ist nichts dazugekommen. Also sehe ich, daß Du am falschen Platze bist, und rate Dir, weiterzugehen, wobei es mir auch gar nicht gefallen will, daß Du von einem Mädchen schreibst. Du kennst die Mädchen nicht. Eine Frau kennt den Mann in den ersten zehn Minuten, der Mann aber die Frau auch in zehn Jahren noch nicht. Was ich damit meine, das wirst Du verstehen. Und dann will ich Dir noch sagen: Habt Ihr denn dort keine jungen Leute? Unter die gehörst Du, und wenn es einmal bunt hergeht, so ist das gerade für Dich kein Schade. Nur gefallen lassen darfst Du Dir nichts. Wer sich zum Esel macht, der muß Säcke tragen. Er verdient es aber auch nicht besser. Und nun, mein lieber Sohn, hoffe ich bald von Dir zu hören, daß Du Deine Füße weitersetzest, vorher aber Geld schickst Deiner Mutter, die Dich herzlich grüßt.«

Der Brief erregte Pimpfel nicht. Er hatte viele Vorgänger, die sich kaum von ihm unterschieden. Die Bemerkung über Anna Hagen nötigte ihm ein Lächeln ab. Im übrigen hatte er keine Zeit zum Nachdenken. Er mußte fort. Den Brief vergessend, sprang er die Treppe hinauf, zog sich um und trat, die drei Uhren auf dem Rücken, aus dem Hause, als Hempel eben die Rathaustreppe herabkam. Er grüßte rasch hinüber und schritt wacker aus.

Es war abermals ein sonniger Tag, aber der Herbst neigte zum Abschiednehmen. Die rote Glut der Blatter verblaßte. Draußen wehte ein rauher Wind, und eine schwere Wolkenwand stand graublau im Nordosten. Pimpfel wählte den kurzen Weg an der Saale entlang. Wieder war es ein wundervolles Wandern, wenn auch ohne die Heimlichkeiten der Nacht.

Auf der Höhe von Dörflas fragte ein Arbeiter den rasch Ausschreitenden, ob er etwa zur Kirmes nach Christmannsdorf wolle. Nein, entgegnete Pimpfel, er wisse gar nicht, daß da Kirmes sei. Aber die Frage hatte ihn doch neugierig gemacht. Kirmes und Tanz! Wie man wohl hier die Feste feierte?

Müller Menge stand in der Tür, rauchte und sah nach dem Wetter aus. Er erzählte lachend, daß er erst heute früh vom Dorfe heimgekommen sei. Sie hatten Kirmes gefeiert, und das sei immer eine höllische Arbeit. Im übrigen habe er seinem Bruder und zwei anderen mehr im Kartenspiele abgenommen, als seine Zeche gekostet habe. Und nun wollten sie essen. Gäste hätten sie außer ihm nicht. Er hielte nichts von Kirmesbesuchern; es sei falsch, Besuche auf einen bestimmten Tag festzulegen. Man gehe, wenn man Lust habe und damit rechnen könne, daß man willkommen sei.

So hatte Heinrich Pimpfel in seinem Leben noch nicht zu Mittag gegessen, und einen so voll besetzten Tisch hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Gans, Ente, Hasenbraten, Karpfen, von jedem zwei Schüsseln voll. Um den Tisch der Müller und seine Familie, dazu zwei Knechte und drei Mädchen. Menge führte das Wort als Hausherr, dem man sein Übergewicht auch nicht mit einem Augenzwinkern streitig machte. Er neckte sein Gesinde. Die Scherze waren derb und wurden lachend eingesteckt oder errötend abgewehrt. Die Abwehr ließ der Müller nicht gelten. Als sein Junge einen Scherz ausdeuten wollte, sah ihn der Vater groß an. Da schwieg der Junge.

Heut trug die Hausfrau ab und zu. Das Gesinde hatte Feiertag. Nichts blieb ungegessen. Die Schüsseln wurden sämtlich leer, und immer nötigte der Müller zum Essen. Er tat es einmal im Jahre, zur Kirmes. An den übrigen Tagen war jedes für sich selber verantwortlich. Nach dem Essen empfing das Gesinde sein Kirmesgeld, die Knechte je einen Taler, die Mädchen zwei Mark, und trollte davon.

Faul lehnte sich Menge in die Sofaecke und nötigte Pimpfel neben sich. Er plauderte von Meister Hempel wieder in der wohlwollend mitleidigen Art, in der er es bereits das vorige Mal getan. Dann brachte er die Rede auf Anna Hagen. Das geschah nicht unabsichtlich, sondern darum, weil man ihm in Langenbrück erzählt hatte, sie scheine mit dem Oldenburger zu gehen. Des Müllers Ausführungen liefen darauf hinaus, daß das Mädchen ein schweres Geschick gehabt habe, daß sich aber jeder Mann zu ihr gratulieren könne und daß sie insonderheit für die Hundetürkei die einzig Richtige sei, vorausgesetzt, daß Pimpfel überhaupt zu bleiben gedenke.

Es war eine Stunde lang ein behagliches Plaudern. Wohl geschah es, wie es eben dem selbstbewußten Manne natürlich war, von einer gewissen Höhe herab, aber doch ohne verletzende Überlegenheit. Der schlanke, blonde, feine Mensch gefiel dem Riesen. Es zog ihn irgend etwas zu ihm.

Die Müllerin wollte den Kaffee auftragen, aber ihr Mann wehrte ab. Nein, sie müßten sich erst ein wenig die Beine vertreten, das Essen müsse sich setzen. So schlenkerten die zwei durch das Gehöft. Unter einem Schuppendach stand eine Reihe schwerer Gewichte. Da gedachte Menge, einen Scherz zu machen. Wie im Spiel nahm er ein Zentnergewicht und stemmte es in die Höhe. Er tat es ein dutzendmal, setzte das Gewicht ab und sagte: »So, nun mach's nach!«

»So oft bringe ich es nicht fertig,« erklärte Pimpfel.

Der Müller lachte schallend: »Mensch, das bringst du überhaupt nicht fertig, 'n Taler geb ich dir, wenn du den Zentner stemmst.«

Pimpfel sah ihn an. »Warum soll ich dich um einen Taler bringen?«

Da ward der Müller ernsthaft. »Was ich gesagt habe, das habe ich gesagt, aber wenn du dir Schaden tust, geht's auf deine Rechnung.«

»Ich tue mir keinen Schaden.«

Heinrich Pimpfel bückte sich, faßte den Zentner und stemmte ihn viermal. Der Müller riß die Augen auf. Das hatte man doch wahrhaftig noch von keinem Uhrmacher gehört. Woher der Geselle das habe?

»Das verdanke ich meiner Mutter.«

»Ist die so stark?«

»Stark ist sie auch, aber vor allen Dingen hat sie mich in den Turnverein gejagt. Zuerst hat mir das wenig gefallen, aber nachher hat es mir Spaß gemacht.«

»Jetzt gefällst du mir noch einmal so gut. Ich wundre mich nur, daß dir die feinen Räder nicht unter den Fingern zerbrechen. Komm, ich will dir etwas zeigen.«

Sie gingen an den Bach. Der Müller überquerte ihn von Stein zu Stein. Pimpfel nahm Anlauf und sprang mit einem Satz hinüber.

Das könne sich der Müller nicht gefallen lassen, erklärte der, nahm ebenfalls Anlauf und – sprang in das Wasser. Wie ein Pfeil flog der Uhrmacher hinter ihm her und landete auf festem Boden. Da war Menge ganz betreten. Mißtrauisch sah er den Gast an und fragte: »Bist du überhaupt ein Uhrmacher?«

»Was soll ich denn sonst sein? Meinst du, deine Uhren sind von allein wieder ganz geworden?«

»Das stimmt. Wie hast du das überhaupt fertiggebracht?«

»Ich habe gearbeitet, weiter nichts.«

»Komm, ich will dir etwas zeigen.«

Diesmal überquerten sie beide den Bach von Stein zu Stein. Unmittelbar am Wehrsturze lag ein Felsen, der bachabwärts tief ausgehöhlt war. Menge trat vorsichtig heran an das Wasser. Da standen in der Höhlung wohl zwanzig Forellen, eine dicht an der anderen. Sie standen unbeweglich, spielten kaum dann und wann leicht mit den Flossen, und es schien, als warteten sie auf etwas.

»Warum fängst du die nicht?« fragte Pimpfel.

Wieder sah ihn der Müller ernst an. »Dir nehme ich es nicht übel, daß du fragst; denn du bist fremd unter uns. Wenn es einer von unseren Leuten gesagt hatte, wäre ich grob geworden. Die Forellen haben Eier. Sie sind ganz voll davon. Nun stehen sie Tag für Tag da und warten. Soll man die Tiere jetzt wegfangen? Das wäre niederträchtig, so niederträchtig, als wenn ich eine Mutter mit ihrem Kinde totschlagen wollte. Aber es gibt solche Lumpen. Voriges Jahr habe ich einen aus Christmannsdorf erwischt, wie er die Fische wegfangen wollte. Es war ein Bauer, der sechzig Morgen unter dem Pfluge hat. Ich habe ihn hergenommen und mit dem Kopfe unter das Wasser gehalten, bis er blau anlief. Alles kann ich vertragen, bloß nicht, daß einer ein Stück Vieh ist. Wenn mir im Sommer einer Fische mausen will, mag er es machen. Nur erwischen darf er sich nicht lassen. Aber hier die wartenden Tiere wegfangen – – gnade Gott, wenn ich wieder einen dabei ertappe!«

Während des Kaffeetrinkens legte Menge einen Taler neben Pimpfels Tasse und erklärte seiner Frau den Zusammenhang. Die hatte ebensoviel Gesundes und Starkes wie ihr Mann. Man konnte sie vielleicht mit Anna Hagen vergleichen, aber sie war größer und breiter als die.

Pimpfel wollte den Taler nicht nehmen. Da nickte ihm die Müllerin zu und erklärte, es schade ihrem Manne gar nichts, wenn er eine Lehre empfange. Er denke, es gäbe außer ihm keinen starken Menschen auf der Welt.

»Aber ein Uhrmacher!« fiel der Müller ein.

»Ist ein Uhrmacher nicht auch ein Mensch?«

»Der Kreuzweis ist keiner.«

»Das verstehst du nicht,« sagte die Frau. »Der ist stark nach der anderen Seite hin.«

»Nee,« wehrte der Müller ab, »der ist weder hinten noch vorne stark.«

»Aber er ist es inwendig,« beharrte die Frau.

»Ich möchte wissen, wo.«

»Denkst du etwa, daß er sich freut, wenn ihn alle Welt den Kreuzweis nennt und über ihn lacht?«

»Ach, Frau, daran hat er sich doch lange gewöhnt.«

»An so etwas gewöhnt man sich nicht, und du könntest sachte anfangen, ihn zu nennen, wie er heißt.«

»Nanu! Was sagst denn du dazu, Oldenburger?«

»Daß deine Frau recht hat.«

»So. Darüber müssen wir mehr reden. Frau, nun pack mal dem Oldenburger ordentlich was ein, daß der – – Hempel heißt er ja wohl, – daß der Hempel auch was von unserer Kirmes zu spüren kriegt.«

Es half nichts, Pimpfel mußte hernach mit Menge über Christmannsdorf gehen. Unterwegs plauderten sie von Meister Hempel, der Müller ward still, schüttelte nur den Kopf und sagte zuletzt: »Jetzt wird es schwer herauszubringen sein. Er ist auch selber nicht ohne Schuld. Warum wehrt er sich nicht! Aber es ist wahr. Man hat sich das noch gar nicht so überlegt. Und nun ist der Mann ein Sechziger!«

Auch auf den Tanzboden schleppte der Müller den Uhrmacher. Er ließ keinen Einwand gelten. Ein Kerl, der Zentnergewichte stemme, dürfe sich nicht verkriechen, sondern der gehöre unter das Jungvolk. Damit winkte er seine Großmagd heran. »Du, der kann nicht tanzen. Nun bring's ihm mal bei.«

Um aber Pimpfel von vornherein den Weg zu ebnen, trat der Müller zu den ältesten Burschen. »Ich will euch was sagen: Schindluder wird mit dem nicht getrieben, sonst bin ich da. Er kann noch nicht tanzen, aber er stemmt ein Zentnergewicht viermal. Ihr seid alle gute Kerle, wenn ihr auch mal einen Jux macht. Den könnt ihr machen, wenn er wiederkommt. Dann wird er euch schon zu antworten wissen. Heute nicht. Hier ist etwas in die Kirmeskasse. Und nun macht euer Zeug.«

Einmal im Jahre saß dem Müller, wie fast allen Bauern, das Geld locker im Beutel, am Kirchweihtage. Es dauerte nicht lange, so glühte Heinrich Pimpfel vor Eifer. Die Burschen verstanden es, ihm die vierschrötigsten Mädel in den Arm zu spielen. Mit ihnen hopste Pimpfel wie ein Füllen. Aber nach dem dritten Tanze versuchte er, die Füße taktmäßig zu setzen. Nach dem sechsten ging es, und nach dem achten holte er sich kurzerhand das schlankeste, hübscheste Mädel im Saale und führte es ganz manierlich durch die wirbelnde Menge. Es wurde ihm warm, und als er sich gegen sieben auf den Heimweg machte, war er verliebt in die kleine, feine Dorfschneiderin.

Der Müller, der das Spiel beobachtet hatte, ging zehn Schritte mit ihm die Dorfstraße hinab. »Du,« sagte er, »das ist nichts für dich, und so war es nicht gemeint. Wenn ich dich richtig einschätze, brauchst du eine Frau so, wie meine ist. Das ist die kleine Berta Korn nicht. Ihr zwei kämt im Leben zu nichts. Außerdem ist sie krank. Ich weiß es nicht, aber ich denke, sie hat die Schwindsucht. Das kommt vom vielen Sitzen. – So, nun komm gut heim, und wenn du Lust hast, dann such mich wieder einmal auf. Du kannst kommen, auch wenn nicht Kirmes ist.«

Der Heimweg war wunderschön. Es begegnete kaum jemand dem Wandernden, der nachdenklich dahinschritt. Ganz weit drüben, scheinbar aus dem Forst herauf, sah man die Lichter von Liebenberg, rechts drüben, von Schöndorf her, bellten die Hunde, Käuzchen schrien im Walde; oberhalb von Langenbrück angekommen, sah man die Saale im Grunde, und von der Hemmkoppe herüber kollerte der hohle Schrei eines Uhus.

Meister Hempel hatte sich ein wenig um seinen Gesellen gesorgt. Nun war er froh, als der lachend zur Tür hereintrat. Den auf dem Werktisch liegenden Brief hatte der Meister nicht gelesen. Als sie zum Abendbrot die Herrlichkeiten aus der Mühle zur Hälfte verzehrt hatten und der Geselle seine Erlebnisse berichtet, dachte er an den Brief der Mutter.

Er langte danach und fragte: »Hast du ihn schon gelesen?«

»Nein. Wie könnte ich denn das?«

»Aber du kannst doch meine Briefe lesen! Hier. Es steht natürlich auch dummes Zeug drin, wie die Mütter halt einmal sind.«

Hempel las den Brief, neigte den Kopf tief und sagte: »Sie hat ganz recht.«

»Womit hat sie recht?«

»Mit allem.«

»So. Dann will ich dir sagen, daß ich sechsundzwanzig Jahre bin.«

»Sie ist deine Mutter.«

»Ja. Und ich werde ihr keine Schande machen, aber fortgehen tue ich nicht.«

»Ach Gott, Heinrich!«

»Was denn? Tut dir wieder ein Zahn weh?«

»Ich habe ja keinen mehr, aber was machen wir bloß mit dem Gelde?«

»Gar nichts. Sie hat recht, sparen muß man, aber man kann es nur, wenn man etwas hat.«

»Wir haben ja fünfzehn Taler.«

»Laß sie liegen. Wenn wir fünfzig haben, fangen wir einen Laden an.«

Hempel starrte den Gesellen an. Einen Laden! Das hatte er doch – geträumt. Einen Laden und – Anna Hagen. Selig nickte er. »Und dann heiratest du.«

»Ach, heiraten! Dazu gehören zwei. – War Kundschaft da?«

»Fleischer Wiedner hat seine Taschenuhr gebracht, und nach Altenbeuten sollen wir kommen.«

»So, das ist recht. Nur Arbeit her!«

»In Altenbeuten weiß ich noch ein paar Krüge.«

»Dann kauf sie doch.«

»Wenn wir aber den Laden anfangen wollen –«

»Der läuft uns nicht davon, aber die Krüge könnten Beine kriegen.«

»Heinrich, dich hat mir der liebe Gott geschickt.«

»Nein, meine Mutter. Warum hat sie's gemacht! Nun ist es ihr ganz recht, wenn sie sich ärgern muß. – Ich geh schlafen. Mir tun die Beine weh vom Tanzen, aber – schön war's doch. Gute Nacht.«


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