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4.

Von drei Seiten her treffen die Posten in Langenbrück zusammen, und nach drei Seiten fahren sie hinaus. Nach Schleiz, Lobenstein, Pößneck. Schleizer und Pößnecker Post warten einander ab, die Lobensteiner fährt zwei Stunden früher aus dem Städtchen hinauf, weil sie Anschluß an die Verbindung nach Bayern kriegen muß.

Der »Schwager« Postillon bläst, drei Reisende, zwei Männer und eine Frau, steigen ein. Maria Pimpfel lehnt sich in die Ecke und schweigt. Die Reisenden unterhalten sich. Es sind zwei Lobensteiner Geschäftsleute, die von längerer Reise zurückkehren. Sie sprechen mit viel Liebe von ihrem Städtchen. Draußen? Nun ja, man muß hinaus, aber am schönsten ist es zu Füßen des grauen, tausendjährigen Turmes. Mutter hat Stollen gebacken. Großmutter wird natürlich wieder Zwiebeln aufstellen. Die heilige Zeit beginnt doch. Da stellen die alten Frauen Zwiebelschalen auf, zwölf, entsprechend der Zahl der Monate. Nach der Feuchtigkeitsmenge, die sich in den Schalen sammelt, schließen die Großmütter auf Regen oder Trockenheit in den betreffenden Monaten. Man lacht darüber, nun ja, aber es ist doch viel schönes altes Volksgut, das besonders in der heiligen Zeit lebendig wird. Auch die alten Lieder wirken hier im Berglande ganz anders.

»Können Sie sich denken, daß: Stille Nacht, heilige Nacht, sagen wir, draußen in der Ebene klingt?«

»Nein. Zwischen den Bergen ward es zuerst gesungen, zwischen den Bergen lebt es.«

»Sie irren,« sagt Maria Pimpfel aus ihrer Ecke her, »es lebt auch in der Ebene, wenn der Sturm vom Meere her dazu singt.«

Und es hebt im leise gleitenden Postschlitten ein Ringen, Heimat gegen Heimat, an. Während aber die Männer mit ihren Erörterungen nicht zu Ende kommen, lehnt sich die Frau nach kurzer Zeit wieder schweigend in die Ecke. Sie lauscht, und alles, was sie erlauscht, ist zugleich Last und Befreiung. Wie das Bergland in den Männern lebt, wie es sie an sich zieht, wie sie es draußen mit sich tragen! Keinen Deut kleiner sind sie als das harte Geschlecht, zu dem sich Maria Pimpfel zählt. Sie sind anders, aber es ist müßig, das Wie erörtern zu wollen. Es hat jetzt überhaupt keinen Zweck mehr, sich mit Erwägungen zu quälen. Was nun kommen, wie es nun werden wird, das läßt sich nicht errechnen und ausklügeln. Jetzt müssen die Herzen angeschlagen werden. Ströme aus dem Innersten müssen ineinander münden, sonst – bleibt die Schuld ungetilgt und ungesühnt.

Nach langer Fahrt bergauf und bergab, durch Dörfer, deren Häuser und Kirchen alle mit Schiefer gedeckt, ja oft von unten bis oben damit beschlagen sind, durch Wälder, deren schneebeladene Tannen am Wege stehen wie freundliche alte Frauen, die das Strickzeug feiernd ruhen lassen, klingelt der Schlitten in das Städtchen. Wie Langenbrück von seinem »Schlosse« beherrscht wird, so Lobenstein von dem grauen, runden Turm. Aber es ist doch ein Unterschied zwischen den Städtchen. Lobenstein ist heiterer, die Heimfreude scheint hier noch größer zu sein. Der Wald rückt dichter heran, die Häuser stehen mehr auf einem Haufen, nicht in zwei langen Zeilen. Der Turm auf der Höhe ist nicht hartkantig, sondern rund. Er ist von einem Blitzstrahl aufgerissen. Darin läge etwas Drohendes, würde es nicht aufgehoben heute durch den dicken weißen Flausch und im Sommer durch viele kleine, lustige Birken- und Ebereschenstämmchen, die sich in den Wunden des alten Wächters heimisch gemacht haben, ohne ihm weh zu tun. Schmarotzer sind sie nicht. Keines der Bäumchen sprengt ihn, jedes stirbt nach kurzen Jahren so lustig und leicht, wie es gelebt hat, und räumt den Platz einem Kameraden, der ebenso lustig und kurzlebig ist.

Man durchschreitet einen kleinen Park. Zu seiten des Weges stehen hohe, schöne Ahornbäume. Auf dem Teiche zur Linken laufen die Kinder Schlittschuhe. Der Markt ist größer, gradliniger, abgeschlossener als in Langenbrück. Dafür fehlt ihm das Spitzwegsche. Es stehen da und dort wohl einige alte Häuser, aber im ganzen scheinen die Gebäude neuer zu sein.

Linker Hand ist ein Wirtshausschild. Das Haus ist breit und behäbig. Maria Pimpfel kehrt ein und fragt, ob sie unterkommen könne. Man ist zwar überrascht – Weihnachten hat Lobenstein keine fremden Gäste –, aber die Frage wird freundlich bejaht. Die Wirtin, eine kleine, rundliche Frau, setzt sich einen Augenblick an den Tisch, plaudert von dem vielen Schnee und dem harten Frost, ist aber nicht neugierig. Über dem ganzen Städtchen liegt eine schwere Last. Gestern kamen zwei Bauerngeschirre mit Langholz vom Frankenwalde herein, und beide verunglückten auf der steilen Straße. Ein Mann ist tot, einer liegt schwer verletzt im Krankenhause, vielleicht daß er heute auch noch die Augen für immer zutut. Von den vier Pferden mußten drei abgestochen werden.

»Warum fahren denn die Leute jetzt Holz?« fragt Maria Pimpfel.

»Ja, wann sollen sie es denn tun? Sie sind arm, ach, sie sind sehr arm auf den kalten, flachgründigen Höhen. Sommer sind sie Bauern, im Winter allesamt Waldarbeiter. Es ist eine schwere, gefahrvolle Arbeit, die starken Stämme an den steilen Hängen herabzulassen, aufzuladen, auf den Lagerplatz an die Saale zu fahren, abzuladen. Von dem Platze aus werden sie dann talab geflößt, und das ist wieder eine harte Arbeit. Dabei sind die Leute so still und genügsam. Und immer sind sie heiter. Sie haben alle ihre bescheidenen kleinen Häuser, und, mag es ihnen noch so schlecht gehen, keiner will fort. Ja, wer zwischen den Bergen geboren ist, den halten sie fest.«

Am frühen Nachmittage steht Maria Pimpfel an der steilen Zufahrtsstraße vom Frankenwalde herein und sieht ein Langholzgeschirr nach dem anderen kommen. Wie die Männer jede Kurve berechnen müssen, die scharfzackigen Bremsen kaum einen Millimeter zu hart anziehen dürfen, weil sie sonst brechen. – So geschah ja gestern das Unglück. – Wo ist der Unterschied zwischen ihnen und den Fischern und Schiffern, die der Wellen Gang berechnen, sich ihm anpassen, ihm entgehen? Er ist nicht da, aber es ist ein Unterschied zwischen den Menschen. Die Leute sind hier kleiner und dunkler. Manchem sieht man es auch heute, nach tausend Jahren, noch an, daß er von dem Ostvolke, den Sorben, stammt. Daher kommt es wohl auch, daß ihnen der herrische, freiheitliche Zug der Friesen fehlt. Aber was können sie dafür, sie sind Nachfahren mit allen Fehlern und allen Vorzügen ihrer Ahnen, wie Maria Pimpfel eine Nachfahrin ist.

Im Grübeln und Suchen hat die Frau ganz vergessen, warum sie hier ist. Sie wendet sich zurück in das Städtchen und fragt einen halbwüchsigen Jungen nach der Wohnung des Geistlichen. Der gibt ihr Bescheid. In das alte Haus mit dem Torbogen müsse sie hineingehen.

Der Pfarrer ist ein müder, freundlicher Greis. Es ist das letzte Weihnachtsfest, das er im Amte feiern wird. Er hat zu tun, aber wie könnte er jemand abweisen! Das hat er niemals fertiggebracht.

Helle Augen leuchten der Besucherin ins Gesicht. »Ich heiße Maria Pimpfel und komme aus dem Oldenburgischen.«

Der Pfarrer steht tief bewegt vor ihr. »Maria Pimpfel, Hermann Pimpfels Frau, Christine Pimpfels Schwiegertochter? Lieber Gott, was läßt du mich noch erleben!«

»Man hat auf mich gewartet?«

»Sie wartet noch.«

»Herr Pfarrer, ich möchte mit Ihnen reden.«

Sie sitzen in dem Studierzimmer, über dem ein feiner Tabakgeruch liegt. Maria Pimpfel hat nicht vorgehabt, sich zu demütigen, und sie beugt sich doch so tief, daß der Greis ihre Rechte mit seinen beiden weichen Händen faßt: »Nein, nein, davon ist ja gar keine Rede. Mutter Pimpfel sollte Ihnen böse sein? Ach, lernen Sie sie doch erst kennen. – Nicht mehr anklagen, liebe Frau. Frieden wollen Sie machen? Es ist ja gar kein Streit. Kommen Sie. Die große Freude muß ich sehen.«

»Herr Pfarrer, so leicht kann ich es mir nicht machen. Und zürnt mir die alte Frau wirklich nicht, so muß ich doch alles, alles hervorholen und vor ihr ausbreiten, damit sie ganz klar sieht, was sie mir vergeben muß. Bitte, zeigen Sie mir das Haus, in dem sie wohnt, dann will ich heute abend zu ihr gehen.«

»Aber ich muß sie auf den Besuch vorbereiten.«

»Das mag wohl nötig sein. Sie ist eine Greisin.«

Der Pfarrer lächelt leise. »Ja, aber noch gesund und froh. – Dann wollen wir gehen. Es tut mir auch gut, wenn ich mich noch ein bißchen auslüfte.«

Sie wandern durch das Städtchen. »Sehen Sie, da an der Laterne müssen Sie sich links halten. Nun gehen wir rechts. Da wohnt Seiler Friedmann. Jetzt wird's ein bißchen einsam. Das Häuschen ist das letzte draußen. Der Turm bleibt rechts liegen. Da sind wir. – Wollen Sie warten? Nun, finden werden Sie schon. Aber das dürfen Sie mir nicht übelnehmen, wenn ich heute abend noch einmal herkomme. Unsere gute Mutter Pimpfel! Nein, wie das doch Gott wieder fügt!«

Auch Christine Pimpfels Häuschen ist mit Schiefer gedeckt. Die Fensterscheiben sind nicht gefroren. Man sieht blühende Blumen und grüne Blattpflanzen. Das Häuschen jauchzt nicht hoch auf vor Lebensglück, aber aus jedem Fenster leuchtet es: In der Welt ein Heim, im Heim eine Welt! Klein? Wenn man von einer Welt redet, muß man das Kleinsein ausschalten.

Hinter dem Hause senkt sich das Gelände. Hier schreitet ein schmaler Wiesengrund auf das Städtchen zu, den ein im Sommer immer fröhliches Bächlein durchwandert. Der Schnee hat alles eingeebnet und zugedeckt. Jenseits des Hanges beginnt der Wald. Es ist kaum weiter als dreißig Schritte hinüber.

Das alles ist Maria Pimpfel nicht fremd. So hat es ihr der Mann, der hier geboren ward, einst zu malen versucht, ganz erfüllt von dem Frieden, der Heimlichkeit und auch der schlichten Größe seines Daheims. Denn zuzeiten forderte die Abseitigkeit auch viel Kraft. Wenn die Blitze drüben in den Forst hineinzuckten oder wenn der Sturm brüllte, und kein Nachbar war nahe. Dann erforderte die Abseitigkeit Kraft, aber sie gab dafür auch gerade dann um so mehr. Das Gefühl der Geborgenheit in den Händen dessen, den nicht einmal das wilde Meer schreckt. Noch ein langer, stiller Blick auf das Haus, die Frau schreitet dem grauen Turme zu, um auch seine Stimme zu vernehmen.

Im behaglichen Stübchen aber ein munteres Plaudern.

»Wie geht's, Mutter Pimpfel?«

»Immer gut, Herr Pfarrer.«

»Ja, wer solch eine Lebenskünstlerin ist wie Sie.«

»Wo ist denn da die Kunst? Ich habe mein Erspartes, meine zwei Ziegen, das Schwein wird mir dies Jahr viel zu fett, meine Erdäpfel, mein Brotmehl. Wo ist denn da die Kunst?«

»Nun, es gehört doch mehr zum Leben als Essen und Trinken.«

»Wenn schon, Herr Pfarrer, aber Kunst ist nicht dabei!«

»Nennen wir es Gottvertrauen.«

»Ich weiß nicht einmal, ob das richtig ist. Wozu brauche ich denn Vertrauen? Das ist doch gar nicht nötig, da ich ja den Herrgott alle Tage am Rockzipfel habe. Ich gehe ganz einfach hinter ihm her. Manchmal hat er gesagt: Christine, jetzt müssen wir über einen Graben. Du mußt einen großen Schritt machen.«

»Und dabei blieb manchmal eins zurück, das bislang mit Ihnen gegangen war.«

»Ja, Herr Pfarrer, aber wenn ich mich umguckte, sah ich, daß es nicht allein stand. Da war ein Engel, mit dem ging es gerade um die Ecke, so daß ich es nicht mehr sehen konnte. Aber ich wußte doch, wo es war und daß es gut aufgehoben war.«

»Und dann ging es auch einmal durch eine weite Heide.«

»Ganz recht, Heide. Die habe ich immer so gern. Da blüht es am schönsten, und da fliegen die meisten bunten Schmetterlinge.«

»Sie sind nicht unterzukriegen, Mutter Pimpfel.«

»Haben Sie denn das gewollt, Herr Pfarrer?«

»Gott bewahre mich davor. Weihnachten wollte ich mir bei Ihnen holen. Das: Friede auf Erden.«

»Ach, Herr Pfarrer! Nun ja, Friede auf Erden. Ja, ja. Aber, Herr Pfarrer, der Friede ist so und so. In mir habe ich ihn immer. Um mich gehabt manchmal nicht, und wenn ich rechne, wie ich mich gegen das Unkraut unter meinen Erdäpfeln wehren muß, dann kommt viel mehr Kampf und Arbeit heraus als Frieden. Wie lange kennen Sie mich? Vierzig Jahre. Und Sie kennen mich gut. Ich will Frieden halten und habe ihn mit dem Herrgott immer. Gegen das Leben und die Menschen habe ich mich gewehrt, und hätte ich es nicht getan, ich denke, der Herrgott würde sagen: Christine, mit dir war nicht viel anzufangen. Mein Mann ist an dem Prozeß gestorben, den ihm der alte Christel Schneider angehängt, ich habe ihn gewonnen, weil ich recht hatte. Und – das eben hat ja auch meinem Jungen gefehlt. Aber was kann man dafür? Gott weiß, warum der eine so und der andere so ist.«

»Und Sie haben noch nichts von Ihrer Schwiegertochter gehört?«

»Nein. Die Zeit ist wohl noch nicht da, aber sie kommt schon.« Das Frauenantlitz bleibt fröhlich wie zuvor.

»Wissen Sie, Mutter Pimpfel, ich denke mir, wenn Ihre Schwiegertochter wüßte, wie Sie sind, sie wäre längst einmal dagewesen. Es ist mir manchmal, als fürchte sie sich vor Ihnen.«

»Ach, Herr Pfarrer, die Zeit ist noch nicht da. Aber gar zu lange kann ich halt auch nicht mehr warten. Ich habe gedacht, im Sommer fahre ich einmal hinauf ins Oldenburgische.«

»Das wäre recht, Mutter Pimpfel, ganz recht. Nun, der Herrgott geht manchmal wunderliche Wege.«

»Aber er bringt einen immer an das Ziel, wenn man bloß mitgeht.«

»Sehen wir uns heute abend in der Kirche?«

»Freilich, Herr Pfarrer.«

»Ich weiß nicht, Mutter Pimpfel, mir ist, als hätte Gott eine große Weihnachtsfreude für Sie bereit.«

»Wird schon kommen, Herr Pfarrer, freilich, wird schon kommen, auch wenn Weihnachten einmal um Johanni liegt.«

»Ja so, Ihre große Reise! Vielleicht bleibt sie Ihnen erspart.«

»O nein. Vorher will ich nicht sterben.«

Die beiden Alten lachen.

»Ach, das Sterben hat Zeit,« sagt der Pfarrer.

Und Mutter Pimpfel scherzt: »Wir sind ja beide noch so jung.«

Freudig bewegt schreitet Pfarrer Schindler seinem Hause zu. Maria Pimpfel sitzt indes allein in ihrer Stube, in die herauf das Licht einer Laterne vom Marktplatz aus fällt. Ihre Lippen liegen schmerzvoll aufeinander. Alle tiefe Liebe zu Mann und Kind durchglutet sie, und der Panzer, den sie Jahrzehnte getragen, schmilzt. Laß ihn schmelzen. Wenn sie heute nicht aufhört, sich vor sich selber zu rechtfertigen, wenn sie sich heute nicht auf Gnade und Ungnade hingibt, dann ist sie umsonst gekommen. Was Land, was Ahnen, was Heimat hier oder dort! Über allem steht der Mensch, und über den Menschen steht Gott. Sie braucht Frieden, Frieden!

Es ist fünf Uhr. Die Glocken beginnen zu dröhnen. Was für machtvolle Glocken das Städtchen hat! Ach, sie sind wohl gar nicht so machtvoll, aber ihr Hall wird von den Bergen aufgenommen, verfliegt nicht in die Weite, sondern kehrt, lauter als er ausging, von ihnen zurück.

Man läutet zur Christvesper. Aus allen Straßen kommen die Leute. Die Kirchentür steht weit offen, Orgelklang und Lichterglanz dringen heraus. Auch Maria Pimpfel geht in das Gotteshaus. Es ist nicht allzu groß, aber es wächst in die Weite und Höhe unter dem Klang der alten Weihnachtslieder. In den Bänken kein einziges hartes Gesicht. Alltagsgesichter zumeist, aber der Ausdruck aller gehoben durch eine tiefe, stille Freude. In den Augen liegt nichts adlergleich Verlangendes, aber es ist, als schauten sie dafür alle um so tiefer in sich hinein. Der Pfarrer redet ganz schlicht vom Weihnachtsfrieden, aber der Mann scheint kein Weichling zu sein. Es fällt das Wort: »Soviel an euch ist, habt mit allen Menschen Frieden,« und als er nachher vom Ringen mit dem Leben redet, meint er eben den Kampf, den das Leben verlangt. Und einmal sagt er: »Wir haben so viel Stille im Lande. Liegt nicht auch zuweilen in diesem Stillesein ein Mangel an Selbstvertrauen? Der Mensch ist nicht dazu da, des Lebens Knecht zu sein, sondern soll es beherrschen. Das ist Gottes Wille. Also soll er bewußt entsagen, um froh dabei bleiben zu können.« Mancher vermutet, daß Pfarrer Schindler dabei an Christine Pimpfel denkt. Hernach wird er ganz fröhlich, und auch als das Wort, »Schuld« fällt, bleibt er immer noch fröhlich. »Frieden auf Erden in Gott und durch ihn. Wo bleibt da die Schuld? Trotzdem und obwohl man den Kampf bejahen muß: Wenn du weißt, daß dein Bruder oder deine Schwester etwas gegen dich hat, dann gehe hin und versöhne dich mit ihnen.«

Und über all dem das Kirchengewölbe, das hinauf zu den Bergen zu wachsen scheint, und rundherum eine Welt abseits der Welt. Tausend heilige Nächte schauen allein von dem grauen Turme hernieder.

»O du fröhliche, o du selige …« Ja, ja, es klingt so fröhlich, wie es eben aus frohen Herzen nur kommen kann.

Maria Pimpfel geht wieder in ihr Gasthaus und zwingt sich zu essen. Ihr Gesicht ist herb und entschlossen. Sie will weder weich werden noch die Stimmung des Heiligen Abends ausnutzen. Nein, es muß ganz klar und nüchtern hergehen.

Eine Stunde später schreitet sie den Weg, den sie bereits am Nachmittage mit dem Pfarrer ging. Aus Christine Pimpfels Fenster strahlt Christbaumlicht. Die Greisin zieht die Vorhänge selten herab. Sie sitzt unter dem Christbaum am Tische, hat allerlei aufgebaut und beugt sich über die Bibel. Eben schiebt sie das Buch zurück, legt die Hände ineinander, blickt einen Augenblick still fröhlich vor sich hin und fängt dann an zu singen: »Jesu, geh voran auf der Lebensbahn.« Am Weihnachtsabend dies Lied! Und mit einem so frohen Ausdruck im Gesicht singt es die Greisin.

Die erste Strophe ist zu Ende, da klopft Maria Pimpfel an die Tür, wartet keinen Ruf ab, tritt herein und sagt: »Da bin ich.« Es klingt herb, fast hart.

Ohne Erregung erhebt sich Mutter Pimpfel, kommt heran und blickt prüfend in das Gesicht der Besucherin. Dann aber überfällt sie doch ein Zittern.

»Nein,« sagt sie, »das ist doch wohl nicht möglich, daß du es bist.«

»Ja, ich bin es. Ich bin heute vormittag von Langenbrück heraufgekommen.«

»Du kommst doch aus dem Oldenburgischen?«

»Ja. Es ist schon alles richtig. Ich weiß, ich habe lange auf mich warten lassen.«

»Das ist ja nun vorbei.« Nun zittert Christine Pimpfel nicht mehr. Sie spricht keinen Willkommensgruß, sie reicht der Schwiegertochter nicht einmal die Hand, aber sie nimmt sie in ihre Arme, drückt sie an sich und sagt: »Das war ein langer, langer Weg. Jetzt bist du müde, und nun sollst du ausruhen.« Maria spürt, daß nicht das körperliche Ausruhen gemeint ist, und das schlichte Wort reißt die Wand, die sie zwischen sich und die Greisin gebaut, ein. Es geht jetzt auch über die Kraft der Starken, trotzig zu bleiben und Gericht zu verlangen; die Knie wanken ihr, es schüttelt sie, – ach, was waren doch die langen Jahre kalt! – Ein hohler Aufschrei: »Hermann!« Der Tote steht neben ihr in seiner Güte und seiner großen, großen Liebe. Ganz schwer lehnt sie an der alten Frau.

In dem Augenblick aber, da sie die Greisin zu dem alten Lehnstuhl führen will, reißt sie sich empor, wirft sich zurück, steht mit schmerzzerwühltem, aber bitter entschlossenem Gesicht da. »So war das nicht gemeint, und so geht es nicht an.«

Sie legt mit kurzen, festen Bewegungen Mantel und Kapotthut ab, streckt der Schwiegermutter beide Hände entgegen: »Wenn ich Mutter sagen dürfte, würde es leichter gehen.«

Sie kennt ja Mutter Pimpfel nicht. Die weiß aus ihrer natürlichen Mütterlichkeit heraus, wie es in der Frau aussieht, denkt nicht daran, eine aus bloßem Gefühl heraufwachsende Versöhnung mit Tränen und Küssen herbeiführen zu wollen, fühlt, daß ein Mensch vor ihr steht, der ihr in vielem verwandt ist, sieht das Ende des Weges, der hier gegangen werden muß, wohl, weiß aber auch, daß er lang und nicht eben bequem sein wird.

»Warum wolltest du denn nicht Mutter sagen? Es würde mich kränken, wenn du es nicht tätest, und du hast doch die weite Reise nicht gemacht, um mir alten Frau weh zu tun.«

»Ich habe dir weh genug getan.«

»O ja, das muß ich schon sagen. Es hat weh getan.« Nicht eine Spur Weichheit im Tone der Greisin. Maria Pimpfel ist betroffen. Wenn sie auch vor sich selber immer damit getrotzt hat, daß sie Gericht verlangt, so hieße es doch, unwahr sein, wollte sie nicht zugeben, daß sie im letzten Grunde mit Tränen und verzeihender Milde gerechnet hat, daß sie geglaubt, sich vorerst dagegen zur Wehr setzen zu müssen, um sich schließlich besiegen zu lassen. Christine Pimpfel aber sagt: »Es hat weh getan.«

Dann aber ist es wieder ganz anders, als es nun eigentlich in gradliniger Fortsetzung kommen müßte. Sie nimmt Marias Hand und führt sie an den Tisch. »Also da sieh, was ich für eine wunderliche Frau bin. Da liegen drei Paar Strümpfe, die ich mir gestrickt habe, das sind drei Hemden, – ich brauche sie ja eigentlich nicht, – da habe ich mir ein neues Gesangbuch gekauft, – na, das kann ich ja mit ins Grab nehmen, – die Äpfel sind von dem alten krummen Stettiner. Der da ist Vater, – den hast du nicht kennengelernt, und so sah Hermann aus, wie er fortging. Ich habe gerade die Weihnachtsgeschichte gelesen. Das Lied wirst du noch gehört haben. Es paßt überall hin. – Hast du kalte Füße gekriegt?«

»Mutter, ich – –«

»Komm her.« Christine Pimpfel setzt sich auf den Stuhl, auf dem sie bislang saß. »Das hilft nun nichts. Deswegen bist du hergekommen, Maria. Aber ich will dir etwas sagen: Meinetwegen brauchst du nicht zu reden. Du willst es deinetwegen. Mach dir's nicht gar zu schwer. Ändern tust du nichts.«

»Nein, ändern kann ich es nicht mehr.«

»So meine ich es nicht. Ich meine, in mir änderst du nichts mehr.«

»Du willst mir nicht vergeben?«

»Maria, ich habe dir nie zu vergeben brauchen.«

»Dann weißt du nicht, wie es war.«

»Wie soll es denn gewesen sein? Das ist ja überhaupt mit allem so eine Sache. Weißt du, so ganz richtig kriegt man doch fast gar nichts fertig. Es ist immer etwas verkehrt. Das ist ja eben so komisch mit uns Menschen, und ich weiß manchmal nicht, was sich der Herrgott dabei denkt, wenn er es den Leuten so quer gehen läßt, die ja eigentlich ganz anderes gewollt haben, als sie getan haben. Na, da kommt man halt eben nicht dahinter. Nun tu mir aber das eine, setz dich dort in den alten Stuhl. Ich will ja nicht sagen, daß du nicht reden sollst, aber ändern tust du, wie gesagt, nichts. Warte, ich will ein paar Lichter auslöschen. Warum sollen wir verschwenden? So, das Licht an der Spitze mag brennen. Vielleicht zünden wir die anderen nachher noch einmal an.«

Sie rückt ihren Stuhl dicht an den alten Lehnstuhl heran. Das Zimmer ist dunkel, ein einziges Lichtlein knistert und flackert leise, dann steht seine Flamme fast still. Und in diese Flamme sieht Maria Pimpfel hinein.

»Ich stamme von den Detlefsens her. Der Urgroßvater hat in unserem alten Hause ein großes Bild an die Wand malen lassen. Darauf sind Jürgen Detlefsen und sein Bruder Christian. Die Detlefsens sind immer freie Leute gewesen. Einmal hat der Bremer Senat verlangt, daß sie ihr Eigentum von ihm zu Lehen nehmen sollten. Es sollte kein Stein verrückt und kein Pfahl versetzt werden, aber die Freien sollten unfreie Leute werden. Da haben sie gesagt: Nein. Nun sieht man auf dem Bilde die Bremer Ratsherrn, und Jürgen Detlefsen hat der Henker eben das Haupt abgeschlagen. Da fragen sie seinen Bruder, ob er sein Land zu Lehen nehmen oder seines Bruders Schicksal teilen will, und er sagt: Lever dod as Slav! Siehst du, das sind die Detlefsens. Und Jochen Detlefsen hat seinen Bruder Arne erschlagen, weil der es mit seiner Frau hielt, und das alles, das lebt in uns, das Wilde. Darum sind spätere Detlefsen Fischer und Schiffer geworden. Die wenigsten von ihnen sind im Bett gestorben. Und dann kommt das Meer dazu. Und ich bin am Meere aufgewachsen und wollte Christian Pfeifer heiraten, der auch ein Fischer war und von dem ich wußte, daß er trank, und daß er mich geschlagen hätte.«

Die Sprechende machte eine Pause. Dann begann sie hart: »Aber so war es ja gar nicht, das ist ganz falsch. Was hat das Meer damit zu tun, und wie komme ich dazu, mich auf die Detlefsens zu berufen? Nun hatte ich mir das alles so klar zurechtgedacht und fange es so verkehrt an. Ich muß ja am ganz anderen Ende anfangen, und ich bin nicht so feige, daß ich mich davor fürchtete. – Mutter, dein Sohn ist an mir gestorben.« Hart und herrisch: »Ja, der ist an mir gestorben, weil er nicht loskam von eurem Lande, in das ich nicht mit ihm gehen wollte. Das hat mir meinen Mann gestohlen, und ich habe mich an ihm gerächt, indem ich dem Lande seinen Sohn stahl. Zwei Jahre habe ich ihm das Leben zur Hölle gemacht. Das Meer hat gegen die Berge gerungen, und das Meer war stärker.«

»Ach nein, die Berge sind stärker. Das Meer fließt, die Berge stehen.«

»Du kennst das Meer nicht.«

»Aber ich kenne die Berge.«

»Du mußt mir nicht immer in die Rede fallen, sonst weiß ich nicht, was ich sagen will. – Mutter, kannst du mir denn nicht helfen? Ich muß ja noch so viel sagen.«

»Freilich kann ich dir helfen. Hermann hat immer mit dem Herzen zu tun gehabt. War das eigentlich besser geworden?«

»Du willst mich irremachen, aber ich weiß nun wieder, was ich will. – Er hat alles getan, was er mir an den Augen absehen konnte. Wir hatten einen so schönen Garten. Den hat er ganz allein besorgt.«

Jetzt bricht es wie ein Strom aus dem Weibe heraus. Liebe sprengt alle Fesseln, junges Eheglück wird wieder lebendig. Es ist ja lange nicht so sonnig gewesen, als es heute ersteht, alle Farben sind zu dick aufgetragen, Licht und Schatten viel zu scharf und hart gegeneinander abgegrenzt und unbarmherzig falsch verteilt. Alles Licht ist der einen Seite zugeteilt, aller Schatten der anderen. Immer wieder der Aufschrei: »Ich habe den liebsten Menschen gemordet, den ich hatte!« Zuletzt in stürmender Verzweiflung: »Tu mir die Liebe und sei hart!« Zugleich aber ruht das Haupt des Weibes auf der Schulter der Greisin, Tranen stürzen, zuckende Hände umklammern die Lehnen des Stuhles.

Da sagt Christine Pimpfel: »Jetzt weiß ich doch, daß ich recht hatte. – Still, Maria. Ich habe dich angehört, nun mußt du mich anhören. Du bist doch nicht hergekommen, damit ich dich nun vollends elend mache, und wärst du es, ich tät's nicht; denn ich kann nicht, und ich darf nicht. Gott ist Richter, und er hat gerichtet. Ich bin gewiß eine alte, einfältige Frau, und was ich weiß, habe ich alles aus dem alten Buche dort auf dem Tische, aber ich bin ein Mensch, der immer froh sein muß. Meinst du, das wäre von ungefähr und wäre alles so von ganz allein geworden? Nein, Maria, dafür muß ich mich bei dem Herrgott bedanken. Trügst du aber die Schuld, die du dir aufladen willst, meinst du, ich hätte hinter meinem toten Jungen so froh hersehen können? Siehst du, daß ich es kann, das ist des Herrgotts Antwort an mich, und wenn du es können wirst, dann hast du auch die Antwort, nach der du schreist. Ich sage nicht, daß du eher hättest kommen müssen. Es hat alles seine Zeit, und nicht einmal ein gesunder Apfel wird vor der Zeit reif. Daß wir heute mit dem allem fertig werden, was du in deinem Herzen her zu mir getragen hast, das kannst du nicht verlangen, aber den Stein, den größten von den vielen, die du dir in den Weg geschoben hast, den, den du dir zwischen dir und mir denkst, den will ich dir aus dem Wege räumen. Maria, ich habe immer nur in Liebe an dich gedacht. Was du meinem Jungen angetan hast, das sei ausgelöscht, ganz und gar ausgelöscht. Du wirst heute abend und auch in den nächsten Tagen in dem Bette schlafen, in dem erst der Vater und nachher Hermann geschlafen hat. Du wohnst im Gasthause? Das kann nicht sein. Komm her,« Mutter Pimpfel umhalst die Schwiegertochter und küßt sie, »nun müssen wir uns ein bißchen freuen, daß wir beieinander sind. Wenn du heute nicht zu mir gekommen wärst, dann wäre ich im Sommer zu dir gekommen.«

Christine Pimpfels Ton wird heiter und frei. »Ich bin ein ganz komischer Mensch, du wirst dein blaues Wunder an mir erleben, aber wer kann für sich? Ich gebe alle Schuld dem Herrgott. – Komm, Maria, wir wollen den Baum wieder anzünden und zu unseren Männern gehen, ich zu meinem, du zu deinem.«

Die Lichter brennen. Maria Pimpfel steht da mit schwer herabhängenden Armen.

»Mutter,« sagt sie, »das ist ja alles nicht richtig. Ich muß doch meine Strafe haben.«

Da steht Christine Pimpfel funkelnden Auges vor ihr. »Ich will dir etwas sagen, Maria, es wird weh tun, aber dann ist es ausgestanden. – Gilt dir das gar nichts, daß ich dir sage: Ich habe dir vergeben? Ganz von Grund auf und ohne daß ein Tropfen zurückblieb. Ist das nichts, wenn es dir deines Mannes Mutter sagt, die dreiundsiebzig Jahre ist? – Nein, nein, ich bin erst halb fertig. Es kommt noch ärger. Du willst deine Strafe haben? Wie soll denn die aussehen, was soll ich denn machen und was willst du denn tun? Nein, meine Tochter, so einfach und so bequem geht das nicht. Du ließest dir eine Hand abhacken, wenn du wüßtest: So, nun habe ich's gutgemacht. Du liefst auch durch den dicksten Schnee von hier bis ins Oldenburgische, wenn es ausreichte. Aber das alles reicht nicht aus, wenigstens nicht für Leute unseres Schlages und unseres Glaubens. Was ein Mensch sagen kann, das ist gesagt. Nun mußt du das andere selber tun. Deinem Manne kannst du es nicht mehr. Nun tue es anderen. Du kannst dir doch nicht denken, daß dein Mann nichts mehr von dir wüßte oder wissen wollte. Was heißt denn tot sein? Das heißt doch für uns bloß, den Gestorbenen nicht mehr sehen können, und auch das ist nicht ganz richtig, denn ich sehe die beiden alle Tage vor mir, geradeso wie du deinen Mann oder deinen Vater siehst. Tot sein, das heißt anders leben. Zweifelst du daran, daß dein Hermann, wenn es wirklich so war, wie du sagst, längst einen Strich darunter gemacht hat? Wenn er sich über eins ärgert, dann ist es das, daß du so – hochmütig bist und auch so – so – klein. Ja, ja, es ist schon so. Maria, solche Leute mag der liebe Gott nicht. Häng dich doch dem Herrgott an den Hals und gib ihm einen Kuß mitten auf den Mund. Wenn ihm dann der Bart naß wird, weil dir die Augen überlaufen, so ist ihm das gerade recht. Und wenn du damit fertig bist, dann dreh dich um und sag: Nun kommt einmal her, ihr alle, die ihr mich was angeht, und wer von den andern, die mich nichts angehen, mitkommen will, der mag es tun. Ich bin zwanzig Jahre stark gegen mich selber gewesen. Vielleicht kann ich jetzt stark für euch sein.« Die Stimme der alten Frau bricht, sie breitet die Arme weit aus. »Komm, Maria, wir brauchen dich doch so nötig!«

Da wirft sich die Leidgequälte hinein in die offenen Arme. »Mutter, ich habe ja meinen Jungen noch! Hab Dank, Mutter, das habe ich gebraucht! Jetzt wird es mir leichter.«

Christine Pimpfel streichelt die Schwiegertochter. »Ganz grau bist du geworden, lange vor der Zeit! So was! Du hättest doch eher kommen sollen! Ach nein, das darf ich nicht sagen. Es geschieht alles zu seiner Zeit. – Von deinem Jungen erzählst du mir nachher, wenn wir im Bett liegen. Jetzt wollen wir dein Zeug aus dem Wirtshaus holen.«

Indem sich die Frauen fertigmachen, tritt der Pfarrer ein.

»Guten Abend, Mutter Pimpfel. Was habe ich gesagt?«

»Gar nichts haben Sie gesagt, Herr Pfarrer.«

Der lacht übers ganze gute alte Gesicht. »War das noch nicht genug?«

Christine Pimpfel lacht auch. »Nein, lange nicht genug. Und jetzt sage ich Ihnen auch nicht, daß wir Marias Zeug holen, weil sie nun bei mir bleibt. Und das sage ich Ihnen auch nicht, daß mein Enkel ein großer, starker Mensch ist, aber das sage ich Ihnen, daß ich mich von Ihnen nicht wieder hinters Licht führen lasse.«

Das Stübchen jauchzt unter dem fröhlichen Lachen aus alten Herzen herauf, und die feinen Zweige des Christbaums schwanken leise. Maria Pimpfel steht noch ein wenig benommen und unfrei da, aber ihr Gesicht ist weich, in ihren Augen ruht eine leise, wohltuende Trauer, und es tut ihr unendlich gut, den Arm der tapferen Greisin um ihre Hüften zu fühlen. Auf dem Wege nach dem Gasthaus fragt sie den Pfarrer, wann sie noch einmal zu ihm kommen dürfe, und er entgegnet ihr weihnachtlich froh: »Außer, wenn ich zu amtieren habe, jederzeit.«

Und nun kommen Tage und Nächte voller Glück, obschon sie Maria Pimpfel im Bett verleben muß. Sie ist krank. Der Arzt braucht, nachdem er einmal da war, nicht wiederzukommen. Kein Organ ist krank, auch das Herz ist an sich gesund. Aber zwei Jahrzehnte tobte Sturm über dem Leben der Frau. Er war kalt, blies manchmal schwächer, wollte zur Ruhe kommen und durfte es nicht, sondern ward immer wieder ausgepeitscht. Und auf einmal sollte es ganz still sein? Das verträgt ein Herz nicht, da wird es matt, und der Körper wird müde. Es wird nicht eher besser, als bis wieder ein Sturm über das Herz geht. Der aber ist ganz anders als der schlafengegangene. Der brachte Erstarrung, der andre bringt Leben. Frühlingswind ist er, ganz verstohlen einsetzend, den Duft eines ersten Veilchens auf den Flügeln, aber anwachsend zum Jauchzen, das über alle Weiten stürmt und so duftschwer ist wie der Duft aller Wiesen zusammengenommen.

Es geht über die Kraft Maria Pimpfels, ihn vorerst zu entfachen und dann, als er zu wehen beginnt, an ihn zu glauben. Zwei alte Menschen helfen ihr und sehen es als ein Geschenk des Himmels an, helfen zu dürfen. Der eine tut es mit klugem Wort, der andre mit natürlicher Mütterlichkeit.

Der Pfarrer sitzt am Krankenlager. Sie reden über des Blutes geheime Ströme, die durch die Geschlechter rauschen, reden von dem Geheimnisvollen, das in dem Worte Heimat liegt und das zu deuten auch kein Dichterwort je ausreichen wird. Heimat! Sie ist Schuld und Rechtfertigung, Glück und schwere Last, Lachen und Weinen, Kraft und Schwäche. Aber lieber alles tragen, sich durch alles schlagen, als heimatlos sein. Lieber sollen einmal zwei an der Heimat, durch sie, um ihretwillen, in Not und Schuld verstrickt werden, als daß Millionen nie und nirgends mehr Wurzeln schlagen können.

Ja, Weib, du hast Schuld, wenn es auch zuviel gesagt ist, daß du allein deines Mannes Leben zerbrochen hattest. Er war schwächer, als ein Mann sein darf. Was kannst du für die Gewalt des Erbteils deiner Ahnen, für die Gewalt deiner großen, stillen Heimat, die sich dem brausenden Meere entgegenstemmt? Aber höre auf, darauf zu trotzen und verächtlich auf die zu sehen, denen Gott an andrem Ort die Heimat bereitete. Bergheimat läßt andre Menschen wachsen, aber sie ist weder kleiner als deine eigene, noch sind die Menschen geringer als du. Euch zwei, deinen Mann und dich, hat mehr in Schuld und Not verstrickt als nur die Heimat. Wäret ihr Menschen minderen Wertes gewesen, es wäre wohl, wie man so sagt, obschon es gar nicht richtig ist, gut gegangen. Ihr trugt aber beide mehr in euch als der Durchschnitt, den Gott wachsen läßt. Und man muß auch einmal mit seiner Schuld fertig zu werden vermögen. Es ist überhaupt fraglich, ob man hier nicht eher von Verhängnis als von Schuld reden muß.

Aber gut, bleiben wir bei der Schuld. Du willst es.

Der Pfarrer nimmt Maria Pimpfels beide Hände. »So lege ich diese Hände in Gottes Hände und sage mit Ihnen, jedes aus vollem Herzen für sich: Gott sei mir Sünder gnädig. Und so sage ich als ein verordneter und berufener Diener der Kirche: Dir sind deine Sünden vergeben.«

Also der Pfarrer. Maria Pimpfel braucht es, und es tut ihr gut.

Anders die frohe, lebenstüchtige Greisin. Was sie alles zu fragen vermag! Wie ihr Herz und Mund überlaufen! »Dein Junge ist in Langenbrück? Ach, lieber Gott, was kannst du doch alles! Nein, was kannst du doch alles! Rein alles! Und so hat der Weg aus dem Oldenburgischen über Langenbrück nach Lobenstein zu mir alten Frau geführt? Rein eine Weltreise. Mich wundert überhaupt nichts mehr. Nein, nun nicht mehr. Und heiraten will er? Das ist ja überhaupt das Gescheiteste, was er machen kann. Jetzt sterbe ich noch lange nicht, jetzt, wo man schon bald die Urenkel sehen kann!«

Es ist gut, daß es Winter ist, und die Arbeit nicht drängt. Wäre es Sommer, Christine Pimpfel wäre in stande, das Heu draußen verkommen zu lassen. Es ist gar nicht möglich, von Schuld und Sühne zu sprechen. Maria Pimpfel hat davon angefangen. Da hat sie die alte Frau so bittend aus tränenheißen Augen angesehen, daß es einen Stein erbarmt hätte. Nein, nein, sie muß daran glauben, daß es ein Vergeben und Auslöschen gibt, wenn sie auch weiß, daß sie, sie allein, den letzten Weg gehen muß. Die beiden guten Menschen können doch nur bis zur Pforte mitgehen. Sie aufstoßen und vor Gott treten, das muß sie allein. Aber sie hat die Klinke schon niedergedrückt. Morgen nimmt sie ihren Mann an der Hand. Der geht weiter mit, als Lebende das können. An Gottes Brust werfen aber muß sie sich allein. Sie wird es können, ja, sie kann es in stiller Stunde, da draußen der Mondschein auf dem Schnee liegt, und ein Hirsch still majestätisch aus dem Winterwalde tritt.

Am anderen Morgen steht Maria Pimpfel auf, eine andere. Nicht weichlich, aber weich, nicht zerknirscht, aber demütig. Stille Kraft ruht in ihren Augen. »Mutter, morgen ist der letzte Tag im alten Jahre. Wollen wir nicht nach Langenbrück fahren?«

»Natürlich fahren wir, aber nicht mit dem Postschlitten. Nein, das tue ich nicht. Wo soll ich denn in aller Welt mit meinem Gelde hin? Laß es doch was kosten! Jetzt gehen wir zum Vater auf den Gottesacker. Das hat mein liebes Christbäumchen nicht gedacht, daß es ein Kranz werden würde. Aber das war doch ein guter Gedanke von mir, was? Der Kranz ist schön. Den tragen wir jetzt dem Vater hin. Dann bestellen wir Nachbar Fleischer. Der fährt gern. Heimwärts kann ich ja dann wieder mit der Post fahren.«

Nachbar Fleischer sagt zwar zu, aber am anderen Tage wird ihm ein Pferd krank. Der Kolikanfall geht vorüber, aber der Mann kann doch erst abends um acht wegfahren. Nun, in zwei Stunden sind sie in Langenbrück. Nein, der Weg ist so tief verschneit, daß sie gerade vor Hempels Hause halten, als die Uhr auf St. Bartholomäi zwölf schlägt.


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