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5.

Am Morgen vor dem Weihnachtsheiligabend ist Heinrichs Mutter fortgefahren. Meister Hempel kann es nicht klein kriegen. Er wird überhaupt nicht mehr klug aus der Frau. Die da am letzten Abend zu ihm ans Bett trat, war eine ganz andre, als die acht Tage um ihn war. Der Meister wird auch aus seinem lieben Heinrich nicht klug. Man hat es ihm doch deutlich angesehen, daß es zwischen ihm und der Mutter nicht stimmte. Und nun scheint es auf einmal, als wäre alles in schönster Ordnung. Er spricht mit solcher Liebe und Freude von seiner Mutter. Dabei ein geheimnisvoller Unterton. »Ja doch, Meister, verstehen tu ich das auch nicht, aber ich weiß, daß jetzt alles gut wird. Es wird ganz anders. Verlaß dich darauf.«

»Wie denn, Heinrich?«

»Wenn ich dir das sagen könnte, dann wüßte ich es doch. Ich weiß es aber nicht. Ach, zerbrich dir nur den Kopf nicht. Ich kenn doch meine Mutter.«

Richtig weihnachtlich sehen des Menschen Augen aus. Er streckt das Bein aus dem Bett und sagt: »Nachher stehe ich auf.« Dann liegt er ein Weilchen sinnend und sagt: »Ich weiß gar nicht, warum sie die ganzen Tage her nicht ein einziges Mal nach mir gesehen hat.«

»Wer denn, Heinrich?«

»Na, Witwe Berndt nicht und Olga Krause auch nicht.«

»Aber Anna,« und der Meister lacht spitzbübisch dazu.

»Wenn du denkst, du kannst deinen Jux mit mir machen, dann will ich dir sagen, daß es ja auch noch andere Meister gibt.«

Aber das jagt diesmal Adolf Hempel keinen Schrecken ein. Er lacht abermals und entgegnet: »Aber es gibt bloß ein Langenbrück.«

»Was ich mir schon aus dem Neste mache!«

»Nun, nun, Heinrich, es könnte ja sein, daß ich sie in der Kirche träfe. Um fünf ist Christvesper. Da geht sie immer in die Kirche. Wenn du dann so lange allein bleiben willst – –«

»Ach, darauf kommt es nicht an, aber du sollst ihr nicht nachlaufen.«

»Da hast du auch wieder recht.« Der Meister lacht innerlich, nur innerlich.

»Wenn es aber gerade so paßt – – Es könnte ja sein, daß ihr euch gerade in der Kirchentür in die Hände lieft.«

»Das kann gut sein.«

»Ja und dann könntest du sie immerhin einmal fragen.«

»Freilich. Das wäre eine Gelegenheit.«

»Nicht wahr? Man braucht sie ja nicht gerade vom Zaune zu brechen. Also du meinst, daß sie in die Kirche geht?«

»Das weiß ich ganz bestimmt.«

»Wie spät ist es denn eigentlich?«

»Es ist halb zwölf.«

»Was? Ich denke wenigstens, es ist um eins. Wie langsam doch manchmal die Zeit vergeht.«

Ja, sie vergeht langsam für einen, der sich das Liebste holen möchte, aber es hat gar keinen Zweck, alle Augenblicke zu fragen, wie spät es eigentlich sei. Die Zeit läßt sich nicht bestehlen, nicht im Guten, nicht im Bösen.

Dann ist es fünf. Die Glocken läuten. Sie läuten heute alle: Kommt sie, kommt sie nicht? Nein, richtig, das kleine Glöcklein springt ja hinterher und jauchzt: Sie kommt! Sie kommt!

Nun dauert der Gottesdienst wieder so lange! Eine ganze Stunde dauert er. In der kann man beim besten Willen nicht nur an sich denken. Da muß man mindestens auch fragende Gedanken hinter der Mutter herschicken. Wo bist du jetzt, Mutter? Sitzt du auf der Eisenbahn, die durch das Land rollt? Nein, da kann sie der Suchende beim besten Willen nicht finden. Er mag wollen oder nicht, ihm ist, als säße sie jetzt auch in einem Gotteshause, das vom Christbaumlicht durchflutet wird. Aber wo? Darauf läßt sich keine Antwort geben und die Gedanken wandern weiter. Sie machen halt an der Schwedenschanze, da Anna Hagen ihn anredete, gehen mit Meister Hempel über Land, kehren bei dem Christmannsdorfer Müller ein, zucken zusammen, als sie des Stiches in der Brust gedenken, und kehren, im ganzen genommen, immer wieder zu Anna Hagen zurück. Die Hände lagen einen Augenblick dankend ineinander, sie ruhen wieder frei auf der Zudecke. Jetzt ist die Christmette aus. Man hört deutlich, daß Leute von der Kirche her kommen.

Der Meister tritt ein. »Es war schade, Heinrich, daß du nicht dabei sein konntest.«

»Hast du sie denn getroffen?«

»Freilich. Habe ich das noch nicht gesagt?«

»Nein. Kein Wort hast du gesagt.«

»Du wirst es wohl bloß überhört haben.«

»So. Und?«

»Natürlich kommt sie, aber sie hat gesagt, vor neun könne sie nicht fort.«

»Warum denn nicht eher?«

»Amtsrichters sind doch vornehme Leute.«

»Das sind auch keine anderen Menschen als wir.«

»Aber sie bescheren doch so spät.«

»Du könntest mir einmal mein Zeug herlangen. Ich will aufstehen.«

»Heinrich, es ist sechs. Bis um neun sind noch drei Stunden. Willst du denn müde sein, wenn sie kommt? Ich muß doch auch noch einmal fort! Wir haben ja kein Stückchen Gebackenes im Hause. Etwas vorsetzen müssen wir ihr schon. Was soll sie denn sonst von uns denken? Es ist doch nicht mehr wie früher, wo ich alle Tage Ordnung machen wollte und es nicht fertigbrachte. Ich gehe jetzt. Wenn ich wiederkomme, rasiere ich dich, dann kannst du aufstehen.«

Es dauert eine geschlagene Stunde, bevor der Meister zurückkehrt, aber diesmal vergeht dem Kranken die Zeit rascher. Sie kommt. Das ist genug. Nun er weiß, daß er heute die entscheidende Frage stellen kann und wird, denkt er bereits über das Ziel hinaus, an dem er noch vorhin haltmachte. Daß das Mädchen Ja sagen wird, daran zweifelt er nicht. Was dann? Heiraten. Mein im Vertrauen auf Gott? Es soll nicht ohne ihn geschehen, aber man darf sich, bevor man nicht das Letzte aus sich selber herausgeholt hat, nicht damit abfinden, daß es der Herrgott schon machen werde. Erst tu das Deine. Das wird nicht so einfach sein, aber es wird gehen. Kleine Ersparnisse sind auf beiden Seiten da. Wenn man einen Laden aufmacht, sind sie zwar rasch aufgebraucht, aber – da ist ja die Mutter noch. Die Mutter! Wie ganz anders der Sohn heute an sie denkt als jemals. So voller Zuversicht, so ganz als Kind. Sie hat gesagt, daß sie vielleicht bald wiederkäme. Woher, aus welcher Ecke, mit welcher Botschaft? Wozu fragen? Es wird alles gut werden. An dem Nächsten, Meister Hempel, denkt der froh Planende vorbei.

Die Stunden gehen. Heinrich Pimpfel sitzt behaglich in der Sofaecke. Auf dem zusammengeräumten Werktisch steht der Christbaum, die Kattunvorhänge sind herabgelassen. Meister und Geselle haben über dies und das geplaudert. Die Reden waren nicht tiefgründig. Keiner von beiden hat Lust, dem Warum und Wozu der Geschehnisse nachzugehen. Man kommt ja auch selten weit damit. Gewöhnlich ist es so, daß man sehr bald vor den Tatsachen steht und sie hinnehmen muß. Über Land und Leute plaudern sie. Von den geheimnisvollen zwölf Nächten, in denen man auf Himmel und Erde achten muß, darauf, ob der Wind besonders stark braust oder nicht. Auch auf die Träume muß man achten. Das alles ist Heinrich Pimpfel neu und ist es doch auch wieder nicht. Sein Blut sagt ja zu allem. Auch in des Bergvolkes frommem Aberglauben umweht es ihn heimatlich. Die tiefe, schöne Poesie tut ihm wohl.

Nun bimmelt die Hausglocke. Ist es denn wirklich schon neun? Es ist sogar ein wenig später.

Anna Hagen tritt ein, die runden Wangen vom Froste gerötet. »Guten Abend. Ach, da sitzt ja der Kranke wieder auf dem Sofa!«

Sie reicht ihm die Hand. Er sieht sie lächelnd und froh an: »Man kann doch den Heiligen Abend nicht im Bett zubringen.«

»Das kann man schon, aber es ist schöner und besser, wenn man es nicht muß. Wie geht es dir denn? Ich denke, die letzten Tage waren gar nicht so gut?«

»Das ist alles vorbei. Aber nun setz dich erst. Du wirst doch nicht gleich wieder ausreißen wollen?«

»Nein, heute abend kommt es auf eine Stunde nicht an.«

Das Mädchen legt Mantel und Hut ab. Meister Hempel nimmt sie am Arm.

»Nun tu mal ganz, als ob du daheim warst.«

»Dabei käme nicht viel heraus. Ich – bin doch nirgends daheim.«

»Das kann ja auch einmal anders werden. Ich meine, du sollst tun, als ob du hierher gehörtest und als ob alles dein wäre.«

Anna Hagen wird zwar ein wenig rot, aber sie lacht. »Was soll ich nun machen, wenn ich tun soll, als ob alles mein wäre?«

»Erst mußt du den Baum anzünden.«

»Ja,« fallt Heinrich Pimpfel ein, »darauf warten wir doch schon die ganze Zeit.«

»Ach, ihr wißt wohl nicht, wo die Streichhölzer sind? Dann muß ich euch allerdings helfen. Bleib sitzen, Heinrich, ich werde schon allein fertig. So. Wie hübsch der Baum aussieht. Jetzt müssen wir die Lampe auslöschen. Ja, das ist schön. – Meister, was habt Ihr denn nun Gutes für Euren Gesellen?«

»Was ich habe?« Meister Hempel zaust seinen Bart. »Was ich habe? Du liebe Güte, nein, so was! Ich – habe gar nichts. Rein vergessen habe ich es. Heinrich, wir sind Männer, und was ich heute vergessen habe, das kann ich ja morgen oder übermorgen machen.«

»Dann ist es nicht mehr Heiliger Abend,« quält ihn Anna Hagen scherzend.

Der Meister aber wehrt sich. »Hast du denn etwas?«

»Freilich habe ich etwas.«

Heinrich Pimpfel nimmt sich seines Meisters an. Das harmlose Geplänkel geht hin und her, bis das Mädchen befiehlt: »So, Heinrich, jetzt machst du die Augen zu, bis ich sage: Auf!«

Der Kranke gehorcht lachend, und nun ein Wispern zwischen Hempel und dem Mädchen. »Ein weißes Tischtuch? Wo sind denn die? Wo kriege ich bloß ein Tischtuch her? Ich weiß!« Der Alte saust hinaus, kehrt zurück, hat das größte Tischtuch seiner Mutter erwischt, ein Tuch, das für zwölf Personen ausreicht, hat es unter den Arm geklemmt und trägt in der Hand seinen schönsten Apostelkrug. »So,« sagt er so leise, als er in der Erregung kann, »so, und das gehört auch dazu.«

Anna Hagen lacht. Sie kommandiert den Alten. »Ausbreiten! Halt! Doch nicht so weit. Jetzt kommt der Baum darauf. Langt mir mal den Korb her. Pst. Ihr verratet ja alles. Auch noch!« Ein rotbäckiger Apfel kollert durch die Stube. Sie lachen, am frohesten der, dem befohlen ist, mit geschlossenen Augen dazusitzen. Dann der Befehl: »Augen auf!«

Ach, es ist eine trotz ihrer Kleinheit so unendlich große Herrlichkeit, Äpfel und Nüsse und Pfefferkuchen, ein paar Dinge für den Alltagsgebrauch, mitten darin der wundervolle alte Krug, von dem sein bisheriger Besitzer sagt, er habe heute weiter nichts als den, und über den sich die beiden anderen nur freuen, um dem freundlichen alten Manne die Freude nicht zu verderben.

»Oder möchtest du lieber das Fäßchen, Heinrich, auf dem die Weihnachtskrippe ist?«

»Aber Meister! Nein, nein, der Krug ist so hübsch, und wenn wir einmal Bier ins Haus holen, dann will ich daraus trinken. Ich danke dir auch vielmals. Und dir danke ich auch, Anna. Ein solches Weihnachten habe ich noch gar nicht gehabt.«

Keiner der drei Menschen hat je ein solches Weihnachten gehabt, so von freier, schöner Liebe und Innigkeit durchglutet. Die beiden Jungen erinnern sich manches Heiligen Abends, der an sich auch schön war und sie befriedigte, aber sie wissen heute, daß jedem ein Letztes fehlte. Der Meister aber hat seit Jahrzehnten keinen Christbaum mehr gehabt. Seine Augen stehen voll Wasser, und er sagt nur immer leise vor sich hin: »Ja, ja, so ist es schön,« und nach einem langen Schweigen sagt er lauter: »Und so muß es bleiben.«

Das ernüchtert die beiden anderen. Es überkommt sie eine leichte Verlegenheit. Anna Hagen schüttelt sie zuerst ab. »Jetzt will ich uns einen Kaffee kochen,« sagt sie und hantiert lauter, als es wohl nötig wäre, am Ofen.

Die Gespräche gehen während des Kaffeetrinkens hin und her. Man kommt auf dies und das. Paul Würfel ist vorläufig aus dem Gefängnis entlassen. Die Verhandlung wird in etwa drei Wochen sein. Heinrich wird als Zeuge vors Gericht müssen. Die ernste Erinnerung belastet ein wenig, aber das Gespräch wendet sich. Wenn jetzt plötzlich Tauwind eintritt, dann gibt es einen furchtbaren Eisgang. Die armen Tiere des Waldes kommen bei dem Frost bis in die Dörfer herein.

Auf einmal ist es, als wäre der Gesprächsstoff erschöpft. Die erwartungsvolle Stille, die längst in der Luft lag und die ihre Auslösung durch ein besonderes Ereignis fordert, ist da und wird nicht eher weichen, als bis das Wort gesprochen ist, das zwei Herzen lange schon erwogen haben.

Heinrich Pimpfel bittet: »Setz dich doch neben mich, Anna.« Sie tut es, und er nimmt ihre Hand. Meister Hempel wendet sich dahin und dorthin, macht sich dies zu schaffen und jenes, spürt, daß er übrig ist, und grübelt, was für eine Ausrede er machen könnte, um wenigstens eine halbe Stunde hinauszugehen. Er findet nichts, aber die Zeit kommt ihm entgegen.

Auf dem Marktplatz wird es immer lauter. Stimmen und viele trippelnde oder fest schreitende Füße. Da, da ist die herbeigesehnte Gelegenheit.

Man ist in Langenbrück gewohnt, in mitternächtiger Stunde auf dem Marktplatze die heilige Zeit einzusingen. Laut hallend kündet die Glocke von St. Bartholomäi, daß es zwölf Uhr ist. Der Männergesangverein hat sich auf der Rathaustreppe postiert. Rektor Steiger hebt den Taktstock. »Vom Himmel hoch, da komm ich her.« Der Marktplatz ist voller Menschen. Sie alle singen mit, und von der Kirche her läuten die Glocken dazu. Eine ganze Stunde lang ist das Tal voller Glockenläuten und Liederklang. Die Berge hallen wider, und alle Herzen sind bewegt. In einer Pause spricht der Geistliche von der Rathaustreppe her ein paar weihnachtsfrohe Worte. Den Menschen, in deren Häusern allen das Christkind nur mit bescheidenen Gaben einkehrte, ist es wirklich das Höchste, daß ihnen heute der Heiland geboren ward. Und das Bethlehem, über dem der Stern steht, liegt nicht im fernen Lande, sondern nahe. Wenn man irgendwo um die nächste Ecke geht, dann ist man da.

Im Stübchen aber, in dem am Baume das letzte Lichtlein leise erlischt, sitzen zwei, deren Stunde gekommen ist, die eine starke Hand zueinander führte, deren Leben sich schicksalsmäßig gestaltet.

Die immer rasche und tapfere Anna Hagen hat das Haupt gesenkt. Der Mann legt ihr den Arm um die Schultern und zieht sie an sich.

»Anna, ich muß dich fragen, ob du meine Frau werden willst. Willst du?«

Das Mädchen nickt. Sie sitzen aneinandergelehnt, und es dauert eine ganze Weile, bis die Lippen sich finden. Auch dann kein lachendes Kosen und Küssen. Ganz still jetzt noch ein Kuß und nach langer Weile wieder einer. Und kein ernstes Wort und kein frohes, nur ein stilles Aneinanderlehnen.

Bis der Meister zurückkehrt.

»Ja aber,« sagt er, »ihr sitzt ja in der finsteren Stube.«

Alle Lichtlein am Christbaum waren ausgegangen. »Seid ihr denn überhaupt noch da?« schallt es fragend von der Tür.

Jetzt kommt die frohe Mannesstimme vom Sofa her. »Freilich sind wir noch da. Zu dem, was wir miteinander hatten, haben wir kein Licht gebraucht. Aber jetzt kannst du die Lampe wieder anzünden.«

Die Lampe brennt. Meister Hempel hat sie mit zitternden Fingern entzündet. Er weiß, was geschehen ist, aber er weiß vorläufig noch nicht, wie er sich nun verhalten soll. So steht er da und hat die Augen auf die zwei gerichtet, die ihm vom Sofa her mit lachenden Gesichtern entgegensehen.

»Meister,« sagt Heinrich Pimpfel, »so sehen zwei aus, die sich heiraten wollen. Was sagst du nun?«

Was soll er sagen? Er kann vorläufig gar nichts sagen. Er steht unbeholfen da, die Augen voll Wasser. Da kommt ihm Anna Hagen entgegen. Sie steht auf und legt ihm den Arm leicht um die schmalen Schultern. »Gelt, Meister, jetzt seid Ihr einmal hinausgegangen, und schon ist die Dummheit fertig.«

Da macht sich der Mann rasch frei. Und nun wird er lebendig. »Habe ich's nicht gesagt, Heinrich: Du wirst sie heiraten?«

»Ja, das hast du gesagt.«

»Wie lange ist das her?«

»Das war dazumal, als ich dir den Zahn gezogen habe.«

Anna Hagen lacht laut auf.

Der Alte aber keift gutmütig: »Ach, der Zahn! Ja, da warst du übrigens niederträchtig genug. Aber das hat mit dem Zahn gar nichts zu tun. Also das war – – Ein Vierteljahr ist's her, ein reichliches Vierteljahr.«

»Was, dazumal habt Ihr das schon gewußt?« fragt das Mädchen.

»Ja, so lange weiß ich das.«

»Aber eine Dummheit ist es doch,« beharrt Anna Hagen. »Wir wissen ja noch gar nicht, wo wir wohnen und wovon wir leben sollen. Heinrich, du bist ein ganz komischer Mensch. Ich habe dich ja vom ersten Tage an gern gehabt, aber daß ich dich einmal würde heiraten mögen, das habe ich doch erst viel später gewußt.«

»So. Seit wann weißt du es denn?«

»Seit wann?« Sie lacht. »Seit ich weiß, daß du anders bist, als du aussiehst.«

Meister Hempel kann da nicht mit, aber er will zu seinem Rechte kommen; denn schließlich ist er doch hier keine Nebenperson.

»Nun setzt euch einmal hin. Anna, ich glaube, du hast noch eine Tasse Kaffee. So ist's recht, und er ist auch noch schön warm. – Also wo ihr wohnen und wovon ihr leben sollt? Ja, hm, also bei mir bleibt ihr. Darüber gibt es gar kein Wort zu verlieren. Nein, es ist nicht richtig. Ihr bleibt nicht bei mir, ich bleibe bei euch.«

»Wie denn das, Meister?« fragt Heinrich Pimpfel verwundert.

»Heinrich,« der Alte legt seinem Gehilfen die Hand auf den Arm. »Heinrich!«

Auf einmal bricht er in Schluchzen aus. »Nun wird doch alles, wie ich es geträumt habe. Nun – werde ich ein Mensch, jetzt bin ich nicht mehr – der – Kreuzweis.«

Erschüttert neigt sich Anna Hagen über ihn.

»Meister Hempel, armer Meister Hempel! Das hat ja niemand gewußt.«

»Ja, das weiß niemand, wie weh das tut. Sechzig Jahre lang! Und man ist doch auch ein Mensch und hat ein Herz!«

»Meister, wenn du uns bei dir behalten willst, dann wollen wir dich hegen und pflegen wie einen Vater.«

»Ich bleibe bei euch.« Er trocknet sich rasch die Augen. »Jetzt fängt das Leben erst richtig an. Mein Gott, was tue ich euch bloß zugute? – Anna, daß du in die Hundetürkei kommen willst!«

»Die soll so werden, daß jeder darin gerne wohnen möchte.«

»Nun heiratet ihr doch bald?«

»Wir haben noch nicht darüber geredet. Erst muß Heinrich ganz gesund sein.«

»Aber aufs Amt gehen wir bald.«

»Was sollen wir denn auf dem Amte?«

»Was wir da sollen? Es muß doch alles seine Ordnung haben. Ich lasse euch mein Zeug überschreiben. Nein, nein, ihr braucht gar kein Wort zu verlieren. Ich – lasse – euch – mein – Zeug – überschreiben! Ihr wißt ja gar nicht, wie sehr ich mich freue. Die Stube da wird der Laden, die Werkstatt kommt hinauf, vorn heraus oder hinten, wie du willst, Heinrich. Nach dem Bache zu ist es am Ende heller. Wartet bloß mit dem Heiraten nicht zu lange. Ich muß mir die Zeit wahrnehmen, ich bin bald siebzig Jahre.«

Es gibt auch in den folgenden Tagen kein Verhandeln mit dem Meister. Sein Entschluß steht unabänderlich fest. Er wird ärgerlich, sobald die jungen Leute nur daran rühren.

Die stehen in innerer Bedrängnis. Kann man denn das annehmen? Was werden die Leute sagen? Wird man sie nicht für Erbschleicher halten?

Anna Hagen wird tapfer mit der Sache fertig. »Heinrich,« sagt sie, »der Meister kann sich das nicht bloß heute und morgen beschlafen, sondern viele Wochen lang. Bevor wir geheiratet haben, nehmen wir es nicht an, und ich dächte, wir heiraten im Sommer.«

»Nein,« wehrte der Mann ab, »das dauert zu lange. Wir heiraten im Frühjahr.«

»Meinetwegen im Mai. Bis dahin sind auch noch fünf Monate. Es fließt viel Wasser die Saale hinab. Bleibt der Meister bei seinem Vorhaben, nehmen wir es an; was die Leute sagen, ist einerlei. Es kommt darauf an, wie wir den Meister behandeln, und da soll es nicht fehlen.«

Nun hing den jungen Leuten der Himmel zwar nicht voller Geigen, aber die Zukunft war licht bis auf eine hereinschattende Wolke. Die Mutter! Der Mutter Name war die Wolke, aber Heinrich Pimpfel sowohl wie Anna Hagen glaubten an die Sonne hinter der Wolke. Der Mann hatte ganz offen über die Mutter gesprochen, über ihre innere Zwiespältigkeit, die sich oft als Härte geäußert, aber wenn er über das Früher kurz geredet hatte, so sprach er über das Jetzt und das Später um so ausgiebiger und voll frohen Glaubens. Man hatte an die Mutter geschrieben. Heinrich Pimpfel hatte gewußt, daß der Brief falsch lief, aber er wollte das nicht versäumen, was hier Pflicht war.

Das alte Jahr ging zu Ende. In ganz Langenbrück war das Verlöbnis im Uhrmacherhause bekannt. Die Parzen steckten ihre Köpfe zusammen und beharrten dabei, daß es eine Schande sei. Worin die Schande bestand? Nun, darin, daß der junge Mann aus dem Oldenburgischen stammte, und man weder seines Vaters noch seiner Mutter Stammbaum und Geldbeutel kannte. Eine Schande war es auch, daß Anna Hagen sozusagen nicht geboren, sondern auf die Welt gekommen war. Eine Schande, daß Meister Hempel den Fremden aufgenommen und – ihr werdet sehen, daß es geschieht, – zu seinem Erben macht. Und der arme Paul Würfel! Was hat er denn groß getan? Es geht ja dem Oldenburger längst wieder gut. Was hat man anfangs für einen Lärm gemacht, und nun ist er nicht einmal gestorben. Es ist unheimlich, welch einen Haufen Lieblosigkeit drei alte Frauen zusammentragen können, die alle Jahre zweimal zum heiligen Abendmahl gehen und sich für Ausbünde an Tugend halten.

Auf einmal geht ein furchtbares Hagelwetter über sie nieder. Amtsrichter Mendel hat wahr gemacht, was er Anna Hagen angedeutet. Paul Würfel hat zu seiner Entlastung angeführt, daß ihm Olga Krause den Kopf verdreht habe, indem sie ihm bald dies, bald das von Anna Hagen und dem Oldenburger erzählte. Die Krause kommt mit der Vorladung zu Witwe Berndt. »Ich soll aufs Gericht kommen! Seht doch bloß, da steht's! Ich bin gleich zum Amtsrichter gelaufen und habe gefragt, was ich gemacht haben soll. Ich hätte was gesagt, spricht er. Herr Amtsrichter, habe ich gesagt, ich will nicht gesund dahier stehen, wenn ich ein Wort gesagt habe. Was Pauline Heinert ist, die hat eine Muhme, und was Lina Karsten ist, die …«

Die beiden andern schreien auf. »Jetzt willst du uns wohl hineinbringen?«

»Denkt ihr denn, ich gehe allein? Wenn ich vors Gericht muß, dann müßt ihr auch hin, und jetzt weiß es der Amtsrichter. Ich hab's ihm gesagt.«

Es hagelt Schimpfworte, es fließen Tränen. Man wendet sich entrüstet von Olga Krause ab. Die merkt, daß sie vereinsamt, erschrickt, ringt die Hände: »Laßt mich nicht allein!«

Kein Erbarmen. Sie steht allein, ganz allein, wankt heim, wirft das Haupt in die Kissen und schluchzt. Am andern Tage geht sie den Weg, der ihr noch der einzig aussichtsreiche scheint, und er wird ihr gar nicht einmal schwer. Es war ja alles nicht so gemeint.

Anna Hagen ist da, als die Schwätzerin in Hempels Stube tritt. Sie wendet sich an den Meister. »Adolf, wir sind doch miteinander jung gewesen. Habe ich einem Menschen was zuleide getan?«

»Mir nicht.«

»Und jetzt soll ich schuld sein, daß der Würfel so niederträchtig war.«

»Das sagt niemand,« fällt Anna Hagen ein. »Sie sind nicht allein schuld, aber Sie sind mit schuld.«

Ein wilder Tränenstrom. »So sprichst du? Und ich hab so viel auf dich gehalten! Wenn du wüßtest, was die anderen sagen.«

»Ich will es gar nicht wissen.«

»Du gehst alle Tage auf dem Schlosse aus und ein, und du mußt dem Amtsrichter sagen, daß es nicht wahr ist.«

»Wie denken Sie sich das eigentlich? Ich sehe den Herrn an manchem Tage überhaupt nicht. Und wenn ich ihn sähe, würde ich doch nichts sagen. Ihr drei habt Unheil genug angerichtet.«

»Dann muß ich mir doch einen Strick nehmen.«

»Wenn Sie das vor Gott verantworten können. – Hoffentlich kommen die anderen auch noch dran.«

Olga Krauses Gesicht verändert sich, wird triumphierend. »Ja,« sagt sie, »wenn es eine Gerechtigkeit gibt, dann müssen sie auch drankommen, und dann will ich auspacken. Ach, ihr Leute, ist das eine Welt! Da kommt man so unschuldig dazu. Nein, nein, ist das eine Welt!« Sie saust hinaus, in ihrem Gemüt weit weniger beschwert, als da sie kam.

Es war ihr nicht ernst mit der Drohung, sich das Leben nehmen zu wollen. Sie hat es nicht nur überhaupt viel zu lieb, sondern läßt sich jetzt freudig tragen von dem Gedanken, daß sie Gelegenheit haben wird, sich zu rächen. Von da ist es nur ein Schritt zu dem Empfinden, daß sie selbst völlig unschuldig ist, daß sie unbegreiflicherweise und ganz unverdient von einem harten Schicksal verfolgt wird. Und so innerlich eingestellt, vor Mitleid mit sich selber in Tränen zerfließend, tritt sie am Silvesterabend in die Kirche vor Gott und bittet ihn, den beiden anderen heimzuzahlen, was sie, die Unschuldige, in diesen Tagen an Not ertragen mußte, sitzt sie nachher in ihrem Stübchen und klagt die Welt an ob ihrer Schlechtigkeit. Hätte Gott nicht das Lachen erfunden, er müßte längst seines Regimentes überdrüssig sein ob der wunderlichen Gesellschaft, die sich Menschheit nennt.

Das alte Jahr geht zu Ende. Still stehen die Wälder an den Hängen, still ziehen die Sterne über die Erde. Die Stunde der Selbstbesinnung ist da und läßt sich nicht bestehlen. Mögen die Gläser zusammenklingen und die Instrumente schmettern, tief drin im Herzen läutet ein Glöcklein, ein feines, kleines, das mancher verstummen lassen möchte und keiner zum Schweigen bringt. Es läutet und läutet, und sein Läuten kommt her aus der Ewigkeit und wandert hinüber in die Ewigkeit. Da wird sich der Mensch bewußt, daß er über eine Brücke geht, daß diese Brücke gar nicht so lang ist, und daß keiner stehenbleiben kann, so gerne er auch möchte, sondern daß er hinüber an das andere Ufer muß.

Wißt ihr, wie ein Altjahrsabend droben an der Saale im tief verschneiten Berglande ist? Er ist so voll unerhörter, unirdischer Kräfte, daß jedes Herz zugleich erhoben und niedergebeugt wird. Himmel und Erde münden in eins zusammen. Von allen Dörfern her wallen Glockenklänge, treffen aufeinander, grüßen sich und treten die Wallfahrt vor des Ewigen Thron an. Der Mensch muß es fühlen, keine Abwehr hilft ihm, daß er klein ist, und daß nur eines bleibt, sich hingeben, sich selber freudig verlieren. Und das ist leicht in der Stunde, da alle Waldgründe voller Glockenhall sind, das Reh auflauscht, und der Fuchs scheu zurück in das Dickicht springt. Viel, viel Schönes hat das Land, aber das Schönste ist wohl die Stunde, da ein Jahr leise aus der Welt geht. Da wandert eine Welle von Gutseinwollen über das Land.

Es ist zwölf. Im Uhrmacherhäuschen in Langenbrück haben sie kein heißes und heiß machendes Getränk gebraut. Da sitzen drei Menschen beieinander, die ernst und still rückwärts und vorwärts blicken und voller Dank und voller Pflichtbewußtsein dem Leben gegenüber sind. Der Christbaum trägt neue Lichte. Eben hat sie Anna Hagen entzündet, eben hat die Glocke auf St. Bartholomäi zwölf geschlagen. Da tut sich die Türe auf, zwei Frauen treten herein, eine aufrecht und ernst, die andere schneeweiß mit lachenden Augen.

»Mutter!« schreit Heinrich Pimpfel jauchzend auf und hängt ihr am Halse. Still wollen Meister Hempel und das Mädchen zurücktreten. Da dröhnen die Glocken von St. Bartholomäi, Maria Pimpfel nimmt ihres Sohnes Rechte und streckt die Linke aus nach einer anderen Hand. Sie findet die Anna Hagens und umfaßt sie warm und fest. »Wir wollen den Ring bilden,« spricht sie. Und als der Ring geschlossen ist, neigt sie das Haupt, und die anderen tun es ihr nach, und nach einem Weilchen spricht sie tief und fest: »Herrgott, sei mit uns, wie du mit uns warst.«

Damit läßt sie die Hände los, wendet sich der Greisin zu, langt nach deren Mantel und Hut, legt beides beiseite, legt ihre eigenen Sachen ab, nimmt ihres Jungen Hand, führt ihn der weißhaarigen Frau zu und spricht: »Mutter, da hast du deinen Enkel.«

Heinrich Pimpfel ist feuerrot und weiß nicht, soll er jauchzen oder soll er heulen, bis ihn ein silberhelles Lachen befreit. »Heinrich, da bin ich.« Ein fester Arm legt sich um seinen Hals und zieht ihn herab, eine rundliche Hand streichelt ihn. »Junge, was bist du groß!«

Maria Pimpfel hat die zwei sich selber überlassen und ist vor Anna Hagen getreten. Sie blickt ihr freundlich, aber forschend in die Augen, tritt noch einen Schritt näher, legt den Arm um sie und zieht sie an sich. Dann tritt sie zu Meister Hempel und nimmt seine beiden Hände: »Meister, nun bin ich eine andere.«

Christine Pimpfel ist ganz verkörperte Freude, neckt, scherzt nach allen Seiten und sagt nur in einem Augenblick der Stille: »Dem Herrgott kann man wirklich alles zutrauen. Nun sind wir beieinander.«

Jetzt kann Heinrich Pimpfel nicht mehr an sich halten.

»Mutter,« spricht er, »ich brauche es dir nun wohl nicht erst zu sagen, daß Anna und ich – –«

»Nein, nein,« wehrt Maria Pimpfel ab und nimmt Anna Hagens Hand, »ich weiß schon, daß wir nun zusammengehören.«

»So! Dann bin ich froh. Aber nun sagt mir in aller Welt, woher ihr kommt.«

Da kichert Christine Pimpfel. »Ach, Heinrich, von weither. Gegen zwei Stunden fährt man sonst. Heute hat es vier gedauert. Daran ist der schlechte Weg schuld. Von Lobenstein kommen wir.«

»Von Lo–ben–stein?« Aus drei Mündern.

»Wo liegt das?« will Heinrich wissen.

»Reichlich zwei Stunden fährt man mit dem Wagen,« belehrt ihn Anna Hagen.

»Es ist deines Vater Heimat,« spricht die Mutter ernst.

Da wird es einen Augenblick ganz, ganz still.

Maria Pimpfel neigt das Haupt und sagt leise: »Heinrich, darüber wollen wir morgen reden. Du bist nicht von selber hierher gekommen, du bist geführt worden. Und du bist darum hergeführt worden, weil du hierher gehörst und damit ich – Frieden fände.«

»Ach,« unterbricht sie die Schwiegermutter. »Jetzt wollen wir von gar nichts reden als davon, daß wir beieinander sind. Denkt doch, wenn ich hätte ins Oldenburgische fahren müssen! Das hätte ich im kommenden Sommer gemacht, und jetzt brauche ich nur bis Langenbrück. – Aber nun gebt einem doch bloß in aller Welt eine Tasse Kaffee!«

Und all das Schwere, das trotz allem in der Luft liegt, das nehmen die Glockenklänge von St. Bartholomäi und tragen es weit, weit fort, so daß, ob auch noch keine der brennenden Fragen beantwortet ist, sie doch alle frei werden und die Freude zu ihrem Rechte kommt.

Die Glocken verstummen. Auf Meister Hempels Sofa sitzen die drei Frauen, in der Mitte die lebensstarke Greisin.

Sie nimmt Anna Hagens Hand und blickt sie freundlich an. »Du, da sitzen nun drei Pimpfelfrauen. Das will ich dir sagen: Leicht hat man es mit den Pimpfeln nicht. Sie sind ganz komische Menschen. Ich weiß nicht, ob es dir ebenso ergangen ist wie Maria und mir, aber es wird gewiß auch nicht anders gewesen sein. Wenn man ihnen das erstemal begegnet, denkt man: Über den guten Jungen mußt du beide Hände halten, daß dem niemand etwas tut, aber man will ihn gar nicht heiraten, denn wie kann man seinen Jungen heiraten wollen. Und dann wird es anders, und man heiratet ihn doch. Ist es dir nicht ebenso gegangen?«

»Ja, Großmutter, ganz genau so.«

Da lacht Heinrich Pimpfel. Die Greisin aber wehrt ihm freundlich. »Heinrich, da ist nichts zu lachen, und ihr macht einem Not genug, ihr Pimpfel-Männer.«

Der Enkel aber verteidigt sich. »Großmutter, meine Mutter ist eine Friesin, und etwas habe ich auch von ihr.«

Da sagt die Alte ernst: »Dann danke Gott.« Sie wendet sich an Meister Hempel und macht ihn mit einem Schlage glücklich. »Meister, was haben Sie für schöne alte Sachen. Ich freue mich, daß wenigstens noch ein Mensch da ist, der das Alte ehrt. Haben Sie denn viel davon?«

»Das ganze Haus ist voll,« sagt er stolz.

»Dann will ich mir das morgen alles ansehen. – Aber, Maria, wir haben ja noch gar nicht gefragt, ob uns der Meister überhaupt alle herbergen kann.«

Und hätte der Meister auf der Diele schlafen müssen, er hätte keinen der Gäste wieder gehen lassen. Das aber ist gar nicht nötig. Es sind Betten genug da, und es ist Raum da. Auch Maria Pimpfel hätte ein Bett haben können. Sie beharrt dabei, auf dem Sofa, neben dem Bett ihres Sohnes, das noch immer in der Stube steht, zu schlafen, und alle wissen, warum sie es will. Niemand wehrt ihr. Es ist vieles zwischen Mutter und Sohn fortzuräumen, und je eher es geschieht, um so besser ist es.

Die Stadt liegt still, es ist in keinem Hause mehr Licht. Zwei Stunden sind bereits im neuen Jahre vergangen. Heinrich Pimpfel ruht auf seinem Lager. Die Mutter sitzt auf dem Sofa und blickt zum Fenster hinüber. Durch den schmalen Spalt zwischen Vorhang und oberem Fensterrand herein leuchtet ein heller Stern. In den hinein blickt Maria Pimpfel.

»Heinrich, ich habe mich wohl immer zum Herrgott zu halten versucht, aber eine fromme Frau bin ich nie gewesen. Früher war es wohl leichter. Seit dein Vater starb, ist es viel schwerer gewesen. Ich habe da nie so ganz mit dem Herrgott zurechtkommen können. Es lag daran, daß ich mein Bündel nicht von den Schultern brachte, um es vor ihn hinzulegen, sondern daß es mir wie angewachsen war, und es ist schon so, daß man auch seine Not behandelt wie ein Geiziger sein Geld.«

»Mutter, ich weiß, wie sauer es dir wird, zu reden. Tu mir die Liebe und laß es. Es ist genug, daß du jetzt meine liebe Mutter bist.«

Maria Pimpfel lächelt trüb: » Jetzt deine Mutter! – Heinrich, ich bin es immer gewesen, aber früher war es schwer, jetzt ist es leicht. Früher wollte ich, wie ich wollte, jetzt will ich, wie Gott will. Dein Vater war ein so kluger und fleißiger Mann. Es ist der Großmutter gegangen wie mir und wie deinem Mädchen auch, aber ich bin die einzige, bei der es nachher nicht anders wurde. Das wieder kommt daher, daß ich härter war als die zwei, und daß ich mich, als ich sah, daß auch dein Vater in seiner Art, ich meine in seiner Liebe zu den Bergen, stärker war, als ich gedacht hatte, gradezu zum Stein machte. So ist dem Vater zerrieben worden zwischen der Liebe zu mir und der zu seiner Heimat. Ich habe es gesehen und – habe es darauf ankommen lassen, weil ich das nicht für möglich hielt, daß einem Manne darüber das Herz brechen könnte. Man hatte ihm in der Nachbarstadt von Lobenstein ein gutes Amt angeboten. Da habe ich den Bogen überspannt, und da ist er zersprungen. Ich habe gesagt, ich ließe mich eher scheiden, als daß ich in das Land ginge, das ich haßte, weil ich mit ihm deines Vaters Herz teilen mußte. Und – ich wäre ihm doch nachgereist, wäre er gegangen. Er ging nicht, er starb. Von heute zu morgen starb er, und als sie ihn begruben, da bin ich am Grabe umgefallen und drei Tage nicht zu mir gekommen. Von da an ist jeder Tag Gerichtstag gewesen. Glaube ja nicht, daß ich es mir leicht gemacht hätte. Du sagtest einmal, es hätte dir geschienen, als hätte ich Fischer Petersen heiraten wollen. Ich hätte weder ihn noch irgendeinen anderen Mann geheiratet. Mit der Zeit sind wohl Tage gekommen, in denen es mir möglich schien, mit meiner Not fertig zu werden; aber sie ganz in Gottes Hand zu geben, dazu war ich nicht stark genug, und mich damit abzufinden, daß es nicht so gemeint gewesen wäre, dazu war ich zu stark. Wo ich eine Antwort auf die Frage witterte, ob ein Mensch an seiner Heimat sterben könne, habe ich sie gesucht. Und es ist immer so gewesen, daß mit dem, der an der Heimat stirbt, ein Mensch verlorengeht, der gut und treu war. So einer war dein Vater. Und es ist so. Laß Berg und Meer einander hassen, wie es denn auch der ewige Kampf zwischen beiden ist, indem das eine abtragen und einebnen will, und der andere sich dagegen wehrt. Das hat Gott von Anfang an so gegründet. Und so war es zwischen deinem Vater und mir. In mir lebte das Meer, in ihm lebten die Berge. Ich weiß nicht, ist er an meinem Trotz oder an meiner Liebe gestorben. Ich habe ihn sehr liebgehabt.

Und ich habe dich sehr lieb und wollte zweierlei. Du solltest so hart werden wie mein Geschlecht der Überlieferung nach gewesen ist, und du solltest so fest in die Erde wurzeln, aus der ich komme, wie ich darin gewurzelt bin. Das habe ich gewollt und – habe dich um deine Jugend gebracht. Sei still, mein Sohn. Alles, was du sagen könntest, habe ich mir hundertmal gesagt und haben mir viele, auch deine gute Großmutter, gesagt. Das aber hilft alles nichts. Es gibt nur einen einzigen Weg: Sich beugen und gutmachen, soweit man das kann. Ich bin überwunden, der Trotz ist weg, die Schuld kann nur Gott von mir nehmen, und er tut es, nur daß eben das Bündel noch nicht ganz von den Schultern will. Aber es kommt herunter, ich weiß es. Ich – beuge mich auch vor dir, Heinrich. – Halt still, mein Junge, es muß gesagt sein. Ich bitte dich um Vergebung, aber du brauchst mir weder zu sagen, daß du mir nichts zu vergeben hattest, noch daß du mir vergibst. Wenn ich die Antwort nicht in mir selber fühle, dann nützt auch das Wort nichts. Ich habe sie aber schon gefunden. Nun bin ich fertig, ganz und gar fertig. Ich habe deinen Vater immer neben mir gefühlt, aber jetzt sehe ich ihn mir freundlich zunicken. Selten hat wohl ein Mensch Gott so viel Mühe gemacht wie ich, der sich gegen ihn gewehrt hat, aber es bleibt einem gar nichts weiter übrig, als sich hinzugeben. Ich bin so weit. – So, das habe ich dir sagen wollen, und nun habe ich ein Recht, auch noch etwas dazuzusetzen. Du bist nicht, wie dein Vater war und wie auch wohl dein Großvater gewesen ist. Das Friesenblut kommt dir zugute und wird auch noch deinen Kindern und Enkeln zugute kommen. Wenn du einmal eine stille Stunde hast, dann schreibe deine und meine Geschichte auf. Es könnte sein, daß einmal im zweiten oder dritten Gliede hinter dir her einer an das Meer müßte. Dann soll man wissen, woher das kommt, damit dem Manne die Not erspart bleibt, die ich dir bereitet habe, ohne daß ich den Ausgang hindern konnte. – Und nun,« Maria Pimpfel trat an des Sohnes Bett, »wollen wir ganz Mutter und Sohn sein. Ich will dir helfen, wo ich kann. Darüber wollen wir morgen reden. Gute Nacht, Heinrich. Das neue Jahr wird uns viel Freude bringen.«


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