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Drittes Kapitel.
Lessing als Vorkämpfer der intellektuellen Redlichkeit.

Kirchengeschichtliche Studien; »über die Entstehung der geoffenbarten Religion« – Reimarus Schutzschrift; Eindruck auf Lessing – Vorbereitung der Herausgabe der Fragmente; das erste Fragment – Zusätze Lessings zu den folgenden Fragmenten; Die Erziehung des Menschengeschlechts § 1-53 – Der Streit über die Fragmente – Nathan; Ernst und Falk – Die Erziehung des Menschengeschlechts – Metempsychose– Determinismus S. – Pantheismus


1.

Wir haben die Entwicklung von Lessings Stellung in und zu Fragen der Weltanschauung im Jahr 1760 abgebrochen. Bis dahin hatte er, so lebhaft ihn die religiöse Gärung der Zeit beschäftigte, doch nur von Fall zu Fall mit den Phänomenen derselben abgerechnet, die in seinen Gesichtskreis eintraten und ihn irritierten; und er hatte so freilich bei der Unbefangenheit seines Gemüts und der Schärfe seines Auges manchen Gedanken produziert, der über dem geistigen Niveau seiner Zeitgenossen lag. Als er nun in Breslau sich die Schriftstellerei für einige Jahre versagte, kam ihm auch das Bedürfnis, seine Auffassung der Religion zu vertiefen. Seinem Naturell gemäß erholte er sich bei der Geschichte Rats; er gab sich patristischen Studien hin und las zum erstenmal zusammenhängend und eindringend den großen Ketzer Spinoza. Im einzelnen sind wir über diese Studien wenig unterrichtet; doch lassen schon gleichzeitige Zeugnisse erkennen, daß sich durch seine Beschäftigung mit der Urgeschichte des Christentums seine Auffassung der geoffenbarten Religion merklich verschob, und daß Spinoza auch sein eigenes Denken über Gott und Welt und den Menschen in stärkere Bewegung brachte. Da Lessing selbst einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Strömungen seiner ferneren geistigen Entwicklung erst in den letzten Jahren seines Lebens hergestellt hat, so verfolgen wir sie zuerst je für sich in gesonderter Betrachtung.

Zwei kirchengeschichtliche Abhandlungen, die Fragmente geblieben sind, zeigen zunächst, daß er die Originalität des Christentums niedriger einschätzen lernte, als er wohl bis dahin mit andern, rechtgläubigen Theologen getan hatte, und daß er die Anfänge des Christentums sehr vorurteilslos, um nicht zu sagen: sehr pietätlos betrachten lernte. Der Versuch über die Elpistiker (14, 297-311) hebt nachdrücklich hervor, daß die Hoffnung eines künftigen Lebens kein unterscheidendes Merkmal des Christentums war. Ohne diese Hoffnung kann überhaupt keine Religion gedacht werden; sie war auch der gemeinen heidnischen Religion nicht fremd und war das Endziel aller Mysterien der Heiden. Aber auch dieser Hoffnung selbst kann Lessing einen unbedingten Wert nicht zugestehen: sie ist vielmehr eine Zerstörerin des Lebens; wie sie unter den Christen nicht bloß wahre Bekenner machte, sondern auch viele falsche Märtyrer, »die für nichts besser als für Selbstmörder zu halten sind.« Ferner beschäftigte sich Lessing eingehend mit der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion (14, 314-332). Die Apologeten des Christentums sahen darin die unmittelbare Hand Gottes. Lessing bemerkt dazu: »Ich leugne nichts; aber um mich davon zu überzeugen, darf ich doch wohl den natürlichen Lauf der Dinge etwas genauer betrachten, um zu sehen, wie weit es durch diesen allein mit einer Religion hätte gehen können, deren anderweits erwiesene Richtigkeit ich so lange beiseite setze.« Wie wichtig ihm sein Vorhaben ist, zeigt die Mahnung, die er an sich selbst richtet: »Dieser Untersuchung unterziehe dich als ein ehrlicher Mann. Sieh überall mit deinen eigenen Augen. Verunstalte nichts; beschönige nichts. Wie die Folgerungen fließen, so laß sie fließen. Hemme ihren Strom nicht; lenke ihn nicht.« Und er findet nun freilich, daß es bei der Ausbreitung des Christentums sehr menschlich zuging. Die ersten Christen hielten mit ihren eigentlichen Lehrsätzen zurück und reizten dadurch die Neugierde; sie wußten durch die Heiligkeit ihres Lebens ein großes Vorurteil zu erwecken; sie wußten ihre geheimen Lehrsätze, wenn sie sie entdeckten, durch eine modische Afterphilosophie, durch untergeschobene Prophezeiungen und Bücher zu erhärten; sie lockten durch ihre Freigebigkeit an, durch ihre Gelindigkeit gegen die Sklaven; sie sicherten sich gegen Abfall durch ihre Nachsicht gegen alle Arten von Ketzern. Ihre geheimen Zusammenkünfte verdienten bestraft zu werden, und zwar um so viel mehr, da ihre Religion dergleichen Zusammenkünfte im geringsten nicht erforderte (Matt. 18, 20). Daß ihre »heiligen Schmausereien« unschuldig waren, konnten die Heiden nicht wissen, und Mißbräuche stellten sich auch bald genug ein. Wie weit hierin Lessing die historische Wahrheit getroffen oder verfehlt hat, tut für uns nichts zur Sache. Von Wert ist es dagegen, das Leitmotiv seiner Untersuchung zu erkennen, das in einer Anmerkung über die Ausrottung der Bacchanalien zu Rom am deutlichsten zutage tritt. Er geht in der Geschichte der christlichen Kirche den Spuren modernen Sekten- und Konventikelwesens nach, das ihm durch seine sittliche Zerfahrenheit und religiöse Anmaßung, durch seine Begehrlichkeit und Leichtfertigkeit in Behandlung der höchsten Fragen gleich verhaßt und verächtlich ist. Wahrheit und Philosophie bringen es bei dem Pöbel nicht weit. Also kann freilich die rasche Ausbreitung des Christentums, wenn man darin nicht die unmittelbare Hand Gottes sehen will, nicht eben durch die Anziehungskraft der Wahrheit bewirkt sein. Übrigens schließt Lessing vorsichtig nach außen, vorsichtig auch gegen sich selbst, mit der Mahnung: »Wenn aus allem, was bisher angeführt worden, folgen sollte, daß die christliche Religion durch ganz natürliche Mittel fortgepflanzt und ausgebreitet worden: so hüte man sich zu glauben, daß wider die Religion selbst etwas Nachteiliges daraus folgen könne.« (»Müsse« wäre wohl richtiger; es kann ja in der Tat die Wahrheit auch in die unrechten Hände fallen. Doch zeigt die Fortsetzung, daß Lessings Gedanke nach einer andern Richtung zielt.) »Hat Christus selbst [wie die Theologen zugeben] die bequemste Zeit erwartet, hat er das große Wunder seiner Erscheinung nicht bloß durch lauter andre Wunder unterstützen, sondern dem natürlichen Lauf der Dinge unterwerfen wollen: warum wollen wir diesen natürlichen Lauf der Dinge bei der weitern Ausbreitung aus den Augen setzen?« Man meine also nicht, daß das Göttliche immer gerade wunderhaft sein müsse. Freilich: wenn das Wunder doch eine Entwicklung einleitet, die sich nach dem natürlichen Lauf der Dinge fortsetzt, sollte es dann nicht überhaupt entbehrlich sein? sollte dann nicht auch schon der Eintritt des Göttlichen in die Welt natürlich vor sich gehen?

Auf diesem Wege treffen wir in der Tat Lessing in dem Fragment »über die Entstehung der geoffenbarten Religion«. Es ist sehr flüchtig hingeworfen und leidet an erheblichen Unklarheiten. Doch läßt es die Richtung erkennen, in der sich Lessings Denken bewegt. Er unterscheidet eine natürliche und eine positive Religion, und in der positiven Religion Konventionelles und Wesentliches. Des Wesentlichen der positiven Religion wird jeder unmittelbar durch seine Vernunft gewiß; es fällt also mit der natürlichen Religion zusammen, zu der jeder Mensch nach dem Maß seiner Kräfte aufgelegt und verbunden ist. Ihr vollständigster Inbegriff ist: einen Gott erkennen, sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen, auf diese würdigsten Begriffe bei allen Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen. Das sollte, das würde jeder tun nach dem Maß seiner Kräfte, in individueller, also verschiedener Weise: sonach würde eines jeden Menschen natürliche Religion verschieden sein; sonach kann die natürliche Religion nicht gemeinschaftliche Religion werden. Sobald man also auch die Religion gemeinschaftlich zu machen für gut erkannt, mußte man sich über gewisse Dinge und Begriffe vereinigen und diesen konventionellen Dingen und Begriffen eben die Wichtigkeit und Notwendigkeit beilegen, welche die natürlich erkannten Religionswahrheiten durch sich selber hatten. Die gemeinschaftliche Religion kann also nur eine positive Religion sein. Das Konventionelle in der positiven Religion wird aber zum Range der natürlich erkannten Religionswahrheit erhoben durch das Ansehen des Stifters, der vorgibt, daß es ebenso gewiß von Gott komme wie diese, nur mittelbar, durch ihn. Die positive Religion tritt so als geoffenbarte Religion ins Dasein.

Bei dieser Konstruktion (die durch die nur angedeutete Analogie mit der Bildung des positiven Rechts aus dem Rechte der Natur nicht erläutert wird) bleibt allerdings vieles unbestimmt und fraglich. Das Verhältnis der natürlichen und positiven Religion erscheint bald als Nacheinander, bald als Ineinander; das Konventionelle der positiven Religion stellt sich bald als Zusatz zur natürlichen Religion dar, bald als Modifikation derselben; also auch das Wesentliche der Religion bald als Teil, bald als Prinzip. Ganz dunkel bleibt, wie der Stifter der positiven Religion zu dem Vorgeben einer Offenbarung kommt; auch zeigt Lessing nicht, worauf das Ansehen beruht, das seinem Vorgeben Glauben schafft. Dürften wir diesen Punkt aus den Anmerkungen über die Ausrottung der Bacchanalien zu Rom erklären, so müßte der Religionsstifter entweder schon Heerführer und Gesetzgeber eines ganzen Volks sein (wie Moses), oder sacrificulus et vates, d. h. ein dreister Betrüger, der den Enthusiasmus der Geistesarmen zu entfachen versteht: dieser ist ja (wie Lessing nach Shaftesbury bemerkt) »eine wahre ansteckende Krankheit der Seele, die mit einer unglaublichen Geschwindigkeit um sich greift« (14, 326-330). Nun war das achtzehnte Jahrhundert wohl geneigt, das Vorgeben einer Offenbarung als erlaubtes Hilfsmittel der Regierungskunst zu betrachten. Aber auf Jesus, an den Lessing doch vor allen denken mußte, paßt die Analogie mit Moses nicht; und daß Lessing (der 1754 Muhammed gegen den Vorwurf des Betrugs warm verteidigt hatte) ihn als einen, der den vates spielte, habe darstellen wollen, ist doch schwer zu glauben.

Vielleicht waren diese Schwierigkeiten auch eine Ursache, warum Lessing den angefangenen Aufsatz hat liegen lassen. Übrigens hängen die Folgerungen, die Lessing zieht, nur lose mit seiner konstruierten Entstehungsgeschichte der geoffenbarten Religion zusammen. Er urteilt nämlich, daß alle positiven und geoffenbarten Religionen gleich wahr und gleich falsch seien. Gleich wahr, weil ihre Bildung überall gleich notwendig war. Gleich falsch aber nicht deshalb, weil sie überall auf einem Vorgeben beruhen, sondern weil in ihnen das Konventionelle das Wesentliche schwächt und verdrängt. Darum sind sie auch doch nicht wirklich gleich falsch, sondern schlimmer und besser: »die beste geoffenbarte oder positive Religion ist die, welche die wenigsten konventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt.« Also fällt für die sittlich-religiöse Praxis der Hauptnachdruck auf den Gegensatz von Religionswahrheiten, die ihre Wichtigkeit und Notwendigkeit »unmittelbar durch eines jeden Vernunft« oder »durch sich selber« haben, und solchen, deren Wichtigkeit und Notwendigkeit dem einzelnen von außen durch eine bestehende, irgendwie entstandene religiöse Satzung aufoktroyiert wird. Und natürlich soll nach Lessings Meinung (niedergeschrieben hat er das nicht mehr) der einzelne sein Leben auf jene gründen, sich von dem Joche dieser wenigstens innerlich befreien. Jeder lebe der Wahrheit, die ihm durch ihr selbsterprobtes Eigengewicht als richtig, als notwendig sich erweist: das ist der praktische Ertrag von dieser Würdigung der positiven Religion, der keines Beweises und keiner Ableitung bedarf, da er seine Wahrheit in sich selbst trägt.

 

2.

In den sechziger Jahren hat Lessing auf religiöse Fragen sich vor der Öffentlichkeit nicht eingelassen; daß er sie aber auch in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts nicht aus dem Auge verlor, zeigt die unmutige Äußerung in einem Brief an Ebert (18. Okt. 1768): »Das pro und das contra über diesen Punkt habe ich eines so satt wie das andre.« Doch wenn er etwa die Absicht gefaßt hatte, religiösen Diskussionen aus dem Wege zu gehen, so wurde sie ihm durch die Tücke des Schicksals so durchkreuzt, daß der Rest seines Lebens gerade religiöse Kämpfe zum Hauptinhalt bekommen sollte. Denn im folgenden Jahr lernte er in Hamburg des kürzlich verstorbenen Hermann Samuel Reimarus' »Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« kennen: und damit war ihm seine nächste und letzte Aufgabe gewiesen.

Reimarus hat in diesem seinem Lebenswerk den umfassendsten, rücksichtslosesten und nachdrücklichsten Angriff auf das positive Christentum unternommen, den überhaupt ein deutscher Aufklärer des 18. Jahrhunderts gewagt hat; er hat insbesondere das Allzumenschliche in der heiligen Geschichte unbarmherzig aufgedeckt und verurteilt, und auch die Apostel, ja Jesus selbst nicht geschont. Welchen Eindruck das Studium seiner Kritik der christlichen Offenbarung auf Lessing gemacht hat, ist uns leider durch gleichzeitige, direkte Äußerungen Lessings nicht bezeugt; doch können wir ihn aus manchen Symptomen mit ziemlicher Sicherheit erschließen.

Es ist zum voraus zu vermuten, daß Lessing über der Schrift deren Urheber nicht vergessen hat. Reimarus hatte sich nicht verpflichtet gefühlt, durch offene Vertretung seines Unglaubens sein und seiner Kinder Glück zu gefährden. Was er von seinen religionsphilosophischen Gedanken veröffentlicht hatte, konnte sogar als schätzbarer Beitrag zur Verteidigung des Christentums auch von positiven Theologen gewürdigt werden; und den kirchlichen Schein hatte er so gut gewahrt, daß ihm bei seinem Ableben nachgesungen werden konnte:

Genieß der Seligkeit des Christen und des Weisen,
Der für die Ehre Gottes denkt.

Die Verantwortung für diese »Heuchelei« schob er dem Glaubenszwang zu, »welchen die Herren Theologen und Prediger vermöge ihrer Schmähungen und Verfolgungen den Bekennern einer vernünftigen Religion bis an ihren Tod anlegen«. Besondere Hochachtung konnte er Lessing dadurch nicht einflößen, der schon als junger Mensch (1751) der Meinung war: »einem ehrlichen Mann ist es nicht genug, die Wahrheit entdeckt zu haben; er tritt auch offenbar auf ihre Seite« (4, 377); der eben im Jahr 1769 das Publikum tadelte, daß es gegen alles, was Streitschrift heißt und ihr ähnlich sieht, allzu ekel sei, und als seine Denkungsart bekannte: »wer in dem allergeringsten Dinge für Wahrheit und Unwahrheit gleichgültig ist, wird mich nimmermehr überreden, daß er die Wahrheit bloß der Wahrheit wegen liebet«. (11, 4.) Darum konnte ihn der Blick auf Reimarus bloß warnen, das Bild seines Lebens nicht durch eine ähnliche Zweideutigkeit zu verunstalten. Aber wo Lessing nicht mit eitler Anmaßung zu tun hatte, trieb ihn seine natürliche Gutherzigkeit an, die Menschen lieber zu verstehen als zu richten. Daß Reimarus gegen Wahrheit und Unwahrheit nicht gleichgültig war, bewies das bloße Dasein seiner Schutzschrift, zeigte deren Ton aufs überzeugendste. Der mutigste war er freilich nicht gewesen; aber zum »Heuchler« hatte ihn wirklich nur die Unduldsamkeit der Kirche gemacht. So konnte Lessing sich sogar aufgefordert fühlen, durch nachträgliche Veröffentlichung der »Schutzschrift« die Ehre des sonst so trefflichen Mannes zu retten. Damit kam er ja zugleich vielen zu Hilfe, die unter derselben »Heuchelei« litten. – Daß solche Gedanken Lessing bewegten, ist nicht bloße Vermutung. Er bemerkt später selbst, daß des Reimarus Dringen auf Duldung der Deisten ihm Adam Neusers Schicksal ins Gedächtnis zurückgerufen habe, der gewiß nicht Moslem geworden wäre, wenn man ihn nicht aus der Christenheit hinaus verfolgt hätte; dem unglücklichen Mann wenigstens jetzt, nach 200 Jahren, bei der Nachwelt noch Gehör zu verschaffen, gereicht ihm zur lebhaften Befriedigung. (12, 267. 236.) Und von dem gegen Berengar von Tours erhobenen Vorwurf, daß er seine Meinung mit Fleiß dunkel und zweideutig vorgetragen habe, nimmt Lessing die Veranlassung zu einer Expektoration, bei der er wohl eher Reimarus als Berengar vor Augen hatte. »Ich weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit aufzuopfern; wenigstens sind Mut und Entschlossenheit, welche dazu gehören, keine Gaben, die wir uns selbst geben können. Aber das, weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar nicht zu lehren; sie klar und rund, ohne Rätsel, ohne Zurückhaltung, ohne Mißtrauen in ihre Kraft und Nützlichkeit zu lehren: und die Gaben, welche dazu erfordert werden, stehen in unserer Gewalt« (11, 67 f.). Wo Reimarus Wahrheit lehren wollte (im engen Kreis der Freunde, denen er die Schutzschrift mitteilte), lehrte er sie ganz, klar und rund, ohne Rätsel und Zurückhaltung; den Mut, Glück und Leben für die Wahrheit aufzuopfern, konnte er sich nicht geben.

Ferner ist bei einem Lessing, der immer mit Vorliebe die Partei des Angegriffenen nahm, zum voraus wahrscheinlich, daß er durch Reimarus' leidenschaftlichen Angriff auf die Offenbarungsreligion sich eher mahnen ließ, in seinem Urteil behutsamer zu werden. Ein indirektes Zeugnis dafür gibt uns vielleicht ein Brief Lessings an Mendelssohn vom 9. Jan. 1771. Lessing bemerkt darin, daß er nicht erst seit gestern besorge, er möchte, indem er gewisse Vorurteile weggeworfen, ein wenig zuviel mit weggeworfen haben, was er werde wieder holen müssen. »Daß ich es zum Teil nicht schon getan, daran hat mich nur die Furcht verhindert, nach und nach den ganzen Unrat wieder in das Haus zu schleppen. Es ist unendlich schwer zu wissen, wann und wo man bleiben soll, und Tausenden für einen ist das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo sie des Nachdenkens müde geworden. Ob dieses nicht auch manchmal der Fall unseres Ungenannten gewesen, will ich nicht so geradezu leugnen. Nur Unbilligkeit möchte ich nicht gern auf ihn kommen lassen.« Deren hatte Mendelssohn den Unbekannten beschuldigt (27. Nov. 1770), da er die Personen der heiligen Geschichte nicht nach den Sitten und Kenntnissen ihrer Zeit, nicht in Vergleichung mit ihren Nebenmenschen beurteile. Lessing findet seinen Einspruch sehr begründet, erwidert aber, daß auf solche historische Würdigung nur Charaktere und Handlungen Anspruch haben, die weiter nichts sein sollen als Charaktere und Handlungen bloßer Menschen. »Aber sind Patriarchen und Propheten Leute, zu denen wir uns herablassen sollen? Sie sollen vielmehr die erhabensten Muster der Tugend sein, und die geringste ihrer Handlungen soll in Absicht auf eine gewisse göttliche Ökonomie für uns aufgezeichnet sein. Wenn also an Dingen, die sich nur kaum entschuldigen lassen, der Pöbel mit Gewalt etwas Göttliches finden soll und will: so tut, denke ich, der Weise unrecht, wenn er diese Dinge bloß entschuldigt. Er muß vielmehr mit aller Verachtung von ihnen sprechen, die sie in unsern bessern Zeiten verdienen würden, mit aller der Verachtung, die sie in noch bessern, noch aufgeklärtem Zeiten nur immer verdienen können.« Reimarus hat also recht, wenn er am Ideal mißt, was für ein Ideal gelten will; er hat recht gegen den Menschen vergötternden Pöbel. Aber ein Vorurteil überwinden heißt noch nicht die Sache richtig verstehen, die unter dem Vorurteil freilich falsch verstanden wird. Indem Reimarus das nicht beachtete, nahm er als Ziel seines Nachdenkens die Stelle, da er des Nachdenkens müde geworden war. Lessing aber mochte durch ihn angetrieben werden, nun erst den richtigen Sinn der geschichtlichen Tatsachen zu suchen, die von der Orthodoxie falsch gedeutet werden. Und dabei fand er sich versucht, manchen guten Gedanken des christlichen Glaubens wieder aufzunehmen, den er mit dem Vorurteil, darin eine fixe göttliche Wahrheit zu haben, weggeworfen hatte. So verdanken wir des Reimarus »Schutzschrift« Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«.

Welches war nun der Beweggrund, der Lessing zur Herausgabe der »Schutzschrift« antrieb? Da er im Okt. 1768 Ebert, wie schon bemerkt, gesteht, er sei des pro und contra im Punkte der Religion gleich satt, und den Freund mahnt, lieber von geschnittenen Steinen zu schreiben: »Ihr werdet sicherlich wenig Gutes, aber auch wenig Böses stiften«; da er im November desselben Jahres gegen Mendelssohn seine Beschäftigung mit den Altertümern durch die Bemerkung entschuldigt: »mit allen zu unserer wahren Besserung wesentlichen Studien ist man so bald fertig, daß einem Zeit und Weile lang wird«: so muß man doch wohl nach einem bestimmten Grund dafür suchen, daß er sich diesen Studien bald darauf mit mehr Eifer als je hingab. Aber Lessing hat sich nicht herabgelassen, uns darüber Rechenschaft abzulegen. Wir sind darauf angewiesen, seinen eigentlichen Beweggrund aus unsicheren und widersprechenden Andeutungen zu erschließen.

In dem oben benützten Brief an Mendelssohn bittet er diesen, Lavater auf seine Bekehrungsversuche mit aller möglichen Freiheit, mit allem nur ersinnlichen Nachdruck zu antworten, und fügt hinzu: »Sie allein dürfen und können [als Jude] in dieser Sache so sprechen und schreiben und sind daher unendlich glücklicher als andre ehrliche Leute, die den Umsturz des abscheulichsten Gebäudes von Unsinn nicht anders als unter dem Vorwande, es neu zu unterbauen, befördern können.« Dagegen will er im Jahr 1777, in seiner Vorbemerkung zu der Fortsetzung der Fragmente, von einem Leser des ersten Fragments gebeten worden sein, das Dreisteste und Stärkste aus dem Werk des Unbekannten mitzuteilen, »um bei Kleingläubigen den Verdacht nicht zu erwecken, was für unbeantwortliche Dinge so geheim gehalten würden«; und er spricht den Wunsch aus, daß der Unbekannte, der dem Ideale eines echten Bestreiters nahe gekommen, bald einen Mann erwecken möchte, der dem Ideal eines echten Verteidigers der Religion ebenso nahe käme (11, 303. 430). Er hat sich auch ferner immer energisch verbeten, für einen Feind des Christentums ausgegeben zu werden. Scheinbar ganz offen spricht er sich über die Herausgabe des Ungenannten im Frühjahr 1778 in einer projektierten Schrift gegen Mascho aus: »Ich habe ihn darum in die Welt gezogen, weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem Dache wohnen wollte. Er lag mir unaufhörlich in den Ohren; und ich bekenne, daß ich seinen Zuraunungen nicht immer so viel entgegenzusetzen wußte, als ich gewünscht hätte. Uns, dacht ich, muß ein Dritter entweder näher zusammen oder weiter auseinander bringen: und dieser Dritte kann niemand als das Publikum sein.« (16, 406.)

Diese Äußerungen mögen alle wahr sein: aber es ist keine für sich, sie sind auch nicht zusammen die Wahrheit. Daß Lessing den Umsturz »des abscheulichsten Gebäudes von Unsinn«, unter dem Vorwande, es neu zu unterbauen, zu befördern wünschte, ist ihm sehr wohl zuzutrauen; aber man vergesse über diesem frommen Wunsche nicht, was er unmittelbar zuvor gestanden: daß er fürchte, mit gewissen Vorurteilen manches weggeworfen zu haben, was er werde wieder holen müssen. Ums bloße Umstürzen konnte es ihm also nicht zu tun sein. Deshalb ist es auch glaublich, daß Lessing zu zeigen wünschte, die Angriffe der Ungläubigen seien für die christliche Religion nicht so gefährlich, wie gewisse auf ein System eingeschworene Theologen glauben machen wollen; aber das erwartete und wünschte er gewiß nicht, daß der zu hoffende ideale Verteidiger des Christentums gegen Reimarus als idealen Bestreiter desselben das schlichte Laienchristentum, wie die Laien selbst es auffaßten, zu retten vermöchte. Endlich ist auch anzunehmen, daß Lessing durch die entstehende Diskussion in seiner eigenen Auseinandersetzung mit Reimarus gefördert zu werden hoffte: nur hätte er bloß aus diesem Grunde einen Kampf, wie er werden mußte, gewiß nicht entfacht. Was war denn nun sein eigentlicher, entscheidender Beweggrund?

Um diesen zu verstehen, müssen wir noch bedenken, daß Lessing in jener Zeit eine schielende Vermittlungstheologie, die immer mehr um sich griff, viel verderblicher fand als die konsequente Orthodoxie. Diese schränkte den Gebrauch der Vernunft ein, jene verfälschte ihn. »Mit der Orthodoxie (schreibt er dem Bruder Karl den 2. Febr. 1774) war man, Gott sei Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welcher eine jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andre zu hindern. Aber was tut man nun? Man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen … Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, das man jetzt an die Stelle setzen will; und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt.« Wenn nun Lessing (nach demselben Brief) nicht nur der Welt gönnt, daß man sie aufzuklären suche, nicht nur von Herzen wünscht, daß ein jeder über die Religion vernünftig denke, sondern sich selbst verabscheuen müßte, hätte er bei seinen »Sudeleien« einen andern Zweck als diesen: so muß er vor allem diese unklare und unwahre Verbindung von Vernunft und Christentum zu sprengen suchen. Dann, und erst dann, konnte der Prozeß zwischen Vernunft und Offenbarung neu aufgenommen, ehrlich durchgefochten und vielleicht auch durch einen haltbaren Vergleich abgeschlossen werden. Was Lessing zur Erreichung dieses Endziels werde tun können, mußte die Zeit weisen. Zunächst war ihm in Reimarus ein Mann in die Hände gelaufen, der seinem Ideale eines echten Bestreiters des Christentums nahe kam: der die Sache mit Ernst und Freimütigkeit anfaßte und zu keiner Verschleierung, keiner Verkleisterung des Mißverhältnisses zwischen Vernunft und Christentum die Hand bot. Den faulen Frieden durch einen Dritten brechen zu lassen, entsprach nicht bloß Lessings Neigung, die eigenen Gedanken als Berichtigung einer fremden Meinung zu geben, sondern ermöglichte ihm auch, sofort ganz unauffällig die Rolle des ehrlichen Maklers zu übernehmen. Daß er sich aber wirklich entschloß, durch Herausgabe der Schutzschrift einen Kampf zu eröffnen, der bitterböse werden konnte, dazu trieb ihn das Mitgefühl mit so manchem braven Mann, dessen Charakter unter dem bestehenden religiösen System Not litt, wie auch die Sorge für sich selbst, der ja den Umsturz des abscheulichsten Gebäudes von Unsinn nur unter dem Vorwande, es neu zu unterbauen, befördern konnte.

 

3.

Schon im Jahr 1771 wollte Lessing gegen den Rat der Berliner Freunde die ganze »Schutzschrift« veröffentlichen. Der Verleger aber, der sie übernommen hätte, stellte die Bedingung, daß sie die Zensur passiere, und diese wollte den Druck zwar nicht verhindern, aber auch nicht ihr vidi darunter setzen. Nachdem sich also dieser Plan zerschlagen hatte, eilte Lessing mit der Herausgabe auch nicht mehr; es kam ihm wohl der Gedanke, daß er sie erst vorbereiten müsse, damit ihre Wirkung seiner Absicht entsprechen könne. Wenigstens hat er die aufgenötigte Verzögerung in dieser Richtung trefflich benützt und mit der Veröffentlichung der Fragmente gewartet, bis sich im Jahr 1774 eine scheinbar ganz ungesuchte Veranlassung dazu gab.

Wenn Lessing einen reellen Erfolg haben wollte, mußte er sich zuerst das Vertrauen der Orthodoxie erwerben, daß er auch ihr gerecht zu werden vermöge; mußte er versuchen, die starre Rechthaberei der Orthodoxen und der Aufklärer zu einer den Verhältnissen Rechnung tragenden, klugen, aber ehrlichen Vertretung ihrer Grundsätze zu mildern; mußte er die Gemüter einem ersprießlichen Zusammenwirken geneigt machen. Diese Absicht ist bereits in dem Berengarius Turonensis (1770) deutlich zu erkennen; sie zieht sich als roter Faden durch die zwei Aufsätze hindurch, in denen er 1773 Leibnizens Stellung zum Dogma erläutert und rechtfertigt, und durch die Rettung des Adam Neuser (1774); sie tritt in den Anmerkungen, womit er das erste Fragment des Ungenannten begleitet, offen zutage. Der Natur der Sache nach konnte er sie in den vorausgehenden Aufsätzen nur nebenbei und verdeckt verfolgen; wir dürfen trotzdem in ihr den eigentlichen Beweggrund sehen, der ihn zur Veröffentlichung derselben bestimmte.

Daß Lessing in Berengar von Tours einen vorreformatorischen Zeugen für die lutherische Abendmahlslehre nachwies, war ein freundlicher Dienst, den er den orthodoxen Bekennern »seines« Glaubens (11, 67) erwies und der von ihnen als solcher anerkannt wurde. Er lehnt es dabei freilich ab, auf die dogmatische Frage einzugehen; er versichert sogar ausdrücklich, daß es ihm nicht einfallen könne, »die Hand nach der schwankenden Lade des Bundes auszustrecken« (11, 161). Doch zeigt er etwas mehr als historische Unbefangenheit, wenn er die Vermutung ausspricht, daß die lutherische Auffassung des Abendmahls die gerade Fortentwicklung der urchristlichen sei, von der die reformierte und katholische nach entgegengesetzter Richtung sich entferne. Dadurch setzte er sich bei den lutherischen Theologen in einen so lieblichen Geruch von Rechtgläubigkeit, daß er Eva König ankündigen konnte, er werde noch für nichts Geringeres als für eine Stütze der Kirche ausgeschrien werden. »Ob mich das aber so recht kleiden möchte, und ob ich das gute Lob nicht bald wieder verlieren dürfte, das wird die Zeit lehren.« (25. Okt. 1770.) Aber er benützt zugleich das Beispiel des Berengar, um einen Begriff der Ketzerei aufzustellen, der die starre Orthodoxie sprengt. »Das Ding, was man Ketzer nennt, hat eine sehr gute Seite. Es ist ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen wenigstens sehen wollen. Die Frage ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er selbst sehen wollen. Ja, in gewissen Jahrhunderten ist der Name Ketzer die größte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können« (11, 62 f.). Das mochte der orthodoxe Lutheraner vom 11. Jahrhundert, von einem Berengar gerne zugeben. Aber Lessing deutet auch an, daß er unter diese gewissen Jahrhunderte sein Jahrhundert mit einrechnet und die Anwendung auf sich selbst macht. Es ist ihm, wie er offen sagt, von größter Wichtigkeit, durch die von ihm entdeckte Schrift des Berengar die Legende von dessen schließlicher Bekehrung zerstören zu können; er gibt zu, daß davon ein großer Teil seiner Beruhigung abhänge. Wenn ein Berengar, dessen Ketzerei nur darin bestand, daß er seiner Zeit in der Erkenntnis der Wahrheit vorauseilte, im Angesichte des Todes so hätte umgekehrt werden können, daß Wahrheit für ihn Wahrheit zu sein aufhörte, so möchte Lessing aller Untersuchung der Wahrheit entsagen. »Denn wozu diese fruchtlosen Untersuchungen, wenn sich über die Vorurteile unserer ersten Erziehung doch kein dauerhafter Sieg erhalten läßt? … Nein, nein, einen so grausamen Spott treibet der Schöpfer mit uns nicht. Wer daher in Bestreitung aller Arten von Vorurteilen niemals schüchtern, niemals laß zu werden wünscht, der besiege ja dieses Vorurteil zuerst, daß die Eindrücke unserer Kindheit nicht zu vernichten wären. Die Begriffe, die uns von Wahrheit und Unwahrheit in unserer Kindheit beigebracht werden, sind gerade die allerflachsten, die sich am allerleichtesten durch selbsterworbene Begriffe auf ewig überstreichen lassen: und diejenigen, bei denen sie in einem späteren Alter wieder zum Vorschein kommen, legen dadurch wider sich selbst das Zeugnis ab, daß die Begriffe, unter welchen sie jene begraben wollen, noch flacher, noch seichter, noch weniger ihr Eigentum gewesen als die Begriffe ihrer Kindheit« (11, 79 f.). Also ist der Wahrheitsforscher als solcher und zu allen Zeiten »Ketzer«. Wie weit er von der »Orthodoxie« seiner Zeit abweichen wird, ist unwesentlich; aber er kann sich nicht durch seine Kindheit, d. h. durch die Überlieferung, die ihm als heilige Überzeugung suggeriert wurde, tyrannisieren lassen. Es ist ein Hauptstück von Lessings religiösem Glauben, daß diese Suggestion wieder völlig zerstört werden könne.

Ein anderes aber ist Eifer für die Wahrheit, ein anderes Fanatismus der Aufklärung. Gerade der wahre Ketzer, nämlich Selbstdenker, sieht seine Aufgabe nicht bloß im Widersprechen, Verneinen. Dies zeigt Lessing an Leibniz. Die Aufklärung konnte sich in die Rechtgläubigkeit dieses Philosophen nicht finden, der sogar die Ewigkeit der Höllenstrafen und die Dreieinigkeit verteidigt hatte; und da man seinen Scharfsinn nicht leugnen konnte, verdächtigte man seinen Charakter. Er habe, warf ihm Eberhard vor, um seine Philosophie allgemein zu machen, sie den herrschenden Lehrsätzen aller Parteien angepaßt; habe sie allen Parteien als für ihre Meinung günstig und vorteilhaft zu zeigen gesucht; habe den Lehrsätzen andrer einen erträglichen Sinn beigelegt, nach welchem er sie mit seinem System in Übereinstimmung gebracht habe, ohne ihnen selbst beizupflichten. Lessings Verehrung für Leibniz machte es ihm zur Pflicht, dessen Charakter zu retten; und das gab ihm zugleich die erwünschte Gelegenheit, der überhandnehmenden schielenden Vermittlungstheologie Leibnizens Methode, Glauben und Denken zu vereinigen, als die bessere, ehrlichere entgegenzusetzen.

Er bestreitet, daß Leibniz seine Philosophie den herrschenden Lehren aller Parteien angepaßt habe; vielmehr habe er die herrschenden Lehrsätze aller Parteien seinem System angepaßt. »Ich irre mich sehr«, meint Lessing, »oder beides ist nichts weniger als einerlei. Leibniz nahm bei seiner Untersuchung der Wahrheit nie Rücksicht auf angenommene Meinungen; aber in der festen Überzeugung, daß keine Meinung angenommen sein könnte, die nicht von einer gewissen Seite, in einem gewissen Verstande wahr sei, hatte er wohl oft die Gefälligkeit, diese Meinung so lange zu wenden und zu drehen, bis es ihm gelang, diese gewisse Seite sichtbar, diesen gewissen Verstand begreiflich zu machen.« »Er tat damit nichts mehr und nichts weniger, als was alle alte Philosophen in ihrem exoterischen Vortrage zu tun pflegten. Er beobachtete eine Klugheit, für die freilich unsere neuesten Philosophen viel zu weise geworden sind. Er setzte willig sein System beiseite und suchte einen jeden auf demjenigen Wege zur Wahrheit zu führen, auf welchem er ihn fand.« (11, 469 f.). Der Vorwurf gegen Leibniz verwandelt sich also in ein Lob. Gerade weil es ihm nicht um sein System zu tun war, sondern um die Förderung der Erkenntnis, braucht er nicht am Ausdruck der fremden Meinung zu nörgeln, sondern konnte dieser ihre beste Seite abgewinnen; und so konnte er andere geneigt machen, ihre Gedanken weiter zu entwickeln, nicht in der Richtung auf sein System, aber in der Richtung auf die Wahrheit. Ferner ist Leibniz zu gute zu halten, daß er nach der altväterschen Meinung zweierlei Gründe für die Wahrheit unserer Religion unterschied und anerkannte: natürliche, erklärbare, menschliche – und unerklärbare, göttliche; daß er demgemäß auch eine doppelte Überzeugung hatte: ein Wissen, das er sich und andern beweisen konnte; und einen Glauben, von dessen Wahrheit er auf unerklärbare Weise überführt war. »Denn wie konnte er voraussehen,« bemerkt Lessing mit beißender Ironie, »daß bald … Männer aufstehen werden, die … alle erklärbare, aber bisher unzulängliche Gründe zu einer Bündigkeit und Stärke erheben würden, wovon er gar keinen Begriff hatte? Er mußte leider aus Vorurteilen seiner Jugend dafür halten, daß die christliche Religion bloß vermöge eines oder mehrerer oder auch aller erklärbaren Gründe glauben sie eigentlich nicht glauben heiße; und daß das einzige Buch, welches im eigentlichen Verstande für die Wahrheit der Bibel jemals geschrieben worden und geschrieben werden könne, kein anderes als die Bibel selbst sei.« Also lieber eine doppelte Wahrheit als eine prätentiöse, erschlichene Einheit der Überzeugung; lieber ein Glaube aus unerklärbaren Gründen neben einem Wissen aus wirklich nötigenden Gründen als ein bewiesener – Glaube, dessen Gründe auf eine billige Würdigung hoffen müssen. (12, 97 f.)

So hat Leibniz die gemeine Lehre von der Verdammung sich wohl gefallen lassen, ja sie noch bestärken können und die Wiederbringung aller Dinge bestreiten müssen; denn jene enthält, diese verleugnet eine große Wahrheit seiner esoterischen Philosophie. Er kann sich nichts insulieret, nichts ohne Folgen, ohne ewige Folgen denken: also muß auch die Sünde ihre ewige Folge haben. Jede Verzögerung auf dem Wege zur Vollkommenheit ist in alle Ewigkeit nicht einzubringen, bestraft sich also in alle Ewigkeit selbst. Davon macht man sich freilich oft einen rohen und wüsten Begriff: man denkt sich die ewigen Strafen als ewige Qualen von intensiver Unendlichkeit und ununterbrochener Stetigkeit, also zugleich als zweck- und sinnlose Qualen: denn ihre Intensität und Stetigkeit macht eine Besserung des Bestraften unmöglich. Aber man korrigiere doch diese Verzerrung der Wahrheit nicht in eine richtige Unwahrheit um, indem man die Strafe, also die Folge der Sünde, endlich macht. Vielmehr verbessere man seine Psychologie, bedenke, daß der beste Mensch noch viel Böses hat, der schlimmste nicht ohne alles Gute ist: »so müssen die Folgen des Bösen jenem auch in den Himmel nachziehen und die Folgen des Guten diesen auch bis in die Hölle begleiten; ein jeder muß seine Hölle noch im Himmel, und seinen Himmel noch in der Hölle finden.« Dadurch wird die empörende, sinnlose intensive Unendlichkeit des Strafgefühls aufgehoben; und nun ist die Endlosigkeit der Strafe der Besserung des Bestraften so wenig hinderlich, daß sie diese sogar bedingt; cessante causa cessat effectus. Wenn aber die Schrift die Strafe, die nur die natürliche Folge der Sünde sein kann, noch besonders androht, als ob sie nur auf Veranlassung der Sünde dem Sünder angetan würde; und wenn sie die Bilder, wodurch sie eine lebhafte Vorstellung von der Unglückseligkeit der Lasterhaften erwecken will, zumeist von dem körperlichen Schmerze hernimmt: so hat eine höhere Weisheit eben für zuträglich erkannt, sich der gemeinen menschlichen Empfindung gemäß auszudrücken. Übrigens ist die grausame Vorstellung von ewigen Höllenqualen nicht speziell dem Christentum, der geoffenbarten Religion zur Last zu legen. Sie ist vielmehr allen Religionen gemein, muß daher auch ihren Grund in der Vernunft haben. Oder umgekehrt: die freilich mehr dunkel empfundene als klar erkannte Wahrheit von den ewigen Folgen der Sünde und die Lehre von den ewigen Strafen ist im Grunde eins, ist nur in den verschiedenen Religionen durch die Bemühung, diese Strafen sinnlich zu machen, mehr oder weniger verstellt (11, 473-85). – Wenn ferner Leibniz die Lehre von der Dreieinigkeit nicht sowohl mit philosophischen Gründen unterstützen wollte; wenn er sie nur gegen den Vorwurf des Widerspruchs mit sich selbst und mit anerkannten Wahrheiten der Vernunft retten, nur zeigen wollte, daß ein solches Geheimnis gegen alle Anfälle der Sophisterei bestehen könne, solange man sich damit in den Schranken eines Geheimnisses halte: so hat er die Kompetenz des Philosophen in keiner Weise überschritten. Daß er lebenslang aus eingestandenermaßen unerklärlichen Gründen der orthodoxen Meinung blieb, die er in seiner Jugend in sich aufgenommen hatte, ist seine Privatangelegenheit, über die andern ein Urteil nicht zusteht. Den Sozinianismus aber, der Jesus die Gottheit abspricht, die göttliche Verehrung läßt, mußte er als Abgötterei verwerfen: »seine ganze, ihm eigene Philosophie war es, die sich gegen den abergläubischen Unsinn empörte, daß ein bloßes Geschöpf so vollkommen sein könne, daß es neben dem Schöpfer auch nur genannt zu werden verdiene.« Er hat also nur abgelehnt, an Stelle eines unerklärbaren Geheimnisses einen offenbaren Irrtum zu setzen. Darum hat er auch mit Recht diejenigen Unitarier, die Jesus neben Gott nicht verehren mögen, für die bessern und vernünftigem gehalten. »Sie haben mit den Sozinianern den nämlichen Irrtum gemein, aber sie handeln diesem Irrtum mehr konsequent. Ob sie aber sonach viel oder wenig von den Mahometanern verschieden sind, was liegt daran? Nicht der Name macht es, sondern die Sache; und wer die Sache zu lehren oder zu insinuieren den Mut hat, der müßte auch freimütig genug sein, dem Namen nicht auszuweichen.« Es läßt sich ja auch nicht leugnen, »daß, wenn Christus nicht wahrer Gott ist, die mahometanische Religion eine unstreitige Verbesserung der christlichen war und Mahomet selbst ein ungleich größerer und würdigerer Mann gewesen ist als Christus; indem er weit wahrhafter, weit vorsichtiger und eifriger für die Ehre des einzigen Gottes gewesen als Christus, der, wenn er sich selbst auch nie für Gott ausgegeben hätte, doch wenigstens hundert zweideutige Dinge gesagt hat, sich von der Einfalt dafür halten zu lassen, dahingegen dem Mahomet keine einzige dergleichen Zweideutigkeit zu Schulden kömmt.« Auch um ihrer sonstigen Philosophie willen hat Leibniz mit Recht die Sozinianer unter die Mahometaner gesetzt: unter diesen gibt es Gelehrte, welche von der Größe Gottes sich einen würdigen Begriff machen, während jene, um sich nur von der scholastischen Theologie zu entfernen, sogar die natürliche Theologie abschwächen, indem sie Gott das Vorauswissen der zufälligen Dinge absprechen, ihn also verendlichen. Leibniz bekämpft also in ihnen die Seichtigkeit des Geistes, welche macht, daß man ebenso leicht in der Theologie als in der Philosophie auf halbem Weg stehen bleibt. (12, 90-99.)

Leibnizens abschätziges Urteil über die Sozinianer wiederholt Lessing in dem Aufsatz über Adam Neuser, und jetzt unzweideutig als sein Urteil. Er fügt hinzu, was nach seiner Meinung in unseren Zeiten nicht laut genug gesagt, nicht oft genug wiederholt werden kann: daß Socinus selbst an Franciscus Davidis zum Verfolger geworden sei, weil dieser die praktische Konsequenz seiner Christologie zog. »So gewiß ist es, daß Sektierer, wenn sie auch noch so wenig glauben, gegen die, welche auch dieses Wenige nicht glauben wollen, bei Gelegenheit ebenso intolerant zu sein geneigt sind, als der abergläubischste Orthodoxe nur immer gegen sie sein kann.« Indem er nun aber auf die Hinrichtung von Neusers Freund Sylvanus zu sprechen kommt, ergreift er die Gelegenheit, geistliche Verfolgungssucht mit den schärfsten Worten zu brandmarken. »Die Theologen verlangten Blut, durchaus Blut: die politischen Räte hingegen stimmten größtenteils auf eine gelindere Bestrafung … Zum Unglück ist auch das Bedenken der Theologen selbst noch vorhanden … Welch ein Bedenken! Wem müssen die Haare nicht zu Berge stehen bei diesem Bedenken! Nein, so lange als Ketzergerichte in der Welt sind, ist nie aus einem eine sophistischere, grausamere Schrift ergangen! Denn was kann sophistischer sein, als daß sie durchgängig nur aus dem Grunde der Gotteslästerung entscheiden? Als ob die Beklagten die Gotteslästerung eingestanden! Als ob die Beklagten ihnen die Gotteslästerung nicht vielmehr zurückgeschoben! Als ob die Beklagten, wenn sie Macht gehabt hätten, nicht völlig aus eben dem Grunde ihnen selbst den Kopf hätten absprechen können! Und was kann grausamer sein, als sich durch keine Reue, durch keine versprochene Besserung wollen erweichen lassen? Waren es Menschen, welche schreiben konnten: ›Denn daß sie (die abscheulichen Bekenner nur des einigen, nicht dreieinigen Gottes) mit ihrer Bekenntnis Besserung verheißen, wäre ihnen wohl zu wünschen, daß ihnen Gott eine ernstliche Bekehrung verleihen wolle; aber wie dieses bei Gott allein stehet, daß er sich erbarmet, des er sich erbarmen will, also gebühret es dem Menschen, daß er seine Gerichte, die er ihnen mit ausdrücklichen Worten vorgeschrieben und befohlen hat, standhaftig exequiere‹ –? Also: nur erst den Kopf ab; mit der Besserung wird es sich schon finden, so Gott will! Welch ein Glück, daß die Zeiten vorbei sind, in welchen solche Gesinnungen Religion und Frömmigkeit hießen! daß sie wenigstens unter dem Himmel vorbei sind, unter dem wir leben! Aber welch ein demütigender Gedanke, wenn es möglich wäre, daß sie auch unter diesem Himmel einmal wiederkommen könnten!« (12, 238 f.) – Die Verfolgungssucht ist um so abscheulicher, weil sie die Verfolgten auch verderbt: sie hat Neuser endlich zu einem Schritt gebracht, den freilich niemand verteidigen kann: daß er Muhammedaner wurde. Aber wenn er darin nicht zu rechtfertigen ist, darf man darum von seinem moralischen Charakter doch nicht zu gering denken. Denn es ist nicht richtig, »daß schlechterdings nur ein höchst lasterhafter Mensch den Schritt tun könne, den Neuser getan«; und es ist ebensowenig richtig, »daß dem, welcher die christliche Religion mit der türkischen vertauscht habe, wenn er nun auch bei dieser keine Beruhigung finde, nichts übrig bleibe, als sich in den äußersten Unglauben zu stürzen, welcher zu dem liederlichsten Leben berechtige und am Ende unvermeidliche Verzweiflung nach sich ziehe«. Mag das bei den Renegaten Regel sein (»Recht wohl, daß sich die Religionen untereinander den Übertritt selbst so erschwert haben, daß nicht leicht ein ehrlicher Mann zu einer von der anderen laufen wird«!), so gibt es doch Ausnahmen; und Neuser war eine Ausnahme, wenn man anders dem Zeugnis der Zeitgenossen mehr glauben muß als der Nachrede (12, 252. 230).

Aber Lessing läßt sich von dem Eifer, weder des Angriffs noch der Verteidigung, nicht zu weit reißen. So gering er von den Sozinianern denkt wegen ihrer philosophischen und theologischen Halbheit, so protestiert er doch dagegen, daß man Neuser, der Christus auch die göttliche Verehrung versagte, einen Sozinianer nennt. »Tut man dieses in der Absicht, die Sozinianer desto verhaßter zu machen, so ist es Bosheit … Aus der Übereinstimmung der Lehrsätze ist eine solche Benennung nicht zu rechtfertigen: denn die Sozinianer protestieren wider diese Übereinstimmung und haben also recht sich zu beklagen, daß man alle Arten der Unitarier unter ihrem Namen in eine Klasse werfen will; ebenso wie unter diesen auch einige sind, die nicht einmal gern den Namen der Sozinianer auf sich möchten kommen lassen.« (12, 244.) Zweitens hält er für richtig, daß man in der Konsequenz auch so konsequent sei, mit der Sache den Namen aufzugeben. Wie die Sozinianer können sich auch die Christen verbitten, daß sich mit ihrem Namen nennt, wer nicht ihrer Meinung ist. So war durch Neusers Schriften eine polnische Gemeinde weiter gebracht, als eine unitarische Gemeinde gehen müßte, wenn sie noch mit einigem Rechte den Namen einer christlichen Gemeinde führen wollte. »Denn wahrlich gingen auch Franc. Davidis und alle diejenigen nicht so weit, welche Christo mit der Gottheit auch die Anbetung streitig machten; indem sie das Alte und Neue Testament doch noch immer allein für göttliche Bücher erkannten und selbst ihre Beweise daraus führten, so daß sie durch diese göttlich eingegebenen Bücher zum mindesten die christliche Moral bestätigt und außer allem Zweifel gesetzt glaubten. Jene polnischen Unitarier hingegen, die auch den Alkoran für göttlich hielten, waren entweder nichts als unbeschnittene Türken oder, wenn ›göttlich‹ hier bloß ›gut‹ und ›erbaulich‹ bedeuten sollte, nichts als Deisten, in welchen, wenn alle polnischen Unitarier mit ihnen übereinstimmten, man wohl nicht sagen kann, daß 1658 und 1660 ›Christen‹ aus Polen vertrieben worden.« (12, 250.) Also hat nach Lessings Meinung der Deist ein Recht auf den Namen eines Christen nicht mehr!

Nur nebenbei, aber gar nicht zufällig, rühmt Lessing endlich einen gewissen Erastus, der mit Neuser eine so vertraute Freundschaft unterhalten hatte, daß er bei vielen hernach selbst des Arianismus verdächtig wurde. Mit Unrecht: »denn ein anderes ist, der Vertraute irriger Lehrsätze sein; und ein anderes, solche Lehrsätze selbst hegen. Ich kann diesen Erastus (fährt Lessing fort) nicht anders als hochschätzen, dem ein Neuser seine geheimsten, Gedanken anvertrauen durfte, und der doch auch wiederum mit einem strengen Orthodoxen (Zanchius) so freundschaftlich und unanstößig leben konnte, daß dieser Orthodoxe selbst nicht Anstand nahm, sein eifrigster Verteidiger zu werden.« (12, 251.)

Neuser bringt ihm nun, wie Lessing sagt, Fragmente eines sehr merkwürdigen Werks in Erinnerung, das sich unter den allerneuesten Handschriften seiner Bibliothek befinde; – oder vielmehr: nun darf er an deren Herausgabe denken, da er das möglichste getan hat, daß ihre Veröffentlichung in seinem Sinne aufgenommen werde und wirke. Denn er hatte in Sachen des Glaubens eine wirklich musterhafte Unbefangenheit des sittlichen Urteils bewiesen; er hatte die Unduldsamkeit gebrandmarkt, wo er sie fand, bei den Sozinianern so gut wie bei der lutherischen und reformierten Orthodoxie; er hatte nicht bloß ihre Härte dem Abscheu preisgegeben, sondern auch auf ihre entsittlichenden Wirkungen hingewiesen; er hatte den bloß Autoritätsgläubigen gezeigt, daß sie ruhig und mit Ehren ihres Glaubens leben können, wenn sie ihn nur nicht für verstandesmäßig bewiesene Wahrheit ausgeben – also ihn nur seinem richtigen Sinne gemäß auffaßten; er hatte anderen, die von der wesentlichen Wahrheit des Dogmas überzeugt waren, aber an seinem Ausdruck Anstoß nähmen, ein treffliches Beispiel dafür gegeben, wie man das Exoterische der Religion zugleich abstreifen und würdigen könne; er hatte angedeutet, daß richtige Nichtchristen allerdings auch den Christennamen aufgeben sollten; er hatte in Betreff seiner selbst den Gedanken nahegelegt, daß er wohl der Vertraute irriger Lehrsätze sein könne, ohne sie zu teilen; er hatte etwaige orthodoxe Freunde vor die Wahl gestellt, ob sie lieber die Richter des Sylvanus oder die Verteidiger des Erastus werden wollen: wer überhaupt Ohren hatte zu hören, der mußte nun hören. So gab er denn dem Ungenannten das Wort, nicht ohne noch zum voraus besonders darauf hinzuweisen, daß dieser mit äußerster Freimütigkeit, aber auch mit äußerstem Ernste geschrieben habe, seine Würde nie vergesse, sich nirgends Spöttereien und Possen erlaube, überhaupt in seiner Schreibart und in seinen Gesinnungen ein wahrer gesetzter Deutscher sei.

Es erschien also das erste Fragment: »von Duldung der Deisten«. Wer Lessing gefolgt war, mußte ergriffen werden von der Klage des Ungenannten, daß so viele Vernunftgläubige zu ihrem inneren Verdrusse sich mit Heuchelei behelfen müssen; von seiner Frage: »Wer ist also an der Heuchelei so vieler bedrückten Vernünftigen anders schuld als der mit so manchem zeitlichen Unglück verknüpfte Glaubenszwang, welchen die Herren Theologi und Prediger, vermöge ihrer Schmähungen und Verfolgungen, den Bekennern einer vernünftigen Religion bis in den Tod anlegen?« (12, 257 f.) Und es mußte dem aufmerksamen Leser auch der Vorschlag einleuchten, daß den Deisten von den Christen eine ähnliche Stellung eingeräumt werden möchte wie den Proselyten des Tores von den Juden. (12, 263 ff.)

Deshalb legt auch Lessing in einem Nachwort noch einmal den Finger darauf, daß Neuser durch die Verfolgung in den Muhammedanismus hineingedrängt worden sei. In Betreff der Proselyten des Tores aber bemerkt er, es sei noch nicht erwiesen, »daß sie auch alle die Freiheit unter den Juden genossen, auf welche die heutigen Deisten unter den Christen Anspruch machen.« Denn »unsere Deisten wollen ohne alle Bedingung geduldet sein. Sie wollen die Freiheit haben, die christliche Religion zu bestreiten, und doch geduldet sein. Sie wollen die Freiheit haben, den Gott der Christen zu verlachen, und doch geduldet sein. Das ist freilich ein wenig viel: und ganz gewiß mehr, als ihren vermeinten Vorgängern in der alten jüdischen Kirche erlaubt war.« Es wären also zuerst »Bedingungen herzuleiten, unter welchen sich auch die Christen könnten und müßten gefallen lassen, Deisten in ihren Pfählen zu dulden.« (12, 267 f.) Zum Schlusse warnt er noch davor, das Heil in einem verwaschenen Gemeinchristentum, einem »biblischen« oder »vernünftigen« Christentum zu suchen, von dem man nur so eigentlich nicht weiß, weder wo ihm die Vernunft, noch wo ihm das Christentum sitzt, und das von seiner Toleranz schon sehr bedenkliche Proben gegeben hat. (12, 270 f.)

 

4.

Lessing hatte seine Sache zu fein angelegt. Der Gedanke, daß Bedingungen ausfindig gemacht werden müßten, unter denen die Deisten inmitten der Christen offen ihrer Überzeugung leben dürften, wurde nicht beachtet, fand jedenfalls kein Echo. Auch Lessing selbst konnte ihm zunächst keine weitere Folge geben: bis zu seiner Verheiratung im Oktober 1776 nahmen ihn äußere Sorgen ganz in Anspruch. Dann aber nahm er die ihm wichtige Sache sofort wieder in Angriff, und jetzt in einer Weise, daß man sie beachten mußte.

Er ließ sich durch einen (angeblichen?) Leser des ersten Fragments auffordern, mehr von dem Ungenannten mitzuteilen, und womöglich gleich »das Dreisteste und Stärkste«, »um bei Kleingläubigen den Verdacht nicht zu erwecken, was für unbeantwortliche Dinge so geheimgehalten würden«. Lessing erklärt darauf, daß er der guten Sache zu gewiß sei, um diesem Verlangen nicht Genüge zu leisten, und gab also die gewünschte Fortsetzung, ob auch (wie er hinzufügt) nicht eben sofort mit dem Dreistesten und Stärksten (12, 303 f.). Was er den Ungenannten nun vortragen ließ, war immerhin stark genug.

Dieser beschwert sich in dem ersten Fragment (»Von Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln«) darüber, daß man nicht bloß durch die übliche religiöse Unterweisung die Köpfe der Kinder mit Vorurteilen anfülle, welche eine spätere vernünftige Erkenntnis Gottes erschweren, sondern auch die Erwachsenen vom Gebrauche der Vernunft zurückschrecke, indem man ihnen vorrede: was der Mensch durch eigene Kraft von Gott erkenne, helfe ihm nichts zur Seligkeit; alles, was nicht aus dem Glauben komme, sei Sünde; der natürliche Mensch fasse die Dinge nicht, die des Geistes Gottes seien; die Vernunft müsse gefangen werden unter den Gehorsam des Glaubens (12, 304 ff.). In dem zweiten Fragment aber weist er nach, »daß ein zuverlässiger Glaube an die Offenbarung eine für den allergrößten Teil des menschlichen Geschlechts ganz unmögliche Sache sei«: die Urkunden der Offenbarung müßten erst an alle Menschen gebracht, in alle Sprachen übersetzt, in jedes einzelnen Hand gekommen sein; und dieser müßte sie erst lesen und verstehen können, die richtige Übersetzung, die Authentizität und unverfälschte Bewahrung der Bücher selbst feststellen können, müßte alsdann von der Wahrheit der Geschichten und Lehrsätze, von der Göttlichkeit der Weissagungen und Wunder unparteiisch urteilen können. Also müßte ein jeder, wenn er nicht blindlings glauben, sondern wissen will, was und an wen und warum er glaubt, gar viele Sprachen, Altertümer, Historie, Geographie, Chronologie, Erklärungskunst, Witz und Übung der Vernunft, Ehrlichkeit und Freiheit im Denken besitzen: »welches unter Millionen des ganzen menschlichen Geschlechts kaum von einem zusammen kann gefordert werden«. Da nun Gott alle Menschen selig haben will, »so muß gewiß die Offenbarung nicht nötig und der Mensch für keine Offenbarung gemacht sein« (12, 356-58). Umgekehrt weist der Ungenannte im vierten Fragment nach, daß die Bücher des Alten Testaments nicht geschrieben worden, eine Religion, gar eine übernatürliche, seligmachende Religion, zu offenbaren: sie enthalten ja nichts Gewisses über die Unsterblichkeit der Seelen, die Belohnung und Bestrafung unserer Handlungen in einem zukünftigen ewigen Leben, die Vereinigung frommer Seelen mit Gott zu einer immer größeren Verherrlichung und Seligkeit. Auch Jesus wußte gegen die Sadduzäer keinen Ort der Schrift zu nennen, wo die Unsterblichkeit ausdrücklich gelehrt wird, sondern nur einen Spruch, aus dem sie erschlossen werden soll und erst erschlossen werden kann, wenn man den buchstäblichen Sinn verläßt. Und den Glauben an eine Unsterblichkeit haben die Juden überhaupt nicht durch Offenbarung bekommen, sondern von den Persern übernommen (12, 368. 392 ff.). Im dritten Fragment wird durch Rechnung bewiesen, daß der Durchgang der Israeliten durchs Rote Meer, wie er in der Bibel erzählt ist, ganz und gar undenkbar sei (12, 359 ff.). Endlich beweist das fünfte Fragment, der Verdacht der Juden, daß die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen, sei wahrscheinlich und glaublich; dagegen sei die Abwehr des Evangelisten Matthäus schlecht und voller Widerspruch: daß nämlich die Juden sich durch Bestechung das Stillschweigen der Wächter über die geschehene Auferstehung erkauft haben, überhaupt widersprechen sich die evangelischen Berichte über die Auferstehung aller Orten (12, 397 ff.).

Diesen Fragmenten ließ nun Lessing, wie er zuvor versprochen, einige Winke folgen, die aber nicht nur die Art und Weise betrafen, wie man, vornehmlich in neuester Zeit, alles das abgewiesen und nichtig zu machen gewußt habe, die vielmehr der Nachwirkung des Gelesenen und der zu erwartenden Diskussion eine bestimmte Richtung geben und den ganzen Streit zwischen Vernunft und Offenbarung auf die Höhe bringen wollen, auf der er aus einem endlosen Gezänk erst zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung werden kann. Aber da Lessing mit dem Leser auf diese Höhe selbst erst steigt, und da er sich abwechselnd bald an der Orthodoxie, bald an Reimarus, bald an der Vermittlungstheologie orientiert: so haben seine Gedanken nicht eine gleichbleibende Höhenlage und sichere Perspektive; und so sind sie, so klar sich Lessing ausdrückt, doch nicht so einfach zu verstehen. Ich kann darum auch für die vollständige Richtigkeit meiner Analyse nicht gutstehen. (12, 428 ff.)

Um eine sentimentale Wehklage über die pietätlosen Angriffe des Fragmentisten abzuschneiden, packt Lessing den christlichen Leser an seiner Ehre. Wer wünschte, daß sie lieber nicht ans Licht getreten wären, der ist sicherlich mehr furchtsam als unterrichtet, mag sehr fromm sein, ist aber gewiß nicht aufgeklärt, mag es mit seiner Religion herzlich gut meinen, traut ihr aber nicht viel Gutes zu. Bis jetzt ist das Christentum zumeist nur gegen elende Angriffe elend verteidigt worden; es kann nur sein Vorteil sein, wenn tüchtige Angreifer tüchtige Verteidiger erwecken. Und es möge ein ehrlicher Kampf entstehen, darinnen man nicht, wie bisher so oft, auf Seichtigkeit und Spötterei nur mit Stolz und Naserümpfen erwidert und den Gegner zu einem Ungeheuer umschafft, um ihn, wenn man ihn nicht besiegen kann, wenigstens für vogelfrei erklären zu dürfen.

Übrigens hat der Streit, den der Ungenannte erregt, gar nicht die Bedeutung, die man ihm, nach dem Scheine urteilend, zuschreiben möchte: er geht nur den Theologen an, der das Christentum durch Hypothesen, Erklärungen, Beweise zu verteidigen unternimmt, nicht den einfachen Christen, der sein Christentum so wahr, in seinem Christentum sich so selig fühlt. Die christliche Religion als Tatsache, als Leben, als Geist, trägt ihre innere Vergewisserung in sich; und diese innere Vergewisserung hat ihre äußere Stütze in der großen geschichtlichen Tatsache, daß das Christentum über die heidnische und jüdische Religion gesiegt hat. Der subjektiv lebendige Christ, der wirklich beatus possidens ist, kann dem Streite der Gelehrten über die Ausdeutung und Begründung seines Christentums gleichmütig zusehen.

Aber für den rechtgläubigen Theologen folgt aus der inneren Gewißheit seines Christentums eine wichtige Folgerung dafür, wie er den Kampf um seinen Glauben zu führen hat. Auf dem großen Wunder der Tatsache des Christentums fußend kann er sich der Zänkerei um die einzelnen kleinen Wunder, die in dessen Geschichte berichtet werden, entschlagen. Wie viel in dem ganzen großen Wunder der Geschichte des Christentums im einzelnen natürlich, also begreiflich ist, wie viel übernatürlich, d. h. unbegreiflich, das ist gänzlich irrelevant. Für ein Wunder ist man der Natur der Sache nach keine Erklärung schuldig.

Eine Orthodoxie, die sich auf diesen Standpunkt stellt, hält Lessing für unangreifbar, rühmt er ob ihrer Konsequenz; – freilich auch aus einem Grunde, der für den Orthodoxen nicht ganz unbedenklich ist: »Charakter und Stetigkeit berichtigen sogar mit der Zeit die Grundsätze; denn es ist unmöglich, daß ein Mensch lange nach Grundsätzen handeln kann, ohne es wahrzunehmen, wenn sie falsch sind.«

Eine solche Berichtigung von Grundsätzen, die wenigstens für orthodox gelten wollen, erlaubt sich nun Lessing sofort zu vollziehen, indem er dem Ungenannten zwei wichtige Punkte ohne Widerrede preisgibt: daß eine Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten, unmöglich sei; und daß die Berichte der Evangelisten über die Auferstehung unlösbare Widersprüche enthalten. Aber er nimmt diesen Einräumungen alles Bedenkliche, indem er ihnen weitere, größere folgen läßt. »Daß nämlich die Offenbarung auch für diejenigen Menschen zur Seligkeit notwendig sei, die gar keine oder doch keine gegründete Kenntnis davon erlangen können, ist weder die Lehre Christi noch jemals die allgemein anerkannte Lehre der Kirche gewesen.« Selbst ihre härtesten Vertreter sind den traurigen Folgerungen derselben ausgewichen, haben zugestanden, daß Gott dispensieren könne, wo es der Theologe nicht könne. Für den Glauben genügt es, daß die höchste Weisheit und Güte bei Erteilung der Offenbarung, die sie den Menschen nicht vorenthalten wollte, denjenigen Weg gewählt hat, auf dem in der kürzesten Zeit die meisten Menschen ihres Genusses teilhaftig wurden. Auch die Verbalinspiration der Schrift ist nicht gemeinchristliche Lehre. Sie wird von Lessing ohne weitere Begründung darauf reduziert, daß der Heilige Geist je den Schriftsteller angetrieben, so zu schreiben, wie ihm die Sache nach seinem besten Wissen und Gewissen bekannt gewesen. So weit es sich um Geschichte handelt, stützt sich also die Schrift, wie alle Geschichte, auf Tradition, und wir haben weder ein Recht noch einen nötigenden Grund, das fortdauernde Wunder anzunehmen, durch das die Tradition allein vor Ausartungen hätte bewahrt werden können. Kein Recht: denn es sind z. B. in den Berichten der Evangelisten über die Auferstehung in der Tat unleugbare Widersprüche vorhanden; keinen nötigenden Grund: denn die Bibel ist nicht die Religion, die Gewißheit des Christentums beruht nicht auf der Unfehlbarkeit der Bibel.

Aber wenn die Offenbarung »nützlich und nötig«, und doch ihre Kenntnis für die Seligkeit des einzelnen nicht unbedingt erforderlich sein soll; wenn die Bibel auf den Antrieb des heiligen Geistes geschrieben, aber nicht von ihm inspiriert sein soll: sind wir damit nicht auf den Boden jener schielenden, hinkenden, sich selber ungleichen Orthodoxie gekommen, die Lessing so ekel, so widerstehend, so aufstoßend ist? Laufen diese Einräumungen nicht darauf hinaus, daß das Wunder doch ein bißchen naturalisiert werden soll? In der Tat klingt es etwas sonderbar in Lessings Munde, wenn er auch vor Übertreibung des Unbegreiflichen in der christlichen Religion warnt, er, der doch der Orthodoxie den Rat gibt, sich hinter die Unbegreiflichkeit der Wunder und Geheimnisse als ein uneinnehmbares Bollwerk zu verschanzen. Aber er hat gar nicht die Absicht, auf diesem für ihn gefährlichen Boden stehen zu bleiben, sondern geht weiter zu einer grundsätzlichen Regelung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung.

Auch diese vollzieht er stufenweise. Erst gibt er der Orthodoxie gegen den Ungenannten zu, daß eine gewisse Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens auf dem wesentlichen Begriff einer Offenbarung beruhe. Nur der Ausdruck sei schlecht, sofern er auf Gewaltsamkeit von der einen, Widerstreben von der andern Seite hindeute. Das wahre, tatsächliche Verhältnis ist, daß die Vernunft sich gefangen gibt – freiwillig, sobald sie von der Wirklichkeit einer Offenbarung versichert ist. Das bedeutet für sie nichts als das Bekenntnis ihrer Grenzen; und es liegt eben im Begriff der Offenbarung, daß sie Dinge enthält, die die Vernunft übersteigen. Freilich erklärt uns Lessing nicht, wie die Vernunft feststellt, daß gewisse für sie überschwängliche »Erkenntnisse« wirklich aus Offenbarung fließen. Wie kann er diese wesentliche Frage nur so übersehen? Der Grund ist einfach genug. Vernunftwahrheit und Offenbarungswahrheit liegen für ihn nicht in so reinlicher Sonderung außer einander, wie der Unbekannte mit der Orthodoxie annimmt. Die geoffenbarte Religion setzt nicht eine vernünftige Religion voraus, sondern schließt sie in sich; jene enthält alle Wahrheiten auch, die diese lehrt, und unterstützt sie nur mit einer anderen Art von Beweisen. Was die Vernunft streng demonstriert, davon überredet die positive Religion durch Berufung auf Autorität und Erfahrung. Und Lessing ist nicht der Meinung des Ungenannten, daß sie dadurch bloß Schaden stifte, indem sie das Gemüt mit Vorurteilen erfülle, die den späteren Gebrauch der Vernunft in Sachen der Religion erschweren. Im Gegenteil; er schlägt vor, ihr die niedere religiöse Unterweisung ganz zu überlassen. Das dünkt ihm besser, als nach dem Rate des Ungenannten von Anfang an vernünftige und geoffenbarte Lehrsätze zu sondern und je aus ihrer eigentümlichen Quelle zu erweisen. Denn dadurch würde der Sinn der Kinder und gemeinen Leute nur verwirrt und ihnen der Verdacht erweckt, daß der Vernunftbeweis (den sie in der Regel doch auch nur glauben) von keiner größeren Stringenz sei als der Beweis aus Autorität und Erfahrung. Diese Betrachtung wäre nun sehr seltsam, wenn der wesentliche Gehalt der Offenbarungsreligion in schlechthin übervernünftigen Wahrheiten bestünde, die überhaupt nur auf Autorität hin geglaubt werden könnten. Daß man diese mit Wahrheiten auf eine Ebene stellte, die wirklich eines strengen Beweises fähig sind: würde das nicht eine viel schlimmere Verwirrung geben? Wenn nun hinterher die einen dieser als gleichartig vorgetragenen »Wahrheiten« sich als beweisbar, die andern als unbeweisbar erweisen: wie soll man sich dann mit dieser doppelten Wahrheit zurechtfinden? Welches wird insbesondere das Schicksal der unbeweisbaren sein? Daß Lessing auch diese Bedenken übersieht, ist wieder nicht so seltsam, wie es scheinen möchte. Denn nun erfahren wir schließlich, nicht als seine Meinung, sondern als Gedanken eines unbekannten Dritten, daß Vernunft und Offenbarung überhaupt nur formal verschieden sind. »Die Offenbarung gibt dem Menschengeschlecht nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde; sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.« Also überredet die Offenbarung nur von Wahrheiten, von denen sich die Vernunft nachträglich mit ihren Mitteln überzeugen soll; alle Offenbarungswahrheit hat die Tendenz, in Vernunftwahrheit überzugehen. Und wenn es der Vernunft nicht gelingen will, sich hinterher von einer geoffenbarten Wahrheit zu überzeugen? wenn Erfahrung und Nachdenken sie sogar des Gegenteils überweisen? So hat sich die göttliche Weisheit mit den Menschen eine pia fraus erlaubt: sie hat ihnen einen bei ihrem derzeitigen Geisteszustand nützlichen Wahn suffliert, in der Absicht, daß er die Menschen, die ihn als Lebensprinzip benützen, dadurch eben, daß er sich nicht bewährt, über sich hinaustreibe. Damit er aber die Kraft eines Bestimmungsgrundes erhalte, mußte er als Wahrheit, als höchste, letzte Wahrheit »geoffenbart« werden. Kurz, die Offenbarung ist von Gott nicht wissenschaftlich, sondern erzieherisch normiert; die Offenbarungen, aus denen sie sich zusammensetzt, bilden kein simultanes System von Wahrheiten, die in einer Ebene lägen, sondern einen aufsteigenden Kursus von Enthüllungen, in dem die vorausgehende in der folgenden immer aufgehoben wird (das Wort in dem Doppelsinn genommen, den Hegel ihm gab); solange wir eine Offenbarung aufzunehmen und einzuüben haben, ist sie uns die Wahrheit, soll sie uns die Wahrheit sein; hat sie ihren Dienst getan, wachsen wir also über sie hinaus, so werden wir von ihr behalten, was sich uns als bleibende Wahrheit vor der Vernunft legitimierte, werden, was sich als Wahn erwies, hinter uns lassen, und werden sie als organische Verbindung von Wahn und Wahrheit fernerhin nach pädagogischen Gesichtspunkten, d. h. geschichtlich, werten. So ist z. B. das Alte Testament freilich geoffenbart, eine Religion zu lehren, obgleich es die Unsterblichkeit der Seele und die Einheit Gottes nur schwankend und ganz unsicher vorträgt. Denn das Volk Israel konnte zuerst die metaphysische Einheit Gottes noch nicht fassen, konnte zuerst nur durch die Aussicht auf diesseitige Belohnung und Bestrafung erzogen werden; und der Erzieher wäre ein Tor, der in doktrinärem Eigensinn sich nicht dem Geisteszustand des Zöglings anbequemte. Wir freilich sind über das Alte Testament als Elementarbuch jetzt hinaus; aber es wäre lächerliche Wichtigtuerei mit seiner Wissenschaft, ein Elementarbuch wegen seiner Unwissenschaftlichkeit zu bemäkeln.

Damit hat nun Lessing die Auseinandersetzung zwischen Vernunft und Offenbarung auf einen ganz neuen Boden gestellt. Weder die Vernunft, noch die Offenbarung, noch die Wahrheit ist eine fixe, einheitliche, homogene Größe; darum kann auch ihr Verhältnis zueinander nicht durch eine Formel bestimmt werden. Alle Wahrheit ist nur Wahrheit für ein bestimmtes Subjekt auf einer gewissen Entwicklungsstufe des Geistes. Und jede Wahrheit kann ebensowohl Offenbarungs- als Vernunftwahrheit sein: Offenbarungswahrheit für den, dem sie suggeriert wird, ohne daß er sie sich selbst begründen kann; Vernunftwahrheit für den, der sie sich selbst beweisen kann – genauer: beweisen zu können glaubt. So ist die Offenbarungswahrheit für den, der sie nur als solche hat, übervernünftig: sie steht in der Tat über seiner Vernunft; aber sie ist, als äußerliche, zufällige Art des Besitzes der Wahrheit, für den abgetan, dem ihre Wahrheit durch innere Gründe sich erwiesen hat. Was für den einen Offenbarungswahrheit ist, kann von dem andern als bloßer Wahn erkannt sein; und wer eine Meinung als geoffenbarte Wahrheit zu besitzen glaubt, muß, in seiner Meinung gefangen, jeden abweichenden Gedanken, dessen Begründung sein Fassungsvermögen übersteigt, als Irrtum verurteilen. Es gilt also auf dem Gebiete des Geisteslebens das Heraklitische πάντα ῥεῖ und das Goethesche: sehe jeder, wie er's treibe – vielmehr: wie er treibe. Aber die ruhelose Bewegung des Geistes bildet einen einheitlichen, fortschreitenden Strom der Entwicklung, weil sie getragen ist von dem Gott, der seine Hand in allem hat, also auch in unseren Irrtümern. Ob es eine Vernunfterkenntnis gibt, an deren Wahrheit, wer ihrer innerlich, aus durchsichtigen Gründen gewiß geworden ist, nicht mehr irre werden kann, darüber spricht sich Lessing nicht direkt, deutlich und sicher aus.

Von dieser Höhe aus tritt alles, was Lessing zuvor zur Sache gesagt hat, in ein ganz anderes Licht. Dem einfachen Laienchristen kann Lessing das Vertrauen in die Wahrheit seines vielleicht sehr verworrenen, irrigen Glaubens wohl belassen, ja sogar bekräftigen: solange er die Kraft seiner »Wahrheit« spürt, hat diese ihre Mission an ihm noch nicht erfüllt; ihn aufklären hieße seine Erziehung übereilen. Die Orthodoxie ist ein Versuch, sich auf einer Erziehungsstufe zu verfestigen, die überwunden werden soll: und je ernsthafter der Orthodoxe seine Auffassung des Göttlichen als absolute Wahrheit erweisen und darstellen will, desto sicherer wird er über sie hinausgetrieben werden. Also kann ihn Lessing bloß ermuntern, sein Prinzip streng und ernst zu nehmen, aber sich auch nicht mit Scheinwiderlegung der Gegner zu begnügen. Die moderne Theologie macht einen wirklichen Fortschritt unmöglich, indem sie zwischen Denkweisen, die sich folgen, also ablösen sollen, vermitteln will; sie muß darum unter allen Umständen bekämpft werden. Der Ungenannte hat insofern recht, als er verlangt, daß er und seinesgleichen ihr Leben ihrer Entwicklungsstufe anpassen dürfen; recht hat er auch darin, daß er sich von dem, was für ihn nicht mehr Wahrheit ist, entschlossen lossagt. Aber er verkennt, daß alle Religion Entwicklung ist, glaubt seinerseits die absolute, fixe Wahrheit zu haben, und kann daher den Stadien der Entwicklung, die er selbst zurückgelegt hat, nicht gerecht werden. Er kann der Zeit den Dienst leisten, daß er ihr verwehrt, sich bei einer seichten Vermittlung des alten und neuen Geistes zu beruhigen, und die Orthodoxie nötigt, durch einen ernsthaften Versuch der Selbstbehauptung zu der Einsicht zu kommen, daß sie zu einer Änderung ihres Prinzips sich entschließen müsse. Deshalb zieht ihn Lessing ans Licht. Aber Lessing kann nicht wünschen, daß eine Orthodoxie durch eine andre abgelöst werde (also etwa die lutherische durch die deistische); seine Absicht geht nur darauf, daß ein modus vivendi hergestellt werde, nach dem Menschen verschiedener religiöser Entwicklung sich nicht bloß vertragen, sondern auch schätzen und fördern können. Und dieses Ziel dünkt ihm wohl auch zu erreichen. Die natürlichen Lebensalter können und müssen sich zu gemeinsamem Leben vereinigen: sollte das den geistigen Lebensaltern so ganz unmöglich sein?

 

5.

»Daß die Theologen zu den Fragmenten meines Ungenannten so schweigen, bestärkt mich in der guten Meinung, die ich jederzeit von ihnen gehabt habe. Mit der gehörigen Vorsicht kann man ihretwegen schreiben, was man will. Nicht das, was man ihnen nimmt, sondern das, was man an dessen Stelle setzen will, bringt sie auf, und das mit Recht. Denn wenn die Welt mit Unwahrheiten soll hingehalten werden, so sind die alten, bereits gangbaren, ebensogut dazu als neue« (an den Bruder Karl, 25. Mai 1777). Wenn für Lessing das Schweigen der Theologen wirklich und bloß eine Freude war (woran sehr zu zweifeln), so hatte er sich doch zu früh gefreut. Sie nahmen sich nur etwas längere Zeit, als er gedacht hatte; und auch dann entsprach ihre Antwort nicht seinen Erwartungen. Sie regten sich nicht nur auch über das auf, was der Ungenannte, und Lessing mit, ihnen nehmen wollte, sondern erbosten sich noch mehr über Lessings Versuch, in dem Streit zwischen Vernunft und Offenbarung das suum cuique durchzuführen. Und wenn nicht mit Recht, so doch aus sehr begreiflichen Gründen.

Das Wichtigste, was Lessing gesagt und nachdrücklich betont hatte, überhörten sie, wie es scheint, völlig: daß das bestehende religiöse System demoralisierend wirke; daß Bedingungen gefunden werden müßten, unter denen die Deisten offen ihrer Überzeugung leben könnten. Den guten Rat, unter Verzicht auf alle schlechte Apologetik sich hinter die Unerklärbarkeit und Übernatürlichkeit ihres Glaubens zu verschanzen, fanden sie nicht praktikabel. Ebensowenig wollte es ihnen zu Sinne, daß der Christ an dem inneren, subjektiven Erweis der Wahrheit und Kraft seines Glaubens sich genügen lasse und sein Selbstgefühl nach außen auf die große historische Tatsache stütze, daß das Christentum über Judentum und Heidentum triumphiert habe; das hieß ihnen die objektive Wahrheit, das objektive Recht ihrer Religion preisgeben. Vielmehr machte der Direktor Schumann von Hannover gegen die von dem Ungenannten behauptete Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf gegründete Weise glauben könnten, den »Beweis des Geistes und der Kraft« geltend: daß aus der in Christus eingetretenen Erfüllung der Weissagungen des Alten Testaments, aus den von Christus und seinen Aposteln vollbrachten Wundern die Wahrheit der christlichen Lehre folge. Der Archidiakonus Räß zu Wolfenbüttel aber versuchte (anonym) die von dem Ungenannten hervorgehobenen, von Lessing so gut wie zugegebenen Widersprüche in den Berichten der Evangelisten über die Auferstehung mit den Mitteln einer ebenso oberflächlichen wie gewaltsamen Harmonistik als Schein zu erweisen. Natürlich konnte er dem Fragmentisten, der diesen Schein nicht hatte durchschauen wollen, aufrichtigen Eifer für die Wahrheit nicht zugestehen. Endlich wandte sich der Hauptpastor J. M. Goeze von Hamburg gegen Lessing selbst und behandelte die von ihm vorgeschlagene Abwehr des Ungenannten als eigenen Angriff auf das Christentum: da die Wahrheit der christlichen Lehre auf der Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift beruhe, so heiße es die christliche Wahrheit selbst preisgeben, wenn man Einwürfen gegen die unbedingte, durch die Inspiration verbürgte Zuverlässigkeit der Schrift irgendwelches Recht zugestehe; also sei die von Lessing beliebte Unterscheidung von Bibel und Religion eine indirekte, aber darum nicht minder gefährliche Feindseligkeit gegen die christliche Religion selbst. In Lessings Behauptung, daß er die Fragmente in wohlmeinender Absicht, gar aus Sorge für das Christentum herausgegeben habe, konnte Goeze natürlich nur eine heuchlerische Maskierung seiner wahren, böswilligen Gesinnung sehen.

Es war also alles umsonst geschehen, was Lessing getan hatte, die Diskussion auf eine Höhe zu stellen, ihr eine Richtung zu geben, die eine Verständigung, wenn auch nicht Vereinigung der Gegner ermögliche. Die Schumann, Räß und Goeze kamen ihm nicht nach, glaubten ihm nicht nachgehen zu dürfen. Ob es nun möglich gewesen wäre, daß Lessing die Höhe, die Richtung behauptet hätte, die er in den Zusätzen zu den Fragmenten angegeben hatte? Es ist müßig danach zu fragen; genug, Lessing ist in der Tat ziemlich weit zu den Gegnern hinabgestiegen. Er hat nicht bloß je und je die Herrschaft über seinen Witz verloren, sondern auch persönliche Verdächtigung mit persönlicher Verdächtigung vergolten. Er ist noch in seinem guten Recht, wenn er schlechterdings nicht von Goeze als der Mann verschrieen werden will, der es mit der lutherischen Kirche weniger gut meine als er. Aber es war mindestens überflüssig, daß er hinzufügte: »Denn ich bin mir bewußt, daß ich es weit besser mit ihr meine, als der, welcher uns jede zärtliche Empfindung für sein einträgliches Pastorat, oder dergleichen, lieber für heiligen Eifer um die Sache Gottes einschwatzen möchte« (13, 101). Wie kommt es nun, daß er seine geistige Überlegenheit nicht sicherer zu behaupten vermochte? Denn wer Gleiches mit Gleichem vergilt, stellt sich dem gleich, dem er so vergilt!

Da Räß die Widersprüche in den Berichten über die Auferstehung so leicht nahm, daß er dem Ungenannten vorwerfen konnte, er habe die einfache Wahrheit nur nicht sehen wollen, mußte sich Lessing seines Klienten annehmen, mußte zeigen, daß sie nicht aufzulösen seien. Und wenn Lessing seine Absicht mit der Herausgabe der Fragmente von Räß mißverstanden, von Goeze verdächtigt sah, so war es sehr natürlich, daß er sich seines guten, sittlichen und religiösen Rufes wehrte. Aber es ist immer schlimm, in die Defensive gedrängt zu werden, und für Lessing war es doppelt schlimm, weil ihm in beiden Fällen, den Ungenannten und ihn selbst betreffend, die einfachste, natürlichste, überzeugendste Verteidigung versagt war – die Wahrheit. Er durfte Reimarus nicht nennen; und er durfte oder wollte kein aufrichtiges religiöses Bekenntnis ablegen. In der Tat gehörte weder das eine noch das andere zur Sache; darum konnte er die Zumutung, den Namen des Ungenannten zu nennen, ablehnen und konnte es auch vor sich rechtfertigen, daß er eine Ungeschicklichkeit Goezes benützte, um ein Bekenntnis seines Glaubens zu umgehen (13, 331 f.; vergl. an Elise Reimarus, 9. Aug. 1778). Wie erwünscht es ihm doch gewesen wäre, die Anonymität des Fragmentisten aufzuheben, verraten die Worte, die er sich gegen Räß entschlüpfen ließ (13, 23; cf. 220): »Ich muß freundschaftlich raten, den grellen Ton ein wenig sanfter zu halten, dieweil es noch Zeit ist. Denn man möchte sonst sich ganz lächerlich gemacht haben, wenn man endlich erfährt, wer der ehrliche, unbescholtene Mann ist, über den man so christmilde gespöttelt; wer der unstreitige Gelehrte ist, den man so gern zum unwissenden, mutwilligen Laffen erniedrigt hätte.« Und ich glaube nicht, daß es ihm bloß Vergnügen machte, sein Wissen um den Ungenannten so zu verschleiern, wie er es in Nummer 9 und 10 der Anti-Goeze tun muß. Noch schlimmer war es für den Verlauf des Kampfes, daß Lessing nicht der Wahrheit gemäß bekennen konnte und wollte, das Christentum sei ihm nur eine Stufe in der Entwicklung der Religion, nicht die absolute Religion. Ihn für einen so ganz einfachen, harmlosen Laienchristen zu halten, konnte er doch niemand zumuten; und die bloße Entrüstung über Goezes Beschuldigungen war kein Ersatz dafür, daß er seine Stellung zum Christentum offen, direkt, unzweideutig dargelegt hätte. Wir können jetzt durch Vergleichung mit seinen Briefen und nachgelassenen Schriften einigermaßen feststellen, wie exoterisch Lessing seine Meinung in diesen Kämpfen oft ausdrückte: durfte er da seine Gegner als so blöde voraussetzen, daß sie das nicht fühlten, nicht ahnten? nachdem er ihnen diesen Gedanken einst selbst nahegelegt!

Warum Lessing nicht mit seiner vollen Meinung auf den Kampfplatz treten wollte, ist nicht so leicht zu sagen. Die bloße Angst vor der Verketzerung kann ihn nicht abgehalten haben; auf ein bißchen mehr kam es ihm schwerlich noch an, nachdem er einmal als Feind des Christentums verschrieen wurde; und daß die Verlästerung in Tätlichkeiten übergehen dürfte, hatte er kaum zu fürchten. Eher läßt sich als Motiv seiner Zurückhaltung denken, daß er, bei seinem wirklich schwebenden Verhältnis zum Christentum, auf Verständnis überhaupt nicht hoffen durfte, bei den Freunden so wenig wie bei den Gegnern. Jene waren ihrer vernünftigen Religion so sicher wie diese ihrer geoffenbarten; daß die Wahrheit für den Menschen nur als werdende existiere und ihr deshalb in dem Individuum nur eine Mischung von Zweifel und Zuversicht entsprechen könne, wollte beiden nicht zu Sinne. Wenn er ferner den Gegnern für ihre Anklage auf Antichristentum einen gar zu scheinbaren Vorwand gab, so schnitt er sich jede Einwirkung auf seine Zeitgenossen ab: daß ein »Antichrist« die Bibel nicht mit der Religion identifiziert wissen wollte, mußte jeden »Christen« antreiben, Bibel und Religion um so fester zu verbinden. Endlich war Lessing der Meinung, da wir alle doch nur Schüler sind, so werde das fähigere Individuum es die schwächeren Mitschüler besser nicht merken lassen, was es von höherer Wahrheit schon wittere und zu sehen beginne. Ob das nicht mehr weichlich als menschlich ist, und, wenn es klug sein soll, ob diese Klugheit nicht sehr bedenkliche Nebenwirkungen haben kann: das dürfen wir, eben im Blick auf Lessing, wohl noch als offene Frage behandeln. Aber Lessing war an seine Meinung gebunden und hat sich zwar merken lassen, daß er eine höhere Auffassung der Religion wittere, diese aber nicht mit dem ihm möglichen Grade der Annäherung öffentlich aussprechen mögen. Dem verdanken wir es, daß er in seiner Verteidigung die höchste taktische Gewandtheit entfalten mußte; aber wir verdanken dem auch, daß der Kampf für die Sache nicht so fruchtbar wurde, als er eigentlich hätte werden können. Denn in der Verlegenheit mußte Lessing gereizter werden, als nötig und ersprießlich war. Und weil er einen richtigen Glaubenskampf vermeiden wollte, mußte der Streit auf das historische Gebiet hinübergespielt werden. Das lag freilich überhaupt in Lessings Art; und er hat durch seine Thesen über die Rolle der Bibel in der Geschichte des Christentums die Anregung zu sehr wertvollen Untersuchungen und Erkenntnissen gegeben. Aber da die Bibel wirklich nicht die Religion ist, so mußte die Konzentration des Kampfes auf die Bibelfrage das sittlich-religiöse, das philosophische Interesse, von dem Lessing ausgegangen war, schwächen und verdunkeln. Wir folgen darum auch nicht den einzelnen Wendungen des unerquicklichen und oft peinlichen Zanks und stellen nur heraus, was Lessing darin noch zur Sache vorgebracht hat.

Es ist zum voraus anzunehmen, daß Lessing nicht bloß zur Rettung des Ungenannten nachweist, daß die von ihm behaupteten Widersprüche in den evangelischen Berichten über die Auferstehung wenigstens zum Teil wirklich unlösbar seien. Nebenher, aber gewiß nicht unabsichtlich, leistet er etwas anderes, viel Wichtigeres: er rettet die Bibel selbst vor den Mißhandlungen ihrer Ausleger. Indem man ihr eine göttliche Unfehlbarkeit zuschreibt, nötigt man sich selbst, ihren Wortlaut mit einer Gewaltsamkeit zu drehen und zu deuten, die man sich gegen keinen weltlichen Schriftsteller erlauben würde. Man erklärt lieber den Originaltext des Neuen Testaments für eine wächserne Nase, als daß man einen Widerspruch in ihm zugeben wollte, der von ganz und gar keiner Erheblichkeit ist (13, 38). Es kommt also der Bibel selbst zu gut, daß man sie von der Last ihrer absoluten Einzigartigkeit befreit. Darum (und nicht bloß, um sich den Katholiken zu empfehlen) reduziert Lessing die Bedeutung des Neuen Testaments auf das richtige Maß: daß es nicht die einzige Urkunde des Christentums ist, sondern nur ein Teil (der älteste, wichtigste) der allgemeinen christlichen Überlieferung. Es ist durchaus im Interesse des Christentums selbst, daß dies anerkannt wird; denn die wichtigsten Dogmen desselben sind nicht mit Sicherheit aus ihm abzuleiten. »Wer die Gottheit Christi nicht mit ins Neue Testament bringt, wer sie nur aus dem Neuen Testament holen will, dem ist sie bald abdisputiert« (13, 373). Als Stück der christlichen Tradition ist das Neue Testament entstanden, wie alle Tradition. Den Evangelisten ist gewiß ein guter Geist beigestanden, und niemand kann etwas dagegen haben, daß man diesen guten Geist den heiligen Geist nennt (16, 381). Aber auf ihre Inspiration haben sie gewiß sich nicht berufen wollen. Denn deren waren sie sich nur selbst bewußt; »und vermutlich zuckte man schon damals die Achsel über Leute, die etwas Historisches aus Inspiration zu wissen vorgaben« (16, 377). Sie setzten sich also in ein ganz natürliches Verhältnis zu ihren Zeitgenossen; auch wir werden ihnen am besten gerecht, wenn wir sie unbefangen als Erzähler nehmen, die uns die Wahrheit mitteilen wollen, so gut sie sie eben selbst wissen. Dann können wir z. B. zugestehen, daß es mit einem Faktum wohl seine Richtigkeit haben kann, über das die Berichte nicht völlig übereinstimmen.

Aber Lessing ist natürlich nicht der Meinung, daß damit alle Schwierigkeiten gehoben seien, die der Vernunft aus der Autorität der Bibel entstehen. Der Hauptschaden ist nicht, daß man die Wahrheit durch erzwungene Deutung einer falsch gewerteten Bibel gewinnen will; er liegt vielmehr darin, daß man sie überhaupt aus einem Buch ziehen will: daß man also die »hermeneutische Wahrheit« an die Stelle der »inneren Wahrheit« setzt oder wenigstens zu ihrer Probe macht (während doch die innere Wahrheit die Probe der hermeneutischen sein müßte), und in verächtlicher Bescheidenheit sich mit einem Christentum begnügt, das nur nicht unvernünftig sein soll. Lessing sucht also das richtige Verhältnis dieser beiden »Wahrheiten« wieder herzustellen. Er will die Religion und die Geschichte der Religion unterschieden wissen. Der Theologe hat mit den Hilfsmitteln der Hermeneutik aus der Überlieferung die historische Kenntnis dessen zu schöpfen, was den ersten Christen sich als innere Wahrheit erwiesen hatte. Dieser Arbeit will Lessing durchaus nicht allen Wert absprechen; aber von der inneren Wahrheit des Christentums überzeugt sich der Christ auf einem ganz anderen Wege: indem er einsieht, daß die christliche Gotteslehre Gott anständiger und dem menschlichen Geschlecht ersprießlicher ist als die Lehrbegriffe aller anderen Religionen; indem er fühlt, daß ihn der christliche Lehrbegriff beruhigt (13, 128-135). Dadurch allein wird das Christentum zur Religion des Einzelnen, daß er von dem Werte seines Gehalts innerlich überwiesen wird. Doch ist es damit keineswegs der subjektiven Willkür des Einzelnen überliefert: »die innere Wahrheit ist keine wächserne Nase, die sich jeder Schelm nach seinem Gesicht bossieren kann, wie er will« (13, 128). Sie ist von dem Gefühl der Notwendigkeit begleitet; und sie hat ja auch (namentlich wenn sie der gemeinsame Besitz mehrerer werden soll) weder das Vorrecht noch die Absicht, sich der Kritik des kalten Verstandes zu entziehen. Indem sie diese Probe besteht, erhebt sie sich zur notwendigen Vernunftwahrheit. So verbinde ich die Gefühlswahrheit (wenn ich sie so heißen darf) mit der Vernunftwahrheit; ein ausdrücklicher Beleg dafür ist mir in Lessings Schriften nicht begegnet. Daraus erkläre ich mir, daß Guhrauer irrigerweise Lessing die Ansicht zuschreiben kann, die Religion liege im Gefühl (Danzel und Guhrauer, Lessing 2. Aufl. 2, 387 ff.). Ebensogut könnte man behaupten, daß für Lessing die Moral im Gefühl liege; denn er kennt ein »Gefühl vom Guten und Bösen« (13, 113). Aber das Gefühl ist für ihn nicht der Inhalt, auch nicht der Ort des religiösen oder moralischen Lebens, sondern bloßes Vehikel der Überzeugung, das bei der religiösen und moralischen Erkenntnis vorläufig, dem Laien, den Mangel des Beweises ersetzen kann. Es ist nichts anderes als »die dunkle, lebhafte Empfindung«, die der Philosoph während des Enthusiasmus der Spekulation hat, die er, wieder kalt geworden, in deutliche Ideen aufzuklären sucht (16, 297). Daß dies Lessings wirkliche Meinung ist, erprobt sich an seiner Auffassung des Christentums. »Ich verstehe unter unchristlich, was mit dem Geiste des Christentums, mit der letzten Absicht desselben streitet. Nun ist, soviel ich davon verstehe, die letzte Absicht des Christentums nicht unsere Seligkeit, sie mag herkommen, woher sie will: sondern unsere Seligkeit vermittelst unsrer Erleuchtung; welche Erleuchtung nicht bloß als Bedingung, sondern als Ingredienz zu unserer Seligkeit notwendig ist; in welcher am Ende unsre ganze Seligkeit besteht. Wie ganz also dem Geiste des Christentums zuwider, lieber zur Erleuchtung so vieler nichts beitragen, als wenige vielleicht ärgern wollen« (13, 164). In dem Endzweck des Christentums muß sich dessen wahres Wesen offenbaren; dies ist also die helle Erkenntnis, nicht das dunkle Gefühl. Auch an diesem Fortschritt hat das geschichtliche Wissen keinen Anteil. Denn »zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden«. Dieser doppelten Art der Wahrheit entspricht eine doppelte Art der Überzeugung, die reinlich geschieden bleiben muß. »Was heißt einen historischen Satz für wahr halten? eine historische Wahrheit glauben? Heißt es im geringsten etwas anders: als diesen Satz, diese Wahrheit gelten lassen? nichts dawider einzuwenden haben? sich gefallen lassen, daß ein andrer einen andern historischen Satz daraus folgert? sich selbst vorbehalten, andre historische Dinge danach zu schätzen?« So will Lessing historisch nichts dagegen einzuwenden haben, daß Christus einen Toten erweckt habe, selbst von den Toten auferstanden sei, sich deswegen für den Sohn Gottes ausgegeben habe, von seinen Jüngern deswegen dafür gehalten worden sei. Diese Wahrheiten, als Wahrheiten einer und derselben Klasse, folgen ganz natürlich auseinander. »Aber nun mit jener historischen Wahrheit in eine ganz andere Klasse von Wahrheiten hinüber springen und von mir verlangen, daß ich alle meine metaphysischen und moralischen Begriffe danach umbilden soll; mir zumuten, weil ich der Auferstehung Christi kein glaubwürdiges Zeugnis entgegensetzen kann, alle meine Grundideen von dem Wesen der Gottheit danach abzuändern: wenn das nicht eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος ist, so weiß ich nicht, was Aristoteles sonst unter dieser Benennung verstanden.« »Ich leugne also gar nicht, daß in Christo Weissagungen erfüllt worden; ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder getan: sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehört hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden, … mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen. Diese anderweitigen Lehren nehme ich aus anderweitigen Gründen an« (13, 5 ff.).

Verweilen wir bei diesem Raisonnement einen Augenblick; es kann uns zeigen, wie Lessing durch seine vorsichtige Pädagogik oder Taktik sich einen Fortschritt in der Erkenntnis erschwerte. Hätte er seine ganze Meinung offen heraussagen wollen, so hätte er gewiß schreiben müssen: »so lange mir diese Wunder nicht durch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen werden, leugne ich sie.« Wäre er doch damit herausgeplatzt! Es wäre ihm dann erspart geblieben, daß er in einen versteckten Widerspruch mit sich selbst gerät. Denn er lehnt es, als eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, ab, daß er nach den Wundern, die er nicht leugnet, seinen Gottesbegriff umbilde; und eben dadurch anerkennt er, daß diese Wunder allerdings eine Umbildung seiner Grundideen von dem Wesen der Gottheit notwendig machen würden. Das Wunder ist eben nicht bloß eine historische, sondern zugleich eine metaphysische Tatsache oder Frage: es gehört den beiden Klassen von Wahrheit, die Lessing unterscheidet, zugleich an. Der »Beweis des Geistes und der Kraft«, wie ihn die Apologetik führte, verschuldet allerdings eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος; aber diese liegt an einem anderen Orte, als Lessing meint: nicht in dem Übergang von der »Geschichtswahrheit« zur »Vernunftwahrheit« als solchem; sondern darin, daß man aus einem bestimmten Geschehnis Wahrheiten ableitet, die durch dieses Geschehnis nicht bewiesen werden. Wenn Jesus Tote erweckt hat und selbst vom Tode erweckt worden ist, so folgt daraus freilich nicht, daß er der wesensgleiche Sohn Gottes sei; aber doch das andere, daß Tote wieder lebendig werden können. Und daraus folgt wieder notwendig ein gewisser Begriff Gottes und der Natur. Wer diesen nicht für Wahrheit gelten lassen will, darf nicht zugestehen, »daß die Nachrichten von jenen Wundern ebenso zuverlässig sind, als nur immer historische Wahrheiten sein mögen«, sondern muß ihnen auch die geschichtliche Wahrheit absprechen. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, das Wunder selbst stehen zu lassen und uns den Schluß auf den Gott der Wunder zu verbieten. Der Fromme wird sich das um so weniger gefallen lassen, da ihm der Gott, der Wunder tun kann, wichtiger ist als das einzelne Wunder, das Gott im Lauf der Geschichte getan haben mag. Lessing aber wollte es offenbar vermeiden, daß der Streit die Richtung auf die geschichtliche Wahrheit der biblischen Wunder nehme. Darum argumentiert er e concessis, gesteht der biblischen Überlieferung die denkbar höchste Glaubwürdigkeit zu und bestreitet lieber die Tragweite der geschichtlichen Wahrheit im allgemeinen. Um die Umwälzung des religiösen Denkens, die ihm im Sinne lag, so harmlos als möglich erscheinen zu lassen, erweitert und fixiert er den von Leibniz übernommenen Gegensatz der zufälligen Geschichtswahrheit und notwendigen Vernunftwahrheit, also der Erfahrung und des Denkens, den er in der Ästhetik schon überwunden hatte. »Bloß aus allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln, kann zu Grillen verführen, die man über lang oder kurz zu seiner Beschämung in den Werken der Kunst widerlegt findet.« (9, 156.) Wenn man aber aus allgemeinen Begriffen über die Wirklichkeit vernünftelt, wird man dann nicht auch zu Grillen verführt, die man über kurz oder lang durch die Erfahrung widerlegt findet? Übrigens hat ihm seine Taktik nichts genützt, hat aber auch der Sache nichts geschadet; denn er offenbarte an andern Orten, mit oder ohne Absicht, deutlich genug, daß er nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben gedachte.

Zunächst verrät er nebenbei, aber offen, daß die Verlegung des Schwerpunktes der Religion von der hermeneutischen in die innere Wahrheit, trotzdem daß diese durchaus nicht Willkür ist, auf einen Individualismus der Überzeugung hintreibt, der die Einheit des Glaubens in der Kirche gefährdet. Goeze bezeichnet das innere Gefühl des Christentums als strohernen Schild; Lessing erwidert darauf: »Von Stroh möchte er immer sein, wenn er nur nicht zugleich so schmal wäre. Aber da hat nur eben ein einzelner Mensch, die Religion im Herzen, darunter Platz.« »Was soll ein Pastor damit, wenn er nicht auch seine ganze liebe Gemeinde mit eins darunter bergen kann?« Ganz richtig: die Kirche als geschlossene Gemeinde der Gläubigen bedarf für ihren Bestand einer äußeren, objektiven Wahrheit. Je ernster sie es mit der Religion nimmt, desto mehr wird sie darauf dringen, daß ihre Glieder die dargebotene objektive Wahrheit sich subjektiv zueignen als Gesetz und Trost des Lebens; aber sie kann nicht zugestehen, daß die innere Wahrheit erst die Wahrheit sei. Denn damit gewinnt der Einzelne das Übergewicht über die Gemeinde, die sein Gewissen durch die Mahnung, ihre objektive Wahrheit sich subjektiv zuzueignen, beherrscht hatte. Wenn auch schließlich sich allen die eine Wahrheit innerlich eben als die Wahrheit erweisen wird, so ist doch unterwegs die innere Wahrheit nicht für alle dieselbe. Es müßte merkwürdig zugehen, wenn jedem immer dieselben Gedanken sich als Wahrheit innerlich legitimierten, so daß bloß die Überzeugung individuell wäre, ihr Gehalt aber für alle der gleiche. Lessing glaubt das jedenfalls nicht und bestreitet nur, daß die unvermeidliche Vielheit der »Wahrheiten« ein Unglück sei. Nach seiner Meinung schadete es nichts, wenn in der Bibel die Grenzen zwischen menschlichen Zusätzen und geoffenbarten Wahrheiten nicht so genau zu bestimmen wären: »ist doch die Grenzscheidung zwischen dem moralisch Bösen und dem moralisch Guten ebenso unbestimmbar.« (13, 113.) Wir haben also kein unbedingt zuverlässiges und übereinstimmendes Gefühl für die religiöse und sittliche Wahrheit, aber doch ein gewisses, mit dem wir uns praktisch behelfen können: das muß genügen und kann genügen. Freilich müssen wir unsere intellektuellen Ansprüche zur äußersten Bescheidenheit herunterstimmen. Lessing selbst gesteht zu, daß er die Hoffnung aufgegeben hat, durch sein Forschen zu einem sicheren Besitz der reinen Wahrheit zu gelangen, und beruhigt sich in dem Gedanken, daß diese doch nur für Gott allein sei. (13, 24.) Ein wirklich fataler Fortschritt: innere Wahrheit; bloß individuelle Wahrheit; keine Wahrheit! Denn die reine Wahrheit ist doch die einzig wirkliche Wahrheit!

Aber dieses Gefühls wenigstens ist Lessing so sicher, daß er darauf nichts Geringeres baut als eine neue Moral und Religion des intellektuellen Lebens. Ist der Mensch auf das Forschen nach Wahrheit eingeschränkt, so kann sein Wert nicht in dem Besitz der Wahrheit liegen, sondern nur in der Mühe, die er anwendet, hinter die Wahrheit zu kommen. Wie weit dieser Gedanke trägt, zeigt die Anwendung, die Lessing macht: »Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht, ebenso scharfsinnig als bescheiden, durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidiget.« Daraus, daß jemand die objektive Wahrheit verfehlt, darf ihm nie ein Vorwurf gemacht werden; denn es ist nicht wahr, weil es nicht möglich ist, daß jemals ein Mensch sich wissentlich und vorsätzlich gegen die Wahrheit verblendet habe (13, 23). Gegen die Wahrheit: vielmehr gegen das, was andern Wahrheit scheint. Die reine, gewisse, objektive Wahrheit, die man nur böswilligerweise verkennen könnte, gibt's ja nicht. So verschwindet die Sünde der Ketzerei; und zur Sünde wird dafür jetzt eine Orthodoxie, die ihre Wahrheit für die Wahrheit ausgibt. Sie verschuldet einen Eingriff in das Vorrecht Gottes, die Wahrheit allein für sich zu haben (13, 120). Sie lehnt sich gegen die göttliche Weltordnung auf, kraft deren es im ganzen Gebiete der physischen und geistigen Natur keinen Stillstand geben darf. (13, 158. 165.) Auch das Christentum macht von diesem Gesetz keine Ausnahme. Es ist keine fixe, sondern eine veränderliche Größe; es auf einen bestimmten Stand fixieren zu wollen, ist törichter Aberglaube, ist ebenso feiger, wie vermessener Unglaube. »Das Christentum geht seinen ewigen, allmählichen Schritt: und Verfinsterungen bringen die Planeten aus ihrer Bahn nicht. Aber die Sekten des Christentums sind die Phases desselben, die sich nicht anders erhalten können als durch Stockung der ganzen Natur, wenn Sonne und Planet und Betrachter auf dem nämlichen Punkte verharren. Gott bewahre uns vor dieser schrecklichen Stockung« (13, 98.) Ob die unendliche Bewegung im geistigen Kosmos wohl einmal dahin führt, daß dieses ganze Planetensystem untergeht? Lessing spricht sich nicht darüber aus; aber es liegt diese Möglichkeit durchaus in der Konsequenz seiner Betrachtung.

Die Wahrheit ist also das höchste Gut für den Menschen; aber dieses höchste Gut wird nie geistiger Besitz. Es kann darum verständigerweise auch nicht Gegenstand des Streites werden. Oder sollte man sich über den rechten Weg zur Wahrheit zanken können? Auch das hat keinen Sinn. Da jeder Fortschritt in der Erkenntnis sich durch innerliche Überführung des Einzelnen vollzieht, so können sich die Wege zur Wahrheit nicht kreuzen. Zwischen Wahrheitsforschern ist ein feindlicher Zusammenstoß überhaupt nicht möglich; wo ein solcher eintritt, handelt es sich gewiß nicht um die Wahrheit. Was der Mensch für Wahrheit oder Unwahrheit erkennt, ist also kein Bestimmungsgrund für unser praktisches Verhalten gegen ihn. Im sozialen Leben haben die Glaubenslehren der Religion zurückzutreten hinter das Praktische, das sie darauf gründet: das christliche Dogma hinter die christliche Moral; das Evangelium des Johannes (»Im Anfang war das Wort«) hinter das Testament des Johannes (»Kinderchen, liebt euch!«). Oder richtiger: die Religion hinter die Moral. Um moralisch gut zu leben, braucht man die höheren Erkenntnisse nicht, in welchen, wie wir sahen, nach der Meinung des Christentums unsere Seligkeit bestehen soll. Also reguliere man die Verhältnisse der Menschen nach den besten, brauchbarsten Grundsätzen der Moral (z. B. nach dem christlichen Gebot der Liebe) und überlasse es jedem einzelnen, wie weit er es in der Erkenntnis der Wahrheit bringt. Das ist das allein Praktische; denn es ist das einzig Mögliche. In dieser Hinsicht ist Lessing gründlich mißverstanden worden, Ed. Zeller sagt: »Ihrem wahren Wesen nach fällt die Religion ihm zufolge mit der Sittlichkeit zusammen.« Lessing soll nach ihm ein Vorläufer des »Evangeliums der reinen Moral« sein, das nachher Kant verkündigt habe. Aber Lessing, der 1759 schreiben konnte: »die Religion hat weit höhere Absichten, als den rechtschaffenen Mann zu bilden; sie setzt ihn voraus, und ihr Hauptzweck ist, den rechtschaffenen Mann zu höheren Einsichten zu erheben«; – er wiederholt 1779: »Moral ist nicht diese und jene Religion, ist die Grundlage aller Religionen«; und versichert speziell, daß auch selbst die christliche Moral nicht die christliche Religion sei (16, 501). Inwiefern Moral die »Grundlage« aller Religionen sei, hat er uns freilich nicht genauer erklärt. Der Zusammenhang der angezogenen Stelle führt aber nicht über den Gedanken hinaus, daß die Religion den rechtschaffenen Mann voraussetze. Auch ging Lessings eigene Religion durchaus nicht in Moral auf, sondern war wirklich, wie wir noch sehen werden, eine höhere Einsicht

 

6.

Zu seiner Verwunderung konnte sich Lessing nicht so recht herzhaft ärgern, als ihm die Zensurfreiheit entzogen und dadurch die Fortsetzung des Kampfes gegen Goeze unmöglich gemacht wurde (16, 422). In der Tat hatten ihm die Gegner, indem sie das veranlaßten, einen guten Dienst geleistet. Lessing fühlte es wohl selbst, daß er sich schon mehr als genug mit Goeze herumgezerrt hatte. Darum ist auch sein » Nathan« nicht der ärgere Possen geworden, den er damit den Theologen spielen wollte (an Karl Lessing, 11. Aug. 1778); oder: in einem anderen, edleren Sinn konnte er eben deshalb dieser ärgere Possen werden. Was konnte er ihnen, wenn sie's wirklich unredlich meinten, Schlimmeres zu Leide tun, als daß er das unwidersprechlich Wahre in seinen Gedanken so vortrug, daß sie wohl innerlich darüber schimpfen konnten, es aber wohl bleiben lassen mußten, sich öffentlich dawider zu erklären? (An K. Lessing, 7. Nov. 1778.) Das hat er in seinem »Nathan« getan, wenn man ihn anders sagen läßt, was er wirklich gesagt hat. Nur haben freilich nicht bloß Gegner, sondern auch Verehrer Lessings ihre Rechnung besser dabei zu finden geglaubt, daß sie die geistreiche Binsenwahrheit, die das Stück demonstriert, zu einer Religionsphilosophie von zweifelhaftem Wert aufbauschten.

»Mein Rat ist der,« sagt in der Parabel von den drei Ringen der bescheidene Richter zu den streitenden Brüdern, sagt durch seine Dichtung der bescheidene Lessing zu seinen Zeitgenossen: »Ihr nehmt die Sache völlig, wie sie liegt.« Wie liegt sie denn, die Sache, um die sich's handelt, die religiöse Frage? Aller Streit über die Wahrheit der Religion hat sich bis jetzt als unfruchtbar erwiesen; immer ist der Kampf um das Heiligste in eine häßliche Zänkerei ausgeartet. Der Gott, über den man streitet, der den Streit allein schlichten könnte, ist nun einmal nicht zur Stelle zu schaffen, nicht zum Reden zu bringen: darum ist der religiöse Zank endlos. Sofern aber die Religion auf Überlieferung beruht, muß man sich im Kampfe um sie gegenseitig die Glaubwürdigkeit der Autorität, an die man doch je durch die Pietät gebunden ist, verdächtigen. Und sofern sie (fügen wir hinzu) auf eigener Erfahrung beruht, müssen die Kämpfer sich gegenseitig die Wirklichkeit oder den Wert der heiligsten Erlebnisse bestreiten. Der Protestant muß die Sünden und Widersprüche der heiligen, unfehlbaren Päpste ans Licht ziehen; der Katholik muß Luther herunterreißen. Der Orthodoxe muß den Bußkampf des Pietisten, der Pietist die Heilsgewißheit des Orthodoxen einer mißtrauischen Kritik unterziehen usf. usf. Das läßt sich gar nicht vermeiden, sowie man in den direkten Kampf um die Wahrheit der Religion eintritt. Dieser muß also giftig werden: das liegt in der Natur der Sache. Andrerseits schätzt doch jeder Mensch seine Religion als ein Hilfsmittel, Gott und Menschen angenehmer zu werden; auch machen alle Religionen eine gewisse Praxis des Lebens, die ein ersprießliches Zusammenleben mit den Menschen erleichtern soll, zur Pflicht: Ergebung in den göttlichen Willen; Liebe zu dem Bruder, mit dem man, so oder so, denselben wirklichen Gott verehrt. Beruht darauf die Wertschätzung der Religion, so mache doch jeder mit dem, was ihm seine Religion so wert macht, Ernst und lebe aus seinem heiligen Glauben ein Leben, das dem Besten, Edelsten darin entspricht. Dies ist auch das einzige reelle Mittel, die Überlegenheit der eigenen Religion zu erweisen. Es verwandle sich also der Kampf um die Wahrheit der Religion in einen ebenso eifrigen wie ehrlichen Wettbewerb mit den Kräften der Religion. In ihm wird auch sofort der gemeinsame ideelle Gehalt aller Religionen das Übergewicht bekommen über das Unterscheidende, das sie trennt; während umgekehrt in dem direkten Kampf um die Religion die Bedeutung des Unterscheidenden naturgemäß so sehr anschwillt, daß man darüber das Verbindende ganz übersieht.

Das heißt im schönsten Sinne »die Sache nehmen, wie sie liegt«. Aber die künstlerische Darstellung dieser Idee ist nun Lessing freilich nicht recht geglückt. Er hätte sie an Personen zur Anschauung bringen sollen, die sich aus der Überschätzung ihrer religiösen Besonderheit erst herausarbeiten müssen. Der Jude, der Moslem, der Christ sollten vor unseren Augen zur Erkenntnis kommen, daß sie durch Gehässigkeit gegen Andersgläubige ihrem eigenen Glauben ins Gesicht schlagen. Es sollte ihnen, etwa gerade über dem häßlichen Streit, ein solches Verständnis der eigenen und fremden Religion kommen, daß es ihnen unmöglich würde, den Kampf fortzusetzen. Dann müßten sie sich als Christen, Moslem, Juden, die sie von Herzen sind und bleiben, die Hand reichen. Aber Lessing stand der positiven Religion schon viel zu fern, als daß er einen Sonderglauben mit Sympathie hätte darstellen können. Sein Nathan ist kein Jude mehr, sein Saladin kein Moslem, sein Kloster-Bruder kein Christ – wenn sie's je gewesen sind; denn außer Namen und Stand erinnert nichts an ihre Konfession. Sie haben sich also wohl den Rat des Richters so zu Herzen genommen, daß ihnen die Echtheit ihrer Ringe nachgerade ziemlich gleichgültig geworden ist. Aber damit ist ihr Charakter moralisch so gut geworden, daß er poetisch böse ist: zu Repräsentanten ihrer Religion, die sie sein sollten, taugen sie nicht mehr. Ihre Toleranz kann keinen tiefen Eindruck machen: was sie aneinander zu tolerieren haben, ist für sie ein Nichts. Nathan kann sich's ohne Skrupel überlegen, wie weit er den Juden – agieren wolle:

So ganz
Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht.
Und ganz und gar nicht Jude, geht noch minder.
Denn wenn kein Jude, dürft' er mich nur fragen,
Warum kein Muselmann?

Aber auch Daja und der Patriarch repräsentieren nicht ihre Konfession; denn Lessing hat ihre beschränkte und engherzige Unduldsamkeit in keinen inneren Zusammenhang mit ihrem religiösen Glauben gebracht. Wäre Nathan »durch den Zufall der Geburt« Christ, so müßte Daja Jüdin sein und brauchte, um das zu werden, nicht ihren Charakter, nur ihre Sprache zu ändern. Der Patriarch könnte ebenso gut Mufti oder Rabbiner sein: er hat die Eigenschaften des Kirchenfürsten, die man am leichtesten bekommt, wenn man zu seinem »Glauben« nur ein ganz äußerliches Verhältnis hat. Im Namen des Patriotismus, der Freiheit, der Wissenschaft, der Kunst, ja der Humanität könnte er dieselbe Herrschsucht betätigen. Leute seines Schlags können eben wegen ihrer Gemeinheit jeden idealen Vorwand benützen. So kann ja auch der Tempelherr, freilich aus ganz anderen Motiven, trotz seiner Freigeisterei, höchst fanatisch werden. Saladin muß ihn warnen, daß er nicht dem Juden, dem Muselmann zum Trotz den Christen spielt, der er nicht ist. Läßt er sich durch die vermeinte Engherzigkeit des Nathan dazu hinreißen, so ist das nicht die Nachwirkung einer christlichen Erziehung, sondern der Fehler seiner Jugend, seines Temperaments. Der religiöse Gegensatz schafft nur die Gelegenheit, daß seine natürliche. Heftigkeit zum Ausbruch komme.

Daß Lessing im Nathan ein Urteil über die Wahrheit der Offenbarungsreligion aussprechen wolle, hat er selbst durch den Mund des Richters, Nathans, Saladins abgelehnt. Aber er behandelt, genau besehen, auch nicht einmal das spezielle Problem der religiösen Toleranz. Sein Rat, die Sache völlig zu nehmen, wie sie liegt, reicht viel weiter. Die Differenzierung der Menschheit bringt allerorten die Gefahr mit sich, daß das Gemein-Menschliche von dem Besondernden überwuchert werde; und überall ist es des Weisen Aufgabe, sich dagegen zu wehren, dem entgegenzuwirken. In dieser Allgemeinheit hat Lessing das Problem, noch ehe er den »Nathan« dichtete, in den »Gesprächen für Freimaurer« aufgefaßt (» Ernst und Falk«, 1777). Daß er sich darin nicht speziell mit der religiösen Frage beschäftigte, ermöglichte es ihm auch, der positiven Religion besser gerecht zu werden als im »Nathan« selbst.

Was Lessing zur Geschichte der Freimaurerei beibringt, kommt für uns hier nicht in Betracht. Uns interessiert nur die Idee der Freimaurerei, die er konstruiert. Denn die Freimaurerei ist ihm nichts Willkürliches, nichts Entbehrliches, sondern etwas Notwendiges, das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft begründet ist. Er erörtert also die Bedeutung des Staates; da aber Staatsverfassung und Religion in einem wesentlichen Zusammenhang stehen, so gilt alles, was er von den Staaten sagt, auch von den Religionen, d. h. von den Religionsverbänden. Nach seiner Meinung sind die Staaten für die Menschen erschaffen, nicht die Menschen für die Staaten; sie sind also nur Mittel, nicht Zweck. Der Zweck ist die Glückseligkeit; und zwar des einzelnen Menschen: eine andere gibt es nicht. Was soll denn die Glückseligkeit eines abgezogenen Begriffs, wie Staat, Vaterland und dergleichen sind, zu bedeuten haben? Die Staaten aber vereinigen die Menschen, damit jeder einzelne Mensch seinen Teil von Glückseligkeit besser und sicherer genießen könne. Sie sind Mittel menschlicher Erfindung. Freilich kein willkürlicher Einfall, sondern ein von der Natur dem Menschen abgenötigtes Mittel zur Erreichung der Glückseligkeit; aber natürlich von dem allgemeinen Schicksal aller menschlichen Mittel nicht ausgenommen: daß sie nicht allein ihrer Absicht öfters nicht entsprechen, sondern wohl gar das Gegenteil davon bewirken. Auch der besten Staatsverfassung müssen noch Dinge entspringen, die der menschlichen Glückseligkeit höchst nachteilig sind. Denn die Staaten können die Menschen bloß vereinigen, indem sie sie zugleich trennen. Es ist nicht bloß die Mehrheit der Staaten, Staatsverfassungen, Religionen in den Bedingungen des menschlichen Lebens notwendig begründet; die bürgerliche Gesellschaft muß auch in sich selbst die Trennung der Menschen gleichsam bis ins Unendliche fortsetzen: ohne politische und soziale Abstufung der Bürger läßt sich kein Staat denken. So begegnet also überall nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegeneinander angezogen werden, sondern immer nur ein solcher Mensch einem solchen Menschen, die ihrer verschiedenen Tendenzen sich bewußt sind; und so werden die Menschen, noch ehe sie für ihre einzelne Person das geringste miteinander zu schaffen haben, gegeneinander kalt, zurückhaltend, mißtrauisch gemacht. So traurig das ist, so unvermeidlich ist es; auch ist die bürgerliche Gesellschaft trotz dieser Mißstände ein nicht hoch genug zu schätzendes Gut, schon weil in ihr allein die menschliche Vernunft angebaut werden kann. Aber daraus folgt, daß sie uns eine doppelte Aufgabe stellt: an der Vervollkommnung der Staaten und Kirchen selbst zu arbeiten; und den notwendigen Übeln entgegenzuarbeiten, die mit der bürgerlichen Gesellschaft als solcher verbunden sind. Diese zweite Aufgabe stellt sich die unsichtbare Kirche derer, die über die Vorteile der Völkerschaft weg sind und wissen, wo Patriotismus aufhört Tugend zu sein; die dem Vorurteil der angebornen Religion nicht unterliegen und nicht glauben, daß alles notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen; die bürgerliche Hoheit nicht blendet, bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt und in deren Gesellschaft darum der Hohe sich gerne herabläßt, der Geringe sich dreist erhebt. Sie suchen vorsichtig, damit nicht der Staat selbst Schaden leide, ja unmerklich ihre Art des Empfindens in andern von weitem zu veranlassen, zu begünstigen, zu fördern. Wenn sich aber diese »Freimaurer« zu Logen zusammentun, so werden diese bald an denselben Übeln leiden, in deren Bekämpfung die ideale Berechtigung der Freimaurerei liegt.

Es ist sehr zu bedauern, daß Lessing diesen letzten Gedanken nur zur Berichtigung des Urteils über die bestehenden Freimaurerlogen benützt, nicht zu einer Fortbildung seiner Theorie der Gesellschaft. Die Loge ist nach Lessing doch nur eine überflüssige Doublette zu Staat und Kirche. Sollten also die echten »Freimaurer« (die es ja sein können, ohne so zu heißen) nicht besser darauf verzichten, eine geschlossene Gesellschaft, einen äußeren Verband zu bilden? Sie erkennen sich ja doch, ohne Namen, ohne Zeichen, bei jeder innigeren Berührung des Geistes; und haben sie sich erkannt, so wirken sie ganz von selbst nicht bloß in einem Sinne, sondern auch zusammen. Sollten sie der Zufälligkeit ihrer Verbindung wirklich durch ein Mittel abhelfen wollen, das deren Reinheit gefährdet? Können sie überhaupt andere über den Parteisinn hinausführen, indem sie selbst eine neue Partei bilden? Da die Mißstände in den Logen nach Falk-Lessing vielleicht der Weg der Vorsehung sind, dem ganzen, jetzigen Schema der Freimaurerei ein Ende zu machen, so scheint er darauf hinzuzielen. Ob aber das gegenwärtige Schema durch ein anderes ersetzt werden, ob die Freimaurerei überhaupt auf ein Schema verzichten soll: darüber läßt er uns im Unklaren. Auch das deutet Lessing nur ganz flüchtig an, wie der »Freimaurer« seine so nützliche, so notwendige Arbeit vollbringen soll. Er berichtet von Christoph Wren (den er für den Schöpfer der ganzen heutigen Freimaurerei hält), daß er erst den Plan einer Sozietät der Wissenschaften entworfen habe, welche spekulative Wissenschaften gemeinnütziger und dem bürgerlichen Leben ersprießlicher machen sollte; dann sei ihm das Gegenbild einer Gesellschaft beigefallen, welche sich von der Praxis des bürgerlichen Lebens zur Spekulation erhöbe. »Dort, dachte er, würde untersucht, was unter dem Wahren brauchbar, hier was unter dem Brauchbaren wahr wäre.« Das Wahre in dem Brauchbaren (vielmehr: Bräuchlichen), den Sinn in der Formel, den sittlichen Takt in der versteinerten Gewohnheit wieder zu beleben und dann fortzubilden: das wäre also die Methode einer Freimaurerei nach Lessings Sinn. Er selbst hat ein Beispiel ihrer Anwendung gegeben in der » Erziehung des Menschengeschlechts«.

 

7.

Die ersten 53 Paragraphen dieses Schriftchens hatte Lessing schon, als Arbeit eines dritten, seinen Anmerkungen zu den Fragmenten des Ungenannten eingefügt. Wir haben also auch ihren Grundgedanken schon genannt und in seiner Bedeutung für den Fragmentenstreit gewürdigt: daß die Offenbarung dem Menschengeschlecht nichts gebe, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde; daß also alle Offenbarungswahrheit die Möglichkeit, ja die Bestimmung in sich trage, in Vernunftwahrheit überzugehen; daß die heiligen Schriften pädagogisch, nicht wissenschaftlich normiert seien, Elementarbücher, nicht Handbücher der religiösen Erkenntnis. Von diesem Gesichtspunkte aus hatte Lessing das Alte Testament viel günstiger beurteilen können als Reimarus; die Fortsetzung der Schrift suchte nun auch dem Neuen Testament, Jesus und den Aposteln, sowie einigen Dogmen (der Dreieinigkeit, der Erbsünde, der Genugtuung des Sohnes) gerechter zu werden als dieser (von dem Lessing inzwischen noch einen letzten, den heftigsten Angriff auf das Christentum veröffentlicht hatte: »von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger«). Dabei folgt Lessing durchaus den Gedanken, ja den Worten des Reimarus, bleibt also abhängig von ihm. Das im einzelnen nachzuweisen, wäre für uns von geringem Interesse; Angriff und Verteidigung sind mit gleich unzureichenden Mitteln unternommen, und die ganze Art der Behandlung des Gegenstandes darf heute für antiquiert gelten. Aber Lessing erhebt sich zugleich über Reimarus und sich selbst und rückt, freilich ganz sachte, ja fast unmerklich, die religiöse Frage in eine neue Beleuchtung, in der sich besonders auch das Christentum ganz anders ansieht.

Reimarus hatte, wie Lessing zugibt, den Nachweis geliefert, daß eine Offenbarung unmöglich sei, die alle Menschen auf gegründete Weise glauben könnten. Lessing hatte dagegen zunächst behauptet, es sei weder die Lehre Christi noch je die allgemeine Lehre der Kirche gewesen, daß die Offenbarung auch für diejenigen Menschen zur Seligkeit notwendig sei, die gar keine oder doch keine gegründete Kenntnis davon erlangen können. Wenn nun aber die Erleuchtung des Geistes ein Ingrediens, ja das wahre Wesen der Seligkeit ist, so bleiben die Menschen, die durch die Offenbarung nicht erleuchtet werden, ob sie auch wegen ihrer Unkunde der Offenbarung nicht verdammt werden können, doch der Seligkeit beraubt. Dies ist für Lessing ein unerträglicher Gedanke, und so entnimmt er der religiösen Überlieferung die Vermutung, daß jeder einzelne Mensch so oft dieses Leben wiederholen möge, bis die göttliche Offenbarung, d. h. die göttliche Erziehung, ihren Endzweck mit ihm erreicht habe. Ein ganz unschuldiger Gedanke von unermeßlicher Tragweite! Denn dann ist die Seligkeit weder ein »Verdienst« mehr, noch eine »Gnade«; der Gedanke des »Gerichts« ist eliminiert, die ganze moralisch-juridische Auffassung der Religion überwunden. Wenn aber das Neue Testament Quelle und Norm des echten Christentums ist, so ist das »Gericht« eine wesentliche Idee des Christentums. Lessing verläßt also den Boden des Neuen Testaments, des Christentums, in einem entscheidenden Punkte.

Aber beweist nicht gerade die »Erziehung des Menschengeschlechts«, daß Lessing von der moralischen Wertung und Auffassung der Religion durchaus nicht loskommen kann? Denn der ganze göttliche Erziehungsplan, den er aufweist, läuft ja darauf hinaus, daß der Mensch erst lerne, das Gute um naher, zeitlicher Belohnung willen zu tun, dann um ferner, ungewisser, jenseitiger Belohnung willen; daß er endlich fähig werde, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben! Es ist allerdings ein Mangel an Lessings Darstellung, daß er die Vollkommenheit, zu der das Menschengeschlecht erzogen werden soll, zu eng faßt: die »völlige Aufklärung«, die auch dazu gehört, tritt fast ganz zurück hinter der »Reinigkeit des Herzens« (§ 80). Aber eben diese Reinigkeit des Herzens, in der die Tugend um ihrer selbst willen geliebt wird, ist jenseits der Moral, die die Kirche verlangte, auf die auch die Aufklärung (Kant eingeschlossen) noch so großen Wert legte. Sie besteht nicht mehr in dem guten Willen, die Tugend zu üben, sondern in der Unfähigkeit, das eine zu tun, das andre zu lassen. Wer noch vor der Wahl steht, ob er das Gute oder das Böse tun wolle, hat kein reines Herz, liebt die Tugend nicht um ihrer selbst willen. Ja, noch mehr: das unmittelbare Wollen des Guten, das Nichtwollen des Bösen, braucht gar nicht von dem Gedanken begleitet zu sein, daß es das Gute sei, das man wolle, das Böse, das man nicht wolle. Die Reinigkeit des Herzens ist naiv; erst das Urteil andrer bringt sie auf die Frage, ob es denn auch gut und böse sei, was sie tue und lasse. Und dann ist das, daß etwas für »gut« oder »böse« gilt, für sie kein Motiv des Tuns und Lassens mehr. Allerdings ist sich Lessing noch nicht ganz klar über die Tragweite seines Gedankens. So schreibt er in § 85: »sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heben und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.« Also scheint ihm nicht nur der Gedanke, daß etwas gut sei, sondern auch noch die Erkenntnis der innern, bessern Belohnung des Guten ein Bestimmungsgrund des Handelns zu sein. Aber wir werden noch auf Anzeichen stoßen, daß er sich in einer Bewegung befindet, die ihn dahin führen wird, die Selbstbestimmung aus der Sittlichkeit gänzlich auszuscheiden. Ferner hat Lessing gerade in diesem Punkte sein Verhältnis zum Christentum nicht ganz richtig erfaßt. »Sie wird gewiß kommen (ruft er aus), die Zeit eines neuen, ewigen Bundes, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Testaments versprochen wird.« In diesen neuen, ewigen Bund tritt jeder ein, der die sittliche Naivität erreicht. Insofern ist der Tag dieses Bundes in dem Neuen Testament nicht bloß versprochen, sondern bereits angebrochen. Denn das Neue Testament, und also das Christentum, enthält nicht eine einfache, sondern eine doppelte Auffassung des Sittlichen, nicht bloß eine Sittlichkeit, die durch Furcht und Hoffnung hervorgebracht wird, sondern auch eine uneigennützige Liebe zu Gott und dem Nächsten; und die Sittlichkeit, welche Lessing als Ziel vorschwebt, wird auch dort als die höhere gewertet. »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder«, sagt Jesus, »werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen«: also ist das Ziel der Entwicklung des Menschen eine zweite Naivität. Darum kann man in das neue Leben auch nur eintreten durch eine Neugeburt aus dem Geiste, nicht durch Reflexion und Entschluß. Und die Tugend ist nach dem Apostel Paulus nicht Gehorsam gegen das Gesetz, sondern eine Frucht des Geistes: Enthusiasmus, Naivität. Auch nach Luther bedarf der Christenmensch nicht eines Lehrers guter Werke: »sondern was ihm vorkommt, das tut er und ist alles wohlgetan«. Lessing tritt also mit diesen Gedanken in eine ganz gute christliche Tradition ein; vielleicht ohne es selbst so genau zu wissen, vielleicht hat er es auch nur nicht hervorheben wollen. Daß er eine Wahrheit gefunden hatte, brauchte er nicht dadurch abzuschwächen und zu verdunkeln, daß er sie auch als christliche Wahrheit empfahl. Lieber noch hob er hervor, daß gewisse Schwärmer des 13. und 14. Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen, ewigen Evangeliums aufgefangen hatten (§ 87).

Denn so freundlich auch Lessing aus der christlichen Offenbarung den Wahrheitsgehalt herausstellt, so hat er doch sichtlich das Bestreben, die Enge des kirchlichen Offenbarungsbegriffs zu durchbrechen. Neben die von der Kirche allein angenommene Möglichkeit, daß die Offenbarung die Vernunft leite, stellt er die andere, daß die Vernunft auch die Offenbarung erhelle (§ 36). Für die Hypothese der Re-incarnation macht er geltend, daß der menschliche Verstand in den ältesten Zeiten darauf verfiel, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte (§ 95). Auch dem »Schwärmer« gesteht er zu, daß er oft sehr richtige Blicke in die Zukunft tue: er kann diese Zukunft nur nicht erwarten, wünscht sie beschleunigt, beschleunigt durch ihn (§ 90). So gut wie die Offenbarung kann also jede uralte Überlieferung, ja jede moderne Schwärmerei, der Vernunft auf die Spur helfen; und in der Tat ist für Lessing die Offenbarung eine Erziehung, die dem Menschengeschlecht geschehen ist und noch geschieht (§2). Da ferner die Offenbarung gar nicht bloß geglaubt, sondern in Vernunftwahrheit umgewandelt werden soll; und da sie gar keine Gewähr bietet, daß diese Umwandlung überall möglich sei: so hat der Mensch faktisch zu ihr keine andere Stellung als zu aller angeblichen Wahrheit, die ihm irgendwoher dargeboten wird. Er muß sie prüfen, wird das Gute behalten, das Zweifelhafte dahingestellt sein lassen, und darf sich auch die Freiheit nehmen, als Irrtum zu verwerfen, was er widerlegen zu können glaubt. Und so zieht Lessing als Herausgeber aus dem Aufsatz, den er mitteilt, nur die richtige Folgerung, wenn er in seinem Vorbericht den Begriff der Offenbarung ganz fallen läßt. »Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln kann und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen verdiente in der besten Welt nichts, und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele, nur bei unsern Irrtümern nicht?«

Gewiß sollte die Religion »selbst die erste Sorge Gottes sein. Hat Gott aber seine Hand bei allem im Spiele, so hat er sie bei nichts mehr besonders im Spiele. Also ist vielleicht dieser ganze Plan der Offenbarung oder Erziehung nur der exoterische Ausdruck für eine esoterische Wahrheit, die der Philosoph zunächst noch für sich behält. Sehen wir genauer zu, so sind ihm doch einige Ausdrücke entfallen (oder hat er sich einige Ausdrücke entfallen lassen), die uns auf diesen Verdacht bringen. Die menschliche Erziehung, sagt Lessing, zweckt darauf ab, daß der Mann ohne äußeren Beweggrund seine Pflicht zu tun vermögend sei, und die göttliche sollte nicht dahin reichen? »Was der Kunst mit dem Einzelnen gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen?« (§ 84). Lessing kann »Gott« sagen, kann ebensogut auch »Natur« sagen: in der Sache bleibt sich's gleich. Ferner scheint es ihm, daß die Lehre von der Dreieinigkeit den menschlichen Verstand nach unendlichen Verirrungen rechts und links nur endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, »daß Gott in dem Verstande, in welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins sein könne; daß auch seine Einheit eine transzendentale Einheit sein müsse, welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt« (§ 73). Gehört zu den endlichen Dingen, deren Einheit Gott unmöglich haben kann, vielleicht auch das menschliche Ich? Soll uns also die Dreieinigkeit vielleicht darauf hinleiten, daß Gott wohl Geist sein mag, aber nicht Person! wie ihn doch jede positive Religion vorstellt, vorstellen muß! Und wie verhielte sich dann Gott zu der Entwicklung des menschlichen Verstandes In welchem Sinne hätte er dann seine Hand wie bei allem, so auch bei unsern Irrtümern, bei den Religionen im Spiel? Ist das vielleicht gar ein und dasselbe: »die Religionen«? und »unsere Irrtümer«?

 

8.

Die »Erziehung des Menschengeschlechtes« hat Lessing nur als Herausgeber vertreten wollen. Der Grund kann ein doppelter gewesen sein und war auch gewiß ein doppelter: daß er nur exoterische Wahrheit vortrug; und daß er mancher Gedanken darin nicht so gewiß war, um für sie öffentlich einstehen zu können. Was er nun aber öffentlich nicht sagen konnte oder wollte, das hat er doch für sich mehr oder weniger weit durchgedacht und auch im privaten Gespräch geäußert. Und so wollen wir denn aus seinen nachgelassenen Schriften und aus philosophischen Gesprächen, die Fr. H. Jacobi im Juli 1780 mit ihm hatte und über die er 1783 Mendelssohn brieflichen Bericht erstattete, noch genauer zu bestimmen suchen, wie weit er in der Richtung fortgeschritten ist, die wir aus seinen letzten veröffentlichten Schriften ungefähr erschließen konnten. Dabei haben wir auch seine Ansicht über die Freiheit des Willens nachzuholen, die er dem großen Publikum nicht vorenthalten hat, die wir aber bis jetzt nicht passend einfügen konnten.

Nun erfahren wir aus zwei nachgelassenen, sehr flüchtig hingeworfenen Aufsätzen, daß ihn die Lehre von der Seelenpräexistenz und Metempsychose ganz ernsthaft und noch in einer andern Richtung beschäftigte, als die »Erziehung des Menschengeschlechts« erkennen läßt. Nicht bloß die moralische, auch die intellektuelle Vollkommenheit erreicht der Mensch nur in einer Reihe von Existenzen. Unserer jetzigen Stufe der Erkenntnis, die dadurch charakterisiert ist, daß wir fünf »Sinne« haben, die fünf Arten »homogener Masse« entsprechen, müssen andere Existenzen vorangegangen sein, worin wir den Gebrauch dieser Sinne nach und nach (erst der einzelnen Sinne, dann gewisser Kombinationen derselben) eingeübt haben. Und es werden unserer jetzigen Existenz gewiß noch andere folgen, in denen wir neue Sinne hinzugewinnen werden und einüben müssen. »So wie der homogenen Masse, durch welche die Körper in den Stand der Sichtbarkeit kommen (dem Lichte), der Sinn des Gesichts entspricht; so können und werden gewiß der elektrischen Materie oder der magnetischen Materie ebenfalls besondere Sinne entsprechen, durch welche wir es unmittelbar erkennen, ob sich die Körper in dem Stande der Elektrizität oder in dem Stande des Magnetismus befinden, welches wir jetzt nicht anders als aus angestellten Versuchen wissen können. Alles, was wir jetzt noch von der Elektrizität oder von dem Magnetismus wissen, oder in diesem menschlichen Zustande wissen können, ist nicht mehr, als was Saunderson von der Optik wußte. Kaum aber werden wir den Sinn der Elektrizität oder den Sinn des Magnetismus selbst haben, so wird es uns gehen, wie es Saunderson würde ergangen sein, wenn er auf einmal das Gesicht erhalten hätte. Es wird auf einmal für uns eine ganz neue Welt voll der herrlichsten Phänomene entstehen, von denen wir uns jetzt ebenso wenig einen Begriff machen können, als er sich von Licht und Farben machen konnte.« Und so könnte es noch viele Arten von »homogenen Massen« geben, denen ein Sinn entspricht, den wir nur noch nicht haben (16, 522 f.).

Es verlohnt sich nicht, daß wir genauer feststellen (wenn das überhaupt möglich wäre), was Lessing unter einem »Sinn« und einer »homogenen Masse« verstand: welche Bedeutung dieser enthusiastische Gedanke für seine ganze Weltanschauung hatte, läßt sich ohne das erkennen. Lessing glaubt an die Wahrheit der fünf Sinne: sie bringen uns richtige Kunde über die Qualitäten oder Bewegungen der Materie, auf die sie gestimmt sind. Aber unser Weltbild ist nicht bloß insofern unvollständig, als wir noch nicht alles festgestellt und verbunden haben, was mit den Sinnen, die wir haben, zu erfahren ist. Vielmehr reicht unsere ganze intellektuelle Organisation nicht aus, alle Qualitäten und Beziehungen des Seins unmittelbar zu schauen. Einen wesentlichen Fortschritt unserer Erkenntnis des Daseins haben wir also nur von einer Vervollkommnung unserer geistigen Organisation zu erwarten. Erweitern wir den Begriff des »Sinns« auch auf die Fähigkeit, geistige Verhältnisse unmittelbar wahrzunehmen, so könnte uns eine zukünftige Existenz wohl auch die Erleuchtung bringen, für die sich alle Dissonanzen des Daseins in Harmonie auflösen, in der das physische und moralische Übel als Ingrediens der absoluten Vollkommenheit des Daseins sichtbar wird; also jene Erkenntnis, in der die Seligkeit besteht. Die Religion wäre dann etwa eine enthusiastische Vorahnung dieser Seligkeit, die uns ermöglicht, die für unser Empfinden wirklichen, in Wahrheit doch nur scheinbaren Dissonanzen des Daseins zu ertragen.

In diesem Sinne aber ist die Religion für Lessing offenbar ein Teil der natürlichen Anlage des Menschen. Als Probe derselben betrachtet er es in seiner Jugend, daß wir uns nicht erlauben, über irgend eine Schicksalsfügung zu murren. Darum soll auch der Dichter niemand mit seinen Umständen unzufrieden machen (7, 437), soll der Tragiker das Gräßliche meiden, das einen verzweifelten Schmerz hervorruft (10, 120). Jetzt findet Lessing, daß die von der göttlichen Weisheit beliebte Ungleichheit in der geistigen Ausstattung der Menschen niemand zum Mißvergnügen mit der Einrichtung des Schöpfers berechtige. Nicht bloß, weil es keineswegs ausgemacht ist, ob nicht der Mensch (oder jede Seele, solange sie als Mensch erscheint) vollkommen zu der nämlichen Ausbildung seiner Fähigkeiten gelange. Vielmehr lernt Lessing aus der täglichen Erfahrung, daß kein Mensch mit der gegenwärtigen Ausbildung seiner Geistesfähigkeit mißvergnügt ist; und es dünkt ihn, daß es ganz gegen die Natur der Menschen wäre, wenn er damit mißvergnügt sein könnte. »Er kann sich wohl einbilden, daß diese nämliche Ausbildung unter andern annehmlichen äußerlichen Umständen ebensowohl geschehen könnte. Aber das ist nicht Mißvergnügen mit dem Grade der Ausbildung, sondern mit Dingen, die er bei dieser Ausbildung anders sein zu können vermeint.« (16, 442 f.) Mit sich kann der Mensch gar nicht unzufrieden sein! Alles Mißvergnügen beruht auf dem Wahn, man hätte der, der man ist, auch unter leichteren Bedingungen werden können! Das natürliche Selbstgefühl ist ein Unterpfand für die Vollkommenheit der Welt, ist die Quelle des religiösen Glaubens! Und dessen Vollendung liegt in der Erkenntnis, daß wir nur auf dem Wege, den wir wirklich gegangen sind, zu dieser Ausbildung unseres Geistes haben kommen können, mit der wir gar nicht mißvergnügt sein können! Der heilige Geist des Christen ist kein anderer als der Geist der Natur! Ich glaubte selbst, daß ich damit zu viel in Lessing hineinlese, wenn nicht andere Linien seiner Entwicklung, die wir mit größerer Sicherheit ziehen können, gegen denselben Punkt konvergierten.

 

9.

Wenn nun aber ein Mensch darüber mißvergnügt wäre, daß er selbst, durch eigene freie Tat, sich seine Entwicklung erschwert oder gar verdorben hätte?! So ist auch das ein bloßer Wahn. Denn so was gibt es nicht.

Daß die freie Entscheidung des Menschen für Lessing keine große Bedeutung haben kann, davon haben wir im bisherigen schon deutliche Spuren gefunden. Es ist nicht wahr, daß jemals ein Mensch wissentlich und vorsätzlich sich selbst verblendet habe; »es ist nicht wahr, sage ich; aus keinem geringem Grunde als weil es nicht möglich ist« (13, 23). Die Stufe der sittlichen Entwicklung des Einzelnen ist nach der »Erziehung des Menschengeschlechtes« nicht von seinem Willen, abhängig, sondern von einer metaphysischen Bedingung: sie ist durch den Punkt bestimmt, den die Seele in der Folge der Existenzen gerade durchläuft. Ferner ist ja die Freiheit proportional der Möglichkeit sittlicher Einsicht (weshalb wir die Verantwortung an die Zurechnungsfähigkeit knüpfen); gibt es nun keine sichere Grenzscheidung zwischen dem sittlich Guten und sittlich Bösen (13, 113), so gibt es auch keine sichere Entscheidung für das eine oder andere. Also hängt der sittliche Fortschritt des Menschen wesentlich daran, daß der Mensch in einem dunklen Drange sich des rechten Weges wohl bewußt ist. Und wenn gar die sittliche Entwicklung sich durch mehrere Existenzen hindurchzieht? Die Kirche kann mir bloß deshalb die Verantwortung für mein ewiges Los auferlegen, weil sie mir eine gewisse Kunde von dem Willen des Gottes gibt, der mich einst richten wird. Fällt diese weg, so kann meine Hoffnung, durch eine unübersehbare Reihe von Existenzen hindurch zur Vollkommenheit zu gelangen, nur darauf sich gründen, daß ich dahin kommen muß. Hätte Lessing sich gar nicht über den freien Willen ausgesprochen, so könnten wir mit Sicherheit vermuten, daß er nichts auf ihn halte.

Nun hat er aber schon 1755 (in »Pope ein Metaphysiker«) nicht mehr beweisen wollen, »was man schon unzähligemal bewiesen hat«, daß das Vermögen, unter zwei gleich ähnlichen und guten Dingen eines dem andern vorzuziehen, eine leere Grille sei. Ihm schien wohl damals die ganze Frage der Freiheit damit erledigt zu sein, daß auch jede freie Wahl Bewegungsgründe habe (6, 439). Daß Lessing dieser Meinung auch ferner geblieben ist, können wir daraus erschließen, daß er dem tragischen Dichter die Aufgabe zuweist, uns die Notwendigkeit einer gewissen Handlung sehen zu lassen: gelingt ihm das, so hat er uns nicht betrogen, sondern die Wahrheit des Menschenschicksals erschlossen. Wir haben aber auch noch eine direkte Aussage von ihm aus dem Jahr 1776, welche uns erkennen läßt, daß er auch nicht einmal in üblicher Weise das Wort der Freiheit zu retten suchte. Ich teile diese höchst charakteristische Äußerung vollständig mit.

Unter den Aufsätzen des jungen Jerusalem, seines Freundes, die Lessing zur Berichtigung des Bildes, das Goethe in seinem »Werther« von ihm gegeben zu haben schien, veröffentlichte, handelte der dritte von der Freiheit und vertrat einen strengen Determinismus. Lessing bemerkt dazu:

»Der dritte Aufsatz zeiget, wie wohl der Verfasser ein System gefaßt hatte, das wegen seiner gefährlichen Folgerungen so sehr verschrieen ist und gewiß weit allgemeiner sein würde, wenn man sich gewöhnen könnte, diese Folgerungen selbst in dem Lichte zu betrachten, in welchem sie hier erscheinen. Tugend und Laster so erklärt; Belohnung und Strafe hierauf eingeschränkt: was verlieren wir, wenn man uns die Freiheit abspricht? Etwas – wenn es Etwas ist – was wir nicht brauchen; was wir weder zu unserer Tätigkeit hier, noch zu unserer Glückseligkeit dort brauchen. Etwas, dessen Besitz weit unruhiger und besorgter machen müßte, als das Gefühl seines Gegenteils nimmermehr machen kann. Zwang und Notwendigkeit, nach welchen die Vorstellung des Besten wirket, wie viel willkommener sind sie mir als die kahle Vermögenheit, unter den nämlichen Umständen bald so, bald anders handeln zu können! Ich danke dem Schöpfer, daß ich muß; das Beste muß. Wenn ich in diesen Schranken selbst so viele Fehltritte noch tue: was würde geschehen, wenn ich mir ganz allein überlassen wäre? einer blinden Kraft überlassen wäre, die sich nach keinen Gesetzen richtet und mich darum nicht minder dem Zufall unterwirft, weil dieser Zufall sein Spiel in mir selbst hat? – Also, von der Seite der Moral ist dieses System geborgen. Ob aber die Spekulation nicht noch ganz andere Einwendungen dagegen machen könne? Und solche Einwendungen, die sich nur durch ein zweites, gemeinen Augen ebenso befremdendes System heben ließen? Das war es, was unser Gespräch so oft verlängerte und mit wenigen hier nicht zu fassen stehet« (12, 298 f.).

Ob Lessing auf eine psychologische und metaphysische Erörterung der Willensfreiheit bloß hier nicht eingehen wollte, ob er sie überhaupt für unfruchtbar oder überflüssig hielt, verrät er uns nicht. Er findet sich mit dieser Vexierfrage der Philosophie ganz persönlich ab; aber dadurch gelangt er auch zu einer Entscheidung, die ihm keinen Zweifel übrig läßt. Mit einer kahlen Vermögenheit, unter denselben Umständen so oder so handeln zu können, weiß er nichts anzufangen. Er hat aber auch gar nicht das Bewußtsein, daß er in einer Willensentscheidung eine Wahl vollziehe; entschieden ist er eben dann, und bloß dann, wenn er keine Wahl mehr hat. Er kann doch immer nur das Beste wählen, und das Beste muß er wählen. Sobald ihm das Beste überzeugend klar geworden ist, hat er keine Wahl mehr: so lange diese Klarheit noch nicht eingetreten ist, wählt er blind, ist also seine Wahl Sache des Zufalls. Übrigens wird dieser Fall nach seiner Meinung offenbar nie wirklich: er kommt überhaupt nicht zu einer Willensentscheidung, ohne daß sich ihm etwas als das jetzt Beste darstellte.

Nun ist allerdings nicht einzusehen, wie er »in diesen Schranken« noch »Fehltritte« tun könnte. Ist denn »Zwang und Notwendigkeit, nach welchen die Vorstellung des Besten wirkt«, nur eine Schranke der Willensbestimmung? nicht vielmehr die Willensbestimmung selbst? Welche Fehltritte soll denn der tun, der – doch wohl immer! – das Beste muß? Es wird kaum zu entscheiden sein, ob Lessing sich hier bloß exoterisch ausdrückt oder ob er seinen Gedanken noch nicht zur letzten Konsequenz durchgedacht hat. Leider sagt er uns auch nicht, welche anderen Einwendungen die Spekulation gegen den Determinismus noch machen könne, und welches das zweite, gemeinen Augen ebenso befremdende System ist, das diese Einwendungen heben würde. Eine gewisse Auskunft hierüber geben uns aber wohl seine Gespräche mit F. H. Jacobi F. H. Jacobi, über die Lehre des Spinoza 1785, S. 7-48; bes. S. 18-20..

Lessing merkt, daß Jacobi gern seinen Willen frei hätte, und bemerkt nun seinerseits: »Ich begehre keinen freien Willen.« Auch was Jacobi eben gegen den Fatalismus gesagt habe, erschrecke ihn nicht im geringsten. Das war aber nichts Geringeres als daß, wenn es lauter wirkende und keine Endursachen gebe, das denkende Vermögen in der ganzen Natur bloß das Zusehen habe; sein einziges Geschäft sei dann, den Mechanismus der wirkenden Kräfte zu begleiten. »Die Unterredung (fährt Jacobi fort), die wir gegenwärtig miteinander haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber; und der ganze Inhalt dieser Unterredung, in seine Elemente aufgelöst, Ausdehnung, Bewegung, Grade der Geschwindigkeit nebst den Begriffen davon und den Begriffen von diesen Begriffen. Der Erfinder der Uhr erfand sie im Grunde nicht; er sah nur ihrer Entstehung aus blindlings sich entwickelnden Kräften zu. Ebenso Raphael, da er die Schule von Athen entwarf, und Lessing, da er seinen Nathan dichtete. Dasselbe gilt von allen Philosophien, Künsten, Regierungsformen, Kriegen zu Wasser und zu Lande, kurz von allem Möglichen. Denn auch die Affekte und Leidenschaften wirken nicht, insofern sie Empfindungen und Gedanken sind; oder richtiger – insofern sie Empfindungen oder Gedanken mit sich führen. Wir glauben nur, daß wir aus Zorn, Liebe, Großmut oder aus vernünftigem Entschlusse handelten. Bloßer Wahn! In allen diesen Fällen ist im Grunde das, was uns bewegt, ein Etwas, das von alledem nichts weiß, und das, insoferne, von Empfindung und Gedanke schlechterdings entblößt ist. Diese aber, Empfindung und Gedanke, sind nur Begriffe von Ausdehnung, Bewegung, Graden der Geschwindigkeit usw.« Abgesehen davon, daß Jacobi den Fatalismus auch zum Materialismus machen will, hatte er seine Sache nicht übel verteidigt; Lessing aber läßt sich, wie gesagt, nicht bange machen. Er erwidert: »Es gehört zu den menschlichen Vorurteilen, daß wir den Gedanken als das Erste und Vornehmste betrachten und aus ihm alles hervorleiten wollen; da doch alles, mitsamt den Vorstellungen, von höheren Prinzipien abhängt. Ausdehnung, Bewegung, Gedanke sind offenbar in einer höheren Kraft gegründet, die noch lange nicht damit erschöpft ist. Sie muß unendlich vortrefflicher sein als diese oder jene Wirkung; und so kann es auch eine Art des Genusses für sie geben, der nicht allein alle Begriffe übersteigt; sondern völlig außer dem Begriffe liegt. Daß wir uns nichts davon gedenken können, hebt die Möglichkeit nicht auf«. Es ist also auch das nur eine äußerliche Auffassung, daß die Vorstellung des Besten den Menschen mit Zwang und Notwendigkeit bestimme. Vielmehr ist der ganze Vorgang, daß ich etwas als das Beste muß, die Auswirkung eines höheren Prinzips, das körperliche und geistige Bewegung produziert, aber darin sich nicht erschöpft; das weder Geist noch Materie ist noch eine Verbindung von Geist und Materie, sondern ein für uns gänzlich unvorstellbares Drittes. Indem dieses Prinzip sich durch uns auswirkt, haben wir das Gefühl, daß wir das Beste müssen; und »das Beste« ist natürlich nur eine Bezeichnung dafür, daß wir »müssen«. Was wir mit innerer Notwendigkeit tun, tun wir als gut.

Das ist also wohl dieses gemeinen Augen so befremdende System, das die Schwierigkeiten des Determinismus vollends lösen soll: daß das menschliche Ich nur ein Knotenpunkt göttlicher Kräfte oder Wirkungen oder Tätigkeiten ist oder wie wir es heißen wollen. Lessing hat seine Freiheit an Gott verloren; und bedauert es offenbar nicht.

 

10.

Das war eigentlich schon damals geschehen, als er erkannte, daß Vorstellen, Wollen und Schaffen in Gott eins seien. Gott muß sich doch den Menschen, und was der Mensch werden und tun könnte oder sollte, fortdauernd vorstellen; und indem er ihn vorstellt, will er ihn immer und schafft er ihn immer. Aber es hinderte den jungen Lessing nicht bloß der christliche Gottesbegriff, von dem er mit Leibniz ausging, und die christliche Vorstellung vom Menschen und dessen Verhältnis zu Gott, daß er nicht sofort die strenge Konsequenz aus jenem Satze zog; denn es ist dem Menschen überhaupt nicht leicht; und der Jugend vielleicht ganz unmöglich, seine höchst bedeutende Selbstheit als bloßen Schein zu erkennen. Ein Aufhalten aber, oder gar ein Rückgang, war für Lessing nicht möglich; wenige, aber deutliche Spuren beweisen, daß er langsam, doch unwiderstehlich darauf hingetrieben wurde, in dem vollkommensten Wesen das Allwesen zu sehen.

Daß Lessing im Jahr 1755 dem deus sive natura schon sehr nahe gekommen war, haben wir bereits hervorgehoben (S. 65). Aber er fand damals keine Veranlassung, sich über das Verhältnis Gottes zu dem Geschöpf auszusprechen; wir wissen also auch nicht, wie er zu jener Zeit darüber gedacht hat. Dagegen bekennt er in einem versprengten Aufsatz aus dem Anfang der sechziger Jahre (14, 292 f.), daß er sich von der Wirklichkeit der Dinge außer Gott durchaus keinen Begriff machen könne. Denn diese Wirklichkeit kann nichts enthalten, wovon in Gott nicht auch ein Begriff wäre. »Ist aber ein Begriff davon in ihm, so ist die Sache selbst in ihm«: weil eben Denken und Schaffen in Gott eins ist. Auch wenn die Philosophen unter der Wirklichkeit der Dinge außer Gott nur das verstehen wollen, daß ihre Wirklichkeit von einer andern Art sei als die Gottes (jene zufällig, diese notwendig), bringt Lessing es nicht zu einer wirklichen Scheidung der endlichen Dinge von dem Unendlichen. »Was außer Gott zufällig ist, wird auch in Gott zufällig sein; oder Gott müßte von dem Zufälligen außer ihm keinen Begriff haben.« Also muß auch die zufällige Wirklichkeit eine Wirklichkeit in Gott sein. »Aber, wird man schreien: Zufälligkeiten in dem unveränderlichen Wesen Gottes annehmen!« Lessings Erwiderung ist, man kann sie fast nicht anders charakterisieren, echt lessingisch: »Nun? Bin ich es allein, der dieses tut? Ihr selbst, die ihr Gott Begriffe von zufälligen Dingen beilegen müßt, ist euch nie beigefallen, daß Begriffe von zufälligen Dingen zufällige Begriffe sind?« Nimmt denn nun Lessing Zufälliges in dem unveränderlichen, notwendigen Wesen Gottes an? Oder will er etwa darauf hinleiten, daß man eben auch den Begriff der Zufälligkeit aufgeben müsse? daß, weil alles in Gott ist, alles notwendig sein müsse? und wir nur die überall vorauszusetzende Notwendigkeit nicht überall sehen?

In den Gesprächen mit Jacobi bekannte sich nun Lessing offen wie zu dem strengsten Determinismus, so auch zu dem ἕν καὶ πᾶν, lehnte eine außerweltliche Gottheit ab und zog auch die Konsequenz, daß in gewissem Sinne alles »Gott« sei. »Einmal sagte Lessing, mit halbem Lächeln: er selbst wäre vielleicht das höchste Wesen, und gegenwärtig in dem Zustande der äußersten Kontraktion.« Damit fällt natürlich auch die Persönlichkeit Gottes. Insbesondere will Lessing »unsere elende Art, nach Absichten zu handeln«, auf den Menschen eingeschränkt, also von Gott ausgeschlossen wissen. Gott, das höchste Prinzip, ist ihm ja auch jenseits des Gegensatzes von Ausdehnung und Gedanke, Materie und Geist, und hat wohl »eine Art des Genusses«, die nicht bloß alle Begriffe übersteigt, sondern völlig außer dem Begriffe liegt.

Da wir uns hier eingestandenermaßen an der Grenze des Sagbaren befinden, so müssen wir uns an diesen Andeutungen genügen lassen. Dies um so mehr, da Wortlaut und Sinn der einzelnen Äußerungen Lessings über Gott, die Jacobi sonst noch berichtet, manchem Zweifel Raum lassen.

In diesen seinen letzten Gedanken wußte sich nun Lessing eins mit Spinoza, der wohl auch ihre Entwicklung gefördert hatte. Und so konnte er auch sagen: »wenn ich mich nach jemand nennen soll, weiß ich keinen andern«. Trotzdem sollte man es lieber vermeiden, Lessing einen Spinozisten zu nennen; denn diese Bezeichnung wird der Art, wie sich Lessing zu allen philosophischen Systemen stellte, nicht gerecht. Das ist auch aus seiner Unterhaltung mit Jacobi ganz deutlich zu erkennen. Er habe Jacobi geraten, wenn er Spinoza doch kenne und liebe, sich nicht gegen ihn zu sträuben, sondern lieber ganz sein Freund zu werden. »Es gibt keine andre Philosophie als die Philosophie des Spinoza.« Wenn Jacobi bei seiner begeisterten Verehrung für Spinozas Geisteshöhe kein Spinozist werde, müsse er aller Philosophie den Rücken kehren. Wie Lessing so was verstand, erkennen wir aus einer analogen Äußerung über Leibniz: »Schlimm genug, daß man die Lehre von der besten Welt noch immer seine Lehre nennt; warum sollen nun auch die einzigen wahren Begriffe von der Gerechtigkeit Gottes seine Begriffe heißen (11, 471 f.) Er fand sich (als »ehrlicher Lutheraner«) mit Spinoza zusammen in dem »mehr viehischen als menschlichen Irrtum und Gotteslästerung, daß kein freier Wille sei«; er teilte dessen Geringschätzung unserer elenden Art nach Absichten zu handeln; er vermochte wie dieser Gott und Welt nicht mehr auseinander zu halten. Aber damit glaubte er eben der Wahrheit auf die Spur gekommen zu sein; der Wahrheit, die alle denkenden Köpfe aus größerer oder geringerer Entfernung, mit größerer oder geringerer Deutlichkeit geschaut hatten. Auch Leibniz, »fürchtete« er, war im Herzen selbst ein Spinozist. Wenn aber Jacobi versicherte, im Spinoza stehe sein Credo nicht, so meinte Lessing: »Ich will hoffen, es steht in keinem Buche«. Sein Credo stand also gewiß in keinem Buch; auch nicht in Spinozas Ethik. Er scheint mir nicht einmal von Gott genau dieselbe Vorstellung zu haben wie Spinoza; doch hielte ich es für verfehlt, das auch nur untersuchen zu wollen. Denn man könnte dabei der Gefahr gar nicht entgehen, daß man Lessing sich bestimmter ausdrücken ließe, als er sich selbst ausdrücken würde.


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