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Gotthold Ephraim Lessing

Einleitung.

Über den Begriff der Philosophie – Vorläufige Charakteristik von Lessings philosophischer Eigenart


Daß Lessing auch ein Philosoph ist, lehrt ein Blick in seine Schriften. Darum muß eine vollständige Darstellung seines Lebens und Wirkens sich auch mit seiner Philosophie beschäftigen. Ob es aber rätlich, ob es statthaft ist, Lessing besonders als Philosophen aufzunehmen, das ist eine Frage. An dem großen Mann ist auch jede Kleinigkeit des Wissens wert. Aber der große Mann kann es sich wohl verbitten, daß man ihn verkleinere, indem man, was an ihm nun einmal nicht groß ist, auch nur vorübergehend selbständigen Interesses würdige. Man stelle ihn dar, von welcher Seite man wolle: aber so, daß seine Größe dabei zum Ausdruck kommt. Wäre Lessing bloß ein Philosoph wie so viele, die man aus philosophischem Interesse nicht mehr zu studieren braucht, so wäre es ein Unrecht, ihn durch besondere Darstellung seiner Philosophie in die Lage zu bringen, daß er an dem strengen Begriff eines Philosophen gemessen werden müßte. Nur wenn er trotzdem selbst für einen großen Philosophen hätte gelten wollen, dürfte man, um seine Anmaßung zu züchtigen, ihm solches antun.

Aber Lessing hat sich selbst nicht für einen Philosophen ausgegeben. Und es haben sogar Verehrer von ihm, die ihn auch als Philosophen hochschätzen, angedeutet, daß er daran wohl getan habe. »Wenn die Geschichte der Philosophie nur von denen erzählen dürfte, welche Stifter oder Anhänger eines bestimmten Systems waren [das sind doch wohl die Philosophen im strengen Sinne des Worts?], so müßte sie an Lessing mit Stillschweigen vorbeigehen.« E. Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie, S. 350. Lessing hat kein System, er hat auch keine strenge Methode des Philosophierens. Sein Interesse erstreckt sich nicht gleichmäßig auch nur auf die Hauptfragen der Philosophie. Er hat keine einzige Schrift geschrieben, die nur eben ein philosophisches Problem lösen wollte. Er hat also nur nach Laune, gelegentlich philosophiert; und weil er dabei immer an die Gedanken anderer anknüpfte, so zeichnet er sich durch Originalität keineswegs aus. Endlich hat er es, gerade in den wichtigsten Dingen, nicht für nötig erachtet, seine Meinung rund und klar herauszusagen; so weiß man heute noch nicht, was für einen Gott er eigentlich annahm, ob er im Ernst an eine Seelenwanderung geglaubt habe, ob er schließlich in der Tat zu Spinoza übergegangen sei. Ein interessanter Philosoph mag er so wohl sein; aber ob auch ein bedeutender, ein großer Philosoph?

Wie man sieht, bin ich doch der Meinung, daß man sich wohl noch aus philosophischem Interesse mit dem Philosophen Lessing beschäftigen dürfe. Die Rechtfertigung dieses Urteils kann nur in meiner ganzen Darstellung liegen. Doch werde ich mich mit dem Leser über Lessing leichter verständigen, wenn ich es schon jetzt begründe, so gut das eben vorläufig geschehen kann. Zu diesem Zweck muß ich in Kürze erörtern, was eigentlich den Philosophen macht, woran also die Bedeutung eines Philosophen zu messen ist.

Der Philosoph hat kein anderes Objekt des Denkens als der Laie: diese Wirklichkeit, in der wir leben, und deren eine Hälfte für jeden einzelnen er selbst ist. Der Philosoph hat auch kein anderes Organ des Erkennens als der Laie; eine philosophische Methode, die bei richtiger Handhabung wie ein Hauptschlüssel alle Geheimnisse des Daseins aufschließen würde, gibt es nicht. Auch ist das, was der Philosoph dem simpeln Verstand nicht deutlich machen kann, nicht eben der sicherste und wertvollste Teil seines Wissens. Der Philosoph ist ferner, wie jeder Laie, dem allgemeinen Menschenlos unterworfen, daß er innerhalb des ihm zugemessenen Lebens nur einen beschränkten Ausschnitt der Wirklichkeit wirklich »erfahren«, durchdringen und beherrschen kann. Und endlich tritt der Philosoph, wie jeder andre, in eine gewisse Überlieferung des Wissens ein und entwickelt nur in ihr und gegen sie eigene Gedanken, ohne es doch je zur reinen Selbständigkeit zu bringen. Kurz, der Philosoph steht dem Laien nicht, wie der durch ein Sakrament geweihte Priester, als ein Wesen anderer Art gegenüber; es ist zwischen philosophischem Wissen und gemeinem Wissen nur ein relativer Unterschied, kein absoluter.

Und doch hat es seinen guten Sinn, den Philosophen dem Laien entgegenzusetzen. Während nämlich der Laie sich damit begnügt, von der Wirklichkeit dies und das zu wissen, was er für die Not des Lebens braucht oder aus irgend welcher speziellen Neigung interessant findet, strebt der Philosoph, die Wirklichkeit als Ganzes und im Zusammenhang zu erkennen. Während dem Laien für seinen Bedarf eine gewisse Wahrscheinlichkeit des überlieferten oder erworbenen Wissens genügt, wird der Philosoph durch eine Leidenschaft für Gewißheit in Unruhe gehalten, bis er genau weiß, was er in seinem »Wissen« wirklich weiß. Während bei dem Laien die praktische Lebenshaltung und die theoretische Lebensanschauung oft weit auseinanderklaffen, empfindet der Philosoph den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis als schmerzliche Dissonanz, strebt also die Praxis nach der Theorie, vielleicht auch die Theorie nach der Praxis zu korrigieren, bis sie in ihm übereinstimmen. Oder besser umgekehrt: wer in fragmentarischem Wissen kein Genüge findet; wer in der bloßen Wahrscheinlichkeit nicht zur Ruhe kommt; wer einen Widerspruch zwischen Denken und Leben nicht ertragen kann: der ist ein Philosoph.

Das Ziel des Philosophen ist also: ein vollständiges und lückenloses, wohlgeordnetes und deshalb durchsichtiges Bild der Wirklichkeit zu entwerfen, das im einzelnen und ganzen unzweifelhafte Gewißheit besäße, aus dem er auch sich selbst verstehen, in das er das eigene Leben einordnen könnte und müßte. Aber wenn je ein Philosoph dieses Ziel erreicht zu haben glaubte, so hat er nie alle Mitphilosophen von der Wahrheit dieses seines »Systems« zu überzeugen vermocht, so haben ihn die Nachfolger immer bald genug des Irrtums überführt. Es hat kein philosophisches System je die Alleinherrschaft errungen; es hat sich keines auf die Dauer zu behaupten vermocht. Die Philosophie ist also in Wirklichkeit nie, sie wird immer nur; und dabei wird es sein Bewenden behalten, nicht bloß wegen der Ferne ihres Ziels, sondern auch weil die verschiedenen Tendenzen, die darin zusammentreffen, sich widerstreiten. Wer von dem ungeduldigen Wunsche beseelt ist, die Wirklichkeit als ein in sich zusammenhängendes Ganzes zu erfassen, der kann es bei der Sichtung, Ordnung und Ergänzung der Erfahrung nicht so gar genau nehmen: er wird also in sein System manchen Gedanken aufnehmen, den er nicht zur Gewißheit durchgedacht hat. So sagt man Hegel, dem größten Systematiker unter den Philosophen, nach, daß er der Bewegung der Idee, durch die er das Dasein rekonstruieren wollte, im Falle der Not auch durch sehr unlogische Mittel nachgeholfen habe. Wer dagegen die Leidenschaft für die Gewißheit hat, der wird schwerlich je so viel gesichertes Wissen zusammenbringen, daß er mit dem Bau eines Systems beginnen könnte. Sein Wissen wird sich fortdauernd vermindern, statt sich zu vermehren; und so endigte Sokrates mit dem Geständnis, er wisse nur, daß er nichts wisse. Ja, daß er das wenigstens wisse, war nach seiner Meinung eben sein, des Philosophen, Vorzug vor den Laien. Endlich mag der Philosoph, der intensiv damit beschäftigt ist, daß er eine Totalität und eine unbedingte Gewißheit des Wissens erreiche, leicht sich selbst bis zu dem Grade vergessen, daß er die Dissonanz zwischen seiner Theorie und seiner Praxis gar nicht mehr spürt. Heutzutage möchten es wohl die meisten Philosophen als eine sonderbare Zumutung empfinden, daß sie auch philosophisch, also ihrer Philosophie gemäß, leben sollten.

Wenn die Sache sich so verhält, so darf die Bedeutung eines Philosophen nicht in seiner »Philosophie« gesucht werden, d. h. in dem System, worin er zusammenstellt, was er erkannt zu haben glaubt. Die Systeme sind das Flüchtigste in der Geschichte der Philosophie; in anderer Beziehung freilich auch das Solideste: man kann sie schwarz auf weiß besitzen, kann sie übernehmen und vielleicht sogar machen, ohne sie zu verstehen. Es ist aber auch nicht die Strenge der Methode, an der die dauernde Bedeutung des Philosophen hängt. Eine alleinseligmachende Methode gibt es so wenig als ein vollkommenes System; auch wird die Leistungsfähigkeit des Verstandes dadurch mehr scheinbar als wirklich erhöht, daß man ihn in spanische Stiefel schnürt. Dauernder Beachtung wert ist der Philosoph, der eine der in der Philosophie zusammentreffenden Tendenzen oder eine gewisse Kombination derselben in typischer Weise vertritt. Darum ist der alles wissende Hegel heute noch des Studiums wert, obwohl man über sein System und seine Methode zur Tagesordnung übergegangen ist; aber auch der nichts wissende Sokrates, bei dem doch offenbar ein philosophisches Wissen nicht zu holen ist. Darum verlohnt es sich auch, sich Lessing als Philosophen genau anzusehen: er ist der lehrreiche Typus einer berechtigten Art des philosophischen Denkens.

Versuchen wir, sie zu charakterisieren, so können wir uns an Lessing selbst halten. Nach seiner Meinung ist die Philosophie ohne »Enthusiasmus der Spekulation« nicht zu denken. Der Philosoph sucht sich die dunkeln, lebhaften Empfindungen, die er während des Enthusiasmus gehabt hat, wenn er wieder kalt geworden, in deutliche Ideen aufzuklären; »was ist denn sein Handwerk, wenn es dieses nicht ist?« (16, 297.) In der Tat kann der Mut, seine immer fragmentarischen Erkenntnisse zu einem System auszubauen, nur aus dem enthusiastischen Glauben fließen, die Grundzüge der Wirklichkeit so sicher erschaut zu haben, daß man die Lücken der Erfahrung ohne Gefahr wesentlichen Irrtums durch freie Konstruktion ergänzen könne. Die Grundidee eines philosophischen Systems ist, auch wenn sie dem Philosophen erst nach längerer Reflexion kommt, immer ein glücklicher Einfall. Denn die Reflexion ist so unendlich wie ihr Objekt, die äußere und innere Welt; ihr Abschluß kann also nie erreicht, kann nur vorweggenommen werden. Die Furcht aber, daß man, um mit dem Bau des Systems beginnen zu können, die Reflexion zu früh abbreche, wird nur durch den Enthusiasmus überwunden, den ein glücklicher Einfall, eine lebhafte Intuition erzeugt.

Lessing hat nun zwar ein starkes spekulatives Bedürfnis, aber wenig Enthusiasmus der Spekulation; insbesondere vermag die erschaute Idee (ob er selbst sie hat, ob er sie bei einem andern findet) in ihm nicht den sichern Glauben zu erzeugen, daß er damit den richtigen Abschluß der Reflexion vorweggenommen habe. Er hat ein unüberwindliches Mißtrauen gegen alle »ersten Gedanken« (10, 210); und er weiß, daß Tausenden für einen das Ziel des Nachdenkens die Stelle ist, da sie des Nachdenkens müde geworden sind (an Mendelssohn, 9. Januar 1771). Zu einem System kann er es so freilich nicht bringen. Da er das Fundament für ein solides Gebäude der Erkenntnis nie sicher genug findet, kann er nur immer tiefer graben, Materialien herbeischaffen, Entwürfe machen, aber er kann nie anfangen zu bauen. Sein philosophisches Interesse muß also eine andere Richtung nehmen.

Nun lehrt ihn das Bedürfnis nach Einheit und Ganzheit der Erkenntnis, das er wirklich hat, den Enthusiasmus der Spekulation schätzen als eine reiche Fundgrube neuer Ideen, als eine lustige Spitze für weitere Aussichten (16, 299). Aber für die Selbstgewißheit des Enthusiasten ist er unempfänglich; sie hat so wenig Gewalt über ihn, daß sie ihm nicht einmal einen eben so zuversichtlichen Widerspruch entlockt. Er kann sich also die begeisternde »Wahrheit« des Enthusiasten nicht entschieden zueignen, kann sie auch nicht entschieden ablehnen: er muß sie als mögliche Wahrheit und möglichen Irrtum vorläufig stehen lassen. Ihr soviel Ehre anzutun, fällt ihm gar nicht schwer (in gewissem Sinne ist Lessing merkwürdig leichtgläubig); nur der salto mortale vom Nicht-verneinen zum endgültigen Bejahen ist für ihn schon in jungen Jahren mehr, als er seinen alten Beinen und seinem schweren Kopfe zumuten mag. Lessing gehört zu jenen schlimmen Ketzern, die da »lernen immerdar und können nimmer zur Erkenntnis der Wahrheit kommen« (2. Tim. 3,7): nämlich zu dem Glauben, daß sie jetzt die Wahrheit sicher besitzen. Darum hat er auch, genau besehen, keine Wahrheit zu lehren, keinen Irrtum zu bekämpfen; Wahrheit und Irrtum schwächen sich ihm ab zum Vor-urteil, von dem man noch nicht wissen kann, wie viel davon durch die weitere Untersuchung bestätigt oder abgetan werden wird. Insofern bleibt all sein Nachdenken ohne greifbares Resultat. Aber indem er unter Zeitgenossen, denen das definitive Ja und Nein nur gar zu leicht von der Zunge sich löste, diese seine schwebende, zuwartende Haltung behaupten mußte, entwickelte sich in ihm das feinste Gefühl für die intellektuelle Redlichkeit. Das hat ihn denn schließlich auch in einen Kampf von weltgeschichtlicher Bedeutung hineingetrieben: nicht für die Wahrheit, nicht gegen den Irrtum, sondern nur für das Recht zu fragen, zu zweifeln. Die philosophische Größe Lessings liegt darin, und nur darin, daß er diesen Kampf wenn nicht rein, so doch ungewöhnlich rein durchgeführt hat; was eben auch bloß einem Denker möglich war, der selbst keine »Wahrheit« hatte, die ihn in Versuchung bringen konnte, das intellektuelle Gewissen zu betrügen oder zu vergewaltigen.

Haben wir Lessing als Philosophen nicht ganz mißverstanden, so kann man ihm unmöglich gerecht werden, wenn man den Nachdruck auf seine philosophischen Theoreme legt: wie er dieses und jenes Problem der Philosophie aufgefaßt und etwa gelöst habe. Bei dieser Behandlung stellt sich Lessing nur als ein Eklektiker dar von recht wenig Originalität und Zusammenhang des Denkens. Ein gewisses Recht ist natürlich auch ihr nicht abzusprechen: hatte Lessing keine Wahrheit, so hatte er doch über die wichtigsten Fragen der Weltanschauung im Laufe seiner Entwicklung je seine Meinung. Nur müßte, wer diese darstellen wollte, bei jedem einzelnen Gedanken sorgfältig das Gewicht vermerken, das er für ihn hatte. Doch würde man auch so noch ein entstelltes Bild von Lessings philosophischer Eigenart geben. Denn der Inhalt des Denkens hat bei ihm überhaupt nicht dieselbe Bedeutung wie bei einem systematischen Philosophen, sondern ist, wesentlich betrachtet, nicht mehr als der Stoff, an dem er die intellektuelle Moral erkannte, selbst ausübte, andere lehrte. Damit soll nicht gesagt sein, daß man aus seinem Studium nicht auch einen materialen Gewinn ziehen könne. Ja, dieser ist durchaus nicht gering zu schätzen. Nur verkennt man Lessing, wenn man darin die Hauptsache sieht.

Das wichtigste Gebiet, auf das Lessing sein Nachdenken verwandte, ist die Religion. Gerade im Kampf mit dem religiösen Vorurteil (dem empfindlichsten, zähesten und herrschsüchtigsten, das es gibt) hat sich Lessing die Tugenden erworben, die ihn als Denker auszeichnen. Die erste philosophische Nahrung seines Geistes war das christliche Dogma, das dem Knaben als Norm seines Denkens und Lebens mitgeteilt wurde. Es überließ ihm also nur die Arbeit, eine gegebene objektive Wahrheit in subjektive Überzeugung umzuwandeln. Da er nun dabei auf Hindernisse stieß, der christlichen Wahrheit aber keine andere Wahrheit entgegenzusetzen hatte, so mußte sich seine Aufmerksamkeit auf die Frage konzentrieren, ob er sich die freie Bewegung des Denkens durch eine angebliche Pflicht zu glauben müsse einschränken lassen. Ihn beschäftigt also nicht sowohl der Inhalt, sondern vielmehr die Form des christlichen »Glaubens«: ob sich, wie sich dieses Glauben mit der intellektuellen Redlichkeit verträgt. Diese Frage hat er aber auch mit einer Klarheit erfaßt, mit einer Konsequenz durchgedacht, daß wir noch heute von ihm lernen können. Der Hauptinhalt dieser Schrift ist also die Geschichte von Lessings Verhältnis zum Christentum.

Dem gegenüber ist ein zweiter Gegenstand, der Lessings Denken beschäftigte, nur von untergeordnetem Interesse. Mehr denn als Philosoph ist Lessing dem großen Publikum als Dichter bekannt. Aber Lessing, der Dichter, ist in einer ganz ähnlichen Verlegenheit wie Lessing, der Denker: der dichterische Enthusiasmus ist nicht eben seine Stärke. Darum hat er selbst (und nicht nur so beiläufig, sondern mit Nachdruck) erklärt, man verkenne ihn, wenn man ihn für einen Dichter halte: »Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir heraufpressen« (10, 209). Weil er also seine Dichtungen wirklich »machen« mußte, so war er genötigt, sich über das Wesen der Dichtung, der Kunst überhaupt, eine Klarheit zu verschaffen, die der Dichter, der leichter schafft oder es leichter nimmt, nicht braucht und nicht erreicht. So ist Lessing Ästhetiker geworden. Im Vordergrund seines Interesses steht freilich die Technik der Kunst, speziell der Poesie; und diese gehört eigentlich nicht zur Philosophie. Aber er orientiert sich doch immer an dem Zweck der Kunst, dessen Bestimmung natürlich abhängig ist von seiner allgemeinen, philosophischen oder religiösen, Auffassung des Lebens. So gewährt uns seine Ästhetik sogar einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der religionsphilosophischen Gedanken, in denen der Schwerpunkt seiner Philosophie liegt.

Da Lessings Beschäftigung mit der religiösen Frage in den Jahren 1760 bis 1770 stark zurücktritt und gerade in diese Zeit seine ästhetischen Hauptwerke fallen, so beschreiben wir zuerst seine religiöse Entwicklung bis 1760, lassen dann seine wichtigsten Gedanken über ästhetische Fragen folgen und erzählen endlich den Verlauf seiner letzten Kämpfe, soweit er eben philosophisches Interesse hat.


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