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Zweites Kapitel.
Lessings Gedanken zur Theorie der Kunst.

Im Fahrwasser der zeitgenössischen Poetik – Vertiefung; Zweck der Tragödie – Abhandlungen über die Fabel; Literaturbriefe – Laokoon – Hamburgische Dramaturgie – Das ästhetische Interesse versiegt; Ursachen


1.

Als Lessing durch seine ersten Dichtungen den Unwillen des Vaters erregt hatte, meinte er (wie wir in anderem Zusammenhange schon erwähnten), man müsse ihn wenig kennen, wenn man glaube, daß seine persönlichen Empfindungen im geringsten mit den darin ausgesprochenen harmonierten. »In der Tat ist nichts als meine Neigung, mich in allen Arten der Poesie zu versuchen, die Ursache ihres Daseins. Wenn man nicht versucht, welche Sphäre uns eigentlich zukommt, so wagt man sich oftermals in eine falsche, wo man sich kaum über das Mittelmäßige erheben kann, da man sich in einer andern vielleicht bis zu einer wundernswürdigen Höhe hätte schwingen können … Wenn man mir mit Recht den Titel eines deutschen Molière beilegen könnte, so könnte ich gewiß eines ewigen Namens versichert sein. Die Wahrheit zu gestehen, so habe ich zwar sehr große Lust ihn zu verdienen, aber sein Umfang und meine Ohnmacht sind zwei Stücke, die auch die größte Lust ersticken können.« (28. April 1749.)

Mit dieser Verteidigung hat sich Lessing gewiß Unrecht getan: in seinen anakreontischen Gedichten und in seinen Lustspielen hat er mehr von seinem Selbst zum Ausdruck gebracht, als er es gegen den Vater Wort haben will. Aber sie verrät uns doch, wie er sich damals zur Poesie stellte, wie er die Poesie verstand. Sie ist ihm eine Überlieferung, in die er, eines gewissen Talents sich bewußt, eintritt, um es darin so weit zu bringen, als seine Kraft eben reicht. Von der Überlieferung läßt er sich auch die Aufgabe, die Gesetze der Dichtkunst bestimmen. Doch redet er nie bloß nach, und bald zeigen sich die Spuren selbständigen Fortschritts. Um richtig zu verstehen, wie weit Lessing in der Auffassung der Kunst gekommen ist, müssen wir erst deutlich sehen, wo er eingesetzt hat. Deshalb stelle ich das eigentlich Ästhetische aus seinen frühesten Schriften zusammen, so wenig es sich durch Originalität und Geschlossenheit, Klarheit und Tiefe der Betrachtung auszeichnet.

Der Dichter hat nach ihm die Natur zu schildern, hat sein Gemälde durch die Empfindungen zu beleben, die die Natur selbst beleben, (5, 282.) Was der Dichter zu seiner eigenen Angelegenheit macht, rührt mehr, als was er uns erzählt: also muß er die Empfindungen, die er erregen will, in sich selbst zu haben scheinen; er muß scheinen, aus der Erfahrung und nicht aus der bloßen Einbildungskraft zu sprechen. Das ist eben sein Vorzug, sein Geheimnis, daß er Leidenschaften, die in andern nur durch Wirklichkeiten erweckt werden, durch willkürliche Vorstellungen rege machen kann. (5, 283.) Es war dem Genie eines Dichters vollkommen gemäß, wenn J. B. Rousseau erklärte, daß er seine unzüchtigen Sinnschriften ebensowohl ohne Ruchlosigkeit verfertige, wie seine göttlichsten Psalmen ohne Andacht. »Je größer überhaupt der Dichter ist, je weiter wird das, was er von sich selbst einfließen läßt, von der strengen Wahrhaftigkeit sein … Der wahre Dichter weiß, daß er alles nach seiner Art verschönern muß, und also auch sich selbst; welches er oft so fein zu tun weiß, daß blöde Augen ein Bekenntnis seiner Fehler sehen, wo der Kenner einen Zug seines schmeichelnden Pinsels wahrnimmt« (5, 298). – Gelegentlich streift Lessing doch schon den Gedanken, daß die Ergüsse der echten Leidenschaft auch einen ästhetischen Vorzug haben. Diese ist viel zu unruhig, als daß sie uns Zeit lassen sollte, fremde Empfindungen nachzubilden. Wenn man dagegen das singt, was man fühlt, so singt man es allezeit mit ursprünglichen Gedanken und Wendungen. Hat ein Dichter diese von andern übernommen, so hat er gewiß nur die Züge der schönen Natur aus verschiedenen Bildern mühsam zusammengesucht und ein Ganzes daraus gemacht, wovon er sich selbst, aus einem kleinen Ehrgeize, zum Subjekte annimmt (5, 290). Im Grunde aber ist für Lessing die Kunst des Dichters von gleicher Art mit der des Schauspielers. Diese, die »körperliche Beredsamkeit«, beruht als Kunst nicht darauf, daß jeder Mensch, ungelernt, den Zustand seiner Seele durch Kennzeichen, welche in die Sinne fallen, einigermaßen ausdrücken kann. Man will auf dem Theater Gesinnungen und Leidenschaften nicht nur einigermaßen ausgedrückt sehen, sondern auf die allervollkommenste Art. »Dazu ist aber kein ander Mittel, als die besondern Arten, wie sie sich bei dem und bei jenem ausdrücken, kennen zu lernen und eine allgemeine Art daraus zusammen zu setzen, die um so viel wahrer scheinen muß, da ein jeder etwas von der seinigen darin entdeckt … Wenn der Schauspieler alle äußerlichen Kennzeichen und Merkmale, alle Abänderungen des Körpers, von welchen man aus der Erfahrung gelernt hat, daß sie etwas Gewisses ausdrücken, nachzumachen weiß, so wird sich seine Seele durch den Eindruck, der durch die Sinne auf sie geschieht, von selbst in den Stand setzen, der seinen Bewegungen, Stellungen und Tönen gemäß ist. Diese nun auf eine gewisse mechanische Art zu erlernen, auf eine Art aber, die sich auf unwandelbare Regeln gründet, an deren Dasein man durchgängig zweifelt, ist die einzige und wahre Art die Schauspielkunst zu studieren« (6,151 f.). Denselben Weg, von außen nach innen, geht auch der Dichter, der seine Darstellung der Natur durch Empfindungen beleben will.

Darum kann ihm auch seine Kunst nicht Selbstzweck sein. Lessing läßt beim Dichten mit größter Liberalität die heterogensten Absichten und Rücksichten als berechtigt gelten. Von sich selbst gibt er unbedenklich zu, daß er sich auf den verschiedenen Gebieten versuche, in der Hoffnung, irgendwo Ausgezeichnetes zu leisten. Und »vielleicht ist es so tadelhaft nicht, als allzustrenge Kunstrichter etwa denken, wenn man mit wesentlichen Schönheiten, die ihren Glanz durch alle Jahrhunderte behalten werden, gewisse Modeschönheiten, Geburten eines flüchtigen Geschmacks verbindet, um des Beifalls sowohl der jetzigen als folgenden Zeiten gewiß zu sein« (5, 159). Doch kann das natürlich nur eine (allerdings selbstverständliche) Nebenabsicht des Dichters sein, sich Ruhm zu erwerben. Ein richtiger Zweck seiner Kunst ist es aber, die Menschen zu vergnügen. Er besinge also Liebe und Wein, weil er auf diesem Felde die angenehmsten Blumen für das menschliche Herz sammeln kann (5, 283). Dazu darf er freilich nicht hinabsteigen, unter lockenden Bildern die schimpflichste Wollust ins Herz zu flößen. »Wenn man einer Art von Schriftstellern das Handwerk legen will, so sei es diejenige, welche uns das Laster angenehm macht« (4, 423). Vielmehr hat der Dichter die Aufgabe, den Reiz der Tugend ins Licht zu setzen, die Religion in alle dem Glanze vorzustellen, wo sie unsre Ehrfurcht verdient (4, 396. 404). Wenn ein Roman weder dem Geiste zu nützlichen Betrachtungen, noch dem Herzen zu guten Entschließungen Gelegenheit gibt, ist er ein unnützes Buch (7, 27). Insonderheit ist es des Lustspiels Absicht, die Sitten der Zuschauer zu bessern, indem es das Laster verhaßt, die Tugend liebenswürdig vorstellt und (»weil viele allzu verderbt sind, als daß dieses Mittel bei ihnen anschlagen sollte«) jene allezeit unglücklich, diese am Ende glücklich sein läßt: Furcht und Hoffnung tun bei den verderbten Menschen mehr als Scham und Ehrliebe. Plautus hat in seinen »Gefangenen« das schönste Lustspiel geschrieben, das jemals auf die Bühne gekommen ist: nicht weil es sinnreiche Gedanken, artige Einfälle, künstliche Verwicklungen, natürliche Auflösungen hat; sondern weil es der Absicht des Lustspiels, zu bessern, am nächsten kommt. »Wenn man überzeugt sein will, wie liebenswürdig die Tugend geschildert sei, so darf man auch nur den dritten Auftritt des zweiten Aufzugs lesen. Jeder, wer eine empfindliche Seele besitzt, wird mit Hegio sagen: Was für großmütige Seelen! Sie pressen mir Tränen aus! Noch schöner aber ist der fünfte Auftritt des dritten Aufzugs. Wer die Tugend und das göttliche Vergnügen, das sie über die Seele ergießt, kennet und empfunden hat, würde gewiß niemand anders als Tyndarus sein wollen, wenn er bei gleichen Umständen die Wahl hätte, eine von den daselbst vorkommenden Personen zu sein, und würde das Unglück, das ihm droht, gegen die Freude, die er aus seiner löblich vollbrachten Tat schöpfet, wenig achten. Noch weit kräftiger aber wirken die Reizungen seiner Tugend, da er zuletzt glücklich wird.« Leider sind dem guten Plautus einige Zeilen entwischt, die den Charakter des trefflichen Tyndarus etwas hart machen: er droht nämlich einem argen Bösewicht mit grausamer Rache; und »die Rache ist keine Zierde für eine große Seele« (4,129 ff.). Diesen rührenden Glauben an die Macht theatralischen Edelmuts hat Lessing doch nicht lange behaupten können. Vier Jahre später schreibt er wirklichen Nutzen nur noch der wahren Komödie zu, die Tugenden und Laster, Anständigkeit und Ungereimtheit in der Mischung vorführt, die das menschliche Leben selbst hat. Die »weinerliche Komödie«, die nur Bewunderung und Mitleid erwecken will, ist ihm jetzt nur ein Kompliment für die Eigenliebe, eine Nahrung des Stolzes. »Jeder glaubt der edeln Gesinnungen und der großmütigen Taten, die er sieht und hört, desto eher fähig zu sein, je weniger er an das Gegenteil zu denken und sich mit demselben zu vergleichen Gelegenheit findet. Er bleibt, was er ist, und bekommt von den guten Eigenschaften weiter nichts als die Einbildung, daß er sie schon besitzt.« (6, 51 f.) Übrigens können die Schauspiele uns nicht bloß zu tugendhaften Menschen machen; sie können auch unsre Wissenschaften vermehren und unsre Fähigkeiten stärken. Es ließe sich mit Exempeln zeigen, daß man wirklich die ernsthaftesten philosophischen Wahrheiten, ja selbst Religionsstreitigkeiten auf das Theater bringen könne (4,179). – Mit dieser moralischen Abzweckung der Poesie stimmt es freilich nicht recht, daß wir die alten Schriftsteller aus den Sitten ihrer Zeit begreifen und entschuldigen sollen (4, 171 f. u. ö.); ja, daß es Pflicht des Dichters sei, den Ton seines Jahrhunderts anzunehmen, selbst wenn er z. B. in der Auffassung der Liebe kühn, flatterhaft, schlüpfrig ist und wohl gar aus dem Geleise der Natur etwas ausschweift (5, 283). Auch zitiert der junge Kritiker schon mit sichtlichem Beifall eine Satire auf den »Mischmasch von Sittenlehre und Belustigung«, mit dem man bei den Franzosen allein Glück machen könne (4, 296).

Wo das Kunstwerk Produkt des freien Vorsatzes ist, fällt der Nachdruck von selbst auf die Technik. Lessing teilt mit seinen Zeitgenossen zunächst den Glauben an die Regeln; insbesondere ist ihm für das Drama die »Regelmäßigkeit« noch ein unbedingtes Erfordernis. Kann er die »Gefangenen« des Plautus gegen den Vorwurf, daß sie die Einheit der Zeit verletzen, nicht ganz rechtfertigen, so will er doch das Verbrechen des Dichters möglichst verkleinern (4,187). Aber daß der Regeln gar zu viele gemacht werden, will ihm nicht gefallen. »Ich will im voraus viel Glück dazu wünschen (bemerkt er ironisch), daß man demnächst die geringsten Kleinigkeiten in der Poesie auf einen metaphysischen Fuß setzen wird« (4,190). Darum hat der Gedanke des Herrn Batteux seinen Beifall, daß die schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz einzuschränken seien. Die »Nachahmung der schönen Natur« scheint ihm in der Tat ein Grundsatz, »woran sich alle, welche ein wirkliches Genie zu den Künsten haben, fest halten können, welcher sie von tausend eiteln Zweifeln befreiet und sie bloß einem einzigen unumschränkten Gesetze unterwirft, welches, sobald es einmal wohl begriffen ist, den Grund, die Bestimmung und die Auslegung aller andern enthält« (4, 413 ff.). Nur auf das Drama, speziell das Lustspiel, scheint er nicht recht zu passen. Da ist es die vornehmste Pflicht des Dichters, die Personen zu schildern, wie sie sind, und sie nur dasjenige sagen zu lassen, was sie nach ihrem Stande und nach ihrer Gemütsart sagen können. Sind sie niedrigen Standes, so darf, so muß er ihnen auch die elendesten Wortspiele, die unfeinsten Scherze in den Mund legen (4, 181 ff.). Ja, dem Anfänger ist der Rat: »ahme die Natur nach,« in der Ausführung überhaupt nicht von Nutzen. »Was würde man von einem Schuster denken, welcher seinem Lehrjungen alle Handgriffe aus dem Grundsatze seines Handwerks herleiten wollte: jeder Schuh muß dem Fuße passen, für den er gemacht ist? Der dümmste Junge würde ihm antworten: das versteht sich« (5, 152). Und wenn man sagt, die »schöne Natur«, so fragt Diderot mit Recht, was denn die schöne Natur sei. Ohne diese nähere Bestimmung ist des Batteux Grundsatz nicht anzuwenden (4, 422). Der Anfänger in der Dichtkunst muß sich also doch den kleinen Regeln unterwerfen, die gewisse große Geister ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig schätzen (5, 110). Aber wie weit wird man kommen, indem man sich das Mechanische der Poesie zu eigen macht? Über die Mittelmäßigkeit wird man sich nicht erheben. Durch Beachtung der Schulregeln erwirbt man sich etwa die Schreibart eines Deklamators, der das O und Ach für das schönste Rezept zum Feurigen und Pathetischen hält, erreicht man etwa eine prächtige Versifikation, die dem Ohre wohlgefällt. »Das ist es auch alles, was ein fähiger Kopf, der nicht zum Dichter erschaffen ist, erlernen kann. Der poetische Geist wird ihm allezeit fehlen. Denn den zu erlangen ist Übung und Fleiß umsonst« (4, 362. 294; 6, 397).

Auf das Genie also kommt es an. Aber Lessing kann uns noch keinen deutlichen Begriff von dem Wesen des Genies machen, kann daher auch das Verhältnis des Genies zur Regel nicht sicher bestimmen. Das Genie ist kühn, verfährt nie nach den gemeinen Meinungen, beurteilt und treibt alles auf eine besondere Art, entdeckt alle seine Gedanken frei und ist sich selbst sein eigener Führer. Es verfällt freilich auch gerne auf Paradoxa; ist aber dann doch einem mutigen Pferde zu vergleichen, das niemals mehr Feuer aus den Steinen schlägt, als wenn es stolpert (5, 7 f.). In dem Dichter reißt es die erhitzte Einbildungskraft zu den großen Schönheiten der Vorstellung und Empfindung (4, 398). Das erkennt Lessing an Klopstock als einem leuchtenden Muster. Wie verschwommen aber sein Begriff vom dichterischen Genie, wie unsicher deshalb sein Urteil noch ist, zeigt sein offenherziges Bekenntnis von dem Reim. »Man lasse einem Dichter die Freiheit. Ist sein Feuer anhaltend genug, daß es unter den Schwierigkeiten des Reims nicht erstickt, so reime er; verliert sich die Hitze seines Geistes während der Ausarbeitung, so reime er nicht. Es gibt Dichter, welche ihre Stärke viel zu lebhaft fühlen, als daß sie sich der mühsamen Kunst unterwerfen sollten, und diese offendit limae labor et mora. Ihre Werke sind Ausbrüche des sie treibenden Gottes, quos nec multa dies, nec multa litura coercuit. Es gibt andere, welche Horaz sanos nennt, und welche nur allzuviel Demokrite jetziger Zeit Helicone excludunt. Sie wissen sich nicht in den Grad der Begeisterung zu setzen, welcher jenen eigen ist, sie wissen sich aber in demjenigen länger zu erhalten, in welchem sie einmal sind. Durch Genauigkeit und immer gleiche mäßige Lebhaftigkeit ersetzen sie die blendenden Schönheiten eines auffahrenden Feuers, welche nichts als eine unfruchtbare Bewunderung erwecken. Es ist schwer zu sagen, welche den Vorzug verdienen. Sie sind beide groß, und beide unterscheiden sich unendlich von den mittelmäßigen Köpfen, welchen weder die Reime eine Gelegenheit zur fleißigem Ausarbeitung noch die abgeschafften Reime eine Gelegenheit desto feuriger zu bleiben sind« (4, 345). Nehmen wir noch hinzu, daß man bei der Würdigung des Reims auch das Vergnügen nicht übersehen dürfe, welches aus der Betrachtung der glücklich überwundenen Schwierigkeiten entsteht: so sehen wir vor allem, daß der junge Kritiker, der im einzelnen oft sehr verständig urteilt, sich selbst noch nicht darüber klar ist, um was es sich eigentlich handelt.

 

2.

In der »Miß Sara Sampson« versuchte sich Lessing in einer Gattung des Dramas, von der Gottscheds kritische Dichtkunst noch nichts wußte, und wagte es zugleich, die Einheit des Orts recht mit Wissen zu übertreten (7, 26). Um dieselbe Zeit beginnt er auch ästhetische Probleme etwas schärfer anzufassen.

Nebenbei gab ihm dazu die Veranlassung das angebliche Popische System, das die Berliner Akademie der Wissenschaften (1755) dargestellt und gewürdigt haben wollte. Er schickt eine Untersuchung voraus, ob der Dichter als Dichter ein System haben könne. Als »bequemste« Grundlage wählt er dafür Baumgartens Definition des Gedichts, daß es eine »vollkommene sinnliche Rede« sei. Sie genauer zu erklären, findet er nicht nötig; aber die Art, wie er sie verwendet, läßt uns schon erkennen, wie er sie versteht. Der Dichter achtet so wenig auf Präzision der Sprache, daß ihm schon der Wohlklang eine hinlängliche Ursache ist, einen Ausdruck für den andern zu wählen; daß ihm die Abwechslung synonymischer Worte eine Schönheit ist. Das Wesen der Formen, der Tropen besteht darin, daß sie nie bei der strengen Wahrheit bleiben, daß sie bald zu viel und bald zu wenig sagen. Mit Ordnung, vollends mit der sklavischen Ordnung, die ein System erfordert, hat der Dichter nichts zu tun; nichts ist der Begeisterung eines wahren Dichters mehr zuwider. Also kann der Dichter als solcher ein System nicht haben. Trotzdem konnte Pope, ein wirklicher Dichter, in einem Gedicht die Wege Gottes in Ansehung der Menschen rechtfertigen wollen. Dabei suchte er mehr einen lebhaften Eindruck als eine tiefsinnige Überzeugung. Darum mußte er alle dahin einschlagenden Wahrheiten in ihrem schönsten und stärksten Lichte darstellen. Um dieses tun zu können, hat er kein anderes Mittel, als diese Wahrheit nach diesem System und jene nach einem andern auszudrücken. »Er spricht mit dem Epikur, wo er die Wollust erheben will, und mit der Stoa, wo er die Tugend preisen soll. Die Wollust würde in den Versen des Seneca, wenn er überall genau bei seinen Grundsätzen bleiben wollte, einen sehr traurigen Aufzug machen; ebenso gewiß als die Tugend, in den Liedern eines sich immer gleichen Epikureers, ziemlich das Ansehen einer Metze haben würde« (6, 614-17). In der Tat hat Pope bloß die schönsten und sinnlichsten Ausdrücke von jedem System geborgt, ohne sich um ihre Richtigkeit zu bekümmern (6, 437).

Uns mutet dieses Rezept für ein moralisches Gedicht so seltsam an, daß wir versucht sind, es für Ironie zu halten. Haben die Ausdrücke der Systeme ein so loses Verhältnis zu den Wahrheiten, die der Dichter darstellen will, daß er diese in ihrem schönsten und stärksten Licht zeigen kann, ohne sich um die Richtigkeit der erborgten Ausdrücke zu bekümmern? Was mag denn der »lebhafte Eindruck« sein, wenn er nicht in einer »tiefsinnigen Überzeugung« wurzeln soll? Ist der Dichter der Advokat, ist er nicht der Priester, der Prophet seiner Wahrheit? Aber Lessing hat diese bedenklichen Fragen nicht im Hintergrunde, und es ist ihm mit seiner Meinung voller Ernst. Sie bedeutet auch einen Fortschritt zu größerer Klarheit in seiner Auffassung der Dichtkunst. Er kann nicht leugnen, daß man ein System in ein Silbenmaß, auch in Reime bringen könne; aber er leugnet jetzt, daß ein in ein Silbenmaß oder in Reime gebrachtes System ein Gedicht sei: »Lukrez und seinesgleichen sind Versmacher, aber keine Dichter« (6, 415). Wird er noch etwas kecker in seinem Urteil, so wird er auch leugnen, daß Wahrheiten, die man in ihrem schönsten und stärksten Lichte darstellt, indem man aus den philosophischen Systemen die sinnlichsten Ausdrücke zusammenborgt, noch kein Gedicht sind. Was aber das Gedicht mehr sein muß als die vollkommenste sinnliche Rede, das muß er erst noch finden.

Daß er auf gutem Wege ist, zeigt seine Vorrede zu Jakob Thomsons Trauerspielen (1756). Thomson ist das wahre poetische Genie, das er ist, durch die Kenntnis des menschlichen Herzens und durch die magische Kunst, jede Leidenschaft vor unsern Augen entstehen, wachsen und ausbrechen zu lassen. Diese Kunst, diese Kenntnis lehrt kein Aristoteles, kein Corneille (– dem sie doch nicht ganz fehlte). »Alle ihre übrigen Regeln können aufs höchste nichts als ein schulmäßiges Gewäsche hervorbringen.« Die Handlung sei heroisch, einfach, ganz, streite weder mit der Einheit der Zeit noch mit der Einheit des Orts; jede der Personen habe ihren besondern Charakter, spreche ihrem besondern Charakter gemäß; es mangle weder an der Nützlichkeit der Moral, noch an dem Wohlklange des Ausdrucks: wer aber alle diese Wunder geleistet, darf er sich nunmehr rühmen, ein Trauerspiel gemacht zu haben? » Ja; aber nicht anders, als sich der, der eine menschliche Bildsäule gemacht hat, rühmen kann, einen Menschen gemacht zu haben. Seine Bildsäule ist ein Mensch, und es fehlt ihr nur eine Kleinigkeit: die Seele.« Daraus folgt der Unwert und der Wert der Regeln. So gewiß Lessing lieber den allerungestaltetsten Menschen erschaffen haben möchte als die schönste Bildsäule des Praxiteles: so gewiß möchte er doch lieber einen lebendigen Herkules erschaffen haben, das Muster männlicher Schönheit, als ein menschliches Ungeheuer. Auf den Regeln beruhen die wichtigsten Verhältnisse der Teile, Ordnung und Symmetrie des Ganzen; und das ist nicht wenig. Aber die Hauptsache ist doch, daß die Seele des Kunstwerks zur Seele des Beschauers spricht. »Die Träne des Mitleids und der sich fühlenden Menschlichkeit sind die Absicht des Trauerspiels, oder es kann gar keine geben.« Dieser Absicht dient auch die Regelmäßigkeit, nämlich die griechische: die Simplizität (7, 67-69).

Die Dichtung muß eine Seele haben; der Zweck des Trauerspiels sind die Tränen der sich fühlenden Menschlichkeit; Regelmäßigkeit ist Simplizität: damit erhebt sich Lessing über die Auffassung der Dichtkunst als einer »Belustigung des Verstandes und Witzes«. Woher aber bekommt das Gedicht die Hauptsache, eben die Seele?

Auch darauf erhalten wir beiläufig eine Antwort in dem Vorbericht zu den preußischen Kriegsliedern von einem Grenadier (1758). Lessing rühmt an diesen Liedern, daß sie ebenso poetisch wie kriegerisch seien; daß sie voll seien der erhabensten Gedanken in dem einfältigsten Ausdrucke (7, 81). Nun konnte der Grenadier von Tyrtäus die heroischen Gesinnungen, den Geiz nach Gefahren, den Stolz, für das Vaterland zu sterben, erlernt haben: »wenn sie einem Preußen nicht ebenso natürlich wären als einem Spartaner«. Dieser Heroismus ist aber die ganze Begeisterung des Dichters der Kriegslieder (7, 118). – Die natürliche, wahre Begeisterung also gibt die erhabensten Gedanken im einfältigsten Ausdruck, gibt der Dichtung die Seele. Das konnte Lessing an Gleims Liedern erkennen, obwohl der Heroismus ihres Verfassers, wie Lessing wußte, zum Lachen ungefährlich war. Gleim hatte doch nicht durch willkürliche Vorstellungen die kriegerische Leidenschaft in sich erweckt, damit er die Empfindungen, die er erregen wollte, selbst zu haben scheine. Sein Patriotismus war echt; seine wie seiner Leser kriegerische Stimmung durch gegenwärtige Kämpfe von ersichtlich weltgeschichtlicher Bedeutung angeregt. Und so konnten seine Kriegslieder Lessing wirklich eine richtigere Vorstellung von der poetischen Begeisterung geben.

So nachdrücklich aber Lessing hervorgehoben hatte, daß das Kunstwerk eine Seele haben müsse, so hatte er sich doch nicht veranlaßt gesehen, diesen Gedanken völlig durchzudenken und als Prinzip einer neuen Auffassung der Kunst zu verwerten. Dagegen war er im November 1756 in eine briefliche Auseinandersetzung mit Nicolai und Mendelssohn über den Zweck der Tragödie hineingezogen worden, die ihn freilich auch weiter führte, aber doch nur zu einer Berichtigung und Vertiefung der gangbaren Theorie. Nicolai meinte, gegen Aristoteles, daß die Tragödie die Leidenschaften nicht reinigen, sondern nur erregen solle; und zwar nicht nur Schrecken und Mitleid, sondern auch Bewunderung. Er gab also die moralische Abzweckung des Trauerspiels auf. Lessing blieb gegen ihn (und Mendelssohn) dabei, daß das Trauerspiel freilich bessern solle, aber nur durch Erregung einer Leidenschaft, des Mitleidens. Die Vollkommenheiten seines Helden setze der tragische Dichter nur ins Licht, um uns sein Unglück desto schmerzhafter zu machen. In dem Heldengedicht dagegen sei die Bewunderung das Hauptwerk. Der bewunderte Held der Vorwurf der Epopöe, der bedauerte der des Trauerspiels: daran sei festzuhalten, damit die Arten der Gedichte nicht ohne Not verwirrt werden.

Man möchte dagegen mit Mendelssohn fragen: »worauf gründet sich diese eingebildete Grenzscheidung?« Auch gegen Nicolai scheint Lessing darin rückständig zu sein, daß er von der moralischen Absicht des Dramas nicht loskommen kann. In Wirklichkeit vertritt doch Lessing eine höhere Auffassung der Dichtung und der Moral, nur nicht eben in seinen Hauptthesen, sondern nebenher in deren Begründung.

Allerdings scheint er der Sentimentalität der Zeit darin einen starken Tribut zu entrichten, daß er den mitleidigsten Menschen ohne Einschränkung für den besten Menschen erklärt und dagegen die Bewunderung für sittliche Größe sehr niedrig wertet: »der ist der größte Geck, der die größte Fertigkeit im Bewundern hat; so wie ohne Zweifel derjenige der beste Mensch ist, der die größte Fertigkeit im Mitleiden hat.« Wenn wir in dem Mitleid Ernst und Tiefe voraussetzen, die Bewunderung bloß als leeres Staunen fassen, so hat Lessing gewiß recht; wie die Umkehrung seiner These im Recht ist, wenn man der Bewunderung ernsten Sinn und Eifer für die Größe zutrauen darf, das Mitleid aber als bloße Folge schwacher Nerven erkennt. Die Theaterhelden aber, die man damals bewunderte, zeigten Lessing, daß seinen Zeitgenossen der Sinn für wahre Größe abging, für eine Größe, die er selbst erstrebte. »Was für Eigenschaften bewundern Sie denn nun?« fragt er Mendelssohn. »Sie bewundern einen Cato, einen Essex – mit einem Worte: nichts als Beispiele einer unerschütterten Festigkeit, einer unerbittlichen Standhaftigkeit, eines nicht zu erschreckenden Mutes, einer heroischen Verachtung der Gefahr und des Todes.« Wer einen richtigen Begriff von der menschlichen Natur habe, könne alle diese unempfindlichen Helden nur für schöne Ungeheuer halten; sie mögen mehr als Menschen sein, sind aber gewiß ke4ne guten Menschen. »Mir wenigstens ist es niemals in den Sinn gekommen, einem Cato oder Essex an Halsstarrigkeit gleich zu werden, so sehr ich sie auch wegen dieser Halsstarrigkeit bewundere [wirklich?], die ich ganz und gar verachten und verdammen würde, wenn es nicht eine Halsstarrigkeit der Tugend zu sein schiene.« – Schiene! – Lessing hat diesen Schein der Tugend durchschaut. Indem er der Tragödie versagt, Bewunderung erwecken zu wollen, lehnt er die heroische Pose ab, die sich auf der Bühne als Heroismus bewundern ließ.

Ferner spricht er der Bewunderung die nachhaltige Kraft zu bessern ab, spricht sie dem Mitleid zu. Das ist wieder wahr und nicht wahr, je nachdem man Bewunderung und Mitleid nimmt. Was er aber eigentlich im Sinne hat, ist unzweideutig richtig. Hören wir nur, wie er die Wirkung beider genauer bestimmt. »Die Bewunderung einer schönen Handlung kann nur zur Nacheiferung eben derselben Handlung unter eben denselben Umständen, und nicht zu allen schönen Handlungen antreiben; sie bessert, wenn sie ja bessert, nur durch besondere Fälle und also auch nur in besonderen Fällen.« »Das Trauerspiel soll das Mitleiden nur überhaupt üben und nicht uns in diesem oder jenem Falle zum Mitleiden bestimmen.« Oder: »die Tragödie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern, … soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten und unter allen Gestalten rühren und für sich einnehmen muß.« Dementsprechend solle die Komödie zu der Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen. Warum sollte aber der Dichter sich nicht auch das Ziel setzen, den Sinn für Größe überhaupt zu üben und zu erweitern? Macht er's gut, so kann Lessing gewiß nichts dagegen haben; denn ihm ist es ja nur darum zu tun, daß die Besserung, die die Tragödie bewirken soll, kein Vorsatz der Nachahmung sei. Das Gute ist ihm die freie Auswirkung einer gewissen allgemeinen Gesinnung (z. B. des Mitleids), nicht die sklavische Nachahmung (sklavisch als Nachahmung!) eines Vorbildes. »Gesetzt, Homer hätte den Achilles zu einem bewunderten Muster der Großmut gemacht. So oft sich nun ein Mensch von feuriger Einbildungskraft in ähnlichen Umständen mit ihm sieht, könnte er sich zwar gleichfalls seiner gehabten Bewunderung erinnern und zufolge dieser Bewunderung gleich großmütig handeln; aber würde er deswegen großmütig sein? Die Großmut muß eine beständige Eigenschaft der Seele sein; und ihr nicht bloß ruckweise entfahren.« Mit dieser Auffassung der sittlichen Güte hat Lessing gewiß recht; und ebenso damit, daß die Poesie keine »Beispiele des Guten« zur Nachahmung berichten oder erfinden soll, ob nun das Gute als Mitleid oder als Großmut gefaßt werde.

Mendelssohn hat, indem er Lessing von seiner engherzigen Bevorzugung des Mitleidens abziehen wollte, noch einen Gedanken in die Diskussion gebracht, der Lessing in seiner Ablehnung der Bewunderung nur bestärken konnte. Hat der Sprachgebrauch, meint Mendelssohn, nur solche dramatische Stücke mit dem Namen Trauerspiel belegt, die vornehmlich Mitleiden erwecken, so redet die Vernunft anders. »Sie zählet eine jede große und würdige Begebenheit zu den Gegenständen des Trauerspiels, wenn sie nur durch die lebendige Vorstellung eines größern Grades der Nachahmung fähig ist.« Man schließe also keine einzige Leidenschaft vom Theater aus. »Sobald die nachgeahmte Leidenschaft uns anschauend von der Vortrefflichkeit der Nachahmung überzeugen kann, so verdient sie auf der Bühne aufgeführt zu werden. Auch der Haß und der Abscheu können trotz dem Aristoteles und allen seinen Anhängern auf der Schaubühne gefallen, weil es genug ist, wenn die nachgeahmte Leidenschaft überzeugen kann, daß die Nachahmung dem Urbilde ähnlich sei.« Wenn Lessing dabei bleibt, daß das Trauerspiel nur Mitleiden zu erregen habe, so tritt er dafür ein, daß es Herz und Sinn des Zuschauers ganz auf die vorgestellte Handlung konzentriere; Mendelssohn, weniger pedantisch, erlaubt dem Zuschauer, neben dem vorgestellten Helden auch den Dichter und Schauspieler zu »bewundern«, und erlaubt deshalb auch die Nachahmung von Leidenschaften, die überhaupt nicht, deren Nachahmung allein gefallen kann. Das Mitleid hat allerdings diese bequeme Eigenschaft nicht, daß es sich in behaglicher Unklarheit zugleich auf die nachgeahmte Sache und die nachahmende Kunst beziehen könnte: der Dichter und Schauspieler werden nicht wünschen, in das Mitleid einbezogen zu werden, das sie dem tragischen Helden erwecken.

Lessing ist so wenig auf Mendelssohns weitherzigere Auffassung eingegangen, daß er sich durch ihn vielmehr zu dem Paradox treiben ließ, die ganze Lehre von der Illusion gehe den dramatischen Dichter eigentlich nichts an. Die Vorstellung des Stückes sei ja das Werk einer andern Kunst als der Dichtkunst. Das Trauerspiel müsse auch ohne Vorstellung und Aktion seine völlige Stärke behalten und brauche darum nicht mehr Illusion als jede andre Geschichte. Noch mehr: auch für die Vorstellung des Dramas kann die Illusion kein wesentliches Erfordernis sein: denn Lessing schließt in der weiteren Ausführung seiner Gedanken das »Vergnügen der Illusion« aus dem »Vergnügen«, das uns das Kunstwerk allerdings gewähren soll, überhaupt aus.

In der Leidenschaft (meint er), ob sie Begierde oder Verabscheuung sei, werden wir uns eines größeren Grads unserer Realität bewußt, und so ist auch die allerunangenehmste Leidenschaft als Leidenschaft angenehm. Aber die Unlust, die wir über dem Gegenstand haben, kann die Lust, die mit der stärkeren Bestimmung unserer Kraft verbunden ist, so unendlich überwiegen, daß wir uns dieser gar nicht mehr bewußt werden. Dies wird in dem wirklichen, ernsten Leben die Regel sein. Dagegen können uns die unangenehmen Affekte in der Nachahmung gefallen, weil sie in uns ähnliche Affekte erwecken, die auf keinen gewissen Gegenstand gehen. Der Musikus macht mich betrübt; und diese Betrübnis ist mir angenehm, weil ich sie bloß als Affekt empfinde und jeder Affekt angenehm ist. Gesetzt, daß ich während dieser musikalischen Betrübnis wirklich an Betrübendes denke, so fällt das Angenehme gewiß weg. So gerät der Held des Trauerspiels in einen unangenehmen Affekt und ich mit ihm; mir aber ist dieser angenehm, weil ich nicht der Held selbst bin und den Affekt bloß als Affekt empfinde. Genau genommen verdient das, was ich empfinde, kaum den Namen des Affekts; denn mein Empfinden ist von anderer Qualität als das des Helden. Was ich empfinde, ist ja nur Mitleid. »Diesen Affekt empfinden nicht die spielenden Personen, … sondern er entsteht in uns ursprünglich aus der Wirkung der Gegenstände auf uns; es ist kein zweiter mitgeteilter Affekt.« Würde der Affekt des Helden mir in der (scheinbar vollkommenen) Weise mitgeteilt, daß ich mit ihm erlitte, was er erleidet; würde ich durch eine vollkommene Illusion sein, als eines wirklichen Menschen wirklicher Leidensgenosse: so würde ich meine Betrübnis nicht bloß als Affekt empfinden, und das Angenehme fiele gewiß weg. Also ist die Illusion so wenig ein Erfordernis der Kunst, daß sie deren eigentümliche Wirkung geradezu aufhebt.

Lessing hatte sich vorgenommen, dem Briefe, worin er seine Auffassung und Wertung der Illusion andeutet (an Mendelssohn, 2. Febr. 1757), eine ungewöhnliche Länge zu geben; aber er wurde durch Unpäßlichkeit daran verhindert; Er hat auch später seine Gedanken nicht wieder aufgenommen; vermutlich weil er bei Mendelssohn und Nicolai nicht viel Verständnis dafür fand. Mendelssohn wollte das Vergnügen der Illusion nicht aufgeben; und die beiden Freunde brachten seine Auffassung des Mitleids in dem Schubfach »paradox« unter. »Warum heißen es denn paradoxe Gedanken,« fragt Lessing etwas pikiert, »da es Sie schon, wo ich nicht irre, einmal sie wahre Gedanken zu nennen beliebt hat?« Schade; daß es so gegangen! Vielleicht wäre im Verlauf der Diskussion auch noch das Bedenken zur Sprache gekommen, daß das angenehme ästhetische Mitleiden sich nicht genau deckt mit dem wirklichen Mitleiden, das den besten Menschen macht; denn dieses wird der Mitleidige zwar nicht wegwünschen, aber doch auch nicht als angenehm empfinden. Auch das moralische, wirksame Mitleiden kann nur dann angenehm sein, wenn es bloß als Affekt, also ästhetisch, empfunden wird. Wie verhält es sich dann aber mit der bessernden Kraft der Tragödie? Sie müßte erst noch genauer untersucht werden und das Ende dürfte sein, daß die Besserung des Zuschauers, als direkte Wirkung und Absicht des Dramas, hinfällig wird.

Doch ist die Richtung nicht zu verkennen, in der Lessing sich bewegt; und auch nicht die Kraft, die ihn treibt. Es ist ihm mit der Dichtung ein Ernst; darum muß er sie sich als eine ernste Sache erweisen – vielmehr: er muß sie zu einer ernsten Sache erst machen. Daß der Dichter dem Schauspieler die Gelegenheit gebe, seine Kunst zu zeigen; Vgl. Lessing an Mendelssohn, 14. Sept. 1757. daß der Schauspieler durch virtuose Nachahmung der Leidenschaft eine Illusion hervorbringe; daß der Zuschauer das Vergnügen der Illusion genieße: das war ihm kein Ernst mehr. Und noch weniger, daß man sich in einer zweideutigen »Bewunderung« ergehe, die sich halb auf des Helden Virtuosität in der Tugend, halb auf des Dichters und Schauspielers Virtuosität in der Nachahmung bezieht. Also muß aus dem ästhetischen Genuß der Gedanke an die Kunst des Künstlers ausgeschlossen werden: er ist eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος. In der Kunst handelt es sich nicht um Befriedigung menschlicher Eitelkeit, sondern um eine Sache. Und diese ist nicht der Genuß einer Illusion, sondern das Höchste, Ernsteste, das es für Lessing gibt: daß seine Fähigkeit, leidend und handelnd an dem Kampfe des Menschen um seine geistige Existenz teilzunehmen, geübt und erweitert werde. Dazu dient ihm der Künstler, wenn er in sein Kunstwerk eine Seele hineinlegt, deren Erregungen seine Seele zum Mitschwingen bringen. Mehr »Illusion« erwartet, will er von ihm nicht. Man beachte auch, wie Lessing sich über gewisse, von Mendelssohn gerügte, indeklamable Stellen seiner »Sara« ausspricht: »wenn es die philosophischen sind, so sehe ich schon voraus, daß ich sie nicht ausstreichen werde, und wenn Sie mir es auch mathematisch beweisen, daß sie nicht dasein sollten; wenigstens so lange nicht, als noch immer mehr Leute Trauerspiele lesen als vorstellen sehen«. (18. Aug. 1757.)

Es kann uns, wenn wir seine Gedanken über die Tragödie verfolgt haben, nicht wundern, daß er wenig später gegen Mendelssohn sich über die Poesie scheinbar recht abschätzig ausspricht. »Den schönen Wissenschaften sollte nur ein Teil unsrer Jugend gehören; wir haben uns in wichtigern Dingen zu üben, ehe wir sterben. Ein Alter, der seine ganze Lebenszeit über nichts als gereimt hat, und ein Alter, der seine ganze Lebenszeit über nichts getan, als daß er seinen Atem in ein Holz mit Löchern gelassen: von solchen Alten zweifle ich sehr, ob sie ihre Bestimmung erreicht haben« (um Neujahr 1758). Daß er trotzdem fortfuhr, sich den »schönen Wissenschaften« zu widmen, beweist freilich auch seine Zuversicht, man könne wohl etwas Ernsteres daraus machen als z. B. Mendelssohn, dem er nicht abreden wollte, sich lieber der Philosophie zuzuwenden.

 

3.

In den » Briefen die neueste Literatur betreffend« (1759) treibt der strengere Ernst, den Lessing in die schönen Wissenschaften legte, ihn in einen unbarmherzigen Kampf gegen die Mittelmäßigkeit hinein, die sich auf dem deutschen Parnaß mit großer Selbstgefälligkeit breit machte. Eine Gelegenheit, seine Gedanken über das Drama weiterzuführen und öffentlich auszusprechen, fand und suchte Lessing dabei nicht. Warum, dürfen wir vielleicht aus einem Wort erschließen, das Lessing 1760 in der Vorbemerkung zu dem Leben des Sophokles mit einfließen läßt: daß er es bedaure, die Dichtkunst des Aristoteles eher studiert zu haben als die Muster, aus welchen dieser sie abstrahierte (8, 294). Er mußte sich durch ein gründliches Studium der Alten erst einen sicheren Boden für eine Ästhetik des Dramas schaffen. Doch lassen einzelne Bemerkungen in den Literaturbriefen sowie die Abhandlungen, mit denen er die drei Bücher seiner Fabeln begleitete, eine nicht unbedeutende Fortbildung seiner Gedanken über die Kunst erkennen.

Lessing fand die Fabel auf dem »blumenreichen Abwege der schwatzhaften Gabe zu erzählen« und unternahm es, durch Lehre und Beispiel, sie in die gerade auf die Wahrheit führende Bahn des Aesopus zurückzubringen (7, 416). Man hatte aufgehört, die Fabel als ein sicheres Mittel zur lebendigen Überzeugung zu benützen, und betrachtete sie dafür als ein Kinderspiel, das man so viel als möglich auszuputzen habe. Auch Lessing hatte an dieser Tändelei, die eines ernsten Mannes unwürdig war, teilgenommen. Er wollte sie nicht bloß selbst ablegen, sondern auch andere davon abziehen.

Das Ernste, das ein Mann an der Fabel genießen, um dessenwillen ein Mann eine Fabel dichten kann, ist die Lehre. Lessing gesteht daher von sich, rühmt sich vielmehr: »Ich habe die erhabene Absicht, die Welt mit meinen Fabeln zu belustigen, leider nicht gehabt; ich hatte mein Augenmerk nur immer auf diese oder jene Sittenlehre, die ich, meistens zu meiner eigenen Erbauung, gern in besondern Fällen übersehen wollte.« Er wagt deshalb auch die Hoffnung, daß seine Fabeln durch ihren »inneren Wert« eine Zeitlang in dem Andenken der Welt sich erhalten werden (7, 472).

Wenn aber aller Nachdruck in die Lehre fällt: warum dann nicht lieber die bloße Sittenlehre? Wozu deren Einkleidung in ein ersonnenes Geschichtchen? Ist diese nicht doch ein bloßes Spiel?

Durchaus nicht; denn wer den Menschen bessern will, darf sich nicht bloß an den Verstand wenden, sondern muß suchen, daß er Einfluß auf den Willen gewinne. Die sittliche Wahrheit hat aber, wenn sie mir begrifflich (Lessing sagt: »symbolisch«) mitgeteilt und erwiesen wird, weit weniger Einfluß auf den Willen, als wenn ich sie in einem konkreten, individuellen Fall schaue. Dazu kann mir ein geschichtliches Beispiel dienen; aber von der Wirklichkeit eines Falles, den ich nicht selbst erfahren habe, kann ich nicht anders als aus Gründen der Wahrscheinlichkeit überzeugt werden; auch sind ja die Beweggründe wirklicher Begebenheiten meist verwickelt und unsicher. Das schwächt ihre Wirkung auf den Willen, und so ist die frei ersonnene Fabel der Erzählung des wirklich Geschehenen vorzuziehen.

Ihr Begriff ergibt sich aus ihrem Zweck: »Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel« (7, 443-446). Von den Folgerungen, die Lessing daraus zieht, heben wir nur eine hervor: da die Fabel ihre Absicht in der klaren und lebendigen Erkenntnis eines moralischen Satzes hat, die Erkenntnis aber durch die Leidenschaft verdunkelt wird, so hat der Fabulist die Erregung der Leidenschaft möglichst zu meiden. So macht er z. B., um eine zu starke Erregung des Mitleidens zu verhindern, die Gegenstände desselben unvollkommener und nimmt anstatt der Menschen Tiere oder noch geringere Geschöpfe an. (7, 454.) Wenn nun doch der Wert der anschauenden Erkenntnis in ihrem Einfluß auf den Willen liegt und das Mitleid also unter die Leidenschaften gehört, welche die Erkenntnis verdunkeln: so muß Lessing von dem Gedanken abgekommen sein, daß die Erregung des Mitleids ein unzweideutiges Mittel der sittlichen Besserung sei. Damit hängt vielleicht zusammen, daß er nun Nicolais Meinung adoptiert zu haben scheint: »der heroische und dramatische Dichter machen die Erregung der Leidenschaften zu ihrem vornehmsten Endzwecke« (7, 438). Doch ist aus dem Zusammenhang von Lessings Gedanken darüber nichts Sicheres zu erkennen.

Indem nun aber Lessing die Lehrhaftigkeit und moralische Abzweckung der Fabel so stark betont, läßt er sie als reine Gattung der Poesie fallen. Sie ist der gemeinsame Rain der Poesie und Moral (7, 415). Andrerseits gibt er jetzt die direkte Lehrhaftigkeit des Dramas und Epos auf. »Die anschauende Erkenntnis erfordert unumgänglich, daß wir den einzelnen Fall auf einmal übersehen können; können wir es nicht, weil er entweder allzuviel Teile hat oder seine Teile allzuweit auseinanderliegen, so kann auch die Intuition des Allgemeinen nicht erfolgen. Und nur dieses, wenn ich nicht sehr irre, ist der wahre Grund, warum man es dem dramatischen Dichter, noch williger aber dem Epopöendichter,, erlassen hat, in ihre Werke eine einzige Hauptlehre zu legen. Denn was hilft es, wenn sie auch eine hineinlegen? Wir können sie doch nicht darin erkennen, weil ihre Werke viel zu weitläuftig sind, als daß wir sie auf einmal zu übersehen vermöchten. In dem Skelette derselben müßte sie sich wohl endlich zeigen; aber das Skelett gehört für den kalten Kunstrichter, und wenn dieser einmal glaubt, daß eine solche Hauptlehre darin liegen müsse, so wird er sie gewiß herausgrübeln, wenn sie der Dichter auch gleich nicht hineingelegt hat« (7, 464 f.). Solche Dichtungen können also im einzelnen belehrend, sein; aber ihre Einheit kann nicht etwa in einer Lehre, die sie geben sollen, begründet sein. Trotzdem ist diese Einheit gerade die Hauptsache. »Die Güte eines Werks beruht nicht auf einzelnen Schönheiten; diese einzelne Schönheiten müssen ein schönes Ganze ausmachen, oder der Kenner kann sie nicht anders als mit einem zürnenden Mißvergnügen lesen« (8, 39). Allerdings macht uns Lessing nicht eben eine deutliche Vorstellung von der Einheit eines schönen Ganzen, wenn er gelegentlich bemerkt, der Dichter müsse die verschiedenen Absichten, deren Geschichte er vorführt, unter eine Hauptabsicht so zu bringen wissen, daß verschiedene Leidenschaften nebeneinander bestehen können (7, 438).

Lessing ist also im Begriff, Moral und Poesie weiter auseinanderzurücken. Das steht auch hinter seiner Kritik des Dramatikers und Dramaturgen Wieland. Doch will er sich nicht genauer erklären. Wieland hatte der Tragödie den Endzweck zugeschrieben, »das Große, Schöne und Heroische der Tugend auf die rührendste Art vorzustellen, sie in Handlungen nach dem Leben zu malen und den Menschen Bewunderung und Liebe für sie abzunötigen«. Lessing meint, daraus lasse sich leicht ein Schluß auf seine Charaktere machen: »die meisten sind moralisch gut; was bekümmert sich ein Dichter wie Herr Wieland darum, ob sie poetisch böse sind?« Wieland hat sich bis jetzt nur unter Cherubim und Seraphim aufgehalten, und so hat er den gutherzigen Fehler, auch unter uns schwachen Sterblichen eine Menge Cherubim und Seraphim, besonders weiblichen Geschlechts, zu finden. »Teufel zwar erblickt er auch nicht wenige; sie verhüllen sich aber vor seinen Augen in finstere Wolken, aus denen er sie nicht im geringsten zu exorzisieren sucht, aus Furcht, sie möchten uns, wenn wir sie näher und in ihrer Wirksamkeit kennen lernten, ein wenig liebenswürdig vorkommen.« Wenn sich der Fehler seines Gesichts im Verkehr mit wirklichen Menschen verloren haben wird; wenn er die innere Mischung des Guten und Bösen in dem Menschen wird erkannt haben: alsdann möge man sehen, was für vortreffliche Trauerspiele er liefern wird! »Bis jetzt hat er den vermeinten edlen Endzweck des Trauerspiels nur halb erreicht: er hat das Große und Schöne der Tugend vorgestellt, aber nicht auf die rührendste Art; er hat die Tugend gemalt, aber nicht in Handlungen, nicht nach dem Leben« (8, 166 f.). – Die »poetisch bösen« Charaktere sind die in der einen identischen Form der Vollkommenheit gegossenen, die unwahren; poetisch gut sind die wahren, aus gut und böse gemischten. Dann wird der Dichter freilich seinen Lesern auch einen größern sittlichen Gewinn schaffen, wenn er ihnen, statt der moralisch guten, poetisch gute Charaktere vorführt. Daß die moralische Absicht der Dichtung aufgegeben wird, kann also ihrem moralischen Wert sogar zugute kommen. Doch spricht sich Lessing darüber nicht weiter aus. Immerhin ist zu beachten, daß er nun (wieder mit der Adresse an Wieland) auch gegen die schönen Geister sich wendet, die uns die Religion wegwitzeln, damit ihre geistlichen Schriften auch zugleich amüsieren können (8, 17). –

Daß Lessing sich in den Literaturbriefen fast gänzlich auf eine rügende Kritik beschränkte, läßt sich nur aus einer absichtlichen Zurückhaltung erklären. Ihren Beweggrund haben wir schon angedeutet: er fühlte das Bedürfnis, ehe er sich an die Feststellung ästhetischer Grundsätze wage, sich in die mustergültigen Vorbilder für alle schönen Wissenschaften und freien Künste zu vertiefen. Das waren für ihn die besten Werke der Alten, insbesondre der Griechen. Er hat sich auch, in einer ganz gelegentlichen, aber gewiß gründlich durchdachten Äußerung, vorgezeichnet, wie er sich ihrer zu bedienen habe.

Die allerdings von ihm und seinen Freunden oft hart mitgenommene Mittelmäßigkeit hatte ihrer Kritik die Forderung entgegengestellt, daß der Kunstrichter nur die »Schönheiten« eines Werkes aufsuche und die Fehler desselben eher bemäntele als bloßstelle. Lessing will das nicht ganz abweisen. Über die »Schönheiten« ist er freilich (wie wir sahen) weg und anerkennt nur ein schönes Ganze. Wenn aber das Ganze untadelhaft befunden ist, möge der Kunstrichter von einer nachteiligen Zergliederung abstehen und das Werk so, wie der Philosoph die Welt, betrachten. Dies ist die richtige Stellung zu den besten Werken der Alten (8, 39 f.).

Wie betrachtet der Philosoph die Welt? Er setzt sie als die beste aller möglichen Welten voraus; und in diesem Glauben sucht er sich ihre Vollkommenheit mit Hilfe seiner Wertbegriffe zu verdeutlichen, zu verständlichen. So will er sein Vorurteil zum Urteil, seinen Glauben zur Einsicht erheben. Stößt er dabei auf unüberwindliche Schwierigkeiten, so sucht er den Fehler nicht in der Wirklichkeit der Welt, sondern in dem System von Werten, womit er sie zu deuten versuchte. Wollte er den umgekehrten Weg einschlagen und, überzeugt von der Vortrefflichkeit seiner Begriffe, den Fehler in der Welt suchen, so würde er jede sichere Grundlage für eine Wertung des Einzelnen in der Welt verlieren. Er kann dann nur noch sein individuell-subjektives Gefallen und Mißfallen konstatieren, dies aber nicht mehr zu einem Urteil erheben, für das er objektive, d. h. allgemeine Gültigkeit beanspruchen dürfte.

Lessing hätte sich wohl selbst nicht erlaubt, in diesem strengen Sinne die besten Werke der Alten der besten Welt, gleichzustellen. Aber er trat doch an sie mit dem guten, bescheidenen Willen hinan, sich lieber durch sie seine ästhetischen Begriffe umbilden zu lassen, als sie durch diese zu meistern. Dieser Wille war ihm freilich so natürlich, daß er sich kaum zu einem besonderen Entschluß zu verdichten brauchte. Lessing hatte ja kein System aufzugeben, an dem sein Herz hing, auf dem sein Kredit bei dem Publikum beruhte. Er hatte also überhaupt nichts zu verlieren, nur zu gewinnen.

 

4.

So studierte er denn einige Jahre die Griechen: Homer, Sophokles, und von den Werken der bildenden Kunst, was er erreichen konnte. Die erste Frucht seiner Arbeit ist » Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte« (1766).

»Es sind mehr unordentliche Kollektanea zu einem Buche als ein Buch«, bemerkt er in der Vorrede. Doch will er sich keiner affektierten Bescheidenheit schuldig machen. Denn er meint weiter, diese Kollektanea möchten auch als solche nicht ganz zu verachten sein. »An systematischen Büchern haben wir Deutschen überhaupt keinen Mangel. Aus ein paar angenommenen Worterklärungen in der schönsten Ordnung alles, was wir nur wollen, herzuleiten, darauf verstehen wir uns trotz einer Nation der Welt.« Sei nun sein Raisonnement nicht so bündig wie das der Baumgartenschen Ästhetik, so werden doch seine Beispiele mehr nach der Quelle schmecken (9, 5).

Er glaubt also offenbar, daß sich diese Methode ihm bewährt habe, die klassischen Denkmale der Kunst zu betrachten wie der Philosoph die Welt. Wiederholt kommt er darauf zurück, daß der Kunstrichter nur dem Künstler nachzudenken hat. »Nichts ist betrüglicher als allgemeine Gesetze für unsere Empfindungen« (9,29). »Bloß aus allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln, kann zu Grillen verführen, die man, über lang oder kurz, zu seiner Beschämung in den Werken der Kunst widerlegt findet« (9, 156). »Wie manches würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die Tat zu erweisen« (9,24).

Was ist es nun aber, das er in der Schule der Alten gelernt hat? Das ist nicht eben so leicht zu sagen. Denn Lessing läßt in diesen unordentlichen Kollektaneis zu einem Buch seiner unartigen, ebenso reizenden wie beschwerlichen Laune freies Spiel, die Hauptsache nebenbei zu bemerken. Diese Hauptsache ist für uns der Unter- und Hintergrund seines Raisonnements, nicht die technischen Fragen, die er im Vordergrund behandelt. Wir müssen also zwischen den Zeilen zu lesen suchen; und das ist immer eine mißliche Sache. –

»Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in den bildenden Künsten gemacht habe: so viel ist gewiß, daß sie den großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden. Denn wird jetzt die Malerei überhaupt als die Kunst, welche Körper auf Flächen nachahmet, in ihrem ganzen Umfange betrieben: so hatte der weise Grieche ihr weit engere Grenzen gesetzt und sie bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränkt. Sein Künstler schilderte nichts als das Schöne; selbst das gemeine Schöne, das Schöne niederer Gattungen, war nur sein zufälliger Vorwurf, seine Übung, seine Erholung. Die Vollkommenheit des Gegenstandes selbst mußte in seinem Werke entzücken; er war zu groß, von seinen Betrachtern zu verlangen, daß sie sich mit dem bloßen kalten Vergnügen, welches aus der getroffenen Ähnlichkeit, aus der Erwägung seiner Geschicklichkeit entspringt, begnügen sollten; an seiner Kunst war ihm nichts lieber, dünkte ihm nichts edler als der Endzweck seiner Kunst« (9, 10 f.).

Also denkt der echte bildende Künstler nicht an sich: daß er seine Kunst zeige; und er denkt nicht an den etwaigen Beschauer seines Werks: daß er ihm eine Lehre gebe, ihm ein Vergnügen mache, in ihm eine Leidenschaft errege. Er denkt nur daran, daß er die Schönheit zur Darstellung bringe. Was ist es aber, das ihn so strenge auf diesen Endzweck einschränkt? Es ist die Liebe, die sich an der Schönheit nicht sattsehen kann: sie treibt zu dem Versuch, die Schönheit, um sich ihrer ganz zu bemächtigen, nachzuschaffen. Hinter dem Zweck der Malerei taucht, als Hauptsache, das Motiv auf, das ihr ihren Zweck setzt. Dieses Motiv ist eine Liebe, die sich so an ihren Gegenstand verliert, daß ihr keine andre Absicht mehr in den Sinn kommt, als sich ihn durch möglichst vollkommene Nachbildung ganz zuzueignen. Allerdings ist Lessing seines Gedankens nicht ganz sicher. So kann er, fast unmittelbar nach den mitgeteilten Sätzen, wie selbstverständlich bemerken: »Der Endzweck der Künste ist Vergnügen« (– und er fährt sogar fort: »das Vergnügen ist entbehrlich«, während die Wahrheit der Seele notwendig sei; weshalb wohl die Ausübung der Künste, nicht aber die Erforschung der Wahrheit durch die bürgerlichen Gesetze eingeschränkt werden dürfe). Ebenso kann er ganz unbefangen einfließen lassen, daß die Poesie vornehmlich auf das Täuschende gehe (9, 104). Und gelegentlich läßt er das Vergnügen an dem Kunstwerk auch in die Bewunderung übergehen, die der virtuosen Bewältigung technischer Schwierigkeiten gezollt wird (9, 77 f.). Dagegen hebt er nachdrücklich hervor, daß die Religion, d. h. die Bestimmung des Kunstwerks für den Kult, dem alten Künstler öfters ein äußerer Zwang gewesen sei, der ihn verhindert habe, mit völliger Freiheit auf die höchste Bestimmung der Kunst hinzuarbeiten (9, 65).

Aber läßt sich diese genetische Erklärung von der bildenden Kunst auch auf die anderen Künste übertragen? Lessing hat es nicht versucht, hat sich nicht einmal diese Frage vorgelegt. Daß sie ihm im Sinne liegt, wird doch durch die Art bewiesen, wie er der Poesie ihren Gegenstand bestimmt. Während nämlich der wesentliche Vorwurf der Malerei die körperliche Schönheit ist, steht der Nachahmung des Dichters das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit offen; und die sichtbare Hülle, unter der Vollkommenheit zur Schönheit wird, ist nur eines der geringsten Mittel, durch die er uns für seine Personen zu interessieren weiß (9, 22). Die körperliche Schönheit ist also ein Stück der Vollkommenheit, die wir an dem Menschen lieben. Führt die Liebe dem bildenden Künstler die Hand, so inspiriert sie wohl auch dem Dichter das richtige Wort. Lessing definiert uns auch, mit unverhohlener Liebe, was ihm als wesentliches Objekt der höchsten Dichtung, der Tragödie, vor Augen schwebt: der »menschliche Held«, der weder weichlich noch verhärtet ist, sondern bald dieses, bald jenes scheint, so wie ihn jetzt Natur, jetzt Grundsätze und Pflicht verlangen. Ihn führt uns Sophokles in seinem Philoktet vor: »die Klagen sind eines Menschen, aber die Handlungen eines Helden.« »Er ist das Höchste, was die Weisheit hervorbringen, was die Kunst nachahmen kann« (9, 31). Tiefe und Zartheit des Empfindens in einer Person vereinigt mit zäher Kraft des Wollens: ein höheres Ziel kann sich der menschliche Mensch für die eigene Ausbildung nicht setzen; das muß er in dem Nebenmenschen lieben; das soll ihm der Dichter in lebendigen Persönlichkeiten zur Anschauung bringen.

Hat Lessing schon hervorzuheben vergessen, daß Sophokles in Philoktet den höchsten Gegenstand seiner Liebe darstellt, so leitet er nun auch ferner die einzelnen Gesetze der Kunst nicht aus ihrem letzten Beweggrund ab, sondern aus ihrem letzten Ziel. Die Folge ist nicht nur eine empfindliche Verengerung seiner Betrachtung, sondern auch die Unmöglichkeit, seinen Grundgedanken rein durchzuführen.

Während der »weise Grieche« die Malerei auf die Nachahmung schöner Körper einschränkte, weist ihr die Gegenwart die ganze sichtbare Natur zu, von welcher das Schöne nur ein kleiner Teil ist. »Wahrheit und Ausdruck sei ihr erstes Gesetz, und wie die Natur selbst die Schönheit höhern Absichten jederzeit aufopfere, so müsse sie auch der Künstler seiner allgemeinen Bestimmung unterordnen und ihr nicht weiter nachgehen, als es Wahrheit und Ausdruck erlauben. Genug, daß durch Wahrheit und Ausdruck das Häßlichste in der Natur in ein Schönes der Kunst verwandelt werde« (9, 18). Lessing glaubt nicht an diese Zauberkraft der »Wahrheit«, des »Ausdrucks«; und wir müssen ihm freilich recht geben, wenn wir darunter verstehen, was er sich von seinen Gegnern hineinlegen läßt. Er zitiert beifällig das Wort eines alten Epigrammatisten an einen höchst ungestaltenen Menschen: »Wer wird dich malen wollen, da dich niemand sehen will«; und er setzt dem entgegen, was mancher neuere Künstler sagen würde: »Sei so ungestalten wie möglich, ich will dich doch malen; mag dich schon niemand gern sehen, so soll man doch mein Gemälde gern sehen: nicht insofern es dich vorstellt, sondern insofern es ein Beweis meiner Kunst ist, die ein solches Scheusal so ähnlich nachzubilden weiß.« Daß Lessing diese »üppige Prahlerei mit leidigen Geschicklichkeiten« (9,11) nicht für Kunst, das Staunen über die Virtuosität der Nachbildung nicht für Kunstsinn gelten läßt: daran tut er wohl. Aber er läßt sich nun durch die Antipathie gegen solchen Unfug einen Gegensatz von Schönheit und Wahrheit, Schönheit und Ausdruck suggerieren, der für das Auge der Liebe nicht vorhanden ist. Es ist freilich Unsinn, daß Wahrheit und Ausdruck das Häßlichste der Natur in ein Schönes der Kunst verwandle; aber der Unsinn steckt darin, daß das Häßliche der Natur in ein Schönes der Kunst durch die Wahrheit des Ausdrucks verwandelt werde: da doch das Ausdrucksvolle (sagen wir lieber: Seelenvolle) schon in der Natur nicht häßlich ist, sondern uns Liebe abgewinnt, also schön ist: schön in seiner Art, als Ausdruck dieser Seele für jeden, der die Seele darin empfindet. Wir lieben doch nicht Leib und Seele gesondert, sondern den Menschen als Einheit; und so flößt uns vielleicht ein Mensch, der einen schönen Körper hat, keine Liebe ein, und wir müssen vielleicht einen andern lieben, der auf körperliche Schönheit keinen Anspruch machen kann. Sollte diese Liebe nicht das Recht besitzen, sich ihren Gegenstand durch Nachbildung möglichst innig zuzueignen? Sollte das keine ernsthafte, hohe Kunst sein, die ihr dazu verhilft?

Lessing scheint anders zu empfinden. »Ein mißgestalteter Körper,« sagt er, »und eine schöne Seele sind wie Öl und Essig, die, wenn man sie schon ineinanderschlägt, für den Geschmack doch immer getrennt bleiben. Sie gewähren kein Drittes; der Körper erweckt Verdruß, die Seele Wohlgefallen; jedes das Seine für sich« (9,140). Er habe recht; und der bildende Künstler soll also die Verbindung einer schönen Seele mit einem unschönen Körper (warum soll er doch gleich »mißgestaltet« sein?) nicht zum Vorwurf seiner Kunst wählen. Daß die Darstellung der Schönheit deren Endzweck sei, hat Lessing doch nicht durchführen können. Er beweist, daß die Bildhauer, welche die Gruppe des Laokoon schufen, sich wohl hüteten, in der Darstellung des Schmerzes die Grenze der Schönheit zu überschreiten; aber er bleibt uns den Nachweis schuldig, daß sie aus Liebe zur Schönheit diesen Vorwurf für ihre Kunst gewählt haben. Drei schöne Menschen, von Schlangen umstrickt, in entsetzlicher Qual und Angst des Todes: wenn der Künstler mir dieses Bild vor Augen führt, nur um die Schönheit auch in dieser Situation zu zeigen: so weiß ich nicht, was ich von ihm denken soll. »Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes« (9, 17). Zugestanden. Wer zwingt ihn aber dazu, unter diesen absonderlichen Umständen auf die höchste Schönheit hinzuarbeiten? Oder vielmehr: was berechtigt ihn, mir die Schönheit in dieser Situation vor Augen zu führen? Kommt es denn gar nicht für ihn in Betracht, daß er dadurch mein Mitleid im höchsten Grad erregt? Und kann die bloße Zeichnung der Schönheit gegen diesen Affekt mein seelisches Gleichgewicht wiederherstellen? Nein; das erreicht der Künstler nur, wenn er mir zeigt, daß Laokoon (wie Philoktet) unter allen Martern seine Größe behält (9, 30): also durch den Ausdruck, den er seinem schönen Helden gibt. Daß ein selbst menschlicher Künstler die Gruppe des Laokoon schuf, läßt sich aus der Absicht, nichts als das Schöne zu schildern, nicht begreifen. In der Tat kann Lessing nicht mehr behaupten, als daß die Griechen in der Darstellung der Leidenschaft (also des Ausdrucks) die Rücksicht auf die Schönheit nie vergessen haben (9, 14 ff.).

Für die Hauptaufgabe, die sich Lessing im »Laokoon« setzt, den Nachweis der Verschiedenheit in der Technik des bildenden und redenden Künstlers, ist es nun von geringerem Belang, daß Lessing kein sicheres konstitutives Prinzip der Kunst hat. Immerhin hätte sich der Verwechslung von Künstelei und Kunst, gegen die Lessing unerbittlich zu Felde zieht, einfacher und wirksamer steuern lassen, und mit geringerer Gefahr des Mißverständnisses, wenn er den tiefsten Punkt, den er erreicht, nicht bloß berührt, sondern festgehalten hätte. Daß der Maler dem Dichter nachmalen, der Dichter dem Maler nachdichten will: das ist freilich, wie Lessing zeigt, eine Verkennung der eigentlichen Darstellungsmittel, die beiden Künsten zur Verfügung stehen; aber diese Verirrung rührt letztlich daher, daß der Künstler an der Sache vorbei, deren erschaute Schönheit er sich durch Nachbildung zueignen will, auf einen Nebeneffekt hinschielt, den er erreichen möchte; daß ihm dieser Nebeneffekt zum eigentlichen Zweck wird. Durch den Anblick einer schönen Gegend ist noch kein Dichter versucht worden, mit dem Maler, der sie malt, die Konkurrenz aufzunehmen. Der Dichter, der ohne Seitenblick nur sein Entzücken über einen herrlichen Anblick in Worten ausdrücken will, hält sich ganz von selbst an den Kanon, den Lessing mühsam aus der Natur der Rede ableitet: daß er nicht eine mit Empfindungen nur sparsam durchwebte Reihe von Bildern gibt, sondern eine mit Bildern nur sparsam durchflochtene Folge von Empfindungen (9, 171). Hat der Dichter an der Handlung, die er uns vorführt, selbst ein unmittelbares Interesse, so kann es ihm gar nicht einfallen, unser Interesse für sie durch umständliche Beschreibungen hinzuhalten. Doch ist es nicht unsre Sache, Lessing in das Detail der technischen Fragen zu folgen. Dagegen müssen wir noch darauf hinweisen, daß gegen das Ende seiner Untersuchungen deren unsichere Grundlage sich empfindlicher bemerkbar macht.

Das Häßliche, oder gar das Ekelhafte, kann für sich Gegenstand keiner Kunst sein: das folgt mit Notwendigkeit aus dem höchsten Zweck der Kunst, wie Lessing ihn definiert. Aber der Dichter, vielleicht auch der Maler, könne jenes, und in sparsamer Weise auch dieses, als Ingrediens benützen, »um gewisse vermischte Empfindungen hervorzubringen und zu verstärken, mit welchen er uns, in Ermangelung rein angenehmer Empfindungen, unterhalten muß«. Diese vermischten Empfindungen sind das Lächerliche, das in der unschädlichen, das Schreckliche, das in der schädlichen Häßlichkeit liegt; das Gräßliche, das entsteht, wenn zur schädlichen Häßlichkeit das Ekelhafte tritt. Es sei nun, daß die Dichter, die Künstler sich des Häßlichen zu diesem Zweck bedienen: aber warum » müssen« sie uns denn, in Ermangelung rein angenehmer Empfindungen, damit »unterhalten«? Warum sollen wir von ihnen eine solche zweideutige Zugabe in den Kauf nehmen? »Das Gräßliche ist selbst in der Natur, wenn unser Mitleid dabei interessiert wird, nicht ganz unangenehm; wie viel weniger in der Nachahmung« (9, 151). Wenn das richtig beobachtet ist (woran ich zweifle), so folgt daraus doch nur, daß es schließlich auch nachgeahmt werden kann; aber es liegt darin kein Grund, daß es nachgeahmt werden solle. Einen solchen hat Lessing überhaupt nicht aufgezeigt.

Es ist nun sehr anerkennenswert von ihm, daß er, was er nicht in seiner Notwendigkeit erkennen konnte, darum doch nicht zu verwerfen wagte, weil es durch die Autorität eines Homer, eines Sophokles gedeckt war. Uns aber drängt sich die Frage auf, warum er diese Schwierigkeit nicht zu lösen vermochte. Der Weg war ihm ja durch Leibniz eröffnet; und auch die Gegner, die er bekämpfte, hatten ihn darauf hingewiesen. Der Nachahmung des Dichters steht, wie er selbst sagt, das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit offen – der Vollkommenheit dieser besten Welt. Wenn nun die Natur selbst, vielmehr die ewige Weisheit (9, 43), die Schönheit der Form höheren Absichten jederzeit aufopfert: so hat der Künstler sie freilich nicht bloß zu kopieren, aber die göttliche Vollkommenheit darzustellen, welche das Opfer der schönen Form verlangt. Die »beste Welt« enthält auch das Lächerliche, das Schreckliche, das Gräßliche; nirgends für sich allein, aber auch nicht als bloßes Ingrediens, sondern als notwendige Bedingung ihrer absoluten Vollkommenheit. Lessing hatte diesen Gedanken schon in aller Strenge für die Deutung des Sittlich-Bösen zu verwenden gewagt (wo er viel gefährlicher ist); daß er aus ihm nicht die Notwendigkeit des ästhetisch Bösen, des Häßlichen, abzuleiten versuchte, ist wirklich auffallend. Was ihn zurückhielt, war wohl die Abneigung gegen einen Naturalismus, der die Kunst in die Virtuosität der Nachahmung setzte; der das Entzücken über die zur Darstellung gebrachte Vollkommenheit des Gegenstandes umbog in das kalte Vergnügen über die getroffene Ähnlichkeit; der die Kunst nicht als Weg zur Gottheit benützte, sondern schaffend und genießend zum Tummelplatz eitler Wichtigtuerei entweihte.

 

5.

Hatte Lessing schon aus dem »Laokoon« kein richtiges Buch machen wollen, so war dies bei der Hamburgischen Dramaturgie durch die Art ihrer Entstehung überhaupt ausgeschlossen. Wir dürfen daher auch nicht erwarten, daß er darin aufnehme und weiterführe, was er im Laokoon über Wesen und Aufgabe des Dramas angedeutet hatte. Aber der Geist der Betrachtung ist in beiden Schriften derselbe; die Reflexionen laufen zum Teil parallel; und gemeinsam ist ihnen auch, daß Lessing bis zu einer Höhe der Betrachtung vordringt, auf der sich zwei wesentlich verschiedene Auffassungen der Kunst scheiden, um dann stehen zu bleiben – vielmehr: um den Weg bis zu dieser Höhe, einem andern Motiv folgend, wieder und wieder zu durchlaufen. Dabei bewährt er seine Fertigkeit, sich von jedem zufälligen Ausgangspunkte schnell zu allgemeinen Grundwahrheiten zu erheben; aber er macht es uns nicht eben leicht, bei der Fülle dessen, was er unterwegs zu beobachten und zu bemerken hat, das Wesentliche sicher im Auge zu behalten. Wir wollen sozusagen die Hauptstraßen seines Denkens aufnehmen, ohne uns um die Nebenpfade zu kümmern, die sie unter sich verbinden.

Lessing bleibt dabei, daß der Ästhetiker dem Künstler keine Regeln zu geben, sondern die Regeln zu entnehmen hat. Das Genie ist in einem dunklen Drange sich des rechten Weges wohl bewußt (9, 185). Es hat die Probe der Regeln in sich, ist der geborene Kunstrichter (10, 190). Es lacht auch über die Grenzscheidungen der Kritik (9, 210). Euripides mag Zwitter von Erzählung und Drama geschaffen haben: er erreicht die Absicht der Tragödie; das genügt (9, 390). Das Genie beweist durch die Tat, durch sein Werk, was möglich ist (9, 190. 272). Nicht, was es von außen her übernimmt, macht seinen Reichtum, sondern was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl hervorzubringen vermag (9, 324). Es hat eine lebendige Quelle in sich, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in reichen, frischen, reinen Strahlen aufschießt (10, 209). Das höchste Genie, den Schöpfer, im Kleinen nachahmend, schafft es sich seine eigene Welt: deren Zufälligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau verbunden sind als in der wirklichen; in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen als in dieser, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwecken (9, 324 f.). Aber es darf auch nur, wer das kann, von uns verlangen, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden. Und eben darum darf die Kritik vor dem Genie nicht Halt machen, in der Furcht etwa, es zu unterdrücken. Das Genie ist durch nichts in der Welt zu unterdrücken, am wenigsten durch die Regeln, die aus ihm selbst hergeleitet sind. Wer sich verbittet, an diesen, also an dem Genie, gemessen zu werden, verrät nur, daß er keinen Funken des Genies in sich hat (10, 190).

Also wäre wohl das richtige Verständnis der Kunst dadurch zu gewinnen, daß man den Vorgang des genialen Schaffens analysierte: wie sich Notwendigkeit und Freiheit in ihm verbinden; wie in ihm das Individuelle typische Wahrheit erhält. Lessing läßt sich darauf doch nicht ein. Warum? Er fühlt die lebendige Quelle des Genies selbst nicht in sich; er muß alles durch Druckwerk und Röhren aus sich heraufpressen (10, 209). Darum hat er auch in das freie Schaffen des Genies doch kein so rechtes Vertrauen. Er, der beim Dichten seine ganze Belesenheit gegenwärtig haben muß, der bei jedem Schritt alle Bemerkungen, die er je über Sitten und Leidenschaften gemacht, ruhig muß durchlaufen können (10, 210): er schränkt das Genie doch wieder darauf ein, daß es die Teile der gegenwärtigen Welt versetze, vertausche, verringere, vermehre, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigenen Absichten verbindet (9, 325). Komponiert die Einbildungskraft selbst, weil sie sich keiner wirklichen Gegenstände der Nachahmung mehr erinnert, so schafft sie Karikaturen (10, 156). Das Schaffen des Dichters reduziert sich also doch wieder auf ein Nachahmen; die Nachahmung aber hat ihren Wert durch ihren Zweck: also muß die Kunst, müssen die einzelnen Kunstformen aus ihrem Zweck verstanden werden. Mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen ist eben das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten, um zu dichten, die nur nachahmen, um nachzuahmen; und seine Absicht ist, uns zu unterrichten, was wir zu tun und zu lassen haben (9, 327). Es fragt sich also, wie das Genie im Drama menschliche Handlungen nachahmt, um diese Absicht mit uns zu erreichen.

Eine zusammenfassende Antwort auf diese Frage gibt uns Lessing, indem er beschreibt, wie der richtige Poet aus dem trockenen Faktum der Geschichte (daß z. B. eine Frau den Mann und die Söhne mordet) eine Tragödie herausarbeitet. Ist er nicht bloß ein witziger Kopf, hat er wirklich Genie, so wird er vor allen Dingen darauf bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinlichen Verbrechen nicht wohl anders als geschehen müssen. »Unzufrieden, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu gründen, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen: daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; daß wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun läßt, bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft, bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; daß uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Ziels, vor dem unsere Vorstellungen zurückbeben und an dem wir uns endlich voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreißt, und voll Schrecken über das Bewußtsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher Strom dahin reißen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüt noch so weit von uns entfernt zu sein glauben« (9, 316 f.).

Die Dichtung, philosophischer als die Geschichte, begnügt sich also nicht, die äußere Tatsache zu reproduzieren, sondern sie stellt dieselbe in ihrer Möglichkeit, vielmehr in ihrer Notwendigkeit dar. Sie erhebt sie aus der Sphäre des Besonderen in die des Allgemeinen; indem sie dadurch die Übertragung, die Zueignung ermöglicht, wird sie lehrreicher als die Geschichte. Was dieser Umwandlung widerstrebt, ist für die poetische Nachahmung nicht brauchbar. Ein Mensch, der die kläglichsten Widersprüche in sich vereinigt, dessen Handeln also des Zusammenhangs entbehrt; ein Monstrum, zu dem die Natur sich nur alle tausend Jahre einmal verirrt; ein trauriges Schicksal, das nur durch eine Menge ganz besonderer Umstände wirklich werden konnte: sie sollen nicht dramatisiert werden, denn es fehlt ihnen das Unterrichtende. »Das Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die ineinander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurückzuführen, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefähr auszuschließen: das, das ist seine Sache, wenn es im Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln« (9, 308). Auch das moralische Wunder, die Bekehrung durch eine unmittelbare Wirkung der göttlichen Gnade, ist darum von dem Drama ausgeschlossen (9, 188).

Wenn es nun dem Dichter gelingt, die bewegende Leidenschaft vor den Augen des Zuschauers entstehen und zu der Höhe heranwachsen zu lassen, daß sie auch vor dem Schrecklichen nicht mehr zurückbebt: so zwingt er den Zuschauer zu sympathisieren, er mag wollen oder nicht. Darin ist es begründet, daß uns das Drama, speziell die Tragödie, bessert. Daß sie uns gute Lehren und Beispiele darbietet, hat auch seinen Wert; aber das ist nicht der spezifische Nutzen der Tragödie. Ein Gewinn, den nur sie gewähren kann, ist der, daß sie gewisse Leidenschaften durch Erregung derselben reinigt, d. h. in tugendhafte Fertigkeiten verwandelt (10, 117). Wenn die mitleidswürdige Handlung, die sie uns durch die szenische Aufführung als gegenwärtig vor Augen stellt, Allgemeinheit hat, so wird sie in uns nicht bloß das lebhafteste Mitleid mit dem Helden erwecken, sondern auch die Furcht, unser Schicksal könnte dem seinigen ähnlich werden. Dadurch nun eben, daß diese Empfindungen zu außerordentlicher Stärke gesteigert werden – ohne daß doch der Druck der Wirklichkeit die Besinnung beeinträchtigte Diesen Zusatz, der durch die Sache gefordert wird, kann ich durch eine ausdrückliche Erklärung Lessings nicht belegen. –, werden sie auf die richtige mittlere Höhe gestimmt. Das tragische Mitleid reinigt also die Seele desjenigen, der zu viel Mitleid fühlt, aber auch desjenigen, der zu wenig empfindet; die tragische Furcht reinigt nicht nur die Seele desjenigen, der sich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück, auch das entfernteste, das unwahrscheinlichste, in Angst setzt. Zusammenwirkend bringen sie auch das autopathische und sympathische Gefühl ins Gleichgewicht (10, 117 f.). Dieser Effekt ist von so hohem Wert, daß er, und er allein, den umständlichen und kostspieligen Apparat des Theaters rechtfertigt; wird er nicht erreicht, so sinkt das Schauspiel zu einer bloßen Unterhaltung herab (10, 123). Auf ihn muß also die ganze Tragödie angelegt werden; und der einzige unverzeihliche Fehler des tragischen Dichters ist, daß er uns kalt läßt (9, 250).

Analog liegt der wahre, allgemeine Nutzen der Komödie im Lachen selbst: »in der Übung unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemerken; es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht zu bemerken«. Die Toren selbst kann die Komödie allerdings durch das Lachen nicht bessern; aber wenn sie keine verzweifelten Krankheiten heilen kann, befestigt sie doch die Gesunden in ihrer Gesundheit. »Ein Präservativ ist auch eine schätzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kräftigers, wirksamers als das Lächerliche« (9, 303 f.). Übrigens hat Lessing eine genaue Untersuchung des Lachens und seiner Wirkung nicht angestellt. Doch will er es nicht in ein Verlachen einzelner Personen ausarten lassen; schon Aristophanes hat, wenn er einen Sokrates dem Gelächter preisgab, dessen Charakter erweitert, aus dem Persönlichen ins Allgemeine erhoben (10, 162 f.). Wer richtig lacht, wird also immer zugleich über sich selbst, über eine im eigenen Wesen liegende Möglichkeit lachen. Ferner bezeichnet es Lessing als ein unbewiesenes Vorurteil, daß die Komödie sich nur mit moralischen, verbesserlichen Fehlern abgeben solle. Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich. Ja, an dem boshaften, nichtswürdigen Menschen ist das Lächerliche überhaupt nicht mehr lächerlich, sondern widrig, ekel, häßlich. Also muß es der Wirkung der Komödie schädlich sein, wenn sie das Moralische zu stark betont. Es ist wohl nicht zufällig, daß Lessing an die Stelle der »Laster«, die man in der Komödie bestraft sehen wollte, »Unarten« setzt (9, 302 f.).

Mit dem allen hat Lessing die Auffassung des Dramas, die er ein Jahrzehnt zuvor in der Auseinandersetzung mit Nicolai und Mendelssohn entwickelt, zwar genauer bestimmt und im einzelnen verbessert, aber nicht überboten. Der Ernst, den die Poesie haben muß, wenn sich ernste Männer genießend und schaffend damit beschäftigen sollen, scheint ihm fortdauernd nur in ihrer moralischen Wirkung zu liegen. Aber die Dramaturgie bezeugt doch auch, daß er die Enge dieser Auffassung gefühlt hat und zu überwinden suchte. Der Wichtigkeit der Sache wegen teilen wir die einschlagenden Gedanken ausführlicher mit.

Die Analyse einer spanischen Dramatisierung des Essex führt ihn auf die Frage, ob es wahr sei, daß die Natur selbst einer Vermengung des Gemeinen und Erhabenen, des Possierlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen, wie sie für das spanische Schauspiel charakteristisch ist, zum Muster diene (10, 77). Und er antwortet sich darauf: »Es ist wahr und auch nicht wahr, daß die komische Tragödie die Natur getreu nachahmet; sie ahmet sie nur in einer Hälfte getreu nach und vernachlässiget die andre Hälfte gänzlich; sie ahmet die Natur der Erscheinungen nach, ohne im geringsten auf die Natur unserer Empfindungen und Seelenkräfte dabei zu achten. In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen, abzusondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwärtigen Eindrucks sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns … »in dem Reiche des Schönen,« fügt Lessing ein: durch einen offenbaren lapsus calami. Denn in der Wirklichkeit kann, nach Lessings Gedankenfolge, nur das »schön« sein, was uns die Mühe dieser Absonderung erspart; und indem die Kunst die Absonderung für uns besorgt, schafft sie uns erst »Schönes«. Ein besonderes Reich des Schönen kann es also für Lessing nicht mehr geben. Was soll denn auch in dem Reich des Schönen von dem Schönen noch abgesondert werden? dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab und gewährt uns diesen Gegenstand oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände so lauter und bündig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet. Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit sind und eine andre von nichtigem Belange läuft quer ein: so suchen wir der Zerstreuung, die diese uns drohet, möglichst auszuweichen. Wir abstrahieren von ihr; und es muß uns notwendig ekeln, in der Kunst das wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwünschten. Nur wenn eben dieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattierungen des Interesse annimmt und eine nicht bloß auf die andre folgt, sondern so notwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, daß uns die Abstraktion des einen oder des andern unmöglich fällt: nur alsdann verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiß aus dieser Unmöglichkeit selbst Vorteil zu ziehen. Aber genug hiervon: man sieht schon, wo ich hinaus will.« (10, 82 f.)

Ferner unterscheidet Lessing, um die moralische Wirkung der Tragödie sicherzustellen, von der süßen Qual des tragischen Mitleids einen Jammer, den die nachahmende Kunst nicht erwecken soll; einen Jammer, der mit Schaudern an das Schicksal des Menschen denken läßt, dem Murren wider die Vorsehung sich zugesellt und Verzweiflung von weitem nachschleicht. »Man sage nicht (fährt er fort): erweckt ihn doch die Geschichte; gründet er sich doch auf etwas, das wirklich geschehen ist. Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhang aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm in dem allgemeinen Plan der Dinge suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein; sollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen: und er vergißt diese seine edelste Bestimmung so sehr, daß er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in seinen kleinen Zirkel flicht und geflissentlich unsern Schauder darüber erregt? O verschonet uns damit, ihr, die ihr unser Herz in eurer Gewalt habt! Wozu diese traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? Diese kann uns nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die Lehre der Vernunft in uns bekleiben soll, wenn wir, bei unserer Unterwerfung, noch Vertrauen und fröhlichen Mut behalten sollen: so ist es höchst nötig, daß wir an die verwirrenden Beispiele solcher … schrecklichen Verhängnisse so wenig als möglich erinnert werden. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen!« (10, 119-21.)

Ich habe auch in dieser Expektoration ein Wort gestrichen, das die Idee stört, obgleich es diesmal durch den Zusammenhang des Gedankens gerechtfertigt ist. Lessing wünscht, an die verwirrenden Beispiele unverdienter schrecklicher Verhängnisse nicht erinnert zu werden. Das Gräßliche, das nicht tragisches Mitleid, sondern verzweifelten Jammer weckt, liegt in dem Unglück ganz unschuldiger Personen. Also muß er annehmen, daß in der Schuld ein Erklärungsgrund des Leidens liege, der unsern Verstand und unser Gemüt befriedigt. Aber er selbst hat des öfteren Gedanken entwickelt, welche den Unterschied des schuldigen und unschuldigen, des verdienten und unverdienten Leidens als unhaltbar erweisen. »Der Dichter muß nie so unphilosophisch denken, daß er annimmt, ein Mensch könne das Böse um des Bösen willen wollen … Ein solcher Mensch ist so gräßlich als ununterrichtend« (9, 192). »Der größte Bösewicht weiß sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst zu überreden, daß das Laster, welches er begeht, kein so großes Laster sei, oder daß ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, daß er sich des Lasters als Lasters rühmt, und der Dichter ist äußerst zu tadeln, der aus Begierde, etwas Glänzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen läßt, als ob seine Grundneigungen auf das Böse als auf das Böse gehen könnten.« (9, 311.) Das Entsetzen über unbegreifliche Missetaten ist so wenig eine der Absichten des Trauerspiels, daß die alten Dichter es vielmehr auf alle Weise zu mindern suchten, wenn ihre Personen ein großes Verbrechen begehen mußten: »sie schoben öfters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber zu einem Verhängnisse einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freien Menschen in eine Maschine, ehe sie uns bei der gräßlichen Idee wollten verweilen lassen, daß der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis fähig sei.« (10,98.) Und hat nicht der dramatische Dichter, wie wir sahen, vor allem die Aufgabe, die Notwendigkeit der Handlung zu zeigen, das Ungefähr auszuschließen? auch, ja vor allem, das Ungefähr des freien Willens? Hat der Dichter das in überzeugender Weise vor unsern Augen vollbracht, so kann die Schuld nicht mehr ein Erklärungsgrund des Leidens sein, sondern fließt mit diesem in ein Verhängnis zusammen, das unser Mitleiden und unsere Furcht erregt. Und dazu eben kann uns die Tragödie dienen, die Einheit von Schuld und Leiden zu entdecken, die wir, von Natur kurzsichtig und durch das Interesse geblendet, als Mitspieler in der sogenannten Wirklichkeit nicht zu sehen vermögen.

Es ist also nur die Nachwirkung des Moralismus, den Lessing von Hause aus mit seiner Zeit teilt, daß er in der Schuld noch eine Erklärung des Leidens anerkennt, die uns das Schreckliche nicht als gräßlich empfinden lasse. Scheiden wir sie vollends aus, so bleibt uns eine rein religiöse Auffassung des Dramas. Es ruht auf dem Glauben, daß die Welt, trotzdem sie unsere Empfindung oft bis an die Grenze des Unerträglichen martert, vollkommen gut sei. Die Theodicee, die der Philosoph mit den Hilfsmitteln der Reflexion erreichen will, vollbringt der Dramatiker auf wirksamere Weise für die anschauende Erkenntnis, indem er einen geeigneten Ausschnitt der Wirklichkeit in seinem innern Zusammenhang vor Augen führt. Erschließt er dadurch unserem Gefühl den schmerzlichen Widerspruch des Daseins, bringt aber doch nicht mehr Dissonanzen an, als er aufzulösen vermag: so stärkt er unsere Fähigkeit, die anscheinende, aber für unsere Empfindung reale Disharmonie des Lebens auszuhalten, und flößt uns Vertrauen ein, daß ihre Auflösung, auch wo sie uns unmöglich dünkt, nicht ausbleiben könne. Das Genie ist ein Mittler zwischen dem unendlichen Geist, der diese große, vielverschlungene Welt trägt, und uns endlichen Geistern, die wir uns gegen ihren übermächtigen Druck zu behaupten haben. Seine Werke sind Offenbarungen, werden als solche von ihm empfangen und von uns empfunden; und nur was Offenbarung ist in der Kunst, hat unvergänglichen Gehalt und Wert.

Nun wäre freilich erst neu zu bestimmen, worin nach Ausscheidung des Moralismus die wahre Dissonanz des Lebens besteht und die Auflösung, in der sie das Kunstwerk verklingen lassen kann. Dadurch würde auch alles, was Lessing Schönes und Gutes über das tragische Mitleid mit andern und mit sich selbst gesagt hat, in ein anderes Licht treten. Insbesondere aber würde sich für diese religiöse Betrachtung erst der höchste Sinn der Komödie enthüllen. Aber Lessing hat uns nur bis an die Schwelle dieser Deutung der Kunst geführt; und so haben wir sie hier auch nicht weiter zu verfolgen.

 

6.

Mit der Hamburgischen Dramaturgie hat sich das ästhetische Interesse Lessings so gut wie erschöpft. In den antiquarischen Briefen, den Abhandlungen über das Epigramm und anderen kleinen Schriften ähnlichen Inhalts ist er ganz überwiegend Antiquar, Historiker. Was er darin zur Theorie der Kunst noch beibringt, hat keine Bedeutung für die Philosophie der Kunst. Sodann hat er allerdings noch einen älteren dramatischen Entwurf, die Emilia Galotti, nach seiner gereiften Erkenntnis ausgeführt. Doch ist es nicht unsere Sache, hier zu untersuchen, wie weit es ihm darin geglückt ist, die tragische Wirkung, wie er sie verstand, zu erzielen. Näher liegt uns die Frage, aus welchen Ursachen wohl das auffällige Nachlassen seines ästhetischen Interesses zu erklären ist.

Nun ist es gewiß nicht zufällig, daß Lessing in dem Nachwort gerade der Schrift, in der er das Schöpferische des Genies am stärksten betont hatte, sich das wahre dichterische Genie abgesprochen hat: nur etwas, was dem Genie sehr nahe kommt, habe er mit Hilfe der Kritik zu erreichen vermocht (10, 209 f.). Mit unverkennbarer Beziehung auf sich selbst hat er an anderem Orte auch ausgesprochen, daß Geschichte, Kritik und Altertümer nicht eben die rechte Nahrung für das dramatische Genie seien (9, 360) – seine Lieblingsstudien, denen er sich gerade um diese Zeit mit erhöhtem Eifer hingab. Er war sich also allen Ernstes der Grenze seiner dichterischen Begabung bewußt geworden; und es wäre fast zu verwundern, wenn er in ihr nicht auch eine Grenze seines ästhetischen Verständnisses erkannt hätte. Ehrlich gegen sich selbst, wie er war, verließ er einen Gegenstand, über den noch so viel zu sagen gewesen wäre, er selbst aber nichts Neues mehr zu sagen hatte. Daraus erklärt sich vielleicht auch die auffällige Tatsache, daß Lessing sich über den jungen Goethe wenigstens vor der Öffentlichkeit ausschwieg. Er fühlte sich ja versucht, mit Goethe (»trotz seinem Genie, worauf er so sehr pocht«) wegen des Goetz anzubinden. Sein Ekel gegen alles, was theatralisch heißt, hielt ihn davon ab, vielleicht aber doch auch das Gefühl, daß die Art der Kritik, in der er Meister war, gegen ein Genie, in dem die lebendige Quelle der Poesie so stark und frei sprudelte, nicht angebracht war. In der Tat bezieht sich, was er über Goetz und Werther brieflich bemerkte, nur auf Nebensächliches.

Sodann drückte auf Lessings Gemüt doch immer stärker das Mißverhältnis zwischen dem Ernst seiner Auffassung der Dichtung und der ästhetischen Barbarei in Deutschland. Welche erhabene Aufgabe hatte er dem dramatischen Dichter gestellt! Und in seinem Vaterland fand er das Vorurteil allgemein, daß es nur jungen Leuten zukomme, in dem Felde der schönen Literatur zu arbeiten. »Männer, sagt man, haben ernsthaftere Studien oder wichtigere Geschäfte, zu welchen sie die Kirche oder der Staat auffordert. Verse und Komödien heißen Spielwerke; allenfalls nicht unnützliche Vorübungen, mit denen man sich höchstens bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr beschäftigen darf.« Daher auch das Jugendliche, ja kindische Aussehen der schönen Literatur in Deutschland: Versuche junger Leute, die nichts geben können, weil sie nichts haben (10, 188f.). Natürlich; denn wer der Dichtung leben wollte, müßte doch auch von der Dichtung leben können; und in Deutschland ist nichts einträglich, was im geringsten mit den freien Künsten in Verbindung steht (9, 259). Lessing selbst schlug sich seit Jahr und Tag mit Schulden herum; und wenn angebliche Verehrer ein Werk von ihm fürs Theater wünschten, sollte er noch über das Honorar rechten! Das Genie freilich, meint Lessing selbst, ist durch nichts in der Welt zu unterdrücken; wenn aber der innere Druck der Genialität wirklich nicht vorhanden ist, so muß der äußere Druck der Misère des Lebens endlich einen Mißmut erzeugen, der eine reine ästhetische Stimmung unmöglich macht. Ohne solche ist aber auch eine Kritik, die dem Verständnis der Kunst wirklichen Gewinn bringen soll, nicht zu denken.

Also mußte sich Lessings Geist einem Gebiete zuwenden, das ihm stärkere Erregungen brachte als die ästhetischen. Das Schicksal kam diesem Bedürfnis entgegen. Es wies ihn kurze Zeit nach dem Abschluß der Dramaturgie darauf hin, daß es für seine Kritik noch eine ernsthaftere Aufgabe gebe, als den wahren Sinn der verschiedenen Gattungen der Dichtung ins Licht zu setzen.


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