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Erstes Kapitel.
Lessings religiöse und philosophische Entwicklung bis 1760.

Voraussetzungen: das Christentum; Leibniz – Religiöse Krise – Moralische Umstimmung – Stellung zu den religiösen Strömungen der Zeit bis 1754 – Wie sich L. das gute Gewissen zur Freiheit erwirbt – Auf dem Weg von Leibniz zu Spinoza – Im Kampf gegen die neumodische Rechtgläubigkeit


1.

Lessing ist in der Auseinandersetzung mit dem Christentum Philosoph geworden. Um zu verstehen, wie das geschah, müssen wir uns zuerst das Verhältnis des christlichen Dogmas zum philosophischen Denken verdeutlichen. Dabei bedienen wir uns sofort einer Betrachtungsweise, auf die uns Lessing selbst hingeleitet hat, und hoffen dadurch auch das Verständnis seiner späteren Kämpfe vorzubereiten.

Seinem Gehalt nach ist der christliche Glaube eine eigentümliche, ja seltsame Verquickung von Metaphysik, Geschichte und praktischer Lebensweisheit. Es ist ein Gott, lehrt das Christentum, aus dem, in dem, zu dem alle Dinge sind. Gott ist Geist, ist allmächtige, allgegenwärtige, ewige Weisheit, Gerechtigkeit, Liebe. Gott ist Einer, doch auf geheimnisvolle Weise sein inneres Leben in drei Personen entfaltend: er ist dreieinig, Vater, Sohn und Geist. Was in der Zeit geschieht, also die Geschichte im allerweitesten Sinne, ist die Entfaltung eines ewigen Ratschlusses der dreieinigen Gottheit. Anfang und Ende der Geschichte ist, daß Gott die Welt aus nichts schuf, und daß Gott sein wird alles in allem. Der Inhalt der Geschichte ist die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen, der göttlichen Geschlechts und darum eines Verkehrs mit Gott fähig ist: daß Gott in der Welt sein Reich vorbereitet, gründet, ausbreitet; daß Gott sich den Menschen stufenmäßig offenbart; daß Gott und die Menschheit sich entzweien und wieder vereinigen. Der Mittelpunkt dieser Geschichte ist die geheimnisvolle Menschwerdung Gottes des Sohnes in Jesus von Nazareth, dem Christus. Sie vollendet die Offenbarung Gottes an die Menschen, sie bewirkt die Erlösung und Versöhnung. Jesu Christi gottmenschliches Leben setzt sich fort in seiner Kirche, die sein Leib ist, in der der heilige Geist seine Wirkung entfaltet. Wer durch den Glauben an Christus ein Glied an seinem Leibe geworden ist, hat Vergebung der Sünden, empfängt die Gabe des heiligen Geistes, hat Anteil am Reiche Gottes, am ewigen, himmlischen Leben. Er hält die Gebote Christi, lebt nicht mehr im Fleisch, liebt insbesondere die Brüder. U. s. f.

Es ist leicht zu sehen, daß in diesen Glaubenslehren ein lebhafter Enthusiasmus der Spekulation eine Fülle von Gedanken gesammelt hat, die einen Geist, der Welt und Leben als Ganzes fassen will, auf lange hinaus beschäftigen können. Auch scheinen sie nicht dazu angetan, dem Geist Fesseln anzulegen. Die Dehnbarkeit der benützten Begriffe (vielmehr Bilder); der symbolische Charakter der Heilsgeschichte; die Verbindung von Begriffen und Sätzen, die von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus aufgenommen sind: das alles nötigt geradezu den Geist, das Dogma zu einer richtigen, einheitlichen Weltanschauung für sich erst zu verarbeiten. Aber dem stellt sich ein doppeltes Hindernis in den Weg: in dem Mittelpunkt der Heilsgeschichte tritt das flüssige Symbol in eine chemische Verbindung ein mit einer starren Tatsache des empirischen Geschehens, dem Leben Jesu von Nazareth; und diese ganze Glaubenslehre bietet sich nicht nur als Versuch einer Erklärung des Daseins dar, sondern soll zugleich die feste Grundlage eines gemeinsamen kirchlichen Lebens sein. Darum muß sie Ansprüche machen, die dem philosophischen Denken schweren Anstoß geben.

Die Kirche muß den Grundlagen ihres Daseins, ihrer Verfassung, ihrer Gebräuche die höchste Sicherheit zu geben suchen. Nun sind spekulative Gedanken (wie die Dreieinigkeit Gottes) eines strengen Beweises nicht fähig. Andrerseits hängt die Gewißheit von Tatsachen des empirischen Geschehens an der Zuverlässigkeit der Überlieferung, kann also eine gewisse Wahrscheinlichkeit niemals übersteigen; so singuläre Tatsachen wie die jungfräuliche Geburt Jesu, seine Auferstehung und Himmelfahrt, sind für ein unbefangenes geschichtliches Denken sogar durchaus unwahrscheinlich. Diese bedenklichen Schwierigkeiten hebt die Kirche durch die Berufung auf den heiligen Geist, in dessen Besitz sie ist: er hat die Formulierung ihrer »Geheimnisse« geleitet; er hat die Überlieferung ihrer Geschichte behütet, ja selbst in die Hand genommen. Denn der heilige Geist hat die Heilswahrheit durch wörtliches Diktat in der heiligen Schrift festgelegt. Das ist wenigstens die Lehre der strengen lutherischen und reformierten Orthodoxie, die gegen die katholische Verwertung der fortlaufenden Tradition extra noch behauptet, daß die Heilswahrheit allein aus dem unfehlbaren, vollständigen, klaren Worte Gottes zu gewinnen ist.

Im sicheren, alleinigen Besitz der geoffenbarten Wahrheit kann nun die Kirche Glauben verlangen. Dieser wird also aus einer passiven Überzeugung in einen Akt des Gehorsams, des Willens verwandelt. Um den Zweifel ins Unrecht zu setzen, erklärt man ihn aus der Überhebung der in dem Sündenfall mitgefallenen Vernunft. Dadurch verwickelte man sich freilich in einen schweren Widerspruch: die verderbte Vernunft kann nicht glauben ohne den heiligen Geist; und des heiligen Geistes wird der Mensch erst teilhaftig durch den Glauben. Trotzdem machte man den Unglauben zu einer Sünde, die der ewigen Verdammnis überliefert.

Damit war jede Brücke von dem natürlichen Denken zum Glauben abgebrochen. Aber das war doch auch nicht möglich, auf jeden Versuch zu verzichten, den Ungläubigen von dem Rechte des Glaubens zu überzeugen. Darum hatte das Christentum eine gewisse natürliche, freilich ungenügende Gotteserkenntnis immer anerkannt und im Interesse der Verteidigung und Propaganda benutzt. Und gerade in der Zeit, in die Lessings Jugend fiel, entstand eine Vermittlungstheologie, die sich eifrig bemühte, die Erhabenheit der biblischen Wahrheiten ins Licht zu setzen und die Glaubwürdigkeit der heiligen Schrift zu beweisen. Natürlich konnte man nur Wahrscheinlichkeitsgründe beibringen und ging insofern hinter die starre Orthodoxie zurück, die wenigstens das Bedürfnis nach Gewißheit hatte und anerkannte.

So gewährte also die Kirche dem Geiste eine Nahrung, die nicht bloß dem Bedürfnis des Gemüts entgegenkam, sondern durch ihren spekulativen Gehalt (das Dogma stammt ja zu einem guten Teil aus der griechischen Spekulation) auch das philosophische Nachdenken anregte. Um aber ihre Wahrheit gegen jede Anfechtung sicherzustellen, macht sie aus ihr die äußerliche Belehrung durch eine Autorität, an deren unbedingter Zuverlässigkeit auch nicht gezweifelt werden darf. Damit vergewaltigt sie das natürliche Recht der Frage; und wo diese sich nicht ganz unterdrücken läßt, gibt sie ihr eine ganz schiefe Richtung: statt auf den materialen und formalen Wert der gebotenen Belehrung vielmehr auf die Legitimität der lehrenden, nein, dekretierenden Autorität. Wer dies als Mißstand fühlte, suchte die Hilfe darin, daß er sich den harten Gehorsam des Glaubens durch Gründe erleichterte. Aber er gefährdete seinerseits die Redlichkeit des Denkens, indem er der Gewißheit des Glaubens, auf die er doch nicht verzichten wollte, unter der Hand eine bloße Wahrscheinlichkeit unterschob. Dies etwa ist das Verhältnis von religiösem Glauben und philosophischem Denken, das uns eben aus Lessings Schriften entgegentritt.

Wie ist nun der Knabe Lessing in das christliche Dogma eingeführt worden? Ist ihm die orthodoxe Auffassung des Glaubens in ihrer ganzen Härte aufs Gewissen gelegt worden? Hat sich sein jugendliches Gemüt willig in den Gehorsam des Glaubens gefügt oder sich dagegen empört? Darüber haben wir keine unmittelbare Nachricht; dagegen können wir eine allerdings nicht sehr bestimmte Antwort auf diese Fragen erschließen.

Lessing hat bis in seine letzten Kämpfe hinein eine gewisse Achtung vor der Orthodoxie behalten, ja diese dauernd aller Vermittlungstheologie bei weitem vorgezogen. Die sachlichen Gründe hiefür, die sich ja erst später geltend machen konnten, werden wir an seinem Orte aufweisen. Seine Stellung zur Orthodoxie hatte aber gewiß auch den persönlichen Grund, daß er sie in seinem Vater hatte achten müssen. Dieser hat als theologischer Schriftsteller, und somit gewiß auch als Prediger und Lehrer, die lutherische Orthodoxie vertreten, doch ohne Fanatismus. Die Verteidigung der Glaubenswahrheiten, die in Gottes Wort gegründet sind und einen unstreitigen Einfluß auf das tätige Christentum haben, hält er für das Hauptwerk des echten Gottesgelehrten. Aber man soll im Kampfe diese wesentlichen Punkte von den unwesentlichen unterscheiden und auf letzteren nicht bestehen; man soll des Gegners Worte nicht verdrehen, ihn nicht mit sektiererischen Namen belegen, keine personalia in die Widerlegung mischen, an ihm loben, was zu loben ist, überhaupt die allgemeine Höflichkeit nicht vergessen. Die um sich greifende »ungemessene Freiheit und unverschämte Frechheit, von göttlichen und geistlichen Dingen zu schreiben, was man will«, konnte er natürlich nur verurteilen. Auch machte ihm ja später des Sohnes religiöse Stellung schwere Sorgen. Doch ist nicht anzunehmen, daß er diesem den Glauben wesentlich unter dem Gesichtspunkt des pflichtmäßigen Gehorsams anbefohlen habe. Das ließ er wohl auch mit einfließen; aber es kann ihm nicht der Angelpunkt der religiösen Unterweisung gewesen sein.

Auffällig ist nun, daß die wichtigsten Dogmen des Luthertums in dem Sohne einen dauernden Eindruck nicht hinterlassen haben: die Lehre von Sünde und Gnade, Rechtfertigung und Versöhnung. Wir haben von Lessing keine tiefer gehende Äußerung über diese zentralen Wahrheiten. Sollte sie schon der Vater in seiner Unterweisung haben zurücktreten lassen? Gewiß nicht; aber sie erweckten in dem Knaben kein Echo. Seinem Gemüt scheint der Glaube an die göttliche Vorsehung genügt zu haben, den er in seinen früheren Briefen öfter, auch später noch je und je zum Ausdruck bringt. Unter welchen Bedingungen er sich eines gnädigen Gottes getrösten dürfe, war ihm keine praktische Frage. Selbstquälerische Bekümmernis um das Heil seiner Seele lag nicht in seiner Natur. So ist ihm ein »Bußkampf« fremd geblieben; die Dreieinigkeitslehre hat ihn lebenslang mehr interessiert als die Heilsordnung.

 

2.

Das erste Produkt von Lessings Feder, das wir haben, ist eine Glückwünschungsrede, die der noch nicht vierzehnjährige auf den Eintritt des Jahres 1743 von der Fürstenschule zu Meißen aus für den Vater schrieb (14,135 ff.). Sie bestätigt uns, daß sich weder sein Gemüt noch sein Verstand damals durch ein Dogma bedrückt fühlte. Sie läßt aber auch bereits erkennen, daß seine Orthodoxie gefährdet ist. Er beweist, gegen unglückliche Toren, die die Vergangenheit als eine goldene Zeit mit seufzender Stimme anpreisen, daß ein Jahr dem andern gleich sei. Dafür glaubt er sich auf den deutlichen Ausspruch der gesunden Vernunft, auf das göttliche Zeugnis der heiligen Schrift, auf den unverwerflichen Beifall der Erfahrung berufen zu können. »Niemand leugnet«, daß der Schöpfer der Welt eine in ihrer Art größte Vollkommenheit anerschaffen habe; »wir wissen und empfinden es«, daß Gott auch der Erhalter aller Dinge ist; daraus folgt, daß die Welt, so lange sie nach des Schöpfers Willen bleiben soll, keine Hauptveränderung leiden könne. Demgemäß haben auch die Menschen ihre Natur niemals verändert. Das scheint der »deutliche Ausspruch der gesunden Vernunft« zu sein, auf den er seine Behauptung stützt. Aus der Schrift wird Salomo als Zeuge angerufen, »durch welchen uns Gott den Prediger aufzeichnen lassen«: er versichert, daß nichts Neues unter der Sonne geschehe. »Sollte sich aber auch jemand finden, welcher sich nicht scheute, Vernunft und Schrift in Zweifel zu ziehen, so würde sich doch niemand getrauen, der Stimme der Erfahrung zu widersprechen.« Landplagen, die entstehen, sind kein Gegenbeweis: da oder dort finden sie sich jedes Jahr; und sie sind ein Mittel, wodurch die weiseste Vorsehung Gottes die Welt in ihrer Vollkommenheit zu erhalten pflegt. Wenn aber Paulus geweissagt hat, daß in den letzten Tagen greuliche Zeiten kommen werden, so führt er doch lauter solche Laster an, die nicht neu, sondern alt sind. »Der heilige Gesandte Gottes sagt nichts mehr, als daß die Tage des Neuen Bundes ebensowenig als die Tage des Alten Testaments von allen Irrtümern, Lastern und bösen Menschen frei sein würden.« – Bringen wir auch in Anschlag, daß das Thema, das der junge Redner behandelt, ihm keine Veranlassung gibt, ein vollständiges Glaubensbekenntnis abzulegen, so sind seine Ausführungen doch nicht ohne theologisches Interesse. Die Lehre von der Schöpfung und Erhaltung hat er der Vernunft übertragen. Die Schrift wird als Wort Gottes im Sinne der Verbalinspiration anerkannt, aber was sie über die letzten Dinge sagt, keck umgedeutet. Daß über Vernunft und Schrift die Erfahrung gestellt wird, mag bloß rednerische Wendung sein; doch drückt sich der junge Lessing mindestens sehr unvorsichtig aus.

Die Sprache verrät, wo er diese Art des Raisonnements gelernt hat: in der Schule der Leibnizisch-Wolffischen Philosophie. Da diese von wesentlichem Einfluß auf seine geistige Entwicklung geworden ist, mögen hier einige Bemerkungen über sie eingeschoben werden, die dem Verständnis Lessings dienen. Dabei halten wir uns an Leibniz, dessen große Art zu denken Lessing bald der Pedanterie Wolffs entschieden vorgezogen hat. Die Hauptsache aber ist für uns Leibnizens Verhältnis zum christlichen Dogma.

In seiner Philosophie sind drei verschiedenartige Bestandteile zu unterscheiden: die Forderung völliger Bestimmtheit der Begriffe und strenger Beweisführung; die Erklärung der Welt als eines Komplexes von Monaden, die in einer prästabilierten Harmonie miteinander stehen; die Beurteilung dieser Welt als der besten aller möglichen Welten, und die Rechtfertigung dieses Urteils in der Theodicee. Nun ist das Drängen auf Stringenz des Beweises dem Dogma so lange ungefährlich, als nicht behauptet wird, daß alle Wahrheit dem bloßen Verstand müsse anbewiesen werden können. Leibniz räumt ausdrücklich ein, daß es übervernünftige, also der Vernunft nicht zu beweisende Wahrheiten gebe; nur widervernünftig könne die Wahrheit nicht sein. Und er selbst bemüht sich um den Nachweis, daß die Geheimnisse des christlichen Glaubens nicht widervernünftig seien. Die Monadenlehre ist an sich religiös indifferent; zudem hat Leibniz das Verhältnis der Einzelmonade zur Urmonade ziemlich genau dem Verhältnis des Menschen zu Gott nachgebildet, wie die Dogmatik es bestimmte: die Monade hängt von nichts anderem als von Gott und sich selbst ab. Die »prästabilierte Harmonie« ist nur eine philosophische Umschreibung des »ewigen Ratschlusses« Gottes. Sie erscheint völlig unanstößig, da Leibniz auch das Wunder in sie aufgenommen hat. Der Optimismus ist eine unmittelbare Konsequenz der Schöpfung aus nichts; und da die Theodicee nur die Rechtfertigung des Optimismus ist, so sollte auch gegen sie nichts einzuwenden sein. Es ist also wohl zu begreifen, daß Leibniz sich auf die Rechtgläubigkeit seiner Philosophie etwas zu gute tat. Und doch war das Mißtrauen der Theologen durchaus berechtigt, die von ihr eine Schädigung des rechten Glaubens befürchten.

Leibniz beweist in seiner Theodicee weit mehr, als der gläubige Christ gutheißen kann. Für diesen war die Welt die beste aller möglichen Welten – vor dem Fall; und wird wieder die beste sein – wenn nach endgültiger Überwältigung des Satans ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen wird. Aber diese Welt, in der wir leben, mit Sünde und Übel, ist für ihn mit nichten die beste, sondern liegt im argen. Darum ist es mit der Erlösung und Versöhnung ein Ernst; ein ganz anderer Ernst, als in dem natürlichen Wunsche liegen kann, für seine Person von dem Übel und der Sünde befreit zu werden, die doch zur besten Welt gehören. So wird der fromme Christ auch in der Ethik Leibnizens den rechten Ernst vermissen. Daß Leibniz uns mahnt, nach Vollkommenheit zu streben, kann er ja nur billigen. Aber er muß doch hinzufügen, daß Gott uns nicht unserem etwaigen Verlangen nach Vollkommenheit überläßt, sondern uns seinen Willen kundgibt und Gehorsam heischt. Darum ist die Sünde nicht nur eine immer verzeihliche Unvollkommenheit, sondern unverzeihlicher Ungehorsam und heischt Sühne; – worin sich wieder verrät, daß sie nicht etwa in der besten Welt, als Bedingung höherer Vollkommenheiten, eine berechtigte Stelle hat, sondern einfach nicht sein sollte.

Diese Minderung des Ernstes folgt auch aus der »prästabilierten Harmonie«, die sonst für Leibniz so bequem ist, mit dem Christentum in Harmonie zu bleiben. In sie kann er alle Wunder der Heilsgeschichte und Heilsordnung aufnehmen; und durch sie verliert das Wunder allen praktisch-religiösen Wert. So wird nicht bloß der orthodoxe Theologe, sondern auch der einfache Christ urteilen. Ist alles, was in der Zeit geschieht, von Ewigkeit her notwendig geordnet, so kann dem keine entscheidende Bedeutung zukommen, wie ich mich jetzt zu Gott stelle; in der Zeit entfaltet sich dann nur, was immer schon ist, wird also nichts, entscheidet sich nichts. Der Ernst christlich-kirchlicher Frömmigkeit ruht aber darauf, daß ich jetzt in der Zeit durch eine von der Kirche vermittelte Verständigung mit Gott über mein ewiges Heil entscheide. Darum ist es eine kritische Frage für mich, ob ich Buße tun, glauben, mich der durch die Kirche dargebotenen Gnadenmittel bedienen will. Der religiöse Wert des Wunders ist, daß es dem ewigen Gott ein entscheidendes Eingreifen in die Zeit vorbehält. Fällt dieses überhaupt weg, so ist es eine gleichgültige theoretische Frage, ob Gott für sein zeitliches Wirken die reine Durchführung fester Regeln oder auch Ausnahmen von den allgemeinen Gesetzen vorgesehen hat. Da die Ausnahme von Ewigkeit her in die prästabilierte Harmonie alles Geschehens aufgenommen ist, kann ich ihr Eintreten immer nur nachträglich feststellen, nie darauf rechnen, noch weniger sie durch Einwirkung auf Gott herbeiführen. Sie hat also für mein Verhältnis zu Gott keine praktische Bedeutung.

Auch das Dogma wird als übervernünftige Wahrheit, die nur nicht widervernünftig sein darf, schwerlich lange seine praktische Bedeutung behaupten. Die übervernünftige Wahrheit wird meine subjektive Überzeugung durch das Gewicht der Autorität, die sie mir als Wahrheit mitteilt; die vernünftige Wahrheit ist subjektive Überzeugung durch die Evidenz, die sie selbst für mich hat. Wenn mir nun das Recht zugestanden, ja die Pflicht auferlegt wird, mich erst davon zu überzeugen, daß die übervernünftige Wahrheit nicht widervernünftig sei, so ist das unbedingte Übergewicht der Autorität über mein subjektives Denken bereits aufgegeben. Indem ich aber untersuche, ob ich nicht gegen die angebliche übervernünftige Wahrheit als widervernünftig Einspruch erheben muß, verschiebt sich naturgemäß der Schwerpunkt meiner Überzeugung aus deren übervernünftigem Teil in den vernünftigen. »Übervernünftig« war nach dem Bewußtsein jener Zeit das Geheimnis der Trinität, die Heilsgeschichte, die Heilsordnung, »vernünftig« das Dasein Gottes als des vollkommensten Wesens, die Vorsehung, die Unsterblichkeit. Leibniz leitete darauf hin, daß man mit der »natürlichen« Theologie lebte und mit der »geoffenbarten« sich abfand. Er selbst hat in seiner »Theodicee« schon diesen Standpunkt eingenommen. Der Christ, der in der Heilswahrheit lebt, hat seine Theodicee in der Heilsgeschichte und Heilsordnung; wer daneben noch nach Gründen sucht, warum Gott in seiner besten Welt Übel und Sünde habe wollen oder doch zulassen können, verrät, daß er zu der Heilswahrheit nur noch ein äußerliches Verhältnis hat. Da nun aber zwischen Übervernünftigkeit und Widervernünftigkeit keine sichere Grenze zu ziehen ist, so wird, bei fortschreitender Erkältung gegen das Dogma, bald als widervernünftig verworfen werden, was man erst noch als übervernünftig gelten ließ. Und so geschah es denn auch.

Leibniz hat freilich nur gewisse Ansätze, die schon im orthodoxen Lehrbegriff lagen, konsequenter weitergeführt als die Dogmatik, und die letzte Konsequenz sogar immer wieder zurückgenommen. Die Orthodoxie hatte die natürliche Theologie in ihr System aufgenommen, lehrte die Unfreiheit des natürlichen Menschen zum Guten, ließ das Heil der ganzen Menschheit und des einzelnen Menschen in einem ewigen Ratschluß begründet sein. Sie hatte also der verdorbenen Vernunft doch nicht jedes Recht abzusprechen vermocht; wer die Freiheit zum Guten leugnet, muß die Notwendigkeit der Sünde anerkennen, also den freien Willen überhaupt verwerfen; wenn man mit der Prädestination nicht bloß spielte, mußte sie als strenge Prädetermination gedacht werden. Aber es ist der Orthodoxie wesentlich, daß sie, um dem kirchlichen Leben seinen Ernst zu wahren, mit der heiligen Schrift den Standpunkt der Betrachtung abwechselnd bald in der Ewigkeit, bald in der Zeit nimmt: daß sie inkonsequent ist. Die Philosophie steht und fällt mit dem Recht (nein: der Pflicht) der Konsequenz. Soweit Leibniz konsequent ist, ist er Ketzer; seine freundliche Stellung zum Dogma konnte er nur dadurch wahren, daß er auf dessen Inkonsequenz einging.

In der Fürstenschule zu Meißen herrschte ein durchaus kirchlicher Geist. Wenn Lessing dort durch einen seiner Lehrer mit der Leibnizisch-Wolffischen Philosophie bekannt gemacht wurde, so wurde sie gewiß nicht in Gegensatz zu dem orthodoxen Dogma gestellt. Die Bestimmtheit der Begriffe, die Strenge der Beweisführung, auf welche sie hielt, konnten ja auch der Verteidigung des rechten Glaubens dienen. Aber die Wirkung eines geistigen Ferments ist nicht an die Absicht dessen gebunden, der es in den Menschen bringt. Erwachte in Lessing das Selbstgefühl des eigenen Denkens und der Sinn für strenge Folgerichtigkeit, so mußte die latente Spannung zwischen dem übernommenen Glauben und der zunächst auch nur angelernten Philosophie zum offenen Widerstreit werden. Damit aber, daß die Lehre von Sünde und Gnade, also die eigentliche Heilswahrheit, die nur auf Autorität der Offenbarung geglaubt werden kann, seinem Gemüt einen tieferen Eindruck nicht gemacht hatte, war schon entschieden, auf welche Seite er sich schlagen mußte.

 

3.

Im Herbst 1746 bezog Lessing, siebzehnjährig, die Universität Leipzig, um Theologie zu studieren. Erst lebte er dort einige Monate so eingezogen wie nur je in Meißen seinen Büchern. Dann entdeckte er, daß er auf diese Weise ein Mensch, der in die Welt tauge, nicht werde. Und da ihm dies wichtiger schien als der Erwerb bloßer Büchergelehrsamkeit, so beschloß er die versäumte Ausbildung seines Körpers nachzuholen und sich anzueignen, was das gesellschaftliche Leben erfordere. Damit verteidigte er später die Wandlung, die mit ihm vorgegangen, gegen seine Mutter; wahrscheinlich ist die Sache etwas natürlicher zugegangen: er gebrauchte die größere Freiheit, die er nun hatte, instinktiv; und so sehr er die Bücher liebte, schien ihm die wirkliche Welt jetzt doch interessanter. Zugleich bot sich ihm die Gelegenheit, mit seinem poetischen Talent, das sich schon in Meißen geregt hatte, vor die Öffentlichkeit zu treten. Also dichtete er anakreontische Lieder und schrieb Komödien, besuchte das Theater und knüpfte sogar Beziehungen zu Schauspielern an; ja, er hatte das Glück, seinen »jungen Gelehrten« unter lebhaftem Beifall aufgeführt zu sehen. Aber seinen Eltern flößte dieses Leben ängstliche Sorge um sein zeitliches und ewiges Heil ein. Er wurde nach Hause gerufen. Was da alles zwischen ihm und den Eltern zur Sprache kam, wissen wir nicht genau. Das Ende war, daß er die Theologie mit der Medizin vertauschen durfte; auch sollte er daran denken, sich auf ein Schulamt vorzubereiten. Aber in Leipzig, wohin er zurückkehrte, war seines Bleibens nicht mehr lange. Durch eigenen und fremden Leichtsinn geriet er in schwere Geldverlegenheit. Ohne erst die Erlaubnis der Eltern einzuholen ging er noch 1748 nach Wittenberg und dann nach Berlin, wo er sich mit seiner Feder sein Brot zu verdienen gedachte. Er war nun frei – frei wie der Vogel auf dem Zweig.

In diesen zwei Jahren hat sich nicht nur sein äußeres, sondern auch sein inneres Schicksal entschieden. Aus seinen Briefen an die Eltern sehen wir, daß diese ihn glaubten als einen Abgefallenen beklagen zu müssen, der mit seinem Christentum auch allen sittlichen Halt verloren habe. Und er kann ihnen nicht einfach widersprechen. Er kann sie nur bitten, sich mit ihrem Urteil nicht zu übereilen; und er ist zugleich ehrlich und stolz genug, daß er ihnen keine Hoffnung macht, er werde sich bekehren. Im Gegenteil: er ist in seinen eingestandenen Zweifeln seines guten Rechts so sicher, daß er sogar schon zum Angriff auf die »gläubigen« Christen überzugehen wagt. »Die Zeit soll es lehren, ob ich Ehrfurcht gegen meine Eltern, Überzeugung in meiner Religion, und Sitten in meinem Lebenswandel habe. Die Zeit soll lehren, ob der ein besserer Christ ist, der die Grundsätze der christlichen Lehre im Gedächtnisse und oft ohne sie zu verstehen im Munde hat, in die Kirche geht und alle Gebräuche mitmacht, weil sie gewöhnlich sind; oder der, der einmal klüglich gezweifelt hat und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangt ist, oder sich wenigstens noch dazu zu gelangen bestrebet. Die christliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treu und Glauben annehmen soll. Die meisten erben sie zwar von ihnen, ebenso wie ihr Vermögen, aber sie zeugen durch ihre Aufführung auch, was vor rechtschaffene Christen sie sind. So lange ich nicht sehe, daß man eines der vornehmsten Gebote des Christentums, seinen Feind zu lieben, nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Christen sind, die sich davor ausgeben« (an den Vater, 30. Mai 1749).

Wie aber ist er nun in seine religiösen Zweifel hineingekommen? Daß er sich frei entschlossen habe, »klüglich« zu zweifeln, um zu einer gegründeten religiösen Überzeugung zu kommen, ist natürlich nicht anzunehmen; so gibt niemand einen religiösen Glauben auf, und wenn er ihn nur eben seinen Eltern und Lehrern geglaubt hätte. Was ist ihm an seinem Christentum zuerst zweifelhaft geworden? Die Wunder? die Geheimnisse? die Inspiration der Schrift? Wir wissen es nicht. Wie hat er den Mut gewonnen, den Gehorsam des Glaubens, der ihm zur Pflicht gemacht worden war, aufzukündigen? Auch darüber haben wir keine Kunde. Nur das dürfen wir aus den wohl abgewogenen Worten, die ich eben zitierte, schließen, daß er nicht kurzer Hand einen Sprung aus dem Glauben in den Unglauben, aus der Bejahung in die Verneinung gemacht hat. Er will durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangen, hält sich also, bis er die Untersuchung abschließen kann, in der Schwebe. Oder vielmehr: er wird, ob er will oder nicht will, durch das Für und Wider in Sachen der Religion, speziell des Christentums, in der Schwebe gehalten. Das hat er uns in einem Rückblick aus viel späterer Zeit (1779) höchst anschaulich geschildert. Der bessere Teil seines Lebens, erzählt er, sei in eine Zeit gefallen, da Schriften für die Wahrheit der christlichen Religion gewissermaßen Modeschriften waren. Also habe auch er nicht ruhen können, bis er jedes neue Produkt dieser Art verschlungen gehabt. Natürlich habe er bald auch jede Schrift wider die Religion ebenso begierig aufgesucht, habe ihr eben dasselbe unparteiische Gehör geschenkt. Keine habe ihn ganz befriedigt; und so sei er, wie so mancher andre, von einer Seite zur andern gerissen worden. Dann aber passierte ihm etwas ganz Absonderliches. »Je zusetzender die Schriftsteller von beiden Teilen wurden, desto mehr glaubte ich zu empfinden, daß die Wirkung, die ein jeder auf mich machte, diejenige gar nicht sei, die er eigentlich nach seiner Art hätte machen müssen. War mir doch oft, als ob die Herren die Waffen vertauscht hätten! Je bündiger mir der eine das Christentum erweisen wollte, desto zweifelhafter ward ich. Je mutwilliger und triumphierender mir es der andere ganz zu Boden treten wollte, desto geneigter fühlte ich mich, es wenigstens in meinem Herzen aufrecht zu erhalten.« (16, 475 f.)

Wir wissen also nicht, wie Lessing in religiöse Zweifel hineingeraten ist, dagegen haben wir einige gleichzeitige Zeugnisse (aus den Jahren vor 1753) darüber, wie er durch sie hindurch zu einer sicheren, eigenen Überzeugung gelangen wollte. Es sind dies Bruchstücke einiger religiösen Gedichte (die menschliche Glückseligkeit; die Religion) und »das Christentum der Vernunft«. Also überhaupt nur Fragmente. Das hat gewiß nicht bloß den äußerlichen Grund, daß ihm Zeit und Lust zur Vollendung ausging; vielmehr liegt die Vermutung sehr nahe, daß er innerlich mit den aufgenommenen Problemen nicht fertig wurde. Da diese Bruchstücke auf lange hin Lessings einzige, direkte, bekenntnisartige Äußerungen über Fragen der Weltanschauung sind, erfordern sie eine eingehendere Betrachtung. Und zwar haben wir nicht bloß zu beachten, was er sagt, sondern auch was er nicht sagt; nicht bloß, wohin er strebt, sondern auch wie weit er kommt.

In dem »Christentum der Vernunft« (14, 175 ff.) nimmt er einen Anlauf, sich das christliche Dogma mit Hilfe der Leibnizschen Begriffe zuzueignen. Er bestimmt Gott als das einzige vollkommenste Wesen, zu dessen Vollkommenheit gehört, daß es seine Vollkommenheit auch vorstellt und daß Vorstellung, Wollen und Schaffen bei ihm eins ist. Gott denkt seine Vollkommenheit von Ewigkeit her einheitlich, schafft dadurch ein vollkommenes Abbild seiner selbst, mit dem ihn die vollkommenste Harmonie verbindet: dies ist der Sinn, die Wahrheit seiner Dreieinigkeit. Gott denkt sich (von Ewigkeit her? in der Zeit?) seine Vollkommenheit zerteilt und schafft so eine Welt (die vollkommenste, die sich denken läßt) »eingeschränkter Götter«: einfache Wesen, die in unendlicher, stetig aufsteigender, doch nie ihn erreichender Reihe seine Vollkommenheit wiederholen; die in Harmonie miteinander stehen, weil jedes etwas hat, was die andern haben, keines etwas haben kann, das die andern nicht hätten. Es ist die Aufgabe der Naturlehre, dies im Laufe der Jahrhunderte im einzelnen zu verifizieren. Diese eingeschränkten Götter haben, wie der unendliche Gott, ein Bewußtsein ihrer Vollkommenheit, aber natürlich ein in verschiedenem Grade eingeschränktes, und die Fähigkeit, derselben gemäß zu handeln. Sie können also einem Gesetz folgen, das aus ihrer eigenen Natur genommen sein muß und kein anderes sein kann als: »handle deiner individualischen Vollkommenheit gemäß.« Lessing bricht mit den Worten ab: »Da in der Reihe der Wesen unmöglich ein Sprung stattfinden kann, so müssen auch solche Wesen existieren, welche sich ihrer Vollkommenheit nicht deutlich genug bewußt sind« …

Die weitere Entwicklung dieses »Christentums der Vernunft« hat Lessing in der Feder behalten. Wir wissen nur noch, daß er jetzt (wie auch aus der ganzen Anlage zu erschließen ist) auf den Ursprung des Übels und der Sünde kommen wollte. Aber darin lag wirklich für ihn eine unüberwindliche Schwierigkeit. Er hatte etwas zu stark (stärker als sein Meister Leibniz) zugegriffen, indem er in Gott Vorstellung, Wollen und Schaffen zusammenfallen ließ. Bedeutet die Schöpfung der Welt nichts anderes, als daß Gott seine Vollkommenheit zerteilt denkt, so ist nicht einzusehen, wie das Geschöpf sich von Gott ablösen, ihm gegenübertreten könne: es ist auch gar keine Möglichkeit vorhanden, daß es in einen wirklichen Widerspruch mit sich selbst und andern Geschöpfen komme. Das undeutlichste Bewußtsein seiner Vollkommenheit bleibt doch Bewußtsein einer Vollkommenheit, sollte also Glück sein, nicht Leiden; und seiner Vollkommenheit gemäß handeln sollte doch unter allen Umständen gut sein. Nur darunter könnte ein Geschöpf leiden, daß es außer sich Vollkommenheit entdeckte, die es in sich nicht bemerkt; und nur das könnte man etwa einem Geschöpf zum Vorwurf machen, daß es nur gemäß der eigenen, nicht gemäß einer höheren, fremden Vollkommenheit handelte. Aber das wäre ja Unsinn. Übel und Sünde sind also bloßer Wahn, wesenloser Schein; sie folgen daraus, daß das Geschöpf, durch die Phantasie verführt, in der genießenden und fordernden Wertung seiner selbst und andrer über das schaffende Denken Gottes hinausschweift. Und dann bleibt immer noch die Frage, wie sich diese böse, unsolide Phantasie zum reellen Denken Gottes verhält. Lessing kann also Übel und Sünde nicht erklären. Seine Rationalisierung des Christentums aber möchte, wenn er sie weiter fortsetzt, auf die Aufhebung desselben, als einer Religion der Erlösung und Versöhnung, hinauslaufen. Darum muß er wohl oder übel abbrechen.

Den entgegengesetzten Weg geht er in der Dichtung »die Religion« (1, 255 ff.), um an derselben Klippe zu scheitern, nur von der andern Seite her. Er faßt darin die Zweifel, welche wider alles Göttliche aus dem innern und äußern Elend der Menschheit gemacht werden können, in ein Selbstgespräch zusammen, welches er, an einem einsamen Tage des Verdrusses, in der Stille geführt habe. Das Schlimmste in dem Schicksal des Menschen ist für ihn, daß uns, wenn wir endlich zur Fähigkeit der Wahl herangereift sind, schon bestimmt ist, in der Wahl zu fehlen, daß wir also mit aller Begeisterung für die Tugend es nicht höher bringen als zum leeren Wunsch.

Solch einen heißen Wunsch, solch marternd Unvermögen,
Die kann ein Gott zugleich in meine Seele legen?
Ein mächtig weiser Gott! Ein Wesen ganz die Huld!
Und richtet Zwang als Wahl und Ohnmacht gleich der Schuld?
Und straft die Lasterbrut, die es mir aufgedrungen,
Die ich nicht müde rang, und die mich lahm gerungen.
O Mensch, elend Geschöpf! Mensch, Vorwurf seiner Wut!
Und doch sind, was er schuf, du und die Welt sind gut?

»Man stoße sich hier an nichts«, warnt uns der Dichter in einer Vorbemerkung; »alles dieses sind Einwürfe, die in den folgenden Gesängen widerlegt werden, wo das geschilderte Elend selbst der Wegweiser zur Religion werden muß.« Aber diese folgenden Gesänge sind nie erschienen. Es ist nicht schwer zu erkennen, warum. Wollte Lessing seine angebliche Erfahrung nicht später als poetische Übertreibung behandeln und so stark einschränken, daß die behauptete Unfreiheit zum Guten so gut wie zurückgenommen war, so mußte er zugestehen, daß für Gott das Laster Mittel zum Zweck sein könne, durfte es also nicht mehr als eine Ungehörigkeit auffassen, die einfach nicht sein sollte. Vor dieser Lösung der Schwierigkeit bebt er aber zurück, wie er auch die Freiheit, an die er nicht glaubt, doch nicht aufgeben kann. Das verrät sich deutlich in dem Fragment über die menschliche Glückseligkeit (1, 238). Er wendet sich darin gegen starke Geister, die die Freiheit für einen Traum erklären; die in den durch das Sittengesetz gezogenen Schranken nur ein »beglaubtes Nichts« sehen; die den tugendhaften Epiktet so wenig rühmenswert finden, als den Dieb Cartusch tadelnswert: weil die Natur uns gut und lasterhaft erschaffe, wie sie uns unsere Stärke und Schwäche zumißt; weil das leere Wort: »ich wollte« nur eine Erfindung menschlichen Stolzes sei. Aber ihm erscheint dieser entschlossene Determinismus unlöslich verbunden mit einem mechanischen Materialismus:

die Seele wird ein Ton,
Und meint man nicht das Hirn, versteht man nichts davon;

auch glaubt er die Konsequenz des frechsten sittlichen Libertinismus nicht abwehren zu können:

Wer tut, was ihm gefällt, tut das, was er tun sollte.

Und darum kann er von diesen starken Geistern nichts lernen, an ihnen sich nur ein abschreckendes Beispiel nehmen:

Wer glaubte, daß ein Geist, um kühn und neu zu denken,
Sich selber schänden kann und seine Würde kränken? –

Doch dürfen wir die Not, in die Lessing durch seine religiösen Zweifel gebracht wurde, nicht überschätzen. Es scheinen durch seine Klagen über die angeborne Verderbnis des menschlichen Herzens allerdings auch persönliche Erfahrungen durch (so die Eifersucht auf Klopstock: »die Religion«, v. 295 ff.); aber die Glut der Farben entlehnt er von dem Apostel Paulus, und beklemmt fühlt sich mehr sein Verstand als sein Gemüt. Er gewinnt denn auch die Zuversicht seines Gottesglaubens auf leichte Weise durch das abstrakteste, unfruchtbarste Argument zurück, das ihm die Philosophie darreichte:

Gnug, wer Gott leugnen kann, muß sich auch leugnen können.
Bin ich, so ist auch Gott. Er ist von mir zu trennen,
Ich aber nicht von ihm. Er war, war ich auch nicht,
Und ich fühl was in mir, das für sein Dasein spricht.

Die Qual des Zweifels war also für ihn noch auszuhalten. Darum kommt es ihm nicht in den Sinn, zu der Autorität zurückzufliehen; wie er sich ja auch kein Gewissen daraus macht, durch seine Konstruktion der Trinität mit der bloßen Vernunft auf das Gebiet der Offenbarungswahrheit überzugreifen. Wir haben keine Spur davon, daß er seinen Zweifeln durch die üblichen Beweise für die Göttlichkeit der Bibel zu begegnen gesucht hätte. Für sein persönliches Bedürfnis genügt ihm offenbar, daß er den christlichen Vorsehungsglauben, den er in seinen Briefen je und je, doch vorsichtig An die Mutter, 20. Jan. 1749: »Ich ward krank. Ich bin mir selbst niemals zu einer unerträglicheren Last gewesen, als damals. Doch ich hielt es einigermaßen vor eine göttliche Schickung, wenn es nicht was Unanständiges ist, daß man auch in solchen kleinen und geringen Sachen sich auf sie berufen will.«, bekennt, mit dem Leibnizschen Optimismus verschmilzt. Diesem aber gibt er eine Wendung, durch die er erst praktisch verwertbar ist, also erbauliche Kraft bekommt. Sie ist zu charakteristisch für Lessing, als daß wir sie übergehen dürften.

Wie es scheint, will er nämlich nicht selbst das Urteil auf sich nehmen, daß diese Welt die beste aller möglichen Welten sei. Aber er spricht dem Geschöpf die Fähigkeit ab, an der bestehenden Welt eine richtige Verbesserung vorzuschlagen. Dieser Gedanke ist ihm wichtig genug, daß er ihn, mit verschiedener Nüancierung, in einer Reihe von Fabeln veranschaulicht. Zwei derselben gehören der Zeit vor 1753 an: vom blinden Maulwurf (1, 237 f.); die Esel (1, 210); andre sind erst in der Sammlung seiner Fabeln 1759 veröffentlicht worden und bezeugen also, daß ihn diese Idee fortdauernd beschäftigt: Zeus und das Pferd; Zeus und das Schaf; die Ziegen (1, 177; 213 f.; 216). Doch darf das Geschöpf, das dem Schöpfer gegenüber sich mit gutem Grunde der Zurückhaltung befleißigt, sich gegen das Mitgeschöpf wohl in seinem Werte fühlen (der Rangstreit der Tiere, 1, 221 f.). Zum Begriff des »moralischen Wesens« gehört ja, daß es Vollkommenheiten hat, seiner Vollkommenheiten bewußt ist, und das Vermögen besitzt, ihnen gemäß zu handeln; und seine individualische Vollkommenheit in Tat umzusetzen, ist das ganze moralische Gesetz. Daß diese Gedanken für ihn auch praktische, erbauliche Wahrheit waren, beweist sein schönes Wort, das aus jener Zeit stammt (1, 131):

»Weiß ich nur, wer ich bin!«

 

4.

Indem Lessing dem Autoritätsglauben absagte, hat er sich nicht nur einiger gleichgültigen Glaubenssätze entledigt, sondern seine ganze Auffassung des Lebens geändert. Darauf deuten schon die Fragmente hin, die ich eben besprochen. Einen tieferen Einblick in diese Wandlung gewähren uns seine gleichzeitigen Dichtungen, und noch mehr die Art, wie er sie brieflich gegen den Vater und öffentlich in seinen Schriften in Schutz nahm. Seinen Versen auf Liebe und Wein, Küssen und Trinken, die in der Tat öfter einen ziemlich leichtfertigen Ton anschlagen, scheint der Vater einen recht unangenehmen Titel gegeben zu haben. Das machte dem Sohn einen tieferen Eindruck als die Klagen über seinen Unglauben; er läßt sich also öfters herbei, sich und seine Schriften gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit zu verteidigen, und offenbart dadurch freilich nur, daß er sich in der Tat von der christlichen Auffassung der Sittlichkeit schon weit entfernt hatte.

Seine anakreontischen Lieder rechtfertigt er gegen den Vater mit den Worten Martials: » vita verecunda est, Musa jocosa mihi«; und versichert: »man muß mich wenig kennen, wenn man glaubt, daß meine Empfindungen im geringsten damit harmonieren.« Nichts als die Neigung, sich in allen Arten der Poesie zu versuchen, war die Ursache ihres Daseins (28. Apr. 1749). Dagegen überläßt er es in der Vorrede zu seinen Schriften dem Publikum, sie für jugendliche Aufwallungen einer leichtsinnigen Moral oder für poetische Nachbildungen niemals gefühlter Regungen zu halten: »Genug, sie sind da; und ich glaube, daß man sich dieser Art von Gedichten so wenig als einer andern zu schämen hat« (5, 34). Trotzdem kommt er in den »Rettungen des Horaz« (5, 282 ff.) noch einmal auf die erotische Dichtung zurück und verteidigt sie nun mit ernsthaften Gründen. Er nimmt als zugestanden an, daß der Dichter die Natur zu schildern habe; daß die Empfindungen der Wollust unter allen diejenigen seien, welche sich der meisten Herzen am leichtesten bemächtigen; daß also der Dichter auf diesem Felde die angenehmsten Blumen für das menschliche Herz suchen dürfe; – für das menschliche Herz, »so wie es ist, und nicht wie es sein sollte; so wie es ewig bleiben wird, und nicht, wie es die strengsten Sittenlehrer gern umbilden wollten.« Dazu fügt er die Anmerkung, es gehöre zur Technik des Dichters, daß er die Empfindungen, die er erregen will, zu haben scheine; daß er scheine, aus der Erfahrung und nicht aus der bloßen Einbildungskraft zu sprechen. Das eben ist sein Geheimnis, daß er die Leidenschaften, die andre nur durch Wirklichkeiten in sich erwecken lassen, durch willkürliche Vorstellungen rege mache. Das mag dem Vater wieder zu seiner Beruhigung andeuten, daß des Sohnes wirkliche Empfindungen mit seinen poetischen Empfindungen nicht zu stimmen brauchen. Aber sollte der Vater darum, und sollte der Sohn übersehen haben, daß diese Rechtfertigung des Dichters einen Bruch mit moralischen Vorurteilen involviert, in denen man wohl auch eben den Ernst des Sittlichen sehen kann? Es darf also der Dichter in seinen Lesern die Empfindungen der Wollust erregen, darf sie, um diesen Zweck sicherer zu erreichen, durch willkürliche Vorstellungen in sich selbst erregen? Er darf mit der Sünde spielen? Gewiß nicht! Vielmehr sind für Lessing die Empfindungen der Wollust offenbar an sich nicht Sünde. Dieses Urteil über die Sinnlichkeit, über das »Fleisch«, hat er nicht aus dem Neuen Testament und nicht aus seinem lutherischen Religionsunterricht, sondern eher aus der Beschäftigung mit der Antike. Er hat in der Stille die lutherische Lehre von der Sünde aufgegeben. Und zugleich die von der Gnade: denn das menschliche Herz wird nach seiner Meinung ewig bleiben, wie es ist; wird nie so werden, wie die Sittenrichter es gern umbilden wollten.

Auf dieselbe Spur führen uns seine Lustspiele. Diese scheinen dem Vater so unangenehm gewesen zu sein wie seine anakreontischen Gedichte. Der Sohn erwidert ihm (28. April 1749): »Den Beweis, warum ein Komödienschreiber kein guter Christ sein könne, kann ich nicht ergründen. Ein Komödienschreiber ist ein Mensch, der die Laster auf ihrer lächerlichen Seite schildert. Darf denn ein Christ über die Laster nicht lachen? Verdienen die Laster so viel Hochachtung?« Die Übersetzung und Würdigung des Plautus in den »Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters« gibt ihm die erwünschte Gelegenheit, diesen Gedanken genauer auszuführen und öffentlich vorzutragen. »Darf denn ein Christ keine Erholung genießen? Ist es denn ein so großer Widerspruch, das Laster verlachen und das Laster beweinen? Ich sollte vielmehr glauben, daß man beides zugleich tun könne. Entweder man betrachtet das Laster als etwas, das unserer unanständig ist, das uns geringer macht, das uns in unzählige widersinnige Vergehungen fallen läßt; oder man betrachtet es als etwas, das wider unsre Pflicht ist, das den Zorn Gottes erregt und uns also notwendig unglücklich machen muß. Im ersten Falle muß man darüber lachen, in dem andern wird man sich darüber betrüben. Zu jenem gibt ein Lustspiel, zu diesem die heilige Schrift die beste Gelegenheit. Wer seine Laster nur beständig beweint und sie niemals verlacht, von dessen Abscheu dagegen kann ich mir in der Tat keinen allzuguten Begriff machen. Er beweint sie nur vielleicht aus Furcht, es möchte ihm übel dabei gehen, er möchte die Strafe nicht vermeiden können. Wer aber das Laster verlacht, der verachtet es zugleich und beweist, daß er lebendig überzeugt ist, Gott habe es nicht etwa aus einem despotischen Willen zu vermeiden befohlen, sondern daß unser eigenes Wohl, unsere eigene Ehre es zu fliehen gebiete« (4, 67 f.). »Ich weiß nicht, mit was für einem Rechte man die oft erzwungene Fertigkeit, bei Anhörung gewisser Worte, bei Erblickung gewisser Gegenstände rot und unwillig zu scheinen, unter die Tugenden setzen kann? Die Schamhaftigkeit in diesem Verstande ist oft nichts als die Schminke des Lasters« (4, 172). Es gibt Leute, »welche die sogenannten anstößigen Stellen in den plautinischen Lustspielen mit gleich unsträflichen Gedanken lesen können als wie etwa die Geschichte der Bathseba.« Denn den Reinen ist alles rein (4, 68). – Uns interessiert hier nicht die Bündigkeit dieser Beweisführung, gegen die sich Erhebliches einwenden ließe; wir weisen wieder nur darauf hin, daß sie eine gründliche moralische Umstimmung des im orthodoxen Luthertum erzogenen jungen Mannes erkennen läßt. Der Christ kann das Laster nicht verlachen, geschweige denn – zur Erholung! – belachen. Er kann es lächerlich finden, als eitle, sinnlose Auflehnung gegen Gottes Willen; aber er kann nicht darüber lachen. Das verbietet ihm nicht die Hochachtung vor dem Laster, aber die Ehrfurcht vor dem heiligen Gott und das Mitgefühl mit dem gefährdeten Menschen. Dem Apostel Paulus ist es, speziell, gar nicht zum Lachen, daß der Christ seinen Leib, der ein Tempel des heiligen Geistes ist, durch Unzucht entweiht; und daß die Heiden in widernatürliche Unzucht versunken sind, ist ihm ein entsetzliches Strafgericht Gottes über sie (1. Kor. 6, 19; Röm. 1, 18-32). Das Lustspiel und das Neue Testament ergänzen sich also nicht so glücklich, wie Lessing meint. Aber für ihn ist der despotische Wille Gottes so stark gemildert, daß man an den Untugenden der Menschen, wie an den Unarten böser Jungen, wohl auch seinen Spaß haben kann; und die Erniedrigung des Menschen durch das Laster scheint ihm auch nicht von dem Belang zu sein, daß man es nur mit einem traurigen Ernst betrachten könnte.

Durch eines seiner Lustspiele glaubte Lessing dem Vater sogar eine richtige Freude zu machen. »Und wenn ich Ihnen nun gar verspräche eine Komödie zu machen, die nicht nur die Herrn Theologen lesen, sondern auch loben sollten? Halten Sie mein Versprechen für unmöglich? Wie, wenn ich eine auf die Freigeister und auf die Verächter Ihres Standes machte? Ich weiß gewiß, Sie würden vieles von Ihrer Schärfe fahren lassen.« (28. Apr. 1749.) Ob er durch seinen »Freigeist« den Vater wirklich begütigt hat, wissen wir nicht; doch ist es nicht eben wahrscheinlich. Er erweist darin den Theologen den freundlichen Dienst, daß er das Vorurteil bekämpft, ein Geistlicher, und namentlich ein frommer, müsse als solcher ein Heuchler sein. Aber einen ähnlichen Dienst erweist er um dieselbe Zeit in einem andern Lustspiel auch den Juden. Somit kann der christliche Pastor so gut ein edler Mann sein wie der Jude, der Jude so gut wie der christliche Pastor; auch in der Tugend, die speziell durch den Mund Christi empfohlen wird, in der Feindesliebe, hat es der Jude so weit gebracht wie der Pastor. Ist also die Frömmigkeit überhaupt eine Voraussetzung der Tugend, so doch nicht die spezifisch christliche Frömmigkeit, so doch nur der allgemeine, unbestimmte Glaube an einen Gott, der die Tugend will und belohnt. Der »Freigeist« beweist also nur, daß Lessing (auch aus Achtung vor dem Vater) nicht aus seinem Vorurteil für das kirchliche Christentum in ein Vorurteil gegen dasselbe übergesprungen ist; nicht mehr. In der Tat ist der Religion, die in dem »Freigeist« verteidigt wird, alle christliche Besonderheit abgestreift. Die fromme Juliane rühmt sie, in Übereinstimmung mit dem frommen Theophan, gegen den Freigeist Adrast in folgender Weise: »Was kann unsere Seele mit erhabenern Begriffen füllen als die Religion? Und worin kann die Schönheit der Seele anders bestehen als in solchen Begriffen? in würdigen Begriffen von Gott, von uns, von unsern Pflichten, von unsrer Bestimmung? Was kann unser Herz, diesen Sammelplatz verderbter und unruhiger Leidenschaften, mehr reinigen, mehr beruhigen, als eben diese Religion? Was kann uns im Elende mehr aufrichten als sie? Was kann uns zu wahrern Menschen, zu bessern Bürgern, zu aufrichtigern Freunden machen als sie?« (IV, 3.) Unter dieser Religion brauchen wir uns nicht eben Christentum vorzustellen, oder gar ein rechtgläubiges Luthertum. Und Lessing hat sich auch nicht versagt, durch den Mund einer seiner Personen über den Wert der wichtigsten theologischen Kontroverse, die die Zeit bewegte, ein höchst leichtfertiges Urteil zu fällen: »Der spricht, die Vernunft ist schwach; und der spricht, die Vernunft ist stark. Jener beweiset mit starken Gründen, daß die Vernunft schwach ist; und dieser mit schwachen Gründen, daß sie stark ist. Kommt das nun nicht auf eins heraus? schwach und stark, oder stark und schwach: was ist denn da für ein Unterschied?« (V, 4.) Der Einfall ist wirklich nicht übel, und es steckt sogar ein Gedanke dahinter; aber es ist doch zu bezweifeln, daß die Herrn Theologen, der Vater Lessing eingeschlossen, sich dieses salomonischen Urteils wirklich gefreut hätten.

Die Religion gibt uns also würdige Begriffe von unsern Pflichten; aber Lessing ist nicht mehr geneigt, in der Pflicht den Gehorsam gegen ein positives göttliches Gebot zu erkennen. Damit ist aber der Pflicht das Rückgrat gebrochen; der strenge, ausschließliche Gegensatz eines Guten, das sein soll, und eines Bösen, das nicht sein darf, läßt sich ohne positives Sittengesetz nicht halten. Und so ist es nicht eben zu verwundern, daß wir in Lessings erstem Trauerspiel (1755) eine weit vorgeschrittene Erweichung der sittlichen Grundsätze vorfinden. Die »Miß Sara Sampson« trieft von Tugendhaftigkeit; trotzdem ist die Grundanschauung, von der das Stück getragen wird, die Lehre, auf die es hinzielt, daß alles verstehen alles verzeihen heißt. Das Urteil des unglücklichen Vaters über den Verführer seiner Tochter, der zugleich die indirekte, aber nicht eben unschuldige Ursache ihres Todes wird, lautet: »Ach, er war mehr unglücklich als lasterhaft.« (IV, 10.) Und mit der Tochter selbst, die sich entführen ließ, rechnet er in folgender Weise ab: »Mache dir aus einer Schwachheit keinen Vorwurf und mir aus einer Schuldigkeit kein Verdienst. Wenn du mich an mein Vergeben erinnerst, so erinnerst du mich auch daran, daß ich damit gezaudert habe. Warum vergab ich dir nicht gleich? Warum setzte ich dich in die Notwendigkeit, mich zu fliehen? … Tadle mich, liebste Sara, tadle mich; ich sahe mehr auf meine Freude an dir als auf dich selbst.« (V, 9.) Man sieht leicht, daß von dieser Versöhnlichkeit auch die teuflische Marwood nicht zurückgestoßen werden könnte, wenn sie nur Versöhnung wollte. Es möchte nicht viel schwerer sein, sie zu entschuldigen, als Mellefont; und der Anfang ihres elenden Lebens mag eine Schwachheit gewesen sein wie bei der Sara. Oder soll ihre Bösartigkeit die entschiedene Verurteilung erfahren, die von Sara und Mellefont durch ihre Gutartigkeit, vielmehr Gutherzigkeit, abgewehrt wird? So wird doch dieser Gutherzigkeit ein Wert beigelegt, der das positive, auf Autorität gegründete Gebot der sittlichen Pflicht völlig entnervt. Wie ja auch Saras Vater auf seine Autorität so gründlich verzichtet, daß er in dem Versuch sie zu behaupten eine größere Schuld sieht, als in der Schwachheit der Tochter. Verallgemeinern wir diesen Gedanken, so entdecken wir als wahren Urheber der Sünde das positive Sittengesetz. Aber Lessing hat diese Konsequenz nicht gezogen und weiter verfolgt, sonst hätte ihm ein Verständnis für die lutherische Heilslehre aufgehen müssen, das ihm lebenslang ferne blieb. So weit trieb ihn sein theologisches, sein religiöses Interesse nicht.

 

5.

Wenn Lessing noch auf dem Wege ist, durch Untersuchung sich erst eine religiöse Überzeugung zu erwerben, so hat er seinen Zeitgenossen keine Wahrheit zu bieten, müßte von ihnen sich vielmehr die Wahrheit geben lassen. Nun verlangte es aber sein journalistischer Beruf, daß er über die religiösen Bewegungen der Zeit schreibe, und dazu trieb ihn auch die eigene Neigung. Er weicht in seinen kritischen Schriften den religiösen Kontroversen so wenig aus, daß er sogar sichtlich die Gelegenheit sucht, sich dazu zu äußern. Wie kann er das ohne eigene, sichere Überzeugung? Er macht aus der Not eine richtige Tugend, indem er weniger berücksichtigt, was zwischen den verschiedenen Parteien strittig ist, als wie sie den Kampf gegeneinander führen. Er nimmt also nicht Partei für die Wahrheit des einen gegen den Irrtum des andern, sondern nimmt von außen Stellung zu dem Kampf als solchem. Er wacht darüber, daß anständig gefochten werde; das scheint ihm die Hauptsache zu sein. Aber zugleich entwickelt er religiöse Motive für die rechte Art der Auseinandersetzung über den Glauben, und so leitet er indirekt doch auf eine gewisse materiale Wahrheit hin: auf einen würdigeren Begriff von Gott, als ihn die Orthodoxie und ihre Gegner hatten. Man darf nicht erwarten, daß der junge Mann dies als Ziel erkannt und sich vorgesetzt, daß er sein Ziel sicher im Auge behalten und sich ihm in gerader Linie genähert habe. Das war bei einer Arbeit, die so stark unter äußerem Drucke stand, nicht möglich. Gedanke, Stimmung und Urteil bewegt sich in jenen unruhigen Jahren auf und ab, hin und her. Aber am Ende stellt sich doch heraus, daß er vorwärts gekommen, höher gestiegen ist. Und die Gipfelhöhe dieser Periode erreicht schon die Kammhöhe seiner letzten Jahre.

Durchlaufen wir zuerst die Rezensionen, die er 1751-54 für die Berlinische privilegierte Zeitung zu schreiben hatte. Mit einer Auffälligkeit, die an Absicht denken läßt, tritt darin ein lebhafter Eifer für Religion und Tugend, ja sogar für das Christentum zutage. Die starken Geister, die aufgeblasenen Sophisten, die zum Probestück ihres Witzes nichts Geringeres als Tugend und Religion zu wählen wissen, stehen bei dem Kritiker in keiner Gunst (4, 368). Er hofft, daß wieder eine Zeit kommen werde, »da es der Anständigkeit gemäß sein wird, ein guter Christ zu heißen, so wie es jetzt die Artigkeit erfordert, sich für nichts Schlechteres als einen Atheisten, so lange man gesund ist, halten zu lassen« (4, 379). Den Franzosen wünscht er, daß sie mehr Sittenprediger bekämen wie J. J. Rousseau. »Welcher Damm wird die Laster, die bei ihnen zu Artigkeiten werden, aufhalten? Welches sind die Meisterstücke, die uns ihr berüchtigter Witz liefert? Sie sind zu zählen. Die Schriften aber, welche die Religion untergraben und unter lockenden Bildern die schimpflichste Wollust in das Herz flößen, sind bei ihnen unzählbar« (4, 395). Ihre besten Schriftsteller haben ihren Witz beschimpft. »Wenn man einer Art von Schriftstellern das Handwerk legen will, so sei es diejenige, welche uns das Laster angenehm macht,« wie es ein de la Mettrie tut (4, 423). Dagegen rühmt er Klopstock als Verteidiger unserer Religion. »Sucht man die Religion verächtlich zu machen, so suche man auf der andern Seite sie in alle dem Glanze vorzustellen, wo sie unsere Ehrfurcht verdient. Dieses hat der Dichter getan. Das erhabenste Geheimnis weiß er auf einer Seite zu schildern, wo man gern seine Unbegreiflichkeit vergißt und sich in der Bewunderung verliert. Er weiß in seinen Lesern den Wunsch zu erwecken, daß das Christentum wahr sein möchte, gesetzt auch wir wären so unglücklich, daß es nicht wahr sei. Unser Urteil schlägt sich allezeit auf die Seite unseres Wunsches. Wenn dieser unsere Einbildungskraft beschäftigt, so läßt er ihr keine Zeit, auf spitze Zweifel zu fallen; und alsdann wird den meisten ein unbestrittener Beweis eben das sein, was einem Weisen ein unzubestreitender ist … Wenn die Arznei heilsam ist, so ist es gleichviel, wie man sie dem Kinde beibringt.« Ganz geheuer ist ihm freilich bei der Sache nicht. Gerade an Klopstock erkennt er auch, daß die Dichtkunst bei gewissen geistigen Gegenständen, von denen man sich nicht anders als die lautersten Begriffe machen sollte, gänzlich unbrauchbar ist. »Einem philosophischen Kopf ist schon das anstößig, daß die Sprache für die Eigenschaften des selbständigen Wesens keine besondre und ihnen eigentümliche Benennungen hat; wie viel anstößiger muß es ihm sein, wenn der Dichter diese Armut zu einer Schönheit macht und überall seine sinnlichen Vorstellungen anzubringen sucht?« (4, 404 f.; vergl. 5, 88-90.) Aber jetzt scheint ihm doch noch der Nutzen einer poetischen Verherrlichung der Religion zu überwiegen.

Ganz schlecht zu sprechen ist der junge Lessing auf die theologischen Verteidiger der christlichen Religion, die Schriftsteller geretteter Offenbarungen und untrüglicher Beweise: »oft beweisen diese Herren durch ihre Beweise nichts, als daß sie das Beweisen hätten bleiben lassen sollen« (4, 404). Sie wollen zu viel beweisen, sogar das Geheimnis der Dreifaltigkeit (4, 379); sie sind in der Wahl ihrer Beweismittel nicht gewissenhaft genug, indem sie z. B. den Beweis aus den Weissagungen des Alten Testaments mit so zweifelhaften Stellen führen, daß er überhaupt verdächtig wird (4, 338 f.); anstatt die Gegner zu widerlegen, weisen sie nur darauf hin, daß ihre Einwürfe gegen das Christentum nicht neu seien (ib.). Es fehlt ihnen an Geschmack; und so geben sie durch ihre sogenannten Widerlegungen einfältigen Religionsspöttern immer neuen Stoff zum Spotten (4, 303). Dabei sind sie ebenso eitel und anmaßend, wie lieblos. Lessing kann es durchaus nicht gut finden, daß der Orthodoxe dem Herrnhuter die Schwäche seines Verstandes zum Verbrechen seines Willens macht; daß er sich gegen ihn Spöttereien nicht eben der feinsten Art erlaubt; daß er in seine Widerlegung Persönlichkeiten mischt, und zwar unbewiesene und unbeweisbare Beschuldigungen, also Verleumdungen; daß seine Bekämpfung der Herrnhuter mehr dem Ärgernis als der Erbauung dient (4, 298 f.). Ebenso mißfällt es ihm, daß ehrliche Christen sich an Spöttereien über den Islam ergötzen, die der fromme Muselman als Gotteslästerungen empfinden muß (4, 341). Er wagt es, den Gottesgelehrten von Profession vorzuwerfen, daß sie in der überwiegenden Mehrzahl die Theologie als eine Sophisterei treiben und geradezu den Stoff zu Zänkereien suchen, worin sie ihre Gelehrsamkeit zeigen können. Demgegenüber wünscht er, daß man in der Theologie (und Philosophie) alles beiseite schiebe, was Anlaß zu unfruchtbaren Streitigkeiten geben kann (also alle bloßen Spitzfindigkeiten des Verstandes, alle unnützen Ausschweifungen der Phantasie, alle hinkenden Beweisgründe für das Dogma); daß man nach dem Rate des Gamaliel die Widerlegung der Ketzerei der Zeit überlasse, sich aber auch aller verfrühten Unionsversuche enthalte; daß man statt des Theoretischen das Praktische des Christentums in den Vordergrund stelle. Ehe man sich vereinigen will, müssen die Herzen von Bitterkeit, Zanksucht, Verleumdung, Unterdrückung gereinigt werden. Die Liebe ist allein das wesentliche Kennzeichen eines Christen. »Nicht die Übereinstimmung in den Meinungen, sondern die Übereinstimmung in tugendhaften Handlungen ist es, welche die Welt ruhig und glücklich macht« (4, 303. 350. 368. 379).

Aber Lessing würde sich's entschieden verbitten, wenn wir aus seiner Geringschätzung der üblichen Apologetik auf Feindseligkeit oder auch nur Gleichgültigkeit gegen das Christentum schließen wollten. »Wahrheit bleibt Wahrheit, wenn sie gleich schlecht bewiesen wird; und derjenige, der schlechte Beweise für sie verwirft, verwirft sie deshalb nicht selbst.« Nur Handwerksgelehrte können dagegen murren, daß Beweise, die nur die Verjährung für sich haben, als unbrauchbare Grundsteine in dem Reich der Wahrheit der Welt bekannt gemacht werden (4, 379). Bedenklicher für seine Rechtgläubigkeit ist in der Tat eine recht freundliche Würdigung der kirchlichen Bekenntnisschriften, auf die wir gelegentlich stoßen. »Wenn alle Religionen und die verschiedenen [Unter-] Arten derselben ihre symbolischen Bücher hätten, so würden auf einmal unzählige falsche Beschuldigungen von Ungereimtheiten wegfallen, die sie sich untereinander ohne Unterlaß zu machen pflegen; die Meinungen einzelner Glieder würden den ganzen Gemeinden weniger zur Last gelegt werden; und die Herren Polemici würden seltener mit Schatten fechten. Die lutherische Kirche hat auf dieser Seite einen besonderen Vorzug, und ihre symbolischen Bücher sind mit einer Behutsamkeit abgefaßt, welche tausend Köpfe, wenn sie mit ihr nur in der Hauptsache einig sind, unter einen Hut zu bringen sehr geschickt ist … Wie nötig es aber denen, welche sich der Gottesgelehrsamkeit widmen, sei, einen besondern Fleiß auf diese Schriften zu wenden, erhellet auch nur aus dem Nachteil, welcher denen zuwächst, die die Sprache derselben nicht zu reden wissen, und aus der Gefahr, um ein falsch gebrauchtes Wort verketzert zu werden.« (4, 300.) Mit solchen Zweckmäßigkeitsrücksichten die Bekenntnisse der Kirche zu verteidigen, liegt dem Ungläubigen näher als dem Gläubigen. Darum tritt wohl auch dieser Freund des Christentums niemals als Verteidiger eines bestimmten Dogmas auf. Eine Ausnahme finde ich nur 5, 16. Da lehnt der Rezensent die Einschränkung der Inspiration auf den Willen Gottes von der Menschen Seligkeit und die damit verknüpften Wahrheiten ab. »Wo bleiben hier die historischen und chronologischen Wahrheiten, welche überall in der Bibel eingestreuet sind und die man nimmermehr unter die mit der Seligkeit des Menschen verknüpften Wahrheiten bringen kann? Was hilft es mir z. E. zu meiner Seligkeit, daß Tubalkain das Eisenwerk erfunden? Was nützen andre solche Nachrichten dazu, die aber gleichwohl ebenso gewiß von dem heiligen Geiste eingegeben sind als die wichtigsten Grundwahrheiten des Glaubens?« Entweder liegt darin eine ausgesuchte Bosheit gegen einen Halbgläubigen, oder ist die Rezension Lessing abzusprechen. Ich halte das letztere für wahrscheinlicher. Allerdings greift er auch keines an. Es ist eine große Ausnahme, daß er einmal auf den Inhalt des Dogmas eingeht, indem er gegen Klopstock protestiert, der den Menschen die Liebe der Gottheit durch den Messias »von neuem« geschenkt werden läßt. »Die Menschen hatten also die Liebe der Gottheit verloren? Gott haßte also die Menschen; und gleichwohl hatte er von Ewigkeit beschlossen, sie erlösen zu lassen? … Das hieße das unveränderliche Wesen Gottes zu dem veränderlichsten machen … Was für niedrige Begriffe von Abwechselung Hasses und Liebe dichtete man dem sich ewig Gleichen an? Doch wie können die Menschen seine Liebe verloren haben, wenn gleichwohl … durch die Erlösung des Ewigen Wille geschehen ist? Kann der in des Königs Ungnade sein, den der König glücklich zu machen beschließt? Ich sehe ein Labyrinth vor mir, in das ich den Fuß lieber nicht setzen, als mich mit Mühe und Not herausbringen lassen will.« Er kann doch der Versuchung nicht widerstehen, sich noch einmal, und noch tiefer, hineinzuwagen. Klopstock singt:

Vergebens erhub sich
Satan wider den göttlichen Sohn; umsonst stand Judäa
Wider ihn auf: er tats und vollbrachte die große Versöhnung.

Lessing bemerkt dazu: »Der Dichter sagt an einem andern Orte von Jerusalem, daß sie die Krone der hohen Erwählung unwissend hinweggeworfen. Hat das jüdische Volk also Jesum nicht für den, der er war, erkannt (wie es ihn denn wirklich nicht erkannt hat): wie kann es wider ihn aufgestanden sein? Alle Verfolgungen der Juden sind der Absicht Christi eher behilflich als entgegen gewesen. Satan ist im gleichen Falle. Er kannte den Messias nicht; er hielt ihn für nichts als einen sterblichen Seher. Er wandte alles an, ihn zu töten; und Christus sollte, uns zu erlösen, getötet werden. Was für einen mächtigen Feind hat also der Messias an ihm zu überwinden gehabt? Wenn sich Satan der Kreuzigung Christi widersetzt hätte, so hätte der Dichter sagen können: Umsonst; er tat's und vollbrachte die große Versöhnung.« (5, 86 f.). Es war schon besser, daß Lessing an diesem Faden nicht weiter fortspann. Ketzerei ist es ja nicht gerade, was er sagt; aber orthodox ist es auch nicht mehr. Er neigt zu einer streng und ausschließlich supralapsarischen Betrachtung der Erlösung und sieht auch bereits, daß für sie der Teufel selbst zu einer Kraft wird, »die stets das Böse will und stets das Gute schafft«.

Sein innerstes Denken, Lieben und Hassen enthüllt uns Lessing in einem begeisterten Hymnus auf Diderot, zu dem ihn dessen »Schreiben über die Tauben und Stummen« veranlaßt. »Ein kurzsichtiger Dogmatikus, welcher sich für nichts mehr hütet, als an den auswendig gelernten Sätzen, welche sein System ausmachen, zu zweifeln, wird eine Menge Irrtümer aus dem angeführten Schreiben des Herrn Diderot herauszuklauben wissen. Unser Verfasser ist einer von den Weltweisen, welche sich mehr Mühe geben, Wolken zu machen, als sie zu zerstreuen. Überall, wo sie ihre Augen hinfallen lassen, erzittern die Stützen der bekanntesten Wahrheiten, und was man ganz nahe vor sich zu sehen glaubte, verliert sich in eine ungewisse Ferne. Sie führen uns in ›Gängen voll Nacht zum glänzenden Throne der Wahrheit‹, wenn Schullehrer in Gängen voll eingebildeten Lichts zum düstern Throne der Lüge leiten. Gesetzt auch, ein solcher Weltweiser wagt es, Meinungen zu bestreiten, die wir geheiliget haben. Der Schade ist klein. Seine Träume oder Wahrheiten, wie man sie nennen will, werden der Gesellschaft ebensowenig Schaden tun, als vielen Schaden ihr diejenigen tun, welche die Denkungsart aller Menschen unter das Joch der ihrigen bringen wollen« (4, 422 f.).

Das also, daß die Stützen der bekanntesten Wahrheiten erzittern, flößt dem Kritiker keine Furcht, flößt ihm eher ein wollüstiges Behagen ein. Auch dadurch läßt er sich nicht irre machen, daß diese bekanntesten Wahrheiten zugleich solche sind, die »wir« geheiligt haben. Denn er glaubt in dem Zweifel, in den ein Diderot stürzt, den Weg zu höherer Erkenntnis zu sehen. Seine Abneigung richtet sich also vielmehr gegen die, welche die Denkungsart aller Menschen unter das Joch der ihrigen beugen wollen, welche dadurch dem Fortschritt des Erkennens den Weg verrammeln. Von dieser Art sind die arroganten dogmatischen Freigeister, die zum Teil zugleich als witzige Wollüstler seinen Abscheu erregen. Von dieser Art ist aber auch die dogmatische Orthodoxie. Der junge Lessing hält es nicht für zweckmäßig, noch für notwendig, das mit dürren Worten herauszusagen. Was er aber an den Theologen tadelt, sind ja eben die Sünden, in die der Dogmatismus überall unvermeidlich verfällt. Und an den Bekenntnisschriften der Kirche rühmt er, genau besehen, weniger, daß sie die Wahrheit festlegen, als daß sie dem Denken, wenn es sich nur einer gewissen Ausdrucksweise bedienen will, freien Raum schaffen.

 

6.

Zusammenhängender vorgetragen und tiefer begründet hat Lessing seine Gedanken über religiöse Dinge in einigen Aufsätzen aus der ersten Hälfte der 50er Jahre, die wir insgesamt mit einem von ihm geprägten Wort als »Rettungen« bezeichnen können. Es sind dies die »Gedanken über die Herrnhuter«, die er nicht zu Ende gebracht und nicht veröffentlicht hat; die Verteidigung des Lemnius in dem ersten bis achten der »Briefe« von 1753; die Rettung des Cardanus, des Ineptus Religiosus, des Cochläus in dem dritten Teil der Schriften (1754). Anscheinend genügt er mit diesen Aufsätzen bloß seinem Sinn für historische Gerechtigkeit, speziell der Neigung, »die Namen berühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, unverdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falschen Verkleisterungen ihrer Schwächen aufzulösen.« Aber diese Tendenz ruht auf einer religiösen Betrachtung der Geschichte, die er selbst ausspricht. »Ungerecht wird die Nachwelt nie sein … Auch Tugenden und Laster wird sie nicht ewig verkennen. Ich begreife es sehr wohl, daß jene eine Zeitlang beschmutzt und diese aufgeputzt sein können; daß sie es aber immer bleiben sollten, läßt mich die Weisheit nicht glauben, die den Zusammenhang aller Dinge geordnet hat, und von der sich auch in dem, was von dem Eigensinn der Sterblichen abhängt, anbetungswürdige Spuren finden« (5, 272 f.). Darum begnügt er sich auch nicht, den geschichtlichen Tatbestand darzulegen, sondern flicht in dessen Untersuchung Reflexionen ein, durch die er offenbar sich und die Leser aus der eigenen geschichtlichen Bedingtheit herausziehen und zu einer unbefangenen Beurteilung der religiösen Situation befähigen will. Und er trägt sie mit einer Wärme vor, welche die Vermutung nahe legt, daß in diesen scheinbar nur beiläufigen Betrachtungen seine Hauptabsicht versteckt liege.

In den »Gedanken über die Herrnhuter« (14, 154 ff.) wird dies ganz äußerlich dadurch bewiesen, daß er abbricht, sowie er auf das angebliche Hauptthema kommt. Er hatte also nur die vorangeschickten allgemeinen Betrachtungen zur Klarheit durchgedacht, als er die Feder ansetzte, und sein Interesse war mit ihrer Entwicklung erschöpft. Die Gedanken aber, die er vorträgt, zielen darauf hin, die Bedeutung theoretischer Streitigkeiten auf das richtige Maß zurückzuführen. »Der Mensch ward zum Tun, nicht zum Vernünfteln erschaffen.« Aber die Geschichte der Weltweisheit wie der Religion zeigt, daß man nur immer habe vernünfteln, niemals handeln wollen. Warum? Lessing scheint an eine Art Erbsünde zu denken: die Bosheit des Menschen unternimmt allezeit das, was er nicht soll, und seine Verwegenheit allezeit das, was er nicht kann; er, der Mensch, sollte sich Schranken setzen lassen? Schlimmer aber als diese Überhebung selbst erscheinen Lessing offenbar die Nebenumstände, die sie fördern: daß das Vernünfteln so gar viel leichter ist als das Handeln; daß eigennützige Menschen, indem sie das Vernünfteln zur Hauptsache machen, sich die bequeme Gelegenheit schaffen, ihre Eitelkeit und Herrschsucht zu befriedigen. Die wichtigsten Einschnitte in der Geschichte der Philosophie und Religion werden dadurch gebildet, daß Gott Lehrer sandte, welche die Menschen vom Vernünfteln zum Handeln zurückführen sollten: Sokrates und Christus. Natürlich mußten diese dem Haß der Sophisten, der Priester und Schriftgelehrten unterliegen; doch haben sie wenigstens eine vorübergehende Besserung zu bewirken vermocht. In der Christenheit hat freilich von Jahrhundert zu Jahrhundert das ausübende, der Absicht Christi entsprechende Christentum abgenommen, ist das beschauende durch phantastische Grillen und menschliche Erweiterungen zu einer Höhe gestiegen, zu welcher der Aberglaube noch nie eine Religion gebracht hat. »Und jetzo, da unsre Zeiten – soll ich sagen so glücklich? oder so unglücklich? – sind, daß man eine so vortreffliche Zusammensetzung von Gottesgelehrtheit und Weltweisheit gemacht hat, worinne man mit Mühe und Not eine von der andern unterscheiden kann, worinne eine die andere schwächt, indem diese den Glauben durch Beweise erzwingen und jene die Beweise durch den Glauben unterstützen soll; jetzo, sage ich, ist durch diese verkehrte Art, das Christentum zu lehren, ein wahrer Christ weit seltener als in den dunklen Zeiten geworden. Der Erkenntnis nach sind wir Engel; und dem Leben nach Teufel.« Es wäre also dringend notwendig, daß wieder »ein verwegener Freund der Laien« aufträte, der mit einer sokratischen Stärke die lächerlichen Seiten unsrer so gepriesenen Weltweisen zu entdecken wüßte, ihrer falschen Weisheit in allen Gesellschaften die Larve abrisse; der dafür uns lehrte, die Stimme der Natur in unsern Herzen lebendig zu empfinden, Gott nicht nur zu glauben, sondern zu lieben, und unsern Verstand in etwas Besserem zu üben als in unerforschlichen Dingen. Man würde ihn freilich für einen Schwärmer, einen Narren erklären; und »die Herren, welche mit der Wirklichkeit der Dinge so viel zu tun haben«, werden schon dafür sorgen, daß ein solches Wagnis nicht unternommen werden wird. Doch ist den Theologen ein solcher Gegner erstanden in dem Grafen von Zinzendorf, der nicht die Theorie, nur die Praxis unseres Christentums verändern wollte.

Damit bricht der Aufsatz ab. Wie Lessing seine Auffassung der Herrnhuter im einzelnen durchzuführen gedachte, hat für uns kein Interesse; also auch nicht, ob er etwa deren Undurchführbarkeit eingesehen hat. Die allgemeinen Gedanken aber, die er entwickelt, lassen deutlicher erkennen, was er nicht wollte, als was er wollte. Er will seine Kraft nicht einer Vernünftelei widmen, die in Wahrheit gar kein Gebrauch der Vernunft ist, sondern auf phantastische Grillen und leere Sophistereien hinausläuft. Er will ferner nicht, daß die Produkte dieser Vernünftelei direkt bekämpft werden; denn dazu müßte man ihr ja auf ihren Boden folgen, in die Phantasterei und Sophisterei hinein. Vielmehr soll die Vernünftelei abgetan werden durch eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος: durch die richtige, höhere Wertung des Tuns. Aber soll nun der Gebrauch der Vernunft ganz und gar eingeschränkt werden auf das Nachdenken über die Ziele und Mittel des menschlichen Handelns? Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit! Daß man seinen Verstand in etwas Besserem üben solle als in unerforschlichen Dingen, ist ein leerer Gedanke, da die Unerforschlichkeit erst durch den Versuch des Forschens festgestellt werden kann. So bleibt uns als greifbares Resultat von Lessings Reflexionen nur der Gedanke, daß man sich philosophische und religiöse Dogmen, die keine Anwendung auf das Leben verstatten, durch die professionellen Vertreter der Philosophie und Religion nicht zu heiligen Wahrheiten aufbauschen lassen dürfe. Indem aber Lessing konstatiert, daß er diese Auffassung mit Christus teilt, gewinnt er sich das gute Gewissen zu einer freien Würdigung des Dogmas. Er bedient sich auch sofort dieser Freiheit in dem Aufsatze selbst. Luther und Zwingli, sagt er, sind »über ein Nichts« uneinig geworden: – über der Lehre von den heiligen Sakramenten! Und Christus erlaubt er sich für seine Zwecke »nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer« zu betrachten. Freilich fügt er hinzu: »ich lehne alle schreckliche Folgerungen von mir ab, welche die Bosheit daraus ziehen könnte«. Wenn aber Christus wirklich der Gottmensch ist, so steht es nicht in unserer Willkür, ihn als bloßen Propheten zu betrachten, der er eben nicht ist.

Das gute Gewissen zur Freiheit des Denkens erwirbt er sich noch auf einem andern Wege, indem er von dem Begriffe der Wahrheit und Überzeugung ausgeht; und auch in diesem Falle nicht durch Verneinung, sondern durch Verwertung des überkommenen Glaubens.

Daß die christliche Religion kein Werk ist, das man von seinen Eltern auf Treu und Glauben annehmen soll; daß der bessere Christ nicht der unerschütterte Gedächtnis- und Gewohnheitschrist ist, sondern der, der einmal klüglich gezweifelt hat und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangt ist, – oder sich wenigstens noch dazu zu gelangen bestrebt; daß also das Christentum als bloß objektiver Besitz der Wahrheit ohne subjektive Überzeugung wertlos ist: zu diesem Gedanken hatte ihn schon 1749 das Bedürfnis der eigenen Rechtfertigung gedrängt. In der Rettung des Cardans fragt er nun allgemein: »Was ist nötiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen? und was ist unmöglicher, als Überzeugung ohne vorhergegangene Prüfung?« Und diese Prüfung muß ernst sein, auf einer wirklichen, unbefangenen Vergleichung der verschiedenen Religionen beruhen: wie könnte man sonst die Irrgläubigen zum wahren Glauben führen? (5, 319). Die bloßen historischen Gründe genügen nicht; es ist unklug, nur unter Berufung auf sie geradehin die Aufopferung der Vernunft zu verlangen und alle Schwierigkeiten unter das Joch des Glaubens zu zwingen (ib. 311). Freilich braucht man nur selbst zu denken und gebilligten Vorurteilen die Stirne zu bieten, um sich dem Verdachte der Atheisterei auszusetzen (ib. 310); aber das muß man sich eben gefallen lassen.

Jedenfalls darf man um seines Christenglaubens willen die freie Untersuchung nicht scheuen. »Der muß ein schwaches Vertrauen auf die ewigen Wahrheiten des Heilandes setzen, der sich fürchtet, sie mit Lügen gegeneinander zu halten. Wahrer als wahr kann nichts sein; und auch die Verleumdung hat da keine Statt, wo ich auf der einen Seite nichts als Unsinn, auf der andern nichts als Vernunft sehe« (5, 319). So steht aber die Sache (nach der Meinung des orthodoxen Christen), wenn das Christentum, die göttliche Wahrheit, mit irgend einer andern Anschauung verglichen wird. Darum sollte der Christ jeden fremden Glauben, mit dem er sich auseinandersetzen will, mit so vielen und starken Gründen unterstützen, daß auch die allerfeinsten Köpfe von dessen eigenen Anhängern nichts mehr hinzutun könnten. Überhaupt wird jeder, dem es um die Wahrheit zu tun ist, die Widerlegung des Gegners nicht sowohl leicht, als gewiß zu machen suchen. Was kann er denn auch zu befahren haben? »Die Partei, welche verliert, verliert nichts als Irrtümer; und kann alle Augenblicke an dem Siege der andern teilnehmen.« Die Aufrichtigkeit ist daher das erste, was von einem rechten Weltweisen verlangt werden muß (5, 323). Dem überzeugten Christen sollte sie um so natürlicher sein, da er ja keinen Irrtum zu verlieren hat. Und so läßt denn auch Lessing einen Muhammedaner das Christentum in einer Weise angreifen, die auf eine sehr große Stärke seines Glaubens oder auf eine schon sehr weit gediehene Skepsis schließen läßt. »Das, was der Heide, der Jude und der Christ seine Religion nennet, ist ein Wirrwarr von Sätzen, die eine gesunde Vernunft nie für die ihrigen erkennen wird. Sie berufen sich alle auf höhere Offenbarungen, deren Möglichkeit noch nicht einmal erwiesen ist. Durch diese wollen sie Wahrheiten überkommen haben, die vielleicht in einer andern möglichen Welt, nur nicht in der unsrigen, Wahrheiten sein können. Sie erkennen es selbst und nennen sie daher Geheimnisse; ein Wort, das seine Widerlegung gleich bei sich führet. Ich will sie nicht nennen, sondern ich will nur sagen, daß eben sie es sind, welche die allergröbsten und sinnlichsten Begriffe von allem, was göttlich ist, erzeugen; daß sie es sind, die nie dem gemeinen Volk erlauben werden, sich seinen Schöpfer auf eine anständige Art zu denken; daß sie es sind, welche den Geist zu unfruchtbaren Betrachtungen verführen und ihm ein Ungeheuer bilden, welches ihr den Glauben nennet. Diesem gebt ihr die Schlüssel des Himmels und der Höllen; und Glücks genug für die Tugend, daß ihr sie mit genauer Not zu einer etwaigen Begleiterin derselben gemacht! Die Verehrung heiliger Hirngespenster macht bei euch ohne Gerechtigkeit selig; aber nicht diese ohne jene. Welche Verblendung!« Weil das Christentum, meint der fingierte Muhammedaner weiter, unbegreifliche Dinge zu überreden hat, bedarf es auch der Stütze durch eine zweite Unbegreiflichkeit, das Wunder. Muhammed hat niemals dergleichen tun wollen, hat es auch nicht nötig gehabt. Denn er trägt nur Lehren vor, deren Probierstein ein jeder bei sich führt: den einen Gott und die zukünftige Vergeltung; er verlangt nur das Bekenntnis von Wahrheiten, ohne die man sich nicht rühmen kann, Mensch zu sein. Verbreitet er seinen Glauben mit Gewalt, so ist er nichts als ein rächendes Werkzeug des Ewigen, während es verabscheuungswürdige Tyrannei ist, den Glauben an unbegreifliche Dinge mit dem Schwerte zu erzwingen (5, 325-28). – Lessing hat wohl getan, seinem Moslem, wenigstens in der Verteidigung des eigenen Glaubens, auch Sophistereien in den Mund zu legen, deren Unhaltbarkeit leicht ins Auge fällt; sonst könnte man vermuten, er habe ihm nur die eigene Meinung geliehen. Immerhin aber gibt er kund, welche Bedenken gegen das Christentum ihm selbst auf der Zunge liegen.

Eine ernsthafte Prüfung des überkommenen Glaubens läßt sich nicht durchführen, ohne daß man die historischen Gründe, die Zuverlässigkeit der Autoritäten in Zweifel zieht. Dazu gewinnt sich Lessing das gute Gewissen durch die Erwägung, daß eine unbedingte Verehrung der Offenbarungsorgane die eigene Ehre Gottes schädigen würde. Und er erkennt aus der Geschichte, daß Gott in der Tat für seine Zwecke nicht die untadelhaftesten, sondern die bequemsten Werkzeuge wählt. Das darf uns freilich nicht abhalten, uns dankbar zuzueignen, was er durch sie wirkt. Dann aber wird aus dem Tadel des menschlichen Organs ein Lob des Höchsten. »Doch wie schwer«, ruft er aus, »gehen die Menschen an dieses, wenn sie ihr eigenes nicht damit verbinden können!« (5, 365 f.) Damit hat er den Autoritätsglauben von innen heraus, religiös, überwunden. Die Kritik an den Autoritäten wird zu einem Kampf für die Ehre des Gottes, den sie verkünden. Ob Lessing sich sofort über die unendliche Tragweite des gefundenen neuen Prinzips klar war, können wir freilich nicht entscheiden. Er wendet es nur auf Luther an, und nur zur Beurteilung seines sittlichen Verhaltens, nicht seiner Lehre (5, 43 ff. 365 f.). In Beziehung auf ihn bekennt er ganz persönlich, daß die Spuren der Menschheit, die er an ihm finde, ihm so kostbar seien als seine blendendsten Vollkommenheiten, weil er sonst in Gefahr stünde, ihn zu vergöttern. Aber es kann ja mit jedem Apostel und Propheten, mit der Bibel ebensogut Abgötterei getrieben werden wie mit Luther. Und wenn Gott einem Geschöpf, einem Menschen oder Buch, theoretische Unfehlbarkeit gewährte, so wäre er als Urquell der Wahrheit durch sein Organ ersetzt, also verdrängt. Somit ist der Gehorsam des Glaubens, der doch zunächst immer dem Offenbarungs organ, gewidmet wird, eine Beeinträchtigung der Ehre Gottes. Der gesetzliche Autoritätsglaube ist gottlos – während man (wie auch Lessing anerkennt) irgend einer Autorität wohl dankbar sein kann, daß sie einen auf den Weg zu Gott bringt. Lessing hat die Gelegenheit zur Anwendung seines schönen Gedankens nicht gefunden oder nicht gesucht oder gar gemieden; und so wissen wir, wie gesagt, auch nicht, wie weit er ihn verfolgte.

 

7.

Auf welchem Wege hat sich wohl Lessing zu dieser religiösen Beurteilung und Überwindung der Autorität durchgearbeitet? Das verrät uns eine Rezension aus dem Februar 1754, worin er eine Abhandlung als ungemein gründlich und erweckend rühmt, die von der Weisheit Gottes bei der Zulassung des Unglaubens und der Irrtümer handelte (5, 387). Das Erweckende mochte darin liegen, daß sie den Leibniz'schen Optimismus auf die Betrachtung der Religion selbst anwandte. Die Zulassung des Unglaubens und der Irrtümer ist nur ein spezieller Fall der Zulassung des Übels, des Bösen. Ob der Diener des Wortes Gottes, der jene Abhandlung verfaßte, den Mut hatte, das Böse auch an den Werkzeugen Gottes zu sehen und seine Zulassung in eine Anordnung umzuwandeln, mag freilich bezweifelt werden. Auch Leibniz hatte ja diesen entscheidenden Schritt nicht gewagt. Der junge Lessing greift etwas kräftiger zu, weil er die innere Freiheit besitzt, in der bösen Folge der menschlichen Schwachheit gerade deren guten Zweck zu sehen. Wenn die Leidenschaftlichkeit und Ungerechtigkeit Luthers dessen Autorität gefährdet, so ist das ja eben das Beste daran: seine Autorität soll keine unbedingte Geltung erreichen!

Daß Lessing die Tendenz hat, aus Leibnizens Prämissen strengere Folgerungen zu ziehen als dieser selbst, zeigt auch die Abhandlung »Pope ein Metaphysiker«. Er hat sie 1755 zusammen mit Mendelssohn verfaßt, über eine von der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften gestellte Aufgabe: daß das Popische System, welches in dem Satz »alles ist gut« enthalten sei, dargestellt, mit dem System des Optimismus verglichen und kritisch gewürdigt werde. Ihre eigentümliche Veranlassung bringt es mit sich, daß sie für unsre Einsicht in Lessings philosophische Entwicklung weniger fruchtbar geworden ist, als wir es wünschen möchten; aber einiges, das nicht ohne Bedeutung ist, läßt sich ihr doch entnehmen.

Bezeichnend sind schon die einleitenden Bemerkungen über das »System«, das in dem Satz »alles ist gut« enthalten sein soll. Da Thales, Plato, Chrysippus, Leibniz, Spinoza und unzählige andere einmütig bekennen, es sei alles gut, so müssen in diesen Worten entweder alle Systemata oder es muß keines darin enthalten sein. Sie sind der Schluß, welchen jeder aus seinem besonderen Lehrgebäude gezogen hat, und der vielleicht noch aus hundert andern wird gezogen werden. Sie sind das Bekenntnis derer, welche ohne Lehrgebäude philosophiert haben (6, 412). Dem entsprechend behaupten die Verfasser auch: »in den besonderen moralischen Grundsätzen, weiß man wohl, kommen alle Weltweisen überein, so verschieden auch ihre Grundsätze sind« (431). Es sind also die letzte Grundlage einer gesunden Lebensstimmung und die Regeln, die wir für die Führung des Lebens brauchen, dem Streit der Systeme entzogen. Und darum darf man diesem keine zu hohe Bedeutung beimessen, ihn nicht gar zu ernst nehmen: wie die Verfasser sich erlauben, ihr Thema ziemlich ironisch zu behandeln. Aber daraus folgt nun doch nicht, daß sie meinten, man dürfe nur so locker drauf los philosophieren. Nein, wer auf Philosophie Anspruch macht, soll streng denken; in wohlklingenden Versen und schönen Bildern das Thema variieren: all is right, das ist noch keine Philosophie; und wer den Dichter Pope, weil er das tat, für einen Metaphysiker nimmt, macht sich lächerlich. Haben die Worte »alles ist gut« als Ausdruck einer Stimmung ihren praktischen Wert, so darf doch ihre theoretische Bedeutung nicht überschätzt werden. »Wollte man sie zu einem Kanon machen, nach welchem alle dahin einschlagende Fragen zu entscheiden wären, so würde mehr Bequemlichkeit als Verstand darin sein. ›Gott hat es so haben wollen, und weil er es so hat haben wollen, muß es gut sein‹: ist wahrhaftig eine sehr leichte Antwort, mit welcher man nie auf dem Trockenen bleibt. Man wird damit abgewiesen, aber nicht erleuchtet. Sie ist das beträchtlichste Stück der Weltweisheit der Faulen; denn was ist fauler, als sich bei einer jeden Naturbegebenheit auf den Willen Gottes zu berufen, ohne zu überlegen, ob der vorhabende Fall auch ein Gegenstand des göttlichen Willens habe sein können« (412). Mit einem allgemeinen, unbestimmten Optimismus oder Vorsehungsglauben ist es also nicht getan: zum wertvollen Gedanken wird er erst durch die bestimmte Art, wie die Güte der Welt erklärt, wie die Wege Gottes gedeutet werden.

Nun behaupten Pope und Leibniz scheinbar übereinstimmend, daß in der besten Welt alles zusammenhängen müsse. Aber Pope versteht unter dem Zusammenhang der Welt das, daß darin alle Grade der Vollkommenheit besetzt seien, daß die Wesen in allmählicher Degradation eine große Kette bilden, die sich von dem Unendlichen bis auf den Menschen, von dem Menschen bis auf das Nichts erstrecke (418 f.). Leibniz dagegen sieht den Zusammenhang der Welt darin, daß alles in ihr, eines aus dem andern, verständlich erklärt werden kann. »Diese verschiedenen Dinge würden zusammen kein Ganzes ausmachen, wenn sie nicht alle, wie die Räder der Maschine, miteinander vereinigt wären: das heißt, wenn sich nicht aus jedem Dinge deutlich erklären ließe, warum alle übrigen so und nicht anders neben ihm sind; und aus jedem vorhergehenden Zustande eines Dinges, warum dieser oder jener darauf folgen wird« (427 f.). Lessing, der sich früher ähnlich wie Pope ausgedrückt hatte (vgl. oben S. 34), schlägt sich auf Leibnizens Seite. »Man werfe die Augen auf die vor uns sichtbare Welt! Ist Popens Satz gegründet, so kann unsre Welt unmöglich die beste sein. In ihr sind die Dinge nach der Ordnung der Wirkungen und Ursachen, keines Weges aber nach einer allmählichen Degradation nebeneinander. Weise und Toren, Tiere und Bäume, Insekten und Steine sind in der Welt wunderbar durcheinander gemischt, und man müßte die Glieder aus den entlegensten Teilen der Welt zusammen klauben, wenn man eine solche Kette bilden wollte, die allmählich vom Nichts bis zur Gottheit reicht« (432 f.). Man möchte denken, daß Lessing hier gegen Schatten fechte und eine Vorstellung von dem Zusammenhang der Welt bestreite, die er selbst erst in Pope hineingelegt. Aber die Anwendung zeigt, was ihm eigentlich an Pope zuwider ist. Dieser schließt nämlich a priori, daß notwendig der Mensch in der Welt angetroffen werden müsse, weil sonst die ihm zugehörige Stelle unter den Wesen leer sein würde; Leibniz hingegen beweist das notwendige Dasein des Menschen a posteriori und schließt, weil wirklich Menschen vorhanden sind, so müssen solche Wesen zur besten Welt gehört haben (429). Liegt aber die Einheit der Welt in dem bloßen Kausalzusammenhang, so »fällt der Schluß von dieser eingebildeten Kette der Dinge auf die unvermeidliche Existenz eines solchen Ranges, als der Mensch bekleidet, von selbst weg« (433). Und dieser Schluß soll eben wegfallen, fügen wir als unsere Vermutung hinzu. Denn es ist lächerliche Anmaßung, a priori beweisen zu wollen, daß ein Geschöpf bestimmter Art existieren müsse; vielmehr: sich den Anschein geben zu wollen, als ob man davon eine apriorische Notwendigkeit eingesehen habe. Wir sind darauf eingeschränkt, a posteriori festzustellen, was ist; und wir können nur schließen: weil etwas ist, muß es gut sein. Also muß unser Begriff des Guten der Wirklichkeit folgen; nicht dürfen wir die Wirklichkeit von ihm aus postulieren. Damit sage ich wohl etwas mehr, als Lessing (von Mendelssohn ganz zu schweigen) damals gedacht, von seinem Gedanken bewußt entwickelt hatte; aber wir müssen feststellen, daß er sich in dieser Richtung bewegt.

Wie ist nun aber das Übel, das doch nicht zu leugnen ist, mit der Vollkommenheit der Welt zu vereinigen? Pope scheint sich, nach Lessing, der Ansicht des Malebranche zuzuneigen: Gott habe, seiner Weisheit gemäß, die Welt durch allgemeine Gesetze regieren müssen; in besonderen Fällen könne die Anwendung dieser Gesetze wohl etwas hervorbringen, das an und für sich unnütze, oder gar schädlich, und daher den göttlichen Absichten eigentlich zuwider sei: allein es sei genug, daß die allgemeinen Gesetze von erheblichem Nutzen seien, und daß die Übel, welche in wenigen besonderen Fällen daraus entstehen, nicht ohne einen besondern Ratschluß hätten gehoben werden können. Allgemeine Gesetze, die den göttlichen Absichten in allen besonderen Fällen genug täten, seien eben überhaupt nicht möglich; Gott konnte also nur die allgemeinen Gesetze wählen, aus welchen in besondern Fällen die wenigsten Übel entstünden. Da er aber nur jene, nicht diese zum Gegenstand seines Willens macht, so kann man nicht sagen, daß er das Übel eigentlich gewollt habe. Freilich könnte er es, unbeschadet der Vollkommenheit der Welt, durch einen besonderen Ratschluß vermeiden; aber das will er eben nicht (422 f. 429 f.). Leibniz dagegen behauptet, der allgemeine Ratschluß Gottes entstehe aus allen besonderen Ratschlüssen Gottes zusammengenommen, und Gott könne, ohne der besten Welt zum Nachteile, kein Übel durch einen besonderen Ratschluß aufheben. Denn nach ihm hängt das System der Absichten mit dem System der wirkenden Ursachen so genau zusammen, daß man dieses als eine Folge aus dem erstern ansehen kann. Man kann also nicht sagen, daß aus den allgemeinen Gesetzen der Natur, das ist aus dem System der wirkenden Ursachen, etwas erfolge, das mit den göttlichen Absichten nicht übereinstimmt; denn bloß aus der besten Verknüpfung der besondern Absichten sind die allgemein wirkenden Ursachen und das allerweiseste Ganze entstanden. Die moralischen und natürlichen Unvollkommenheiten, über die wir uns in der Welt beschweren, entstehen durch die Kollision der besonderen Absichten, die in der besten Welt zugleich realisiert werden sollen; aber sie sind unvermeidlich, eben um der höheren Ordnung, der Vollkommenheit des Ganzen willen. Lessing stellt sich natürlich wieder auf Leibnizens Seite, ja, er adoptiert als glücklichsten Ausdruck für dessen Meinung die Worte Shaftesburys: »Man hat auf vielerlei Art zeigen wollen, warum die Natur irre und wie sie mit so vielem Unvermögen und Fehlern von einer Hand kommt, die nicht irren kann. Aber ich leugne, daß sie irrt … Die Natur ist in ihren Wirkungen sich immer gleich; sie wirkt nie auf eine verkehrte oder irrige Weise, nie kraftlos oder nachlässig; sondern sie wird nur durch eine höhere Nebenbuhlerin und durch die stärkere Kraft einer andern Natur überwältigt« (441). Aber was ist es dann mit diesen angeblichen Fehlern der Natur? Irrt die Natur nicht, so kann der Fehler nur in dem sie betrachtenden Auge, in dem sie beurteilenden Gemüt des Menschen liegen. Wie wir die Wirklichkeit von unserem Begriff des Guten aus nicht a priori konstruieren können, vermögen wir auch nicht, sie mit seiner Hilfe zu werten. Unsere Zwecke versagen überhaupt bei der Anwendung auf die Natur. – Damit haben wir den Gedanken wohl wieder etwas weiter geführt als Lessing selbst, aber doch nur auf dem Wege, den er angegeben hat.

Endlich betont er nachdrücklich (und glaubt sich damit in Übereinstimmung mit Leibniz und Pope), daß Gott die beste der Welten hat wählen müssen. Eine ohne alle Bewegungsgründe wirkende Freiheit ist in Gott nicht anzunehmen – wie dieses Vermögen (was man schon unzähligemal bewiesen hat) überhaupt eine leere Grille ist (439 f.). Also ist die Schöpfung der Welt, dieser Welt, eine notwendige Auswirkung des göttlichen Wesens. Darum nimmt Lessing auch keinen Anstoß daran, daß Shaftesbury »Natur« sagt, wo Leibniz »Gott« sagt. Was den Kern der Sache betrifft, so ist Lessing von Leibniz bereits zu dem deus sive natura des »berufenen Irrgläubigen« Spinoza übergegangen. Doch ohne es zu merken; denn er spricht ganz harmlos von dessen irrigem Lehrgebäude, wie wenn da für ihn nicht auch etwas zu retten sein könnte.

Nachdem Lessing schon im »Christentum der Vernunft« Vorstellen, Wollen und Schaffen bei Gott eines sein ließ, kann es uns in keiner Weise verwundern, jetzt bei ihm diese Annäherung an Spinozas Identität von Gott und Natur und Ablehnung aller teleologischen Weltbetrachtung festzustellen. Wollte er jene Einheit nicht wieder auflösen, so mußte er unvermeidlich zu dem ἓν καὶ πᾶν kommen und den menschlichen Zweckbegriffen alle objektive Gültigkeit absprechen.

 

8.

In den »Briefen die neueste Literatur betreffend« nahm Lessing 1759, nach mehrjähriger Unterbrechung, seine Rezensententätigkeit in höherem Stil wieder auf; und wieder wendet er seine Aufmerksamkeit mit Vorliebe religiösen Fragen zu. Aber auch sie betrachtet er nun von einem anderen, höheren Standpunkt aus. Das zeigt sich ganz äußerlich darin, daß er eine Partei, von der er früher das Beste hoffte, jetzt nachdrücklich bekämpfen zu müssen glaubt. Im Jahre 1751 hatte er Klopstock als Verteidiger der christlichen Religion gepriesen. Jetzt tritt er gegen ihn und seine Anhänger als Vertreter einer neumodischen Rechtgläubigkeit in die Schranken, zugleich für die alte beschränkte, aber ehrliche Orthodoxie und für die Rechte der Vernunft. Klopstock war derselbe geblieben; aber Lessing war inzwischen aller Halbheit des Denkens und aller religiösen Sentimentalität gänzlich entwachsen.

Es fällt ihm auf, daß ein guter Christ nun etwas ganz anderes zu sein anfängt, als er noch vor dreißig, fünfzig Jahren war. Die Orthodoxie ist ein Gespötte geworden; man begnügt sich mit einer lieblichen Quintessenz, die man aus dem Christentum gezogen hat, und weicht allem Verdacht der Freidenkerei aus, wenn man von der Religion überhaupt nur fein enthusiastisch zu schwatzen weiß. »Behaupten Sie z. Ex., daß man ohne Religion kein rechtschaffener Mann sein könne; und man wird Sie von allen Glaubensartikeln denken und reden lassen, wie Sie immer wollen. Haben Sie vollends die Klugheit, sich gar nicht darüber auszulassen, alle sie betreffende Streitigkeiten mit einer frommen Bescheidenheit abzulehnen: o so sind Sie vollends ein Christ, ein Gottesgelehrter, so völlig ohne Tadel, als ihn die feinere religiöse Welt nur immer verlangen wird« (8, 127). So machte Wieland in den »Empfindungen des Christen« die Geheimnisse der Religion zu Gegenständen des schönen Denkens, gab die Ausschweifungen seiner Einbildungskraft für das wahre Gefühl der Religion aus, gab zu verstehen, daß er sich aus dem Inhalt der Dogmatik überhaupt nichts mache und die Religion bloß als eine erhabene Moral gelehrt wissen wolle, schwärmte zugleich für ein angebliches Griechentum und pries den Shaftesbury an, den gefährlichsten, weil feinsten Feind der Religion; und erwies seine Christlichkeit durch Angriffe auf die harmlosen Anakreontiker. Die Cramer und Basedow verbreiteten in dem »Nordischen Aufseher« eine platte Moral durch das Vorbild des lieben Heilands und mußten deshalb zu Ehren des Christentums dem Manne ohne Religion auch die bürgerliche Rechtschaffenheit absprechen. Klopstock aber, der dieses gefühlsreiche und gedankenarme Christentum durch seine religiösen Dichtungen in Schwung gebracht hatte, versuchte es auch theoretisch zu rechtfertigen, indem er die mit undeutlichen Vorstellungen verbundene religiöse Empfindung für die höchste Art über Gott zu denken erklärte, einem strengen, methodischen Denken über Gott den niedersten Platz zuwies.

Lessing konnte dem nicht ruhig zusehen, daß die prinzipielle Oberflächlichkeit und Verschwommenheit, ja die Charakterlosigkeit sich in religiösen Dingen das Richteramt anmaße. Aber wie war den Gegnern beizukommen? Da sie die Glaubenswächter spielen wollten, mußte ihre eigene Rechtgläubigkeit in das richtige Licht gesetzt werden; wer so das strenge Recht der Religion wahrte, durfte auch dafür eintreten, daß die Ansprüche der Vernunft nicht zu kurz kommen.

Demgemäß hat Lessing darauf hingewiesen, daß die religiöse Empfindung, die sich als höchste Art des religiösen Denkens gebärde, die wahre Quelle sei, aus der alle fanatischen und enthusiastischen Begriffe von Gott geflossen seien. »Mit wenig deutlichen Ideen von Gott und den göttlichen Vollkommenheiten setzt sich der Schwärmer hin, überläßt sich ganz seinen Empfindungen, nimmt die Lebhaftigkeit derselben für Deutlichkeit der Begriffe, wagt es, sie in Worte zu kleiden und wird – ein Böhme, ein Pordage.« Nur die kalte, metaphysische Art über Gott zu denken, kann uns versichern, daß wir wahre, anständige Empfindungen von Gott haben; wer sich seinem hitzigen Kopf überläßt, wird gewiß eben dann am unwürdigsten über Gott denken, wenn er am erhabensten von ihm zu denken glaubt (8, 133).

Der »Nordische Aufseher« hatte insbesondre vorgeschlagen, daß man die Kinder in Jesu Christo bloß den frommen und ganz heiligen Mann, den zärtlichen Kinderfreund lieben lehre; das Dogma von Christus solle einem reiferen Alter vorbehalten werden. Lessing fürchtet, daß strenge Verehrer der Religion damit nicht zufrieden sein werden. Denn diese Methode erleichtert dem Kinde nicht den geheimnisvollen Begriff eines ewigen Erlösers; sie hebt ihn vielmehr auf, setzt einen ganz andern an seine Statt; sie macht das Kind so lange zum Socinianer, bis es die orthodoxe Lehre fassen kann. »Und wann kann es die fassen? In welchem Alter werden wir geschickter, dieses Geheimnis einzusehen, als wir es in unsrer Kindheit sind? Und da es einmal ein Geheimnis ist, ist es nicht billiger, es gleich ganz der bereitwilligen Kindheit einzuflößen, als die Zeit der sich sträubenden Vernunft damit zu erwarten?« (8, 124 f.) Zudem ist dieses erzieherische Projekt nicht praktikabel: das Kind, das Jesum bloß als guten Menschen kennen gelernt hat, müßte, um nicht ganz wirr zu werden von allem öffentlichen und häuslichen Gottesdienst zurückgehalten werden, müßte weder beten noch singen hören; sonst müßte es auf den Gedanken kommen, daß man auch einen bloßen Menschen göttlich verehren dürfe. Und nach einer angenommenen Lehre unserer Kirche können die Kinder, wenn sie noch gar keine Begriffe haben, doch schon glauben: also sind diese ekeln Umschweife einer religiösen Pädagogik überflüssig. (8, 259 f. 124.)

Die neumodische Rechtgläubigkeit ist also recht fadenscheinig; und sie ist zugleich intoleranter als die alte, jetzt so verachtete. Denn diese hatte zugegeben, daß der natürliche Mensch einer gewissen Rechtschaffenheit fähig sei, die nur ohne Glauben vor Gott nichts gelte; jene aber will nachweisen, daß Rechtschaffenheit ohne Religion ein Widerspruch sei: indem sie den Mann ohne Religion bald bloß von keiner geoffenbarten Religion überzeugt sein läßt, bald gar keine Religion zugeben läßt, bald über alle Religion spotten läßt, wie es ihr eben für ihren Beweis paßt. Dieser Sophisterei gegenüber stellt Lessing fest, daß man kein Religionsspötter zu sein brauche, wenn man keine geoffenbarte Religion glaube; daß man aber auch noch kein Christ sei, wenn man an künftige Belohnungen, an eine ewige Gerechtigkeit glaube. Nun gibt er der geoffenbarten Religion zu, daß sie unsere Beweggründe, rechtschaffen zu handeln, vermehre; aber er behauptet auch, daß es bei unsern Handlungen weniger auf die Vielheit der Beweggründe als auf deren Intensität ankomme (8, 127 ff.). Und die Religion ist es nicht allein, die uns gut handeln lehrt. »Oder haben wir nicht auch hinlängliche Gründe, unsere Leidenschaften der Vernunft zu unterwerfen, die mit unsern Verhältnissen gegen ein höchstes Wesen in gar keiner Verbindung stehen? Ich sollte es meinen«. (8, 246.) Auch heißt es nicht die Religion herabsetzen, wenn man das zugibt. »Die Religion hat weit höhere Absichten als den rechtschaffenen Mann zu bilden. Sie setzt ihn voraus; und ihr Hauptzweck ist, den rechtschaffenen Mann zu höhern Einsichten zu erheben.« Dadurch wird sie neue Beweggründe liefern, rechtschaffen zu handeln; aber deshalb braucht man nicht zu behaupten, daß es keine Redlichkeit gebe als diese mit hohem Einsichten verbundene (8, 130).

Lessing läßt in diesen Auseinandersetzungen deutlich erkennen, daß er die alte Orthodoxie, mit der er die neumodische Rechtgläubigkeit schlägt, für sich nicht in Anspruch nimmt; aber wir würden ihm doch Unrecht tun, wenn wir meinten, daß er jene gegen diese nur aus taktischen Erwägungen ausspiele. Daß der Hauptzweck der Religion die höhere Einsicht sei, ist auch die Meinung der »intellektualistischen« Orthodoxie. Und ihr gebundenes, aber doch nüchternes und in gewissem Sinne strenges Denken mußte ihm immer noch besser zusagen, als daß er mit Klopstock die Wahrheit nur so im Taumel der Empfindung hätte haschen mögen. Auch liegt es ganz in seinem Sinne, daß die Geheimnisse des Christentums, wenn sie einmal »geglaubt« werden sollen, besser der bereitwilligen Kindheit eingeflößt, als der sich sträubenden Vernunft durch Scheinbeweise eingeredet werden. Ja, Lessings Sympathie mit der Orthodoxie geht noch weiter, gründet sich noch tiefer. Es war ihm ja selbst ganz natürlich, an eine Tradition anzuknüpfen, um sich durch Verarbeitung derselben eine eigene Überzeugung zu bilden. Er konnte sich also den Ausgangspunkt der orthodoxen Theologie wohl gefallen lassen, wenn er sich nur das fixierte Dogma nicht als Ziel des Denkens vorschreiben lassen mußte. Wir haben in den Literaturbriefen wenigstens eine Spur davon, daß ihm solche Gedanken nicht fern standen. Mit lebhaftem Beifall zitiert er Leibnizens treffliche Äußerungen über den Gebrauch von Philologie und Kritik, und darunter auch den Satz, daß die Kritik zur Festsetzung der Wahrheit unserer Religion ganz unentbehrlich sei (8,196). Leibniz denkt freilich zunächst nur an eine apologetische Verwertung der Kritik: daß sie die Echtheit der biblischen Schriften erweise. Aber die Gelehrsamkeit, die dazu nötig ist, soll nach Leibniz' Meinung überhaupt auf die kritische Zueignung des Gehalts der Alten abzielen. Übertragen wir das auf das kirchliche Altertum, so erhalten wir eine Methode der Theologie, die Lessing sehr gut lag und mit der Orthodoxie viel nähere Fühlung behalten konnte als Pietismus und Aufklärung. Hielt er sich freilich das Resultat frei, so mußte sie ihn schließlich auch in entschiedenen Gegensatz gegen die Orthodoxie bringen. Das war denn auch der Erfolg der patristischen Studien, denen er sich in den nächsten Jahren zu Breslau mit Eifer hingab.


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