Daniel Paul Schreber
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Daniel Paul Schreber

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XV. »Menschen-« und »Wunderspielerei«. Hilferufe. Sprechende Vögel

Einige Zeit nach dem im Kap. XIII geschilderten Umschwung, also etwa Ende 1895 oder Anfang 1896 machte ich eine Reihe von Erfahrungen, welche mich veranlaßten, meine bisherigen Vorstellungen von »flüchtig hingemachten Männern«, »Menschenspielerei« und dergleichen einer kritischen Prüfung zu unterziehen, in deren Folge ich zu einer wenigstens teilweise abweichenden Auffassung gelangte.

Es sind mir namentlich drei Vorgänge erinnerlich, welche mich in demjenigen, was ich bis dahin für wahr und richtig gehalten hatte, stutzig machten, nämlich erstens die Beteiligung an der zu Weihnachten des Jahres 1895 in der Familie des Vorstandes der Anstalt, Geh. Rat Dr. Weber, abgehaltenen Bescherung, sodann das Eintreffen eines von meiner Schwägerin in Köln a. Rh. an mich gerichteten, mit dem dortigen Poststempel versehenen Briefes und endlich ein Kinderfestzug aus Anlaß der Feier der 25jährigen Wiederkehr des Jahrestages des Frankfurter Friedens – 10. Mai 1896 – den ich von meinen Fenstern aus auf einer der unterhalb derselben gelegenen Vorstadtstraßen von Pirna mit ansah. Ich konnte nach diesen und ähnlichen Vorgängen – bald kam auch eine regelmäßige Korrespondenz und das Lesen von Zeitungen, die mir nunmehr von meinen Angehörigen gehalten wurden, hinzu – nicht mehr im Zweifel sein, daß eine wirkliche Menschheit in gleicher Zahl und örtlicher Verbreitung wie früher existiere. Dagegen ergab sich nunmehr die Schwierigkeit, wie ich diese Tatsache mit meinen früheren, scheinbar auf das Gegenteil hinweisenden Wahrnehmungen vereinigen sollte. Diese Schwierigkeit besteht auch jetzt noch und ich muß bekennen, daß ich dabei in der Hauptsache vor einem ungelösten und für Menschen wahrscheinlich auch nicht lösbaren Rätsel stehe.

Ganz unzweifelhaft ist mir, daß meine früheren Vorstellungen nicht etwa bloße »Wahnideen« und »Sinnestäuschungen« gewesen sind; denn auch in der Gegenwart empfange ich noch alltäglich und allstündlich Eindrücke, welche mir völlige Klarheit darüber geben, daß, um mit Hamlet zu reden, irgend etwas faul im Staate Dänemark – d.h. hier im Verhältnisse zwischen Gott und Menschheit – ist. Wie aber der gegenwärtig bestehende Zustand sich geschichtlich entwickelt hat, ob sprungweise oder in allmählichen Übergängen, und inwieweit neben den durch Strahleneinwirkung (Wunder) veranlaßten Lebensäußerungen der Menschen noch selbständige, von Strahlen unbeeinflußte Lebensäußerungen stattfinden, bleibt allerdings auch für mich eine dunkle Frage.Vergl. übrigens das Vorwort. Ganz sicher ist für mich, daß die Ausdrücke und Redensarten von »flüchtig hingemachten Männern« und der »verfluchten Menschenspielerei«, die Fragen: »Was wird nun aus der verfluchten Geschichte?« usw., sowie das Gerede von »neuen Menschen aus Schreber'schem Geist« nicht in meinem Kopf entstanden, sondern von außen her in denselben hineingesprochen worden sind. Schon danach müßte ich annehmen, daß den damit verknüpften Vorstellungen irgend etwas Reales zugrunde liegt, irgendwelche geschichtliche Vorgänge entsprechen. Ich habe aber im Laufe der letzten sechs Jahre unausgesetzt Wahrnehmungen empfangen – und empfange dergleichen auch noch jetzt täglich und stündlich –, die für mich in zweifelsfreier Weise die Überzeugung begründen, daß alles, was von Menschen in meiner Nähe gesprochen und getan wird, auf Wunderwirkung beruht und in unmittelbarem Zusammenhang mit der Annäherung der Strahlen und dem damit abwechselnden Bestreben, sich wieder zurückzuziehen, steht.

Schon in Kap. VII habe ich erwähnt, daß ich jedes Wort, das mit mir oder in meiner Nähe gesprochen wird, jede noch so geringfügige, mit irgendwelchem Geräusch verbundene Handlung eines Menschen z.B. das Öffnen der Türschlösser auf meinem Korridor, das Klinken an der Tür meines Zimmers, das Eintreten eines Pflegers in dasselbe usw., zugleich mit einem gegen meinen Kopf geführten, ein gewisses Schmerzgefühl verursachenden Streich empfinde; das Schmerzgefühl äußert sich als ein ruckhaftes Zerren in meinem Kopfe, das, sobald Gott sich in übermäßige Entfernung zurückgezogen hat, eine sehr unangenehme Empfindung hervorruft und jedesmal – so ist wenigstens das Gefühl, das ich habe – mit dem Abreißen eines Teils der Knochensubstanz meiner Schädeldecke verbunden sein mag. Solange ich selbst – in meinem Zimmer oder im Garten – gegen Gott gewendet – laut spreche, ist alles um mich her totenstill; auf solange entsteht eben bei Gott nicht die Neigung, sich zurückzuziehen, weil er unter dem unmittelbaren Eindrucke der Lebensäußerung eines Menschen steht, der im Vollbesitze seiner Verstandeskräfte sich befindet; es gewinnt dann für mich manchmal den Anschein, als ob ich mich unter lauter wandelnden Leichen bewegte; so vollständig scheinen auf einmal alle anderen Menschen (Pfleger und Patienten) die Fähigkeit, auch nur ein einziges Wort zu sprechen, verloren zu haben.Etwas anders gestalten sich die Verhältnisse bei den Mahlzeiten, die ich seit Ostern dieses Jahres (1900) an der Familientafel des Vorstands der Anstalt, Geh. Rat Dr. Weber, einnehme, hier namentlich auch aus dem Grunde, daß dabei eine fortlaufende, nur durch geringe Pausen unterbrochene Unterhaltung geführt wird. Überhaupt treten die im Texte berührten Erscheinungen nicht immer ganz gleichmäßig hervor und haben im Laufe der Zeit gewisse Wandlungen erfahren, die namentlich mit der vermehrten Seelenwollust zusammenhängen. Manche der besprochenen Erscheinungen treten zeitweilig zurück, um dann wieder anderen Erscheinungen Platz zu machen, die in früheren Jahren noch nicht oder nur seltener zu beobachten waren. Es gilt dies namentlich von dem sogenannten »Brüllen«, auf das ich noch näher zu sprechen kommen werde. Immer aber bleibt die Grundursache die gleiche, nämlich die anscheinend für Gott nicht widerstehliche Versuchung, sich zurückzuziehen, sobald man Seelenwollust in meinem Körper nicht antrifft oder in meiner Sprache und meiner Beschäftigung der unmittelbare Beweis von dem Vorhandensein eines im Vollbesitze seiner geistigen Kräfte befindlichen Menschen nicht erkennbar ist. Das gleiche tritt ein, solange mein Blick auf irgendeinem weiblichen Wesen ruht. Sobald ich aber meinen Blick wegwende oder das durch Wunder erfolgende Schließen meiner Augen geschehen lasse, oder sobald ich vom lauten Sprechen zum Schweigen übergehe, ohne gleichzeitig irgendeine geistige Beschäftigung zu ergreifen, mit anderen Worten mich dem Nichtsdenken hingebe, treten in der allerkürzesten Frist, meist gleich im ersten Gesichte (Augenblicke) die folgenden in Wechselbeziehung zueinander stehenden Erscheinungen hervor, nämlich:

  1. irgendein Geräusch in meiner Umgebung meist in Roheitsausbrüchen der Verrückten bestehend, aus denen dieselbe ja vorwiegend gebildet wird;
  2. in meiner Person das Auftreten des Brüllwunders, bei welchem meine dem Atmungsvorgange dienenden Muskeln von dem niederen Gotte (Ariman) dergestalt in Bewegung gesetzt werden, daß ich genötigt bin, den Brüllaut auszustoßen, sofern ich nicht ganz besondere Mühe auf seine Unterdrückung verwende; zuzeiten erfolgt das Brüllen in so rascher und häufiger Wiederholung, daß für mich ein nahezu unerträglicher Zustand sich ergibt und namentlich in der Nacht das Liegenbleiben im Bette unmöglich wird;
  3. ein Sicherheben des Windes, allerdings nicht unbeeinflußt durch die sonstige Wetterlage, bei dem aber doch das Auftreten kurzer Windstöße zusammenfallend mit den Pausen meiner Denktätigkeit ganz unverkennbar ist;
  4. Das »Hilfe«-rufen der von der Gesamtmasse weiter losgelösten Gottesnerven, das um so kläglicher klingt, in je größere Entfernung sich Gott von mir zurückgezogen hat und je größer also der Weg ist, den diese Nerven offenbar in irgendwelchem Angstzustand zurücklegen müssen.

Alle diese Erscheinungen wiederholen sich an jedem Tage zu Hunderten Von Malen, sind also im Laufe der Jahre zu Zehntausenden, wenn nicht Hunderttausenden von Malen in vollkommener Gleichmäßigkeit von mir wahrgenommen worden. Den Grund habe ich bereits mehrfach angedeutet. Bei jeder Einstellung meiner Denktätigkeit erachtet Gott augenblicklich meine geistigen Fähigkeiten für erloschen, die von ihm erhoffte Zerstörung des VerstandesDaß dies das erstrebte Ziel sei, wurde früher ganz offen in der vom oberen Gotte ausgehenden, unzählige Male von mir gehörten Phrase »Wir wollen Ihnen den Verstand zerstören« eingestanden. Neuerdings wird diese Phrase seltener gebraucht, weil dieselbe bei beständiger Wiederholung ebenfalls auf eine Form des Nichtdenkungsgedankens hinauskommt. (den »Blödsinn«) für eingetreten und damit die Möglichkeit eines Rückzugs für gegeben.

Die Rückzugsaktion wird also ins Werk gesetzt und zu diesem Behufe eine »Störung« in dem in Kap. X Seite [181] bezeichneten Sinne gewundert. Dies ist das Geräusch ad 1. Gleichzeitig wird von dem niederen Gotte ebenfalls fast stets augenblicklich das sogen. Brüllen gewundert (ad 2); der Zweck scheint ein doppelter zu sein, nämlich einesteils sich im Wege des »Darstellens« den Eindruck eines gewissermaßen vor Blödsinn brüllenden Menschen zu verschaffen und andernteils die von dem oberen Gotte zur Ermöglichung einer größeren Entfernung gesetzten inneren Stimmen an dem durch das Brüllen entstehenden Geräusch ersticken zu lassen, damit der niedere Gott, der sich der Notwendigkeit des ferneren Sichanziehenlassens wenigstens halb und halb bewußt zu sein scheint, hierbei auf eine Vereinigung aller Strahlen und die damit in meinem Körper entstehende Seelenwollust rechnen kann, mit andern Worten, um sich dagegen zu sichern, daß er in meinem Körper allein ohne Seelenwollust eingehe. Die größere Entfernung bedingt (ad 3) sofort ein Entstehen von Wind (vgl. Kap.I). Nicht minder aber wird der obere Gott alsbald gewahr, daß die erhoffte Aufhebung der Anziehungskraft meiner Nerven wieder einmal nicht erreicht ist, diese vielmehr ungemindert fortbesteht; der dadurch in den zunächst losgelösten Teilen der Gottesnerven entstehende Angstzustand kommt (ad 4) bei diesen als echte Empfindung in dem Rufe »Hilfe« zum Ausdruck. Rätselhaft bleibt mir, wie vieles andere, daß die Hilferufe anscheinend von anderen Menschen nicht vernommen werden:Vergl. hierzu die Bemerkung unter IV der Nachträge erste Folge am Schlusse. die Schallempfindung, welche an mein eigenes Ohr schlägt – viele hundert Male an jedem Tage – ist eine so deutliche, daß von einer Sinnestäuschung dabei schlechterdings nicht die Rede sein kann. Auch schließt sich an die echten »Hilferufe« jedesmal sofort die auswendig gelernte Phrase an: »Wenn nur die verfluchten Hilferufe aufhörten.«

Daß alle Lebensäußerungen von Menschen in meiner Nähe, namentlich deren Sprache, auf Wunder (Strahleneinwirkung) zurückzuführen sind, tritt aber für mich auch in dem Inhalte des Gesprochenen deutlich zutage. Um diesen Satz verständlich zu machen, muß ich wieder etwas weiter ausholen. Wie bereits in Kap. IX Seite [171] bemerkt worden, sind von Gott bei dem Anbinden an Erden (vgl. Kap. IX Seite [167]) außer den damals noch existierenden geprüften Seelen gewisse Reste der früheren »Vorhöfe des Himmels«, also selig gewesener Menschenseelen aufgespart worden, zu dem Zwecke, um dieselben bei der durch die Anziehungskraft meiner Nerven bedingten Annäherung, immer mit Leichengift beladen, gleichsam als Vorposten vorauszuschicken und damit die Anziehung für die eigentlichen Gottesstrahlen selbst zu verlangsamen. Daneben glaubte man wohl auch durch die Masse des Leichengiftes, welches auf diese Weise Tag für Tag auf meinen Körper gehäuft wird, mich schließlich erdrücken, d.h. mich töten oder mir den Verstand zerstören zu können. Die betreffenden Nerven (Reste der Vorhöfe des Himmels) treten nun infolge eines wunderbaren Zusammenhangs, der offenbar aufs innigste in dem Wesen des göttlichen Schaffens begründet ist, daher auch von mir nicht näher erklärt werden kann, seit Jahren in der Gestalt gewunderter Vögel auf. Nur die Tatsache selbst, daß es sich bei den in diesen Vögeln steckenden Nerven um Reste (einzelne Nerven) selig gewesener Menschenseelen handelt, ist für mich aufgrund tausendfältiger seit Jahren alltäglich zur Wiederholung gelangender Wahrnehmungen ganz unzweifelhaft.

Ich kenne die einzelnen hierher gehörigen Nerven genau nach der Klangfarbe ihrer mir seit Jahren vertrautgewordenen Stimmen, ich weiß genau, welche der sinnlosen auswendig gelernten Redensarten ich von einem jeden von ihnen zu erwarten habe, je nachdem sie von dem Lager des niederen Gottes oder von demjenigen des oberen Gottes ausgesendet (von diesem oder jenem gewundert) worden sind. Ihre Eigenschaft als ehemalige menschliche Nerven geht zur Evidenz daraus hervor, daß die gewunderten Vögel, sämtlich ohne Ausnahme, jedesmal wenn sie das ihnen aufgepackte Leichengift vollständig abgelagert, d.h. die ihnen gewissermaßen eingebleuten Phrasen abgeleiert haben, der dann in ihnen entstehenden echten Empfindung des Behagens an der Seelenwollust meines Körpers, an welcher sie nunmehr teilnahmen, mit den Worten »Verfluchter Kerl«Die Worte »Verfluchter Kerl« haben hierbei keineswegs einen gehässigen Beigeschmack, sondern gerade im Gegenteil, wie es auch schon in der Grundsprache der Fall war, den einer freudigen Anerkennung oder Bewunderung. oder »Ei verflucht einigermaßen« also in menschlichen Lauten Ausdruck geben, den einzigen Worten, deren sie im Ausdruck einer echten Empfindung überhaupt noch fähig sind. Für das, was sie vorher gesprochen haben, die auswendig gelernten Phrasen – um diesen natürlich auch nur bildlich zu verstehenden Ausdruck beizubehalten – haben sie nicht das geringste Verständnis; sie leiern dieselben ab, ohne die Bedeutung der Worte zu kennen; sie stehen eben sonst im Punkte der Intelligenz anscheinend nicht höher, als irgendwelche anderen natürlichen Vögel.

Wie es gemacht wird, daß ihre Nerven in Schwingungen versetzt werden, vermöge deren die von ihnen gesprochenen oder richtiger gelispelten Laute dem Klange der menschlichen Worte entsprechen, aus denen die auswendig gelernten Phrasen bestehen, vermag ich nicht zu sagen: das Technische an der Sache kann ich daher nicht näher erklären, vermute auch, daß es sich hierbei um für Menschen überhaupt nicht faßbare, weil übersinnliche Dinge handelt.(Erst einige Tage nach Auffassung des obigen Textes niedergeschrieben). Vielleicht ist ein ähnlicher Vorgang in Frage, wie derjenige, der nach Kap. XI, Seite [191 f.] mit meinen eigenen Nerven versucht worden ist und von mir als vorübergehende Verdummung oder vorübergehende Beeinträchtigung der Denkfähigkeit empfunden wurde. Man könnte sich vorstellen, daß das Überziehen der Vogelnerven mit Leichengift sie der natürlichen Schwingungsfähigkeit, also der natürlichen Empfindung beraube und gewissermaßen dehnend auf die Nerven wirke, so daß sie nur noch die lang hinausgezogenen Schwingungen zu machen imstande seien, die den namentlich in neuerer Zeit überaus langsam gesprochenen menschlichen Worten entsprechen. Wohl aber ist mir durch jahrelange Erfahrung die Wirkung genau bekannt, welche darin besteht, daß die Nerven der gewunderten Vögel, solange sie mit dem Ableiern der ihnen eingebleuten (auswendig gelernten) Phrasen beschäftigt sind, gegen alle Empfindungen, die sie beim Eintritt in meinen Körper sonst haben würden, namentlich gegen die Seelenwollust und Augeneindrücke unempfänglich gemacht sind, gleichsam als ob sie mit verbundenen Augen bei mir eingingen und ihr natürliches Empfindungsvermögen in irgendwelcher Weise suspendiert wäre. Dies ist denn auch der Zweck der ganzen Einrichtung und auch der Grund, weshalb im Lauf der Jahre – entsprechend dem Wachstum der Seelenwollust – das Tempo, in dem die auswendig gelernten Phrasen gesprochen werden, immer mehr verlangsamt worden ist: es soll den bei mir eingehenden Stimmen als Trägern des Leichengiftes die zerstörende Schärfe des letzteren möglichst lange erhalten werden. Dabei tritt nun aber eine höchst eigentümliche Erscheinung hervor, die auch für die Tragweite der Schäden, die die betreffenden Stimmen oder Strahlen in meinem Körper anrichten, von großer Bedeutung ist.

Den Sinn der von ihnen gesprochenen Worte verstehen die gewunderten Vögel, wie schon erwähnt, nicht; wohl aber haben sie, wie es scheint, eine natürliche Empfänglichkeit für den Gleichklang der Laute. Sobald sie daher, während sie noch mit Ableiern der auswendig gelernten Phrasen beschäftigt sind, entweder in den von mir selbst ausgehenden Schwingungen meiner Nerven (meinen Gedanken) oder in dem, was von meiner Umgebung gesprochen wird, Worte vernehmen, die mit dem, was sie gerade selbst zu sprechen (abzuleiern) haben, gleichen oder annähernd gleichen Klang haben, so erzeugt dies für sie anscheinend einen Zustand der Überraschung, infolgedessen sie auf den Gleichklang sozusagen hereinfallen, d.h. über der Überraschung den Rest der noch von ihnen abzuleiernden Phrasen vergessen und plötzlich in echter Empfindung eingehen.

Der Gleichklang braucht, wie gesagt, kein vollständiger zu ¦sein; es genügt, da der Sinn der Worte eben von den Vögeln nicht begriffen wird, daß ähnlich klingende Laute von ihnen vernommen werden; es verschlägt daher für sie wenig, ob etwa – um einige Beispiele anzuführen – von

»Santiago« oder »Carthago«

»Chinesentum« oder »Jesum Christum«

»Abendrot« oder »Atemnot«

»Ariman« oder »Ackermann«

»Briefbeschwerer« oder »Herr Prüfer schwört« usw. usw. gesprochen wird.Die obigen Beispiele sind dem wirklich gebrauchten. Aufschreibe- und Sprechmaterial entnommen; u. a. ist ›Herr Prüfer‹ der Namen eines früheren Patienten der hiesigen Anstalt, der früher viel genannt wurde. Ich könnte die Zahl der Beispiele auf beliebige Hunderte oder Tausende vermehren, will es aber an dem obigen genügen lassen. (Fußnote 91 wurde gestrichen, weil sie auf Flechsig verweist. Siehe S. 341 und 425 f. hierzu.)

Die für mich auf diese Weise gebotene Möglichkeit, die mit mir sprechenden Vögel durch willkürliches Zusammenwerfen ähnlich klingender Worte zu verwirren, hat mir in der sonst kaum erträglichen Öde des Stimmengewäsches oft als eine Art Kurzweil dienen und mir eine allerdings etwas sonderbare Unterhaltung bereiten müssen. So scherzhaft dies aber auch klingen mag, so hatte die Sache doch für mich auch eine sehr ernste Bedeutung und hat dieselbe zum Teil auch noch in der Gegenwart. Der obere und niedere Gott, die ebenso gut wie ich, von der Eigenart der gewunderten Vögel, auf gleichklingende Laute hineinzufallen, unterrichtet sind, spielen nämlich diese Eigenart wechselseitig als Trumpf gegeneinander aus. Beide haben das Bestreben, sich zurückzuhalten und immer den anderen Teil vorzuschieben; da nun durch das Hereinfallen der Vögel aus dem Gleichklang jedesmal die Anziehung desjenigen Teils beschleunigt wird, zu dessen Lager die betreffenden Stimmen gehören, so läßt der obere Gott von den Personen meiner Umgebung mit Vorliebe solche Worte sprechen, die dem Aufschreibe- und Stimmenmaterial des niederen Gottes angehören und umgekehrt, während ich meinerseits, da mir an einer Vereinigung aller Strahlen, also an einer gleichmäßigen Anziehung gelegen ist, stets entsprechend entgegenzuwirken suche. Auch hier ständen mir die Beispiele fast so zahlreich zu Gebote, wie der Sand am Meere.

Um nur einiges wenige anzuführen, sei erwähnt, daß u. a. das »elektrische Licht« und die »Eisenbahnen«, sowie – in dem im Kap. XIII S. [214] angegebenen Zusammenhange – die »kolossalen Kräfte« und der »aussichtslose Widerstand« zu dem Aufschreibematerial des niederen Gottes gehören. Der obere Gott läßt daher in den Unterhaltungen, die in meiner Gegenwart – auch an der Mittagstafel des Anstaltsvorstandes geführt werden – in einer Häufigkeit, die geradezu frappant ist und jeden Gedanken an einen Zufall ausschließt, von »elektrischen Bahnen« sprechen, alles mögliche »kolossal« finden und bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit von »Aussichten« erzählen. Für mich liegt in den betreffenden Vorgängen – neben vielem anderen – der unwiderlegliche Beweis, daß die Nerven der Menschen, welche diese Worte gebrauchen – ihnen selbst natürlich unbewußt – durch Strahlenwirkung (Wunder) hierzu veranlaßt werden, mit anderen Worten der Beweis der Wirklichkeit der sogen. »Menschenspielerei«, von welcher der niedere Gott in früheren Jahren unzählige Male zu reden pflegte. Auch hier bin ich mir bewußt, wie unglaublich das von mir Dargelegte für andere Menschen klingen muß; die die Bekräftigung desselben enthaltenden Erfahrungen werden aber von mir an jedem Tage und in jeder Stunde, an jedem Orte und bei jeder Gelegenheit in so erdrückender Fülle gemacht, daß jeder Zweifel an der Objektivität der geschilderten Verhältnisse für mich ausgeschlossen ist. Einzelheiten darüber gedenke ich vielleicht noch später zu geben.

In betreff der gewunderten Vögel habe ich dem Vorstehenden noch einiges hinzuzufügen. Es zeigt sich bei ihnen die merkwürdige Erscheinung, daß die einzelnen dabei beteiligten Nerven oder Seelen nach der Verschiedenheit der Jahreszeiten in der Gestalt verschiedener Vogel arten auftreten. Dieselben Nerven sind im Frühjahr etwa in den Leibern von Finken oder anderen Singvögeln, im Sommer in denjenigen von Schwalben, und im Winter in denjenigen von Sperlingen oder Krähen enthalten. Die Identität der betreffenden Seelen beruht für mich nach der mir wohl bekannten Klangfarbe ihrer Stimmen, sowie nach den immer gleichmäßig von ihnen gehörten, ihnen sozusagen einmal eingepfropftenDer oben gewählte Ausdruck »eingepfropft«, auf den ich erst im Fortgang meiner Arbeit gekommen bin, scheint mir das Verhältnis noch besser auszudrücken, als die früher gebrauchten Ausdrücke »auswendig gelernt« und »eingebleut«. Bei den letzteren Ausdrücken könnte man noch immer an ein Insbewußtseinaufnehmen des Sinnes der Worte denken; davon ist aber bei den gewunderten Vögeln eben nicht die Rede. Ihre Sprache steht rücksichtlich der eingepfropften Redensarten nicht einmal auf der Höhe der Sprache eines sprechenden Papageis. Denn dieser wiederholt die einmal gelernten Worte kraft eigenen Antriebs, also einer Art freier Willensbestimmung. Die gewunderten Vögel aber müssen die eingepfropften Redensarten ableiern, ohne jede Rücksicht auf Zeit und Gelegenheit und gleichviel, ob sie wollen oder nicht. Redensarten außer allem Zweifel.

Danach ergibt sich von selbst die Frage, ob dieselben überhaupt ein kontinuierliches Leben haben können oder nicht von Tag zu Tag oder wenigstens in gewissen längeren Zeitabschnitten neu gewundert werden. Ich kann diese Frage nur aufwerfen, nicht aber beantworten. Ich nehme wahr, daß die gewunderten Vögel fressen und ausleeren, wie sonst die natürlichen Vögel; es wäre ja also möglich, daß der gewunderte Zustand durch Nahrungsaufnahme auf einige Zeit aufrechterhalten würde; auch habe ich im Frühjahr wiederholt Nesterbau beobachtet, was auf eine Fortpflanzungsfähigkeit hinzudeuten scheint. Auf der anderen Seite wird mir eben durch ihre Sprache gewiß, daß sie in gewissen anderen Beziehungen nicht vollkommen natürliche Vögel sind. Ihre Zahl ist sehr erheblich, anscheinend in die Hunderte gehend, so daß ich eine bestimmte Ziffer nicht anzugeben wage. Sie zerfallen nach den von ihnen gesprochenen Redensarten in zwei Gruppen, nach denen sie sich deutlich als teils von dem niederen Gotte, teils von dem oberen Gotte ausgehend unterscheiden.

Zu der Gruppe des niederen Gottes gehört namentlich eine Seele in Vogelgestalt, die mir fast stets die nächste ist und daher von den übrigen Stimmen schon seit Jahren als mein »kleiner Freund« bezeichnet zu werden pflegt. Sie erscheint im Frühjahr meist als Specht oder Amsel, im Sommer als Schwalbe und im Winter als Sperling. Die ihr scherzweise gegebene Bezeichnung als »picus, der Specht« wird von den übrigen Stimmen auch dann aufrechterhalten, wenn sie als Amsel, Schwalbe oder Sperling auftritt. Ich kenne genau die einzelnen im Laufe der Jahre ziemlich zahlreich gewordenen Redensarten, die ihr in konstanter Wiederholung zum Sprechen mitgegeben werden und habe darüber, ebenso wie bei den anderen gewunderten Vögeln schon öfters Verzeichnisse aufgestellt, die sich stets als zutreffend erwiesen. Einer großen Anzahl der übrigen Vogelseelen habe ich scherzweise zur Unterscheidung Mädchennamen beigelegt, da sie sich sämtlich nach ihrer Neugier, ihrem Hang zur Wollust usw. am ersten mit kleinen Mädchen vergleichen lassen. Diese Mädchennamen sind dann zum Teil auch von den Gottesstrahlen aufgegriffen und zur Bezeichnung der betreffenden Vogelseelen beibehalten worden. Zu den gewunderten Vögeln gehören alle rascher fliegenden Vögel, also namentlich alle Singvögel, ferner Schwalben, Sperlinge, Krähen usw.; von diesen Vogelarten habe ich nie im Laufe der verflossenen Jahre auch nur ein einziges Exemplar zu sehen bekommen, das nicht gesprochen hätte; auch bei den beiden Wagenausfahrten, die ich im Sommer dieses Jahres (1900) unternommen habe,Vorher, also nahezu sechs Jahre hindurch, bin ich nicht aus den Mauern der Anstalt herausgekommen. haben sie mich jedesmal auf dem ganzen Wege und nach dem Ziele meines Ausflugs begleitet. Dagegen sprechen nicht die auf dem Hofe der hiesigen Anstalt befindlichen Tauben ebensowenig, soweit ich beobachtet habe, ein in einer Dienstwohnung derselben eingefangener Kanarienvogel, sowie die Hühner, Gänse und Enten, die ich teils von meinen Fenstern aus in den unterhalb der Anstalt liegenden Grundstücken teils auf den erwähnten beiden Ausflügen in den dabei von mir berührten Ortschaften gesehen habe; ich muß also annehmen, daß es sich hierbei um einfache, natürliche Vögel handelt. Die ganze Erscheinung der sprechenden Vögel hat etwas so Wunderbares und Märchenhaftes, daß es für mich von höchstem Interesse wäre, die Vogelwelt in anderen Teilen des Landes zu beobachten, da ich natürlich nicht voraussetzen kann, daß die in größerer Entfernung gelegenen Laubwälder usw. der Vogelbevölkerung gänzlich entbehren.(Zusatz v. März 1903.) Das Sprechen aller frei fliegenden Vögel hat auch in den inzwischen vergangenen Jahren, in denen ich den Aufenthalt vielfach gewechselt habe, ununterbrochen fortgedauert und findet bis auf diesen Tag noch statt. Im übrigen würde ich jetzt anstatt des Ausdrucks »gewunderte Vögel«, der oben im Texte gebraucht ist, den Ausdruck »sprechende Vögel« vorziehen. In früherer Zeit habe ich mir eben das Sprechen der Vögel nicht anders erklären zu können geglaubt, als daß diese Vögel als solche gewundert, d.h. jeweilig neu geschaffen worden seien. Nach allem, was ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, möchte ich es für wahrscheinlicher halten, daß es sich um durch natürliche Fortpflanzung entstandene Vögel handelt, in deren Leiber nur auf irgendwelchem übersinnlichen Wege die noch vorhandenen dürftigen Reste der »Vorhöfe des Himmels«, also selig gewesener Menschenseelen eingefügt worden sind oder jeweilig neu eingefügt werden. Daß diese Seelen (Nerven) aber in der Tat in den Vogelleibern darinstecken (vielleicht neben den, den betreffenden Vögeln sonst eigentümlichen Nerven und jedenfalls ohne das frühere Identitätsbewußtsein) ist mir aus den im Texte entwickelten Gründen nach wie vor vollkommen unzweifelhaft.


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