Daniel Paul Schreber
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Daniel Paul Schreber

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I. Gott und Unsterblichkeit

Die menschliche Seele ist in den Nerven des Körpers enthalten, über deren physikalische Natur ich als Laie nichts weiter aussagen kann, als daß sie Gebilde von außerordentlicher Feinheit – den feinsten Zwirnsfäden – vergleichbar sind, auf deren Erregbarkeit durch äußere Eindrücke das gesamte geistige Leben des Menschen beruht. Die Nerven werden dadurch in Schwingungen versetzt, die in nicht weiter zu erklärender Weise das Gefühl von Lust und Unlust erzeugen; sie besitzen die Fähigkeit, die Erinnerung an die empfangenen Eindrücke festzuhalten (das menschliche Gedächtnis) und zugleich die Kraft, durch Anspannung ihrer Willensenergie die Muskeln des Körpers, den sie bewohnen, zu irgendwelchen beliebigen Tätigkeitsäußerungen zu veranlassen. Sie entwickeln sich von den zartesten Anfängen (als menschliche Leibesfrucht, als Kindesseele) zu einem weitschichtigen, die ausgedehntesten Gebiete des menschlichen Wissens umfassenden System (der Seele des gereiften Mannes). Ein Teil der Nerven ist bloß zur Aufnahme sinnlicher Eindrücke geeignet (Gesichts-, Gehörs-, Tast-, Wollustnerven usw.), die also nur der Licht-, Schall-, Wärme- und Kälteempfindung, des Hungergefühles, des Wollust- und Schmerzgefühles usw. fähig sind; andere Nerven (die Verstandesnerven) empfangen und bewahren die geistigen Eindrücke und geben als Willensorgane dem ganzen Organismus des Menschen den Anstoß zu den Äußerungen seiner auf die Außenwelt wirkenden Kraft. Dabei scheint das Verhältnis stattzufinden, daß jeder einzelne Verstandesnerv die gesamte geistige Individualität des Menschen repräsentiert, auf jedem einzelnen Verstandesnerv die Gesamtheit der Erinnerungen sozusagen eingeschriebenIst diese Annahme richtig, so löst sich damit zugleich das Problem von der Vererbung und Variabilität, d.h. der Tatsache, daß Kinder ihren Eltern und Voreltern in gewissen Beziehungen gleichen und in gewissen anderen Beziehungen von ihnen abweichen. Der männliche Samen enthält einen Nerv des Vaters und vereinigt sich mit einem aus dem Leib der Mutter entnommenen Nerven zu einer neu entstehenden Einheit. Diese neue Einheit – das spätere Kind – bringt also den Vater und die Mutter, nach Befinden vorwiegend den ersteren oder die letztere, von neuem zur Erscheinung, empfängt dann ihrerseits während ihres Lebens neue Eindrücke und überträgt die auf diese Weise neu erworbene Eigenart wiederum auf ihre Nachkommen.

Die Vorstellung von einem die geistige Einheit des Menschen darstellenden besonderen Bestimmungsnerven, wie sie meines Wissens dem gleichnamigen du Prel'schen Werke zugrunde liegt, dürfte demnach in Nichts zerfallen.
ist und die größere oder geringere Zahl der vorhandenen Verstandesnerven nur von Einfluß ist auf die Zeitdauer, während deren diese Erinnerungen festgehalten werden können. Solange der Mensch lebt, ist derselbe Körper und Seele zugleich; die Nerven (die Seele des Menschen) werden von dem Körper, dessen Funktion mit denen der höheren Tiere im wesentlichen übereinstimmen, ernährt und in lebendiger Bewegung erhalten. Verliert der Körper seine Lebenskraft, so tritt für die Nerven der Zustand der Bewußtlosigkeit ein, den wir Tod nennen und der schon im Schlaf vorgebildet ist. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Seele wirklich erloschen sei; die empfangenen Eindrücke bleiben vielmehr an den Nerven haften; die Seele macht nur sozusagen seinen Winterschlaf durch, wie manche niedere Tiere, und kann in der weiter unten zu berührenden Weise zu neuem Leben erweckt werden.

Gott ist vornherein nur Nerv, nicht Körper, demnach etwas der menschlichen Seele Verwandtes. Die Gottesnerven sind jedoch nicht, wie im menschlichen Körper nur in beschränkter Zahl vorhanden, sondern unendlich oder ewig. Sie besitzen die Eigenschaften, die den menschlichen Nerven innewohnen, in einer alle menschlichen Begriffe übersteigenden Potenz. Sie haben namentlich die Fähigkeit, sich umzusetzen in alle möglichen Dinge der erschaffenen Welt; in dieser Funktion heißen sie Strahlen; hierin liegt das Wesen des göttlichen Schaffens. Zwischen Gott und dem gestirnten Himmel besteht eine innige Beziehung. Ich wage nicht zu entscheiden, ob man geradezu sagen darf, daß Gott und die Sternenwelt eines und dasselbe ist, oder ob man sich die Gesamtheit der Gottesnerven als etwas noch über und hinter den Sternen Lagerndes und demnach die Sterne selbst und insbesondere unsere Sonne nur als Stationen vorzustellen hat, auf denen die schaffende Wundergewalt Gottes den Weg zu unserer Erde (und etwaigen anderen bewohnten Planeten) zurücklegt.Von alledem haben auch unsere Dichter eine Ahnung »Droben überm Sternenzelt muß ein guter Vater wohnen« usw. Ebensowenig getraue ich mir zu sagen, ob auch die Weltkörper selbst (Fixsterne, Planeten usw.) von Gott geschaffen worden sind, oder das göttliche Schaffen sich nur auf die organische Welt bezieht, und demnach neben der für mich unmittelbar gewiß gewordenen Existenz eines lebendigen Gottes doch auch noch Raum bliebe für die Nebularhypothese von Kant-Laplace. Die volle Wahrheit liegt vielleicht (nach Art der vierten Dimension) in einer für Menschen nicht faßbaren Diagonale beider Vorstellungsrichtungen. Jedenfalls ist die licht- und wärmespendende Kraft der Sonne, vermöge deren sie die Ursache alles organischen Lebens auf der Erde ist, nur als eine mittelbare Lebensäußerung Gottes anzusehen, weshalb denn auch die der Sonne von alters her bei so vielen Völkern gezollte göttliche Verehrung zwar nicht die volle Wahrheit in sich schließt, aber doch einen hochbedeutsamen, von der Wahrheit selbst sich nicht allzuweit entfernenden Kern derselben enthält.

Die Lehren unserer Astronomie hinsichtlich der Bewegungen, der Entfernung und der physikalischen Beschaffenheit der Himmelskörper usw. mögen im allgemeinen richtig sein. Allein, soviel ist mir auf Grund meiner inneren Erfahrungen unzweifelhaft, daß auch unsere Astronomie hinsichtlich der licht- und wärmespendenden Kraft der Gestirne und namentlich unserer Sonne die volle Wahrheit noch nicht erfaßt hat, sondern daß man dieselbe mittelbar oder unmittelbar nur als den der Erde zugewendeten Teil der schaffenden Wundergewalt Gottes aufzufassen hat. Als Beleg für diese Behauptung führe ich vorläufig nur die Tatsache an, daß die Sonne seit Jahren in menschlichen Worten mit mir spricht und sich damit als belebtes Wesen oder als Organ eines noch hinter ihr stehenden höheren Wesens zu erkennen gibt. Gott macht auch das Wetter; dies geschieht infolge der stärkeren oder geringeren Wärmeausstrahlung der Sonne in der Regel sozusagen von selbst, kann aber in besonderen Fällen von Gott nach eigens damit verfolgten Zwecken in bestimmte Richtungen gelenkt werden. Ich habe z.B. ziemlich sichere Andeutungen darüber erhalten, daß der harte Winter des Jahres 1870-1871 eine von Gott beschlossene Sache war, um bei gewissen Anlässen das Kriegsglück auf Seite der Deutschen zu wenden, und auch das stolze Wort von der Vernichtung der spanischen Armada Philipps II. im Jahre 1588 »Deus afflavit et dissipati sunt« (Gott fachte den Wind an und sie verschwanden) enthält höchst wahrscheinlich eine geschichtliche Wahrheit. Dabei nenne ich die Sonne nur als das der Erde zunächstgelegene Werkzeug der Äußerung der göttlichen Willensmacht; in Wirklichkeit kommt für die Gestaltung der Wetterlage auch die Gesamtheit der übrigen Gestirne in Betracht. Insbesondere entsteht Wind oder Sturm dadurch, daß sich Gott in größere Entfernung von der Erde zurückzieht; unter den jetzt eingetretenen weltordnungswidrigen Umständen hat sich das Verhältnis, um dies gleich im voraus zu erwähnen, dahin verschoben, daß das Wetter in gewissem Maße von meinem Tun und Denken abhängig ist; sobald ich mich dem Nichtsdenken hingebe, oder, was dasselbe besagt, mit einer von der Tätigkeit des menschlichen Geistes zeugenden Beschäftigung, z.B. im Garten mit Schachspielen aufhöre, erhebt sich sofort der Wind. Wer an dieser allerdings geradezu abenteuerlich klingenden Behauptung zweifeln wollte, dem kann ich fast täglich Gelegenheit geben, sich von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, ebenso wie ich dies in neuerer Zeit schon wiederholt verschiedenen Personen (dem Geh. Rat, meiner Frau, meiner Schwester usw.) gegenüber mit dem sogenannten Brüllen getan habe. Der Grund liegt eben darin, daß sich Gott, sobald ich mich dem Nichtsdenken hingebe, von mir als einer vermeintlich blödsinnigen Person zurückziehen zu können glaubt.

Vermöge des von der Sonne und den übrigen Gestirnen ausgehenden Lichtes hat Gott die Fähigkeit, alles was auf der Erde (und etwaigen anderen bewohnten Planeten) vorgeht, wahrzunehmen, der Mensch würde sagen: zu sehen; insofern kann man bildlich von der Sonne und dem Sternenlichte als dem Auge Gottes reden. Er hat Freude an allem, was er sieht, als Erzeugnissen seiner Schöpferkraft, ähnlich wie der Mensch sich über seiner Hände Arbeit oder über das von seinem Geist Geschaffene freut. Dabei war jedoch – bis zu der weiter unten zu erwähnenden Krisis – das Verhältnis so, daß Gott die von ihm geschaffene Welt und die darauf befindlichen organischen Wesen (Pflanzen, Tiere, Menschen) im allgemeinen sich selbst überließ und nur durch Fortdauer der Sonnenwärme für die Möglichkeit ihrer Erhaltung, Fortpflanzung usw. sorgte. Ein unmittelbares Eingreifen Gottes in die Geschicke der einzelnen Menschen und Völker fand – ich bezeichne diesen Zustand als den weltordnungsmäßigen Zustand – in der Regel nicht statt. Ausnahmsweise konnte dies wohl ab und zu der Fall sein; allzuhäufig konnte und durfte es aber nicht geschehen, weil die damit verbundene Annäherung Gottes an die lebende Menschheit – aus weiter unten zu entwickelnden Gründen – für Gott selbst mit gewissen Gefahren verbunden gewesen wäre. So konnte etwa ein besonders inbrünstiges Gebet Gott vielleicht die Veranlassung geben, im einzelnen Falle mit einem Wunder helfend einzugreifenDaß Gott z.B. in der Lage ist, jeden Krankheitskeim im menschlichen Körper durch Entsendung einiger reiner Strahlen zu beseitigen, habe ich an meinem eigenen Körper in unzähligen Fällen erlebt und erlebe dies auch jetzt noch alltäglich von neuem. oder das Geschick ganzer Völker (im Kriege usw.) durch Wunder in bestimmte Richtungen zu lenken. Er konnte sich auch mit einzelnen hochbegabten Menschen (Dichtern usw.) in Verbindung setzen (»Nervenanhang bei demselben nehmen«, und die mit mir sprechenden Stimmen diesen Vorgang bezeichnen), um diese mit irgendwelchen befruchtenden Gedanken und Vorstellungen über das Jenseits (namentlich im Traume) zu begnadigen. Allein zur Regel durfte ein solcher »Nervenanhang«, wie gesagt, nicht werden, weil vermöge eines nicht weiter aufzuklärenden Zusammenhanges die Nerven lebender Menschen namentlich im Zustande einer hochgradigen Erregung eine derartige Anziehungskraft auf die Gottesnerven besitzen, daß Gott nicht wieder von ihnen hätte loskommen können, also in seiner eigenen Existenz bedroht gewesen wäre.(Zusatz vom November 1902). Die Vorstellung einer auf so ungeheure Entfernung wirkenden, von einzelnen menschlichen Körpern oder – in meinem Falle – von einem einzigen menschlichen Körper ausgehenden Anziehungskraft, müßte, an und für sich betrachtet, d.h. wenn man dabei nach Art der uns sonst bekannten Naturkräfte an ein bloß mechanisch wirkendes Agens denken wollte, geradezu absurd erscheinen. Gleichwohl ist das Wirken der Anziehungskraft als Tatsache für mich vollkommen unzweifelhaft. Einigermaßen begreiflich und dem menschlichen Verständnis näher gerückt wird vielleicht die Erscheinung, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Strahlen belebte Wesen sind und daß es sich daher bei der Anziehungskraft nicht um eine rein mechanisch wirkende Kraft, sondern um etwas den psychologischen Triebfedern ähnliches handelt: »Anziehend« ist eben auch für Strahlen dasjenige, was interessiert. Das Verhältnis scheint also ähnlich zu liegen, wie dasjenige, von dem Goethe in seinem »Fischer« singt: »Halb zog sie ihn, halb sank er hin.«

Ein regelmäßiger Verkehr Gottes mit Menschenseelen fand nach der Weltordnung erst nach dem Tode statt. Den Leichen konnte sich Gott ohne Gefahr nähern, um ihre Nerven, in denen das Selbstbewußtsein nicht erloschen war, sondern nur ruhte, vermittelst der Strahlenkraft aus dem Körper heraus- und zu sich heraufzuziehen und sie damit zu neuem himmlischen Leben zu erwecken; das Selbstbewußtsein kehrte mit der Strahleneinwirkung zurück. Das neue jenseitige Leben ist die Seligkeit, zu der die Menschenseele erhoben werden konnte. Allerdings konnte dies nicht ohne vorgängige Läuterung und Sichtung der Menschennerven geschehen, die je nach der verschiedenen Beschaffenheit der Menschenseelen kürzerer oder längerer Zeit und nach Befinden noch gewisser Mittelstufen als Vorbereitung bedurfte. Für Gott – oder wenn man diesen Ausdruck vorzieht, im Himmel – waren nur reine Menschennerven zu gebrauchen, weil es ihre Bestimmung war, Gott selbst angegliedert zu werden und schließlich als »Vorhöfe des Himmels«Der Ausdruck »Vorhöfe des Himmels« ist nicht von mir erfunden, sondern gibt, wie alle anderen Ausdrucke, die in diesem Aufsatz mit Anführungsstrichen versehen sind (so z. B. oben »flüchtig hingemachte Männer«. »Traumleben« usw.) nur die Bezeichnung wieder, unter welcher jedesmal die mit mir redenden Stimmen den betreffenden Vorgang mir mitgeteilt haben. Es sind Ausdrücke, auf die ich nie von selbst gekommen sein würde, die ich nie von Menschen gehört habe, zum Teil auch wissenschaftlicher, insbesondere medizinischer Natur, von denen ich nicht einmal weiß, ob sie der betreffenden menschlichen Wissenschaft geläufig sind. In einzelnen besonders bezeichneten Fällen werde ich auf dieses merkwürdige Verhältnis noch weiter aufmerksam machen. gewissermaßen Bestandteile Gottes selbst zu werden. Nerven sittlich verkommener Menschen sind geschwärzt; sittlich reine Menschen haben weiße Nerven; je höher ein Mensch sittlich in seinem Leben gestanden hat, desto mehr wird die Beschaffenheit seiner Nerven der vollkommenen Weiße oder Reinheit sich nähern, die den Gottesnerven von vornherein eigen ist. Bei sittlich ganz tiefstehenden Menschen ist vielleicht ein großer Teil der Nerven überhaupt nicht brauchbar; danach bestimmen sich die verschiedenen Grade der Seligkeit, zu der ein Mensch aufsteigen kann und wahrscheinlich auch die Zeitdauer, während deren ein Selbstbewußtsein im jenseitigen Leben sich aufrechterhalten läßt. Ganz ohne vorgängige Läuterung der Nerven wird es kaum jemals abgehen, da schwerlich ein Mensch zu finden sein wird, der ganz von Sünde frei wäre, dessen Nerven nicht also irgendeinmal in seinem vergangenen Leben durch unsittliches Verhalten verunreinigt worden wären. Eine ganz genaue Beschreibung des Läuterungsvorgangs zu liefern, ist auch für mich nicht möglich; immerhin habe ich verschiedene wertvolle Andeutungen darüber erhalten. Es scheint, daß das Läuterungsverfahren mit irgendeiner für die Seelen das Gefühl der Unlust erzeugenden ArbeitsleistungIn betreff der Flechsigschen Seele war z. B. einmal von einem »Kärrnerdienste« die Rede, den dieselbe habe leisten müssen. oder einem mit Unbehagen verknüpften vielleicht unterirdischen Aufenthalt verbunden war, dessen es bedurfte, um sie nach und nach der Reinigung zuzuführen.

Wer hierauf den Ausdruck »Strafe« anwenden will, mag ja in gewissem Sinne recht haben; nur ist im Unterschied von dem menschlichen Strafbegriff daran festzuhalten, daß der Zweck nicht in der Zufügung eines Übels, sondern nur in der Beschaffung einer notwendigen Vorbedingung für die Reinigung bestand. Hiermit erklären sich, müssen aber zum Teil auch berichtigt werden, die den meisten Religionen geläufigen Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer usw. Die zu reinigenden Seelen lernten während der Reinigung die von Gott selbst gesprochene Sprache, die sog. »Grundsprache«, ein etwas altertümliches, aber immerhin kraftvolles Deutsch, das sich namentlich durch einen großen Reichtum an Euphemismen auszeichnet (so z. B. Lohn in der gerade umgekehrten Bedeutung für Strafe. Gift für Speise. Saft für Gift, unheilig für heilig usw. Gott selbst hieß »rücksichtlich dessen, der ist und sein wird« – Umschreibung der Ewigkeit – und wurde mit »Ew. Majestät treugehorsamer« angeredet). Die Läuterung wurde als »Prüfung« bezeichnet; Seelen, die das Läuterungsverfahren noch nicht durchgemacht hatten, hießen nicht, wie man erwarten sollte, »ungeprüfte Seelen«, sondern gerade umgekehrt, jener Neigung zum Euphemismus entsprechend »geprüfte Seelen«. Die noch in der Läuterung begriffenen Seelen wurden in verschiedenen Abstufungen »Satane«, »Teufel«. »Hilfsteufel«. »Oberteufel« und »Grundteufel« genannt; namentlich der letztere Ausdruck scheint auf einen unterirdischen Aufenthalt hinzuweisen. Die »Teufel« usw. hatten, wenn sie als flüchtig hingemachte Männer gesetzt wurden, eine eigentümliche Farbe (etwa das Möhrenrot) und einen eigentümlichen widerwärtigen Geruch, wie ich selbst in einer ganzen Anzahl von Fällen in der sog. Pierson'schen Anstalt in Coswig (mir als Teufelsküche bezeichnet) erlebt habe. Ich habe z. B. den Herrn v. W. und einen Herrn von O., den wir im Ostseebade Warnemünde kennengelernt hatten, als Teufel mit eigentümlich rotem Gesicht und roten Händen und den Geh. Rat W. als Oberteufel gesehen.

Von Judas Ischariot habe ich vernommen, daß er wegen seines Verrats an Jesus Christus Grundteufel gewesen sei. Man darf sich aber diese Teufel nicht etwa, den christlichen Religionsbegriffen entsprechend, als gottfeindliche Mächte vorstellen, im Gegenteil waren dieselben fast durchgängig bereits sehr gottesfürchtig und unterlagen eben nur noch dem Reinigungsverfahren. Der oben aufgestellte Satz, daß Gott sich der deutschen Sprache in der Form der sog. »Grundsprache« bedient habe, darf natürlich nicht dahin verstanden werden, als ob die Seligkeit nur für die Deutschen bestimmt gewesen sei. Immerhin waren die Deutschen in neuerer Zeit (wahrscheinlich seit der Reformation, vielleicht aber auch schon seit der Völkerwanderung) das auserwählte Volk Gottes, dessen Sprache sich Gott vorzugsweise bediente. Das auserwählte Volk Gottes in diesem Sinne sind nacheinander im Laufe der Geschichte – als die jeweilig sittlich tüchtigsten Völker – die alten Juden, die alten Perser (diese in ganz besonders hervorragendem Maße, worüber weiter unten das Nähere), die »Graeco-Romanen« (vielleicht in der Zeit des römisch-griechischen Altertums, möglicherweise aber auch als »Franken« zur Zeit der Kreuzzüge) und zuletzt eben die Deutschen gewesen. Verständlich waren für Gott im Wege des Nervenanhangs ohne weiteres die Sprachen aller Völker.In ähnlicher Weise verstehen jetzt alle Seelen, die mit mir im Nervenanhang stehen, eben weil sie an meinen Gedanken teilnehmen, alle mir verständlichen Sprachen, verstehen z. B. Griechisch, wenn ich ein griechisches Buch lese usw.

Den Zwecken der Läuterung unreiner Menschenseelen scheint auch die Seelenwanderung gedient zu haben, die, wie ich nach verschiedenen Erlebnissen anzunehmen Grund habe, in ausgedehntem Maße stattgefunden hat. Die betreffenden Menschenseelen wurden dabei auf anderen Weltkörpern, vielleicht mit einer dunklen Erinnerung an ihre frühere Existenz, zu einem neuen menschlichen Leben berufen, äußerlich vermutlich im Wege der Geburt, wie es sonst bei Menschen der Fall ist. Bestimmtere Behauptungen wage ich darüber nicht aufzustellen, namentlich auch darüber nicht, ob die Seelenwanderung nur dem Zwecke der Läuterung oder auch noch anderen Zwecken (Bevölkerung anderer Planeten?) gedient hat. Von den zu mir sprechenden Stimmen genannt oder sonst auf andere Weise bekannt geworden sind mir einige Fälle, wo die Betreffenden in dem späteren Leben eine wesentlich niedrigere Lebensstellung als in den früheren eingenommen haben sollen, worin vielleicht eine Art Bestrafung gelegen haben mag.

Ein besonders bemerkenswerter Fall war der des Herrn v. W., dessen Seele eine Zeitlang ebenso, wie noch jetzt die Flechsig'sche Seele, einen sehr tiefgreifenden Einfluß auf meine Beziehungen zu Gott und demnach meiner persönlichen Schicksale ausgeübt hat.Daß ich hier, wie bereits oben in Anmerkung I. Namen von Menschen nenne, die jetzt noch unter den Lebenden sind und gleichwohl von einer Seelenwanderung rede, die sie durchgemacht haben sollen, erscheint auf den ersten Anblick natürlich als ein vollkommener Widerspruch, in der Tat liegt hierbei ein Rätsel vor, das auch ich nur unvollkommen zu lösen vermag, und das nach rein menschlichen Begriffen überhaupt nicht zu lösen sein würde. Gleichwohl sind die betreffenden Tatsachen in mehreren Fällen, namentlich, was die von W.'sche Seele und die Flechsig'sche Seele betrifft, für mich ganz unzweifelhaft, da ich die unmittelbaren Einwirkungen dieser Seelen auf meinen Körper jahrelang verspürt habe und, was die Flechsig'sche Seele möglicherweise einen Flechsig'schen Seelen teil betrifft, noch jetzt täglich und stündlich verspüre. Eine annähernde Erklärung des Zusammenhanges werde ich weiter unten, wenn ich auf die sog. Menschenspielerei zu reden komme, zu geben versuchen. Vorläufig genüge der Hinweis auf die Möglichkeit einer Seelenteilung, welche es denkbar erscheinen lassen würde, daß gewisse Verstandesnerven eines noch lebenden Menschen (die doch nach dem oben Bemerkten das volle Identitätsbewußtsein des Menschen wenn auch vielleicht nur auf kürzere Zeit bewahren würden) außerhalb seines Körpers irgendeine andere Rolle spielen. Von W. bekleidete zu der Zeit, als ich in der Pierson'schen Anstalt (der »Teufelsküche«) war, in dieser Anstalt die Stelle eines Oberwärters, nach meiner damaligen Auffassung – die ich mir auch jetzt noch nicht zu widerlegen vermag – nicht als wirklicher Mensch, sondern als »flüchtig hingemachter Mann« d. h. als eine durch göttliches Wunder vorübergehend in Menschengestalt gesetzte Seele. In der Zwischenzeit sollte er im Wege der Seelenwanderung als »Versicherungsagent Marx« schon ein zweites Leben auf irgendeinem anderen Weltkörper geführt haben.

Die durch den Läuterungsprozeß vollkommen gereinigten Seelen stiegen zum Himmel empor und gelangten dadurch zur Seligkeit. Die Seligkeit bestand in einem Zustande ununterbrochenen Genießens, verbunden mit der Anschauung Gottes. Für den Menschen würde die Vorstellung eines ewigen Nichtstuns etwas Unerträgliches bedeuten, da der Mensch nun einmal an die Arbeit gewöhnt ist und für ihn, wie das Sprichwort besagt, erst die Arbeit das Leben süß macht. Allein man darf nicht vergessen, daß die Seelen etwas anderes sind, als der Mensch, und daß es daher unzulässig sein würde, an die Empfindungen der Seelen den menschlichen Maßstab anzulegen.Gleich als ob er eine Ahnung von diesem Verhältnisse gehabt habe, läßt z. B. Richard Wagner seinen Tannhäuser im höchsten Genuß der Liebeswonne sagen: »Doch sterblich, ach, bin ich geblieben und übergroß ist mir dein Lieben, wenn stets ein Gott genießen kann, bin ich dem Wechsel Untertan«, wie denn überhaupt vielfach bei unseren Dichtern gleichsam prophetische Blicke sich finden, die mich in der Annahme bestärken, daß ihnen göttliche Eingebungen im Wege des Nervenanhangs (namentlich im Traume) zuteil geworden seien. Für die Seelen bedeutet eben das fortwährende Schwelgen im Genusse und zugleich in den Erinnerungen an ihre menschliche Vergangenheit das höchste Glück. Dabei waren sie in der Lage, im Verkehre untereinander ihre Erinnerungen auszutauschen und vermittelst göttlicher – sozusagen zu diesem Zwecke geborgter – Strahlen von dem Zustande derjenigen noch auf der Erde lebenden Menschen, für die sie sich interessieren, ihrer Angehörigen, Freunde usw. Kenntnis zu nehmen, und wahrscheinlich auch nach deren Tode bei dem Heraufziehen derselben zur Seligkeit mitzuwirken. Zurückzuweisen ist die Vorstellung, als ob etwa das eigene Glück der Seelen durch die Wahrnehmung, daß ihre noch auf der Erde lebenden Angehörigen in unglücklicher Lage sich befanden, hätte getrübt werden können. Denn die Seelen besaßen zwar die Fähigkeit, die Erinnerung an ihre eigene menschliche Vergangenheit zu bewahren, nicht aber neue Eindrücke, die sie als Seelen empfingen, auf eine irgend in Betracht kommende Zeitdauer zu behalten. Dies ist die natürliche Vergeßlichkeit der Seelen, welche neue, ungünstige Eindrücke alsbald bei ihnen verwischt haben würde. Innerhalb der Seligkeit gab es Gradabstufungen je nach der nachhaltigen Kraft, die die betreffenden Nerven in ihrem Menschenleben erlangt hatten und wahrscheinlich auch nach der Zahl der Nerven, die zur Aufnahme in den Himmel für würdig befunden worden waren.

Die männliche Seligkeit stand höher als die weibliche Seligkeit, welche letztere vorzugsweise in einem ununterbrochenen Wollustgefühle bestanden zu haben scheint. Es würde ferner etwa die Seele eines Goethe, eines Bismarck usw. ihr Selbstbewußtsein (Identitätsbewußtsein) vielleicht auf Jahrhunderte hinaus behauptet haben, während dies bei der Seele eines frühverstorbenen Kindes vielleicht nur auf so viel Jahre der Fall sein mochte, als die Lebensdauer im menschlichen Leben umfaßt hatte. Eine ewige Fortdauer des Bewußtseins, der oder jener Mensch gewesen zu sein, war keiner Menschenseele beschieden. Vielmehr war es die Bestimmung aller Seelen schließlich, verschmolzen mit anderen Seelen, in höheren Einheiten aufzugehen und sich damit nur noch als Bestandteile Gottes (»Vorhöfe des Himmels«) zu fühlen. Dies bedeutete also nicht einen eigentlichen Untergang – insofern war der Seele eine ewige Fortdauer beschieden – sondern nur ein Fortleben mit anderem Bewußtsein. Nur eine beschränkte Betrachtungsweise könnte darin eine Unvollkommenheit der Seligkeit – gegenüber der persönlichen Unsterblichkeit im Sinne etwa der christlichen Religionsvorstellungen – finden wollen. Denn welches Interesse hätte es für eine Seele haben sollen, des Namens, den sie einst unter Menschen geführt hatte, und ihrer damaligen persönlichen Beziehungen sich noch zu erinnern, wenn nicht nur ihre Kinder und Kindeskinder längst ebenfalls zur ewigen Ruhe eingegangen, sondern auch zahlreiche andere Generationen ins Grab gestiegen waren und vielleicht selbst die Nation, der sie einstmals angehört hatten, aus der Reihe der lebenden Völker gestrichen war. In dieser Weise habe ich – noch in der Zeit meines Aufenthalts in der Flechsig'schen Anstalt – die Bekanntschaft mit Strahlen gemacht, die mir als Strahlen – d. h. zu höheren Einheiten erhobene Komplexe seliger Menschenseelen – des alten Judentums (»Jehovastrahlen«), des alten Persertums (»Zoroasterstrahlen«) und des alten Germanentums (»Thor- und Odinstrahlen«) bezeichnet wurden und unter denen sich sicher keine einzige Seele mehr befand, welche ein Bewußtsein davon gehabt hätte, unter welchem Namen sie vor Tausenden von Jahren dem einen oder anderen dieser Völker angehört habe.Die obige Darstellung in betreff der »Vorhöfe des Himmels« gibt zugleich vielleicht eine Ahnung in betreff des ewigen Kreislaufs der Dinge, der der Weltordnung zugrunde liegt. Indem Gott etwas schafft, entäußert er sich in gewissem Sinne eines Teiles seiner selbst oder gibt einem Teile seiner Nerven eine veränderte Gestalt. Der scheinbar hierdurch entstehende Verlust wird aber wiederum ersetzt, wenn nach Jahrhunderten und Jahrtausenden die selig gewordenen Nerven verstorbener Menschen, denen während ihres Erdenlebens die übrigen erschaffenen Dinge zur körperlichen Erhaltung gedient haben, als »Vorhöfe des Himmels« ihm wieder zuwachsen.

Über den »Vorhöfen des Himmels« schwebte Gott selbst, dem im Gegensatz zu diesen »vorderen Gottesreichen« auch die Bezeichnung der »hinteren Gottesreiche« gegeben wurde. Die hinteren Gottesreiche unterlagen (und unterliegen noch jetzt) einer eigentümlichen Zweiteilung, nach der ein niederer Gott (Ariman) und ein oberer Gott (Ormuzd) unterschieden wurde. Über die nähere Bedeutung dieser Zweiteilung vermag ich weiter nichts auszusagen,Abgesehen von dem weiter unten in betreff der »Entmannung« zu Bemerkenden. als daß sich der niedere Gott (Ariman) vorzugsweise zu den Völkern ursprünglich brünetter Race (den Semiten) und der obere Gott vorzugsweise zu den Völkern ursprünglich blonder Race (den arischen Völkern) hingezogen gefühlt zu haben scheint. Bedeutsam ist, daß eine Ahnung dieser Zweiteilung sich in den religiösen Vorstellungen vieler Völker vorfindet. Der Balder der Germanen, der Bielebog (weißer Gott) oder Swantewit der Slawen, der Poseidon der Griechen und der Neptun der Römer ist mit Ormuzd, der Wodan (Odin) der Germanen, der Czernebog (schwarzer Gott) der Slawen, der Zeus der Griechen und der Jupiter der Römer ist mit Ariman identisch. Unter den Namen Ariman und Ormuzd wurden mir der niedere und der obere Gott zuerst Anfang Juli 1894 (etwa am Schlusse der ersten Woche meines Aufenthalts in der hiesigen Anstalt) von den mit mir redenden Stimmen genannt; seitdem höre ich diese Namen tagtäglich.Daß für die Bezeichnung des niederen und oberen Gottes die Namen der betreffenden persischen Gottheiten festgehalten worden sind, ist für mich ein Hauptgrund zu der Annahme, daß die alten Perser (natürlich vor ihrem späteren Verfall) in ganz besonders hervorragendem Sinne das »auserwählte Volk Gottes«, m. a. W. ein Volk von ganz besonderer sittlicher Tüchtigkeit gewesen sein müssen. Diese Annahme wird unterstützt durch die ungewöhnliche Vollkräftigkeit der Strahlen, die ich s. Z. an den »Zoroasterstrahlen« wahrgenommen habe. Der Name Ariman kommt übrigens auch z. B. in Lord Byrons Manfred im Zusammenhang mit einem Seelenmord vor. Der angegebene Zeitpunkt fällt zusammen mit der Aufzehrung der vorderen Gottesreiche, mit denen ich vorher (seit etwa Mitte März 1894) in Verbindung gestanden hatte.

Das in dem vorstehenden entwickelte Bild von der Natur Gottes und der Fortdauer der menschlichen Seele nach dem Tode weicht in manchen Beziehungen nicht unerheblich von den christlichen Religionsvorstellungen über diese Gegenstände ab. Gleichwohl scheint mir ein Vergleich zwischen beiden nur zugunsten des ersteren ausfallen zu können. Eine Allwissenheit und Allgegenwart Gottes in dem Sinne, daß Gott beständig in das Innere jedes einzelnen lebenden Menschen hereinsah, jede Gefühlsregung seiner Nerven wahrnahm, also in jedem gegebenen Zeitpunkte »Herz und Nieren prüfte«, gab es allerdings nicht. Allein dessen bedurfte es auch nicht, weil nach dem Tode die Nerven der Menschen mit allen Eindrücken, die sie während des Lebens empfangen hatten, offen vor Gottes Auge dalagen und danach das Urteil über ihre Würdigkeit zur Aufnahme in das Himmelreich mit unfehlbarer Gerechtigkeit erfolgen konnte. Im übrigen genügte die Möglichkeit, sobald irgendein Anlaß dazu gegeben schien, sich im Wege des Nervenanhangs Kenntnis von dem Innern eines Menschen zu verschaffen. Auf der anderen Seite fehlt dem von mir entworfenen Bilde jeder Zug von Härte oder zweckloser Grausamkeit, der manchen Vorstellungen der christlichen Religion und in noch höherem Grade denjenigen anderer Religionen aufgeprägt ist. Das Ganze der Weltordnung erscheint danach als ein »wundervoller Aufbau«,Wiederum ein nicht von mir erfundener Ausdruck. Ich hatte – natürlich in der weiter unten zu erwähnenden Gedanken- oder Nervensprache – von wundervoller Organisation gesprochen, worauf mir dann der Ausdruck »wundervoller Aufbau« von außen eingegeben wurde. gegen dessen Erhabenheit alle Vorstellungen, welche sich Menschen und Völker im Laufe der Geschichte über ihre Beziehungen zu Gott gebildet haben, nach meinem Urteil weit zurücktreten.


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