Daniel Paul Schreber
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Daniel Paul Schreber

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Vorwort

Protrait: Dr. jur. Daniel Paul Schreber

An eine Veröffentlichung dieser Arbeit habe ich beim Beginn derselben noch nicht gedacht. Der Gedanke ist mir erst im weiteren Fortschreiten derselben gekommen. Dabei habe ich mir die Bedenken nicht verhehlt, die einer Veröffentlichung entgegenzustehen scheinen: es handelt sich namentlich um die Rücksicht auf einzelne noch lebende Personen. Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, daß es für die Wissenschaft und für die Erkenntnis religiöser Wahrheiten von Wert sein könnte, wenn noch bei meinen Lebzeiten irgendwelche Beobachtungen von berufener Seite an meinem Körper und meinen persönlichen Schicksalen zu ermöglichen wären. Dieser Erwägung gegenüber müssen alle persönlichen Rücksichten schweigen.

Von der ganzen Arbeit sind niedergeschrieben:

Die Denkwürdigkeiten selbst (Kap. I-XXII) in der Zeit vom Februar bis September 1900.

Die Nachträge unter I-VII in der Zeit vom Oktober 1900 bis Juni 1901.

Die zweite Folge der Nachträge Ende 1902.

In der Zeit, die seit dem ersten Beginn der Arbeit verflossen ist, haben sich meine äußeren Lebensschicksale wesentlich verändert. Während ich anfangs noch in fast gefänglicher Absperrung lebte, namentlich vom Umgang mit gebildeten Menschen, selbst von der (den sog. Pensionären der Anstalt zugänglichen) Familientafel des Anstaltvorstands ausgeschlossen war, niemals aus den Mauern der Anstalt herauskam usw., ist mir nach und nach eine größere Bewegungsfreiheit eingeräumt und der Verkehr mit gebildeten Menschen in immer steigendem Maße ermöglicht worden. Ich habe endlich in dem in Kap. XX erwähnten Entmündigungsprozesse (allerdings erst in zweiter Instanz) einen vollständigen Erfolg erzielt, indem der unter dem 13. März 1900 ergangene Entmündigungsbeschluß des Königl. Amtsgerichts Dresden durch rechtskräftig gewordenes Urteil des Königl. Oberlandesgerichts Dresden vom 14. Juli 1902 aufgehoben worden ist. Meine Geschäftsfähigkeit ist damit anerkannt und die freie Verfügung über mein Vermögen mir zurückgegeben worden. In betreff meines Verbleibens in der Anstalt habe ich schon seit Monaten die schriftliche Erklärung der Anstaltsverwaltung in Händen, daß meiner Entlassung ein grundsätzliches Bedenken nicht entgegensteht; ich gedenke demnach etwa mit Beginn des kommenden Jahres in meine Häuslichkeit zurückzukehren.

Durch alle diese Veränderungen ist mir Gelegenheit gegeben gewesen, den Kreis meiner persönlichen Beobachtungen wesentlich zu erweitern. Manche meiner früher dargelegten Ansichten müssen danach eine gewisse Berichtigung erfahren; ich kann insbesondere keinen Zweifel darüber hegen, daß die sogenannte »Menschenspielerei« (die wundermäßige Einwirkung) sich auf mich und meine jeweilige nächste Umgebung beschränkt. Ich würde hiernach mancher Ausführung meiner Denkwürdigkeiten jetzt vielleicht eine andere Fassung geben. Nichtsdestoweniger habe ich es in der großen Hauptsache bei der Form, in der ich sie anfangs niedergeschrieben hatte, belassen. Änderungen in den Einzelheiten würden die ursprüngliche Frische der Darstellung beeinträchtigen. Auch ist es nach meinem Dafürhalten ohne erhebliche Bedeutung, ob in Ansehung des weltordnungswidrigen Verhältnisses, das zwischen Gott und mir entstanden ist, die Auffassungen, die ich mir früher gebildet hatte, von mehr oder minder großen Irrtümern durchsetzt gewesen sind. Allgemeineres Interesse können ohnedies nur diejenigen Ergebnisse beanspruchen, zu denen ich auf Grund der von mir empfangenen Eindrücke und Erfahrungen hinsichtlich der in Frage kommenden dauernden Verhältnisse, des Wesens und der Eigenschaften Gottes, der Unsterblichkeit der Seele usw. gelangt bin, und in dieser Beziehung habe ich auch nach meinen neueren persönlichen Erfahrungen an meinen früher, namentlich in Kap. I, II, XVIII und XIX der Denkwürdigkeiten entwickelten Grundanschauungen nicht das mindeste zu ändern.

Heilanstalt Sonnenstein bei Pirna, im Dezember 1902.

Der Verfasser.

Offener Brief an Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Flechsig.

Hochverehrter Herr Geh. Rat!

In der Anlage gestatte ich mir, Ihnen ein Exemplar der von mir verfaßten »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« zu überreichen mit der Bitte, dieselben einer wohlwollenden Prüfung zu unterwerfen.

Sie werden finden, daß in meiner Arbeit, namentlich in den ersten Kapiteln, Ihr Name des öfteren genannt worden ist, zum Teil in Zusammenhängen, die geeignet sein könnten, Ihre Empfindlichkeit zu berühren. Ich bedauere dies selbst auf das Lebhafteste, vermag aber leider nichts daran zu ändern, wenn ich nicht die Möglichkeit eines Verständnisses meiner Arbeit von vornherein ausschließen will. Jedenfalls liegt mir die Absicht eines Angriffs auf Ihre Ehre durchaus fern, wie ich denn überhaupt gegen keinen Menschen irgendeinen persönlichen Groll hege, sondern mit meiner Arbeit nur den Zweck verfolge, die Erkenntnis der Wahrheit auf einem hochwichtigen, dem religiösen Gebiete, zu fördern.

Daß ich in dieser Beziehung über Erfahrungen gebiete, die – zu allgemeiner Anerkennung ihrer Richtigkeit gelangt – in denkbar höchstem Maße fruchtbringend unter der übrigen Menschheit wirken würden, steht für mich unerschütterlich fest. Ebenso zweifellos ist mir, daß Ihr Name bei der genetischen Entwicklung der betreffenden Verhältnisse insofern eine wesentliche Rolle spielt, als gewisse, Ihrem Nervensystem entnommene Nerven zur »geprüften Seele« in dem in Kap. I der »Denkwürdigkeiten« bezeichneten Sinne geworden sind und in dieser Eigenschaft eine übersinnliche Macht erlangt haben, zufolge deren sie einen schädigenden Einfluß seit Jahren auf mich ausgeübt haben und bis auf diesen Tag noch ausüben. Sie werden, wie andere Menschen, geneigt sein, in dieser Annahme zunächst nur eine pathologisch zu beurteilende Ausgeburt meiner Phantasie zu erblicken; für mich ist eine geradezu erdrückende Fülle von Beweisgründen für die Richtigkeit derselben vorhanden, worüber Sie das Nähere aus dem Gesamtinhalt meiner Denkwürdigkeiten entnehmen wollen. Noch jetzt empfinde ich täglich und stündlich die auf Wundern beruhende schädigende Einwirkung jener »geprüften Seele«; noch jetzt wird mir an jedem Tage Ihr Name von den mit mir redenden Stimmen in stets wiederkehrenden Zusammenhängen insbesondere als Urheber jener Schädigungen zu Hunderten von Malen zugerufen, obwohl die persönlichen Beziehungen, die eine Zeitlang zwischen uns bestanden haben, für mich längst in den Hintergrund getreten sind und ich selbst daher schwerlich irgendwelchen Anlaß hätte, mich Ihrer immer von neuem, insbesondere mit irgendwelcher grollenden Empfindung zu erinnern.

Seit Jahren habe ich darüber nachgedacht, wie ich diese Tatsachen mit der Achtung vor Ihrer Person, an deren Ehrenhaftigkeit und sittlichem Wert zu zweifeln ich nicht das mindeste Recht habe, vereinigen soll. Dabei ist mir nun ganz neuerdings, erst kurz vor Veröffentlichung meiner Arbeit, ein neuer Gedanke gekommen, welcher vielleicht auf den richtigen Weg zur Lösung des Rätsels führen könnte. Wie am Schlusse von Kap. IV und im Eingang von Kap. V der »Denkwürdigkeiten« bemerkt ist, besteht für mich nicht der leiseste Zweifel darüber, daß der erste Anstoß zu demjenigen, was von meinen Ärzten immer als bloße »Halluzinationen« aufgefaßt worden ist, für mich aber einen Verkehr mit übersinnlichen Kräften bedeutet, in einer von Ihrem Nervensystem ausgehenden Einwirkung auf mein Nervensystem bestanden hat. Worin könnte wohl die Erklärung dieses Umstands gefunden werden? Es scheint mir naheliegend, an die Möglichkeit zu denken, daß Sie – wie ich gern annehmen will, zunächst nur zu Heilzwecken – einen hypnotisierenden, suggerierenden oder wie immer sonst zu bezeichnenden Verkehr und zwar auch bei räumlicher Trennung mit meinen Nerven unterhalten haben. Bei diesem Verkehr könnten Sie auf einmal die Wahrnehmung gemacht haben, daß auch von anderer Seite in Stimmen, die auf einen übersinnlichen Ursprung hindeuten, auf mich eingesprochen werde. Sie könnten infolge dieser überraschenden Wahrnehmung den Verkehr mit mir noch eine Zeitlang aus wissenschaftlichem Interesse fortgesetzt haben, bis Ihnen selbst die Sache sozusagen unheimlich geworden wäre und Sie sich daher veranlaßt gesehen hätten, den Verkehr abzubrechen. Dabei könnte es nun aber ferner geschehen sein, daß ein Teil Ihrer eigenen Nerven – Ihnen selbst wahrscheinlich unbewußt – auf einem nur übersinnlich zu erklärenden Wege Ihrem Körper entführt und als »geprüfte Seele« zum Himmel aufgestiegen, zu irgendwelcher übersinnlichen Macht gelangt wäre. Diese »geprüfte Seele« hätte dann, wie alle ungereinigten Seelen mit menschlichen Fehlern behaftet – dem von mir insoweit mit Sicherheit erkannten Seelencharakter gemäß – ohne jede Zügelung durch irgend etwas, was der sittlichen Willenskraft des Menschen entspricht, nur von dem Streben rücksichtsloser Selbstbehauptung und Machtentfaltung sich leiten lassen, ganz in derselben Weise, wie dies nach Inhalt meiner »Denkwürdigkeiten« lange Zeit hindurch auch von seiten einer anderen »geprüften Seele«, der von W.'schen Seele, geschehen ist. Es wäre also vielleicht möglich, daß alles dasjenige, was ich in früheren Jahren irrigerweise Ihnen selbst zur Last legen zu müssen geglaubt habe – namentlich die unzweifelhaften schädigenden Einwirkungen auf meinen Körper – nur auf Rechnung jener »geprüften Seele« zu setzen wäre. Es würde dann auf Ihre Person auch nicht ein Schatten zu fallen brauchen und höchstens vielleicht der leise Vorwurf übrig bleiben, daß Sie, wie so manche Ärzte, der Versuchung nicht ganz zu widerstehen vermocht hätten, einen Ihrer Behandlung anvertrauten Patienten bei einem zufällig sich bietenden Anlasse von höchstem wissenschaftlichem Interesse neben dem eigentlichen Heilzwecke zugleich zum Versuchsobjekte für wissenschaftliche Experimente zu machen. Ja, es ließe sich sogar die Frage aufwerfen, ob nicht vielleicht das ganze Stimmengerede, daß irgend jemand Seelenmord getrieben habe, darauf zurückzuführen sei, daß eine die Willenskraft eines andern Menschen bis zu einem gewissen Grade gefangennehmende Einwirkung auf dessen Nervensystem – wie sie beim Hypnotisieren stattfindet – den Seelen (Strahlen) überhaupt als etwas Unstatthaftes erschienen sei und daß man zu möglichst kräftiger Kennzeichnung dieser Unstatthaftigkeit mit der den Seelen durchaus eigenen Neigung zu hyperbolischer Ausdrucksweise in Ermangelung eines anderen gleich zur Verfügung stehenden Ausdrucks des irgendwie von früher her geläufigen Ausdrucks »Seelenmord« sich bedient habe.

Ich brauche kaum hervorzuheben, von wie unberechenbarer Wichtigkeit es wäre, wenn meine vorstehend angedeuteten Vermutungen in irgendwelcher Weise sich bestätigen, insbesondere in Erinnerungen, die Sie selbst in Ihrem Gedächtnisse bewahren, eine Unterstützung finden sollten. Meine ganze übrige Darstellung würde damit vor aller Welt an Glaubwürdigkeit gewinnen und ohne weiteres in das Licht eines ernsten, mit allen erdenklichen Mitteln weiter zu verfolgenden wissenschaftlichen Problems treten.

Demnach richte ich an Sie, hochgeehrter Herr Geh. Rat, die Bitte – ich möchte fast sagen: ich beschwöre Sie – sich rückhaltlos darüber auszusprechen:

  1. Ob von Ihnen während meines Aufenthaltes in Ihrer Anstalt ein hypnotisierender oder dem ähnlicher Verkehr mit mir in der Weise unterhalten worden ist, daß Sie – insbesondere auch bei räumlicher Trennung – eine Einwirkung auf mein Nervensystem ausgeübt haben;
  2. ob Sie dabei in irgendwelcher Weise Zeuge eines von anderer Seite ausgehenden, auf übersinnlichen Ursprung hindeutenden Stimmenverkehrs geworden sind, endlich;
  3. ob nicht in der Zeit meines Aufenthalts in Ihrer Anstalt auch Sie selbst – namentlich in Träumen – Visionen oder visionsartige Eindrücke empfangen haben, die u. a. von göttlicher Allmacht und menschlicher Willensfreiheit, von Entmannung, vom Verluste von Seligkeiten, von meinen Verwandten und Freunden, sowie von den Ihrigen, insbesondere dem in Kap. VI genannten Daniel Fürchtegott Flechsig und vielen anderen in meinen »Denkwürdigkeiten« erwähnten Dingen gehandelt haben,

wobei ich gleich hinzufügen will, daß ich aus zahlreichen Mitteilungen der in jener Zeit mit mir redenden Stimme die allergewichtigsten Anhaltspunkte dafür habe, daß auch Sie derartige Visionen gehabt haben müssen.

Indem ich an Ihr wissenschaftliches Interesse appelliere, darf ich wohl das Vertrauen hegen, daß Sie den vollen Mut der Wahrheit haben werden, selbst wenn dabei etwa eine Kleinigkeit einzugestehen wäre, die Ihrem Ruf und Ihrem Ansehen bei keinem Einsichtigen einen ernsthaften Abbruch tun würde.

Sollten Sie mir eine schriftliche Mitteilung zukommen lassen wollen, so dürfen Sie sich versichert halten, daß ich dieselbe nur mit Ihrer Genehmigung und in denjenigen Formen, die Sie selbst vorzuschreiben für gut finden, veröffentlichen würde.

Bei dem allgemeinen Interesse, das dem Inhalte dieses Briefes zukommen dürfte, habe ich es für angemessen erachtet, denselben als »Offenen Brief« meinen »Denkwürdigkeiten« vordrucken zu lassen.

Dresden, im März 1903.

In vorzüglicher Hochachtung
Dr. Schreber, Senatspräsident a. D.Auf den Seiten XIII–XV der Erstausgabe ist das Inhaltsverzeichnis plaziert.


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