Daniel Paul Schreber
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Daniel Paul Schreber

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XIII. Seelenwollust als Faktor der Anziehung. Folgeerscheinungen

Ein wichtiger Abschnitt in der Geschichte meines Lebens und namentlich in meiner eigenen Auffassung von der voraussichtlichen Gestaltung der Zukunft ist durch den Monat November 1895 bezeichnet. Ich erinnere mich des Zeitpunktes noch genau; er fiel zusammen mit einer Anzahl schöner Spätherbsttage, an denen morgens jedesmal starke Nebelbildung auf der Elbe stattfand. In dieser Zeit traten die Zeichen der Verweiblichung an meinem Körper so stark hervor, daß ich mich der Erkenntnis des immanenten Zieles, auf welches die ganze Entwicklung hinstrebte, nicht länger entziehen konnte. In den unmittelbar vorausgegangenen Nächten wäre es vielleicht, wenn ich nicht noch der Regung männlichen Ehrgefühls folgend, meinen entschiedenen Willen entgegensetzen zu sollen geglaubt hätte, zu einer wirklichen Einziehung des männlichen Geschlechtsteils gekommen; so nahe war das betreffende Wunder der Vollendung. Jedenfalls war die Seelenwollust so stark geworden, daß ich selbst zunächst am Arm und an den Händen, später an den Beinen, an dem Busen, am Gesäß und an allen anderen Körperteilen den Eindruck eines weiblichen Körpers empfing. Die Mitteilung der Einzelheiten hierüber behalte ich für ein späteres Kapitel vor.

Einige Tage fortgesetzter Beobachtung dieser Vorgänge genügten, um eine völlige Veränderung der Willensrichtung in mir herbeizuführen. Bis dahin hatte ich noch immer mit der Möglichkeit gerechnet, daß, wenn mein Leben nicht etwa schon vorher einem der zahlreichen bedrohlichen Wunder zum Opfer fallen sollte, es doch einmal notwendig für mich werden würde, meinem Leben durch Selbstmord ein Ende zu machen; außer der Selbstentleibung schien nur irgendwelcher andere schreckensvolle Ausgang von unter Menschen nie dagewesener Art im Bereich der Möglichkeit zu liegen. Nunmehr aber wurde mir unzweifelhaft bewußt, daß die Weltordnung die Entmannung, mochte sie mir persönlich zusagen oder nicht, gebieterisch verlange und daß mir daher aus Vernunftgründen gar nichts anderes übrig bleibe, als mich mit dem Gedanken der Verwandlung in ein Weib zu befreunden. Als weitere Folge der Entmannung konnte natürlich nur eine Befruchtung durch göttliche Strahlen zum Zwecke der Erschaffung neuer Menschen in Betracht kommen. Erleichtert wurde mir die Veränderung meiner Willensrichtung dadurch, daß ich damals noch nicht an eine außer mir existierende wirkliche Menschheit glaubte, sondern alle Menschengestalten, die ich sah, nur für »flüchtig hingemacht« hielt, so daß von irgendwelcher Schande, die in der Entmannung liege, nicht die Rede sein konnte. Diejenigen Strahlen freilich, die von dem Bestreben, mich »liegen zu lassen« und mir zu diesem Behufe den Verstand zu zerstören, ausgingen, verfehlten nicht, sich alsbald eines – heuchlerischen – Appells an mein männliches Ehrgefühl zu bedienen; eine der seitdem bei jedem Hervortreten der Seelenwollust unzählige Male wiederholten Redensarten lautete dahin: »Schämen Sie sich denn nicht vor Ihrer Frau Gemahlin?« oder auch noch gemeiner: »Das will ein Senatspräsident gewesen sein der sich f... läßt.« Allein so widerwärtig die betreffenden Stimmen auch für mich waren und sooft ich auch Veranlassung hatte, bei der tausendfältigen Wiederholung der erwähnten Redensarten meiner gerechten Entrüstung in irgendwelcher Weise Luft zu machen, so ließ ich mich doch dadurch in demjenigen Verhalten, das ich einmal als für alle Teile – für mich und die Strahlen – als notwendig und heilsam erkannt hatte, auf die Dauer nicht beirren.

Ich habe seitdem die Pflege der Weiblichkeit mit vollem Bewußtsein auf meine Fahne geschrieben und werde dies, soweit es die Rücksicht auf meine Umgebung gestattet, auch fernerhin tun, mögen andere Menschen, denen die übersinnlichen Gründe verborgen sind, von mir denken, was sie wollen. Ich möchte auch denjenigen Mann sehen, der vor die Wahl gestellt, entweder ein blödsinniger Mensch mit männlichem Habitus oder ein geistreiches Weib zu werden, nicht das Letztere vorziehen würde. So aber und nur so liegt für mich die Frage. Die Ausübung meines früheren Berufs, an dem ich mit ganzer Seele gehangen habe, jedes sonstige Ziel des männlichen Ehrgeizes, jede sonstige Verwertung meiner Verstandeskräfte im Dienste der Menschheit ist mir nun einmal durch die Entwicklung, welche die Verhältnisse genommen haben, verschlossen; selbst der Umgang mit meiner Frau und meinen Verwandten ist mir bis auf ab und zu erfolgende Besuche und gelegentlichen Briefwechsel entzogen.(Zusatz vom März 1903). Auch das gegenwärtige Kapitel ist, wie der Inhalt ergibt, noch in der Zeit meiner gänzlichen Absperrung hinter den Mauern des Sonnensteins geschrieben; ich würde daher jetzt, obwohl die Grundgedanken durchaus richtig bleiben, doch an den Einzelheiten immerhin manches zu ändern haben. Ich darf mich, unbekümmert um das Urteil anderer Menschen, nur durch einen gesunden Egoismus leiten lassen und dieser schreibt mir eben die Pflege der Weiblichkeit in der später noch näher zu schildernden Weise vor. Nur so vermag ich mir während des Tages erträgliche körperliche Zustände und in der Nacht – wenigstens in gewissem Maße – den zur Erholung meiner Nerven erforderlichen Schlaf zu verschaffen; hochgradige Wollust geht nämlich zuletzt – vielleicht ist dies auch der medizinischen Wissenschaft bekannt – in Schlaf über. Indem ich mich so verhalte, diene ich zugleich dem wohlverstandenen Interesse der Strahlen, also Gottes selbst. Sobald ich Gott, der, von der irrtümlichen Voraussetzung der Zerstörbarkeit meines Verstandes ausgehend, zur Zeit nun einmal weltordnungswidrige Ziele verfolgt, in seiner immer in entgegengesetzter Richtung sich bewegenden Politik gewähren lasse, so führt dies, wie mir eine mehrjährige Erfahrung unwiderleglich bewiesen hat, nur zu blödsinnigem Lärm unter meiner wesentlich aus Verrückten bestehenden Umgebung. Näheres hierüber kann ich erst später mitteilen.Eine besondere Diskretion ist für mich namentlich im Verkehr mit meiner Frau, der ich durchaus die frühere Liebe bewahre, geboten. Es kann sein, daß ich hierbei in mündlichen Unterhaltungen und brieflichen Mitteilungen durch allzugroße Offenheit zuweilen gefehlt habe. Meine Frau kann natürlich meine Ideengänge nicht vollständig verstehen; es muß ihr schwerfallen, mir die frühere Liebe und Achtung zu widmen, wenn sie hört, daß ich mich mit der Vorstellung einer mir möglicherweise bevorstehenden Verwandlung in ein Weib beschäftige. Ich kann dies beklagen, aber nicht ändern; auch hier habe ich mich vor jeder falschen Sentimentalität zu hüten.

Zu derselben Zeit, in der ich zu der in Vorstehendem beschriebenen veränderten Auffassung der Dinge gelangte, vollzog sich auch – und zwar aus den nämlichen Gründen – ein wesentlicher Umschwung in den himmlischen Verhältnissen. Das durch die Anziehungskraft bedingte Aufgehen der Strahlen (von der Gesamtmasse losgelösten Gottesnerven) in meinem Körper bedeutete für die betreffenden Nerven das Ende ihrer selbständigen Existenz, also etwas Ähnliches wie für den Menschen der Tod. Es war daher eigentlich selbstverständlich, daß Gott alle Hebel in Bewegung setzte, um dem Schicksale, mit immer weiteren Teilen der Gesamtmasse in meinem Körper unterzugehen, zu entrinnen, wobei man auch in den Mitteln keineswegs wählerisch verfuhr. Die Anziehung verlor jedoch ihre Schrecken für die betreffenden Nerven, wenn und soweit sie beim Eingehen in meinem Körper das Gefühl der Seelenwollust antrafen, an dem sie ihrerseits teilnahmen. Sie fanden dann für die verlorengegangene himmlische Seligkeit, die wohl ebenfalls in einem wollustartigen Genießen bestand (vgl. Kap. I), einen ganz oder mindestens annähernd gleichwertigen Ersatz in meinem Körper wieder.

Nun war allerdings das Gefühl der Seelenwollust nicht immer in gleichmäßiger Stärke in meinem Körper vorhanden; zu voller Entwicklung gelangte dasselbe vielmehr nur dann, wenn die Flechsigschen Seelenteile und die übrigen »geprüften« Seelenteile vorn lagen und damit eine Vereinigung aller Strahlen hergestellt war. Da man aber durch das Anbinden an Erden (vgl. Kap. IX) die Notwendigkeit geschaffen hatte, sich selbst und ebenso die geprüften Seelen von Zeit zu Zeit wieder zurückzuziehen, so gab es abwechselnd auch immer Zeitläufte, in denen die Seelenwollust nicht oder nur in wesentlich schwächerem Maße vorhanden war. Damit ist zugleich eine Periodizität in dem Hervortreten der Weiblichkeitsmerkmale an meinem Körper bedingt, auf welche ich später noch näher zu sprechen kommen werde. Immerhin war, nachdem – im November 1895 – das ununterbrochene Zuströmen der Gottesnerven bereits weit über ein Jahr angedauert hatte, die Seelenwollust zu gewissen Zeiten so reichlich vorhanden, dass ein Teil der Strahlen an dem Eingehen in meinem Körper Geschmack zu finden anfing. Dies machte sich zunächst bei dem – jetzt nach Kap. VII in gewisser Beziehung mit der Sonne zu identifizierenden – niederen Gotte (Ariman) bemerkbar, der als der nähere in erheblich höherem Grade an der Seelenwollust teilnahm, als der in sehr viel größerer Entfernung verbliebene obere Gott (Ormuzd).

Bis zu dem im November 1895 eingetretenen, Umschwung hatte anscheinend ein intimeres Verhältnis zu Flechsig – sei es als Mensch, sei es als »geprüfte Seele« – nur auf seiten des niederen Gottes (Ariman) bestanden, so daß, wenn ich an der Voraussetzung einer Verschwörung der im Kap. II bezeichneten Art festhalten will, die Beteiligung an dieser Verschwörung höchstens bis zu dem niederen Gotte (Ariman) sich herauf erstreckte. Der obere Gott hatte bis zu dem angegebenen Zeitpunkte eine korrektere, der Weltordnung entsprechendere, demnach mir im ganzen freundlichere Haltung eingenommen. Nunmehr wurde das Verhältnis das gerade umgekehrte. Der niedere Gott (Ariman), der, wie gesagt, das Aufgehen mit jeweilig einem Teile seiner Nerven in meinen Körper vermöge der für ihn fast stets in der letzteren anzutreffenden Seelenwollust gar nicht so übel fand, löste die näheren Beziehungen, die, wie es schien, bis dahin zwischen ihm und der »geprüften« Flechsig'schen Seele bestanden hatten, und diese, die damals immer noch einen ziemlich großen Teil ihrer menschlichen Intelligenz bewahrt hatte, trat nunmehr mit dem oberen Gotte zu einer Art Bundesgenossenschaft zusammen, die ihre feindliche Spitze gegen mich kehrte. Die damit geschaffene Umwandlung der Parteiverhältnisse hat sich im wesentlichen bis zum heutigen Tage erhalten.

Das Verhalten des niederen Gottes ist seitdem stets ein mir im ganzen freundlicheres, dasjenige des oberen Gottes ein sehr viel feindseligeres geblieben. Es äußerte sich dies teils in der Beschaffenheit der beiderseitigen Wunder – die Wunder des niederen Gottes haben im Lauf der Zeit immer mehr den Charakter eines verhältnismäßig harmlosen Schabernacks der in Kap. XI erwähnten Art angenommen, – teils in der Einrichtung des beiderseitigen Stimmengeredes. Die vom niederen Gott ausgehenden Stimmen – zwar ebenfalls nicht mehr der echte Ausdruck unmittelbarer, augenblicklicher Empfindung, sondern ein Sammelsurium auswendig gelernter Phrasen – waren und sind immerhin nach Form und Inhalt von denjenigen des oberen Gottes wesentlich verschieden. Inhaltlich sind dieselben zumeist wenigstens nicht geradezu Schimpfworte oder beleidigende Redensarten, sondern kommen sozusagen auf eine Art neutralen Blödsinns hinaus (z.B. der David und der Salomo, Salat und Radieschen, Mehlhäufchen wird wieder gesagt usw.) und auch in der Form sind sie für mich insofern weniger lästig, als sie sich dem natürlichen Rechte des Menschen auf das Nichtsdenken besser anschließen; man gewöhnt sich eben mit der Zeit daran, derartige sinnlose Redensarten, wie die in der Paranthese mitgeteilten, als Formen des »Nichtsdenkungsgedankens« sich durch den Kopf sprechen zu lassen. Daneben aber verfügte der niedere Gott wenigstens in den ersten Jahren nach dem in diesem Kapitel beschriebenen Umschwung über eine gewisse Anzahl von Redewendungen, die sachlich von Bedeutung waren und die zum Teil eine ganz richtige (d.h. der meinigen entsprechende) Auffassung von den Ursachen des Konfliktes, den Mitteln zur Lösung desselben und der voraussichtlichen Gestaltung der Zukunft verrieten. Auch hier handelte es sich – wie gesagt – zwar nicht um den Ausdruck einer gerade im Augenblick entstandenen echten Empfindung, sondern um ein im voraus zusammengestoppeltes Gedankenmaterial, das man in ermüdend eintöniger Wiederholung durch verständnislose Stimmen (in der späteren Zeit namentlich durch gewunderte Vögel) in meinen Kopf hineinsprechen ließ. Allein die betreffenden Redewendungen waren für mich doch insofern von großem Interesse, als ich daraus entnehmen zu dürfen glaubte, daß Gott denn doch des Verständnisses für die aus der Weltordnung sich ergebenden Notwendigkeiten nicht so gänzlich entbehrte, wie es nach gewissen anderen Wahrnehmungen scheinbar der Fall war. Ich will deshalb einige der betreffenden Redewendungen hier mitteilen.

Zunächst wurde mir die infolge der Vermehrung der Seelenwollust eingetretene Veränderung der Parteigruppierung selbst durch die oft wiederholte Phrase »Haben sich nämlich zwei Parteien gebildet« angekündigt. Sodann wurde dem Gedanken, daß die ganze von Gott gegen mich verfolgte, auf Zerstörung meines Verstandes abzielende Politik eine verfehlte sei, in sehr verschiedenen Formen Ausdruck gegeben. Einige Sätze waren ganz allgemein, ohne jede persönliche Zuspitzung gehalten, so z.B.: »Kenntnisse und Fähigkeiten gehen überhaupt nicht verloren« und »Schlaf muß werden«, weiter: »Aller Unsinn (d.h. der Unsinn des Gedankenlesens und Gedankenfälschens) hebt sich auf« und »Die dauernden Erfolge sind auf Seiten des Menschen«. Andere Redewendungen des niederen Gottes waren teils an meine Adresse, teils – gewissermaßen durch meinen Kopf hindurch gesprochen – an die Adresse des Kollegen, des oberen Gottes, gerichtet; ersteres namentlich in der schon mitgeteilten Redewendung: »Vergessen Sie nicht, daß Sie an die Seelenauffassung gebunden sind«, letzteres z.B. in den Phrasen: »Vergessen Sie nicht, daß alle Darstellung ein Unsinn ist« oder »Vergessen Sie nicht, daß das Weltende ein Widerspruch in sich selber ist«, oder »Ihr habt nun einmal das Wetter vom Denken eines Menschen abhängig gemacht«, oder »Ihr habt nun einmal jede heilige Beschäftigung« (d.h. durch die mannigfachen erschwerenden Wunder, das Klavierspielen, das Schachspielen usw. nahezu) »unmöglich gemacht«. In einigen wenigen, allerdings sehr seltenen Fällen ging man sogar so weit, eine Art eigenen Schuldbekenntnisses abzulegen, z.B.: »Hätte ich Sie nur nicht unter flüchtig hingemachte Männer gesteckt«, oder »Das sind nun die Folgen der berühmten Seelenpolitik«, oder »Was wird denn nun aus der verfluchten Geschichte«, oder »Wenn nur die verfluchte Menschenspielerei aufhörte«. Hin und wieder wurde auch und zwar in diesen Worten eingestanden: »Fehlt uns die Gesinnung«, d.h. diejenige Gesinnung, die wir eigentlich jedem guten Menschen, ja selbst dem verworfensten Sünder gegenüber unter Vorbehalt der weltordnungsmäßigen Reinigungsmittel haben müßten. Das Ziel der ganzen Entwicklung pflegte der niedere Gott eine Zeitlang durch die – wie vielfach in der Seelensprache der grammatikalischen Vervollständigung bedürfende – Redensart auszudrücken: »Hoffen doch, daß die Wollust einen Grad erreicht«, d. h. einen solchen Grad, bei welchem die göttlichen Strahlen das Interesse an der Zurückziehung verlieren und damit eine der Weltordnung entsprechende Lösung sich von selbst ergibt. Mehr oder weniger gleichzeitig hatte der niedere Gott allerdings auch eine Anzahl anderer Redensarten in Bereitschaft, die mich sozusagen gruselig machen, m. a. W. alle meine Anstrengungen zur Behauptung meines Verstandes als im voraus zur Erfolglosigkeit verurteilt bezeichnen sollten. Man sprach von »kolossalen Kräften« auf der Seite von Gottes Allmacht und von »aussichtslosem Widerstand« auf meiner Seite; man glaubte mich auch in häufiger Wiederholung durch die Phrase: »Vergessen Sie nur nicht, daß die Ewigkeit keine Grenzen hat« daran erinnern zu sollen, daß die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, für Gott eine räumlich unbegrenzte ist.

Unverkennbar tritt in demjenigen, was ich vorstehend über das abweichende Verhalten des oberen Gottes und des niederen Gottes, sowie über das Phrasenmaterial des letzteren mitgeteilt habe, ein fast unentwirrbaren Knäuel von Widersprüchen zutage. Auch für mich ergeben sich bei jedem Versuche einer Lösung der Widersprüche nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten; eine wirklich befriedigende Lösung würde nur bei einer so vollständigen Einsicht in das Wesen Gottes möglich sein, wie sie sich auch mir, der ich darin unzweifelhaft unendlich weiter gediehen bin als alle anderen Menschen, infolge der Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht hat erschließen können. Nur mit allen Vorbehalten, die sich aus der Unvollkommenheit des menschlichen Erkenntnisapparates ergeben, will ich daher einige schüchterne Bemerkungen in dieser Beziehung wagen. Ich kann zunächst natürlich nicht voraussetzen, daß der obere Gott sittlich oder intellektuell auf einer tieferen Stufe stehe als der niedere Gott. Wenn trotzdem der letztere den ersteren sowohl an richtiger Erkenntnis des Erreichbaren, als an weltordnungsmäßiger Gesinnung zu übertreffen scheint, so glaube ich dies nur auf Rechnung der größeren Entfernung setzen zu können, in welcher sich der obere Gott im Verhältnisse zu dem niederen Gotte mir gegenüber befindet.

Die Unfähigkeit, den lebenden Menschen als Organismus zu verstehen, ist anscheinend dem niederen Gotte und dem oberen Gotte, solange sie sich in größerer Entfernung befinden, gemeinsam; insbesondere scheinen beide in dem für den Menschen kaum begreiflichen Irrtum befangen zu sein, daß alles dasjenige, was aus den Nerven eines Menschen in meiner Lage zum großen Teil erst infolge der von Strahlen verübten Gedankenfälschungen für diese vernehmbar herausklingt, als Äußerungen der eigenen Denktätigkeit des Menschen anzusehen seien, sowie daß jedes noch so vorübergehende Aufhören der Denktätigkeit und der damit eintretende Zustand, bei welchem bestimmte in Worten formulierte Gedanken aus den Nerven des Menschen für die Strahlen vernehmbar nicht herausklingen, das Erlöschen der geistigen Fähigkeiten des Menschen überhaupt oder wie man dies mit einem offenbar mißverstandenenAuch beim Blödsinnigen liegt ja selbstverständlich nicht ein vollständiges Erlöschen der Geistestätigkeit, sondern nur eine in sehr verschiedenen Abstufungen auftretende krankhafte Verminderung oder Veränderung derselben vor. menschlichen Ausdruck zu bezeichnen pflegt, den Eintritt des Blödsinns bedeute. So scheint Gott in beiden Gestalten der irrtümlichen Vorstellung zuzuneigen, daß die durch die Vibrierung der Nerven entstehende Nervensprache (vgl. Kap. V im Eingang) als die wirkliche Sprache des Menschen anzusehen sei, so daß man namentlich anscheinend nicht zu unterscheiden weiß, ob man, da eine gewisse Erregung der Nerven auch bei dem schlafenden Menschen in Träumen stattfindet, die Geistesäußerungen eines träumenden oder eines in vollkommenem Bewußtsein von seiner Denkfähigkeit Gebrauch machenden Menschen vernimmt. Ich rede hier natürlich immer nur von meinem Falle, d.h. von dem Falle, daß Gott weltordnungswidrig zu einem einzigen Menschen in kontinuierlichen, nicht mehr aufzuhebenden Strahlenverkehr getreten ist. Alle die erwähnten irrtümlichen VorstellungenDieselben mögen wohl damit in Zusammenhang stehen, daß Gott unter weltordnungsmäßigen Verhältnissen nur mit Seelen verkehrte, die entweder bereits zu den Vorhöfen des Himmels aufgestiegen oder noch im Reinigungsverfahren begriffen waren (vergl. Kap.I) und außerdem nur gelegentlich mit schlafenden Menschen, die als solche (während des Schlafs) natürlich ebenfalls von der lauten (menschlichen) Sprache nicht Gebrauch machten. Im Verkehr der Seelen untereinander aber war die durch die Schwingung oder Vibrierung der Nerven entstehende (daher nur leise flüsternde) Nervensprache in der Tat die einzige Form der Mitteilung oder des Gedankenaustausches. scheinen erst zu verschwinden, wenn Gott in größere Nähe gekommen ist und nun auf einmal an meinem Verhalten, an meinen Beschäftigungen, nach Befinden auch an meiner Sprache im Verkehr mit anderen Menschen usw. wahrnimmt, daß er es immer noch mit demselben geistig vollkommen ungeschwächten Menschen zu tun habe.

Aus der so gewonnenen Erfahrung eine Lehre für die Zukunft zu ziehen, scheint vermöge irgendwelcher in dem Wesen Gottes liegenden Eigenschaften eine Unmöglichkeit zu sein. Denn genau in derselben Weise wiederholen sich nun schon seit Jahren einen Tag wie den anderen die nämlichen Erscheinungen, insbesondere bei jeder Pause meiner Denktätigkeit (dem Eintritt des sogenannten Nichtsdenkungsgedankens) sofort im ersten Gesichte (Augenblick) der Versuch, sich zurückzuziehen und die Annahme, daß ich nunmehr dem Blödsinn verfallen sei, die gewöhnlich in der albernen Phrase zum Ausdruck kommt »Nun sollte derjenige (scil. denken oder sagen) will ich mich darein ergeben, daß ich dumm bin«, worauf dann in geistlosem Einerlei nach Art eines Leierkastens die übrigen abgeschmackten Redensarten »Warum sagen Sie's nicht (laut)?« oder »Aber freilich wie lange noch« (scil. wird Ihre Verteidigung gegen die Strahlenmacht noch von Erfolg sein) usw. usw. wieder einsetzen, bis ich von neuem zu einer von dem ungeschwächten Vorhandensein meiner Geisteskräfte zeugenden Beschäftigung verschreite.

Wie man sich diese Unfähigkeit Gottes, durch Erfahrung zu lernen, erklären soll, ist eine auch für mich überaus schwierige Frage. Vielleicht hat man sich die Sache so vorzustellen, daß die gewonnene richtigere Einsicht sozusagen jeweilig nur den vorderen Nervenspitzen sich mitteilt, die aber damit auch schon zum Aufgehen in meinem Körper verurteilt sind, daß dagegen diejenige entfernte Stelle, von welcher aus die Rückzugsaktion ins Werk gesetzt wird, an dem betreffenden Eindrucke nicht oder wenigstens nicht in einem für ihre Willensbestimmung ausreichenden Maße teilnimmt.Eine andere Erklärung könnte wohl auch in folgender Weise versucht werden. Man könnte sagen: das Lernen, d. h. das Fortschreiten von einer geringeren Stufe des Wissens zu einer höheren Stufe desselben, ist ein menschlicher Begriff, der nur auf hinsichtlich ihres Wissens vervollkommnungsfähige Wesen Anwendung leidet. Bei meinem Wesen, zu dessen Eigenschaften, wie bei Gott, die Allweisheit von vornherein gehört, kann demnach von Lernen überhaupt nicht die Rede sein. Diese Erklärung will mir aber selbst etwas sophistisch erscheinen, da eine Allweisheit Gottes in absoluter Vollständigkeit und namentlich hinsichtlich der Erkenntnis des lebenden Menschen eben nicht besteht. Eben deshalb ist es mir sehr zweifelhaft, ob es irgendwelchen praktischen Wert hat, daß der niedere Gott, wie oben ausgeführt, auch eine Anzahl richtiger Gedanken in die Sammlung derjenigen Redensarten aufgenommen hat, die er durch die von ihm ausgehenden Stimmen in meinen Kopf hineinsprechen läßt. Denn für mich sind diese Gedanken überhaupt nichts Neues und der obere Gott, dem der Form nach die darin enthaltenen Wahrheiten eröffnet werden, ist anscheinend gar nicht in der Lage, dieselben zu beherzigen, d.h. sein praktisches Handeln in einer anderen, als der sonst von ihm eingeschlagenen Richtung zu bestimmen. Möglicherweise hat sich also der niedere Gott, dem die richtige Erkenntnis der Sachlage jeweilig früher aufgeht, als dem oberen Gotte, lediglich von der Vorstellung leiten lassen, es müsse nun einmal von den Strahlen irgend etwas gesprochen werden (vgl. Kap. IX) und da sei es immerhin besser, daß der Inhalt des – wenn auch in endloser Wiederholung – Gesprochenen in etwas vernünftig Klingendem und nicht in reinem Blödsinn oder nackten Gemeinheiten bestehe. Ich selbst habe den Gedanken, daß Gott durch Erfahrung nichts lernen könne, schon vor längerer Zeit in schriftlichen AufzeichnungenDiese Aufzeichnungen sind in kleinen Notizbüchern enthalten, die ich schon seit einigen Jahren angelegt habe und in denen ich unter fortlaufenden Nummern und mit Angabe des Datums die Betrachtungen über die von mir gewonnenen Eindrücke, über die voraussichtliche Entwicklung der Dinge für die Zukunft etc. in der Form kleiner Studien niedergelegt habe. Für den von mir als wahrscheinlich erachteten Fall, daß meine »Denkwürdigkeiten« – die gegenwärtige Arbeit – dereinst eine wichtige Erkenntnisquelle für den Aufbau eines ganz neuen Religionssystems werden sollten, wird in den Aufzeichnungen der erwähnten Notizbücher vielleicht eine wertvolle Ergänzung meiner »Denkwürdigkeiten« zu finden sein. Sie werden erkennen lassen, wie ich mich nach und nach immer mehr zu richtigem Verständnis der übersinnlichen Dinge durchgerungen habe. Allerdings wird vieles davon für andere Menschen unverständlich sein, da ich die Aufzeichnungen zunächst nur zu dem Zwecke gemacht habe, mir selbst über die einschlägigen Verhältnisse klarer zu werden und da dieselben zur Zeit noch derjenigen Erläuterungen ermangeln, deren es für andere Menschen bedürfen würde. wiederholt dahin formuliert: »Jeder Versuch einer erzieherischen Einwirkung nach außen muß als aussichtslos aufgegeben werden« und jeder weitere Tag der seitdem verflossenen Zeit hat mir die Richtigkeit dieser Auffassung bestätigt. Zugleich halte ich es aber auch hier wieder, wie schon früher bei ähnlichen Anlässen, für geboten, den Leser gegen naheliegende Mißverständnisse zu schützen. Religiös gesinnte Menschen, die sonst von der Vorstellung einer Allmacht, Allweisheit und Allgüte Gottes erfüllt gewesen sind, müssen es unbegreiflich finden, daß Gott nun auf einmal als ein so kleinliches Wesen sich dargestellt haben soll, das in geistiger und sittlicher Beziehung selbst von einem einzelnen Menschen übertroffen werde. Demgegenüber habe ich nachdrücklich zu betonen, daß meine Überlegenheit in beiden Beziehungen doch nur in ganz relativem Sinne zu verstehen ist. Ich nehme eine solche Überlegenheit nur insoweit für mich in Anspruch, als es sich um das weltordnungswidrige Verhältnis handelt, das durch den bei einem einzelnen Menschen dauernd und unauflöslich genommenen Nervenanhang entstanden ist. Insoweit bin ich eben der einsichtigere und zugleich der bessere Teil. Denn der Mensch kennt seine eigene Natur und bei mir kommt überdies hinzu, daß ich in dem jahrelangen Verkehr mit den Seelen auch den Seelencharakter so gründlich kennengelernt habe, wie nie ein Mensch zuvor. Gott dagegen kennt die lebenden Menschen nicht und brauchte ihn auch nach der früher wiederholt kundgegebenen Auffassung nicht zu kennen. Damit ist keineswegs unvereinbar, daß ich in allen anderen Beziehungen, namentlich was übersinnliche Dinge, wie die Entstehung und Entwicklung des Weltganzen betrifft, die ewige Weisheit und Güte Gottes anerkenne.So vorsichtig ich mich im obigen über gewisse Eigenschaften Gottes auszudrücken gehabt habe, so sicher getraue ich mir über gewisse andere Fragen zu urteilen, die von jeher zu den schwierigsten Problemen gerechnet worden sind, seit es denkende Menschen gegeben hat. Ich meine namentlich das Verhältnis der göttlichen Allmacht zur menschlichen Willensfreiheit, die sog. Prädestinationslehre usw. Diese Fragen liegen infolge der mir zuteil gewordenen Offenbarungen und der sonst von mir genommenen Eindrücke für mich, ich möchte sagen, ebenso klar zutage, wie die Sonne selbst. Bei dem hohen Interesse, das sich an diese Fragen anknüpft, werde ich an irgendeiner passenden Stelle im weiteren Fortgang meiner Arbeit Gelegenheit nehmen, die mir aufgegangene Erkenntnis wenigstens in ihren Grundzügen darzulegen.

Am Schlusse dieses Kapitels möge noch die Bemerkung Platz finden, daß jetzt, nach Ablauf von nahezu fünf Jahren, die Entwicklung der Dinge soweit gediehen ist, daß nunmehr auch der obere Gott in betreff der mir gegenüber bezeigten Gesinnung ungefähr auf denjenigen Standpunkt gelangt ist, den der niedere Gott schon seit dem in diesem Kapitel geschilderten Umschwung eingenommen hat. Auch die Wunder des oberen Gottes fangen jetzt wenigstens teilweise an, den harmlosen Charakter anzunehmen, der den Wundern des niederen Gottes schon bisher überwiegend zu eigen war. Um nur einige Beispiele anzuführen, will ich des Herumwerfens meiner Zigarrenasche auf dem Tische oder dem Klavier, des Beschmierens meines Mundes und meiner Hände mit Speiseteilen während des Essens und dergleichen Erwähnung tun. Es gereicht mir zur Genugtuung, daß ich diese Entwicklung der Dinge schon vor Jahren vorausgesagt habe. Zum Beweise will ich die betreffende Niederschrift aus meinen oben erwähnten Aufzeichnungen (Nr. XVII v. 8. März 1898) wörtlich hier hersetzen:

»Wir sprechen zunächst nur vermutungsweise die Ansicht aus, daß es vielleicht einmal dazu kommen kann, daß selbst der hintere Ormuzd das Interesse an Störung der Wollust verliert, geradeso wie es seit 2 ½ Jahren der hintere Ariman nach und nach verloren hat, so daß dann die innere durch die menschliche Phantasie verklärte und veredelte Wollust einen größeren Reiz böte, als die äußere weltordnungswidrige F...erei.«

Zum Verständnis dieser Niederschrift bedarf es einiger erläuternder Bemerkungen. Der »hintere« Ariman und der »hintere« Ormuzd wurden (nicht zuerst von mir, sondern von den Stimmen) der niedere Gott und der obere Gott jeweilig dann genannt, wenn und soweit ein jeder von ihnen durch das Vorschieben des anderen Teils sozusagen in das zweite Treffen gerückt war, was jeden Tag unzählige Male sich wiederholt. Mit der » inneren Wollust« ist die in meinem Körper entstehende Seelenwollust gemeint. Der Ausdruck » äußere weltordnungswidrige F...erei« bezieht sich darauf, daß nach meinen Wahrnehmungen die Aufnahme der Fäulnisstoffe in die reinen Strahlen für diese ebenfalls mit einer Art Wollustempfindung verknüpft ist. Daß das Wort »F...erei« gewählt ist, beruht nicht auf einem bei mir vorhandenen Hange zu ordinärer Ausdrucksweise, sondern darauf, daß ich die Worte »F...« und »F...erei« Tausende von Malen von der anderen Seite habe anhören müssen und daher in der obigen Niederschrift der Kürze halber den Ausdruck einmal umgekehrt auf das weltordnungswidrige Verhalten der Strahlen angewendet habe.


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