Daniel Paul Schreber
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Daniel Paul Schreber

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IV. Persönliche Erlebnisse während der ersten und im Beginn der zweiten Nervenkrankheit

Ich komme nunmehr auf meine eigenen persönlichen Schicksale während der beiden Nervenkrankheiten, die mich betroffen haben, zu sprechen, ich bin zweimal nervenkrank gewesen, beide Male infolge von geistiger Überanstrengung; das erstemal (als Landgerichtsdirektor in Chemnitz) aus Anlaß einer Reichstagskandidatur, das zweitemal aus Anlaß der ungewöhnlichen Arbeitslast, die ich beim Antritt des mir neuübertragenen Amtes eines Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht Dresden vorfand.

Die erste der beiden Krankheiten trat in ihren Anfängen im Herbst 1884 hervor und war Ende 1885 vollständig geheilt, so daß ich am 1. Januar 1886 das Amt eines Landgerichtsdirektors und zwar bei dem Landgericht Leipzig, wohin ich inzwischen versetzt worden war. wieder antreten konnte. Die zweite Nervenkrankheit begann im Oktober 1893 und dauert jetzt noch an. in beiden Fällen habe ich einen größeren Teil der Krankheitszeit in der bei der Universität zu Leipzig bestehenden, vom Prof. jetzigen Geh. Rat Dr. Flechsig geleiteten Irrenklinik zugebracht, das erstemal von Anfang Dezember 1884 bis Anfang Juni 1885, das zweitemal von etwa Mitte November 1893 bis etwa Mitte Juni 1894. In beiden Fällen habe ich beim Eintritt in die Anstalt von einem Antagonismus, der zwischen den Familien Schreber und Flechsig bestanden habe und von den übersinnlichen Dingen, von denen ich in den vorhergehenden Kapiteln gehandelt habe, nicht die leiseste Ahnung gehabt.

Die erste Krankheit verlief ohne jede an das Gebiet des Übersinnlichen anstreifenden Zwischenfälle. Von der Behandlungsweise des Professor Flechsig habe ich während derselben in der Hauptsache nur günstige Eindrücke empfangen. Einzelne Mißgriffe mögen vorgekommen sein, ich war schon während meiner damaligen Krankheit und bin noch jetzt der Meinung, daß Notlügen, die der Nervenarzt zwar vielleicht manchem Geisteskranken gegenüber nicht ganz entbehren kann, aber doch stets nur mit äußerster Vorsicht anwenden sollte, mir gegenüber wohl kaum jemals am Platze waren, da man in mir doch bald einen geistig hochstehenden Menschen von ungewöhnlich scharfem Verstand und scharfer Beobachtungsgabe erkennen mußte. Und für eine Notlüge konnte ich es doch nur ansehen, wenn z. B. Prof. Flechsig meine Erkrankung nur als eine Bromkalivergiftung darstellen wollte, die dem Sanitätsrat Dr. R. in S., in dessen Behandlung ich vorher gewesen war, zur Last zu legen sei. Auch von gewissen hypochondrischen Vorstellungen, die mich damals beherrschten, namentlich der der Abmagerung, hätte ich nach meinem Dafürhalten wohl rascher befreit werden können, wenn man mich die Waage, die zur Ermittlung des Körpergewichts diente – die damals in der Universitätsklinik befindliche Waage war von einer eigentümlichen mir unbekannten Konstruktion – einige Male selbst hätte bedienen lassen. Indessen sind dies Nebendinge, auf die ich kein großes Gewicht lege; man wird vielleicht auch von dem Leiter einer großen Anstalt, in welcher sich Hunderte von Patienten befinden, nicht verlangen können, daß er sich so eingehend in die Geistesverfassung eines einzelnen von ihnen versenke. Die Hauptsache war, daß ich schließlich (nach einer längeren Rekonvaleszenzreise) geheilt wurde und ich konnte daher damals nur von Gefühlen lebhaften Dankes gegen Prof. Flechsig erfüllt sein, denen ich auch durch einen späteren Besuch und ein nach meinem Dafürhalten angemessenes Honorar noch besonderen Ausdruck gegeben habe. Fast noch inniger wurde der Dank von meiner Frau empfunden, die in Professor Flechsig geradezu denjenigen verehrte, der ihr ihren Mann wiedergeschenkt habe und aus diesem Grunde sein Bildnis jahrelang auf ihrem Arbeitstische stehen hatte.

Nach der Genesung von meiner ersten Krankheit habe ich acht, im ganzen recht glückliche, auch an äußeren Ehren reiche und nur durch die mehrmalige Vereitelung der Hoffnung auf Kindersegen zeitweilig getrübte Jahre mit meiner Frau verlebt. Im Juni 1893 wurde mir (zunächst durch den Herrn Minister Dr. Schurig persönlich) die Nachricht von meiner bevorstehenden Ernennung zum Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht Dresden zuteil.

In diese Zeit fallen einige Träume, denen ich damals keine besondere Beachtung geschenkt habe und auch jetzt noch nach dem Sprichworte »Träume sind Schäume« keine weitere Beachtung schenken würde, wenn ich nicht nach den inzwischen gemachten Erfahrungen wenigstens an die Möglichkeit, daß sie mit einem bei mir genommenen göttlichen Nervenanhang zusammenhingen, denken müßte. Es träumte mir einige Male, daß meine frühere Nervenkrankheit wieder zurückgekehrt sei, worüber ich dann natürlich im Traume ebenso unglücklich war, als ich mich nach dem Erwachen glücklich fühlte, daß es eben nur ein Traum gewesen war. Ferner hatte ich einmal gegen Morgen noch im Bette liegend (ob noch halb schlafend oder schon wachend weiß ich nicht mehr) eine Empfindung, die mich beim späteren Nachdenken in vollständig wachem Zustande höchst sonderbar berührte. Es war die Vorstellung, daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege. – Diese Vorstellung war meiner ganzen Sinnesart so fremd; ich würde sie, wie ich wohl sagen darf, bei vollem Bewußtsein mit solcher Entrüstung zurückgewiesen haben, daß ich nach dem inzwischen von mir Erlebten allerdings die Möglichkeit nicht ganz von der Hand weisen kann, es seien irgendwelche äußere Einflüsse, die mir diese Vorstellung eingegeben haben, mit im Spiele gewesen.

Am 1. Oktober 1893 trat ich mein neues Amt als Senatspräsident beim Oberlandesgericht Dresden an. Die Arbeitslast, die ich vorfand, war, wie bereits bemerkt, ungemein groß. Dazu kam das meinetwegen vom Ehrgeiz eingegebene, aber doch auch im Interesse des Amtes gebotene Bestreben, mir durch unbestreitbare Tüchtigkeit meiner Leistungen zunächst das erforderliche Ansehen bei meinen Kollegen und den sonst beteiligten Kreisen (Rechtsanwälten usw.) zu verschaffen. Diese Aufgabe warum so schwerer und stellte auch an den Takt im persönlichen Verkehr um so größere Anforderungen, als die Mitglieder des (Fünfrichter-)Kollegiums, in dem ich den Vorsitz zu führen hatte, mir fast sämtlich im Alter weit (bis zu 20 Jahren) überlegen und obendrein mit der Praxis des Gerichtshof, in den ich neu eintrat, immerhin in gewisser Beziehung vertrauter waren. So geschah es, daß ich mich schon nach einigen Wochen geistig übernommen hatte. Der Schlaf fing an zu versagen und zwar gerade etwa in dem Zeitpunkte, als ich mir sagen konnte, die Schwierigkeiten der Einrichtung in das neue Amt, in die neuen Wohnungsverhältnisse usw. seien in der Hauptsache überwunden. Ich fing an Bromnatrium zu nehmen. Gelegenheit zu geselliger Zerstreuung, die mir jedenfalls viel wohler getan haben würde–wie ich daraus entnahm, daß ich nach dem einzigen Male, wo wir zu einer Abendgesellschaft eingeladen waren, erheblich besser schlief – gab es bei unserer Unbekanntschaft in Dresden fast gar nicht. Die ersten ganz schlechten, d. h. nahezu völlig schlaflosen Nächte fielen in die letzten Tage des Monats Oktober oder in die ersten Tage des Monats November. Hierbei ereignete sich ein merkwürdiges Vorkommnis. In mehreren Nächten, in denen ich keinen Schlaf zu finden vermochte, machte sich in unserem Schlafzimmer ein in kürzeren oder längeren Pausen wiederkehrendes Knistern in der Wand bemerkbar, welches mich jedesmal, wenn ich im Einschlafen begriffen war, aus dem Schlaf wieder erweckte. Wir dachten damals natürlich an eine Maus, obwohl es immerhin ziemlich auffällig erscheinen mußte, daß eine Maus sich in dem ersten Stockwerke eines durchaus massiv gebauten Hauses eingeschlichen haben sollte. Nachdem ich aber ähnliche Geräusche inzwischen unzählige Male gehört habe und jetzt tagtäglich bei Tag und bei Nacht in meiner Nähe höre, die ich nunmehr unzweifelhaft als göttliche Wunder erkannt habe – zumal auch die mit mir redenden Stimmen sie als solche, als sogen. »Störungen« bezeichnen – kann ich, ohne eine ganz bestimmte Behauptung darüber aufstellen zu wollen, wenigstens den Verdacht nicht abweisen, daß auch damals schon ein solches Wunder in Frage gewesen sei, d. h. daß von Anfang an die mehr oder minder bestimmte Absicht vorgelegen habe, meinen Schlaf und später meine Genesung von der aus der Schlaflosigkeit hervorgegangenen Krankheit zu einem vorläufig noch nicht näher zu bezeichnenden Zwecke zu verhindern.Dabei will ich nicht unterlassen hinzuzufügen, daß es sich dabei, dem inzwischen von mir erkannten Seelencharakter gemäß, nur in einem in höchstem Maße ausgebildeten Dolus indeterminatus – man gestatte mir diesen juristischen Ausdruck zu gebrauchen – gehandelt haben würde, d.h. um Vorstöße, denen sehr häufig wieder ein Gesinnung- und Stimmungswechsel folgte, sobald man sich bei näherem Zusehen überzeugte, daß der Betreffende denn doch wohl eines besseren Schicksals würdig sei.

Meine Krankheit nahm nun bald einen bedrohlichen Charakter an; bereits am 8. oder 9. November war ich auf Anraten des von mir konsultierten Dr. Ö. genötigt, einen zunächst achttägigen Urlaub zu nehmen, den wir benutzen wollten, um den Prof. Flechsig zu befragen, auf den wir ja nach seinen Heilerfolgen bei der ersten Krankheit unser ganzes Vertrauen setzten. Wir (meine Frau und ich) reisten, da es ein Sonntag war, wo man nicht erwarten konnte, den Prof. Flechsig anzutreffen, über Chemnitz und brachten die Nacht vom Sonntag zum Montag bei meinem dortigen Schwager K. zu. Hier wurde noch am selben Abend eine Morphiuminjektion gemacht und in der Nacht zum ersten Male Chloral gegeben – durch einen Zufall wohl nicht gleich anfangs in der im voraus bestimmten Dosis, nachdem ich bereits am Abend Herzbeklemmungen, wie bei der ersten Krankheit, in solcher Stärke empfunden hatte, daß mir schon das Begehen einer mäßig ansteigenden Straße Angstzustände verursachte. Auch die Nacht in Chemnitz war schlecht. Am folgenden Tage (Montag) früh fuhren wir nach Leipzig und vom bayrischen Bahnhof unmittelbar mit der Droschke nach der Universitätsklinik zu Professor Flechsig, welcher bereits am Tage vorher durch Telegramm auf den Besuch vorbereitet worden war. Es folgte eine längere Unterredung, bei welcher Prof. Flechsig, wie ich nicht anders sagen kann, eine hervorragende Beredsamkeit entwickelte, die nicht ohne tiefere Wirkung auf mich blieb. Er sprach von Fortschritten, die die Psychiatrie seit meiner ersten Krankheit gemacht habe, von neu erfundenen Schlafmitteln usw. und gab mir Hoffnung, die ganze Krankheit durch einen einmaligen ausgiebigen Schlaf, der womöglich von nachmittags 3 Uhr bis gleich zum folgenden Tage andauern sollte.Wozu genau die »hervorragende Beredsamkeit« von Prof. Flechsig seinem Patienten »Hoffnung« gab, läßt sich nicht mehr sagen, da das Verbum fehlt. Dieser Mangel störte aber keinesfalls Schrebers englische Übersetzer, Macalpine und Hunter, die das fehlende Verbum stillschweigend restaurierten, und zwar genau im Sinne ihrer Interpretation, welche die Vorherrschaft der Zeugungsphantasien bei Schreber betont. Bei Macalpine & Hunter heißt der Satz: »He (Flechsig) spoke of the advances made in psychiatry since my first illness, of newly discovered sleeping drugs, etc., and gave me hope of delivering me of the whole illness through one prolific sleep (...)«

Dazu bemerkte Lacan: »Wer wird (Mrs. Macalpine) jene Freude verübeln können, die sie wohl gefühlt haben muß, als sie (das Wort), das ihren Wünschen so sehr entsprach, wiederfand« (Ecrits, S. 545, Fn. 1).

Infolgedessen befestigte sich meine Stimmung, zumal die Nerven durch die mehrstündige Reise in frischer Morgenluft und die Tageszeit (vormittags) etwas gekräftigt sein mochten. Wir holten zunächst das verordnete Schlafmittel in der Apotheke gleich selbst ab, aßen dann bei meiner Mutter in deren Wohnung und ich brachte den Rest des Tages u.a. mit einem kleinen Spaziergang im ganzen recht leidlich zu. Das Aufsuchen des Bettes (in der Wohnung meiner Mutter) erfolgte natürlich nicht schon um 3 Uhr, sondern wurde (wohl einer geheimen Instruktion entsprechend, die meine Frau empfangen hatte) bis zur 9. Stunde verzögert. Unmittelbar vor dem Schlafengehen traten aber wieder bedenklichere Symptome hervor. Unglücklicherweise war auch das Bett infolge zu langen Lüftens zu kalt, so daß mich sofort ein heftiger Schüttelfrost ergriff und ich das Schlafmittel schon in hochgradiger Aufregung einnahm. Dasselbe verfehlte infolgedessen seine Wirkung fast gänzlich und meine Frau gab mir daher schon nach einer oder einigen Stunden das als Reserve in Bereitschaft gehaltene Chloralhydrat nach. Die Nacht verlief trotzdem in der Hauptsache schlaflos und ich verließ während derselben auch bereits einmal in Angstzuständen das Bett, um vermittelst eines Handtuchs oder dergleichen Vorbereitungen zu einer Art Selbstmordversuch zu machen, woran meine darüber erwachte Frau mich hinderte. Am anderen Morgen lag bereits eine arge Nervenzerrüttung vor; das Blut war aus allen Extremitäten nach dem Herzen gewichen, meine Stimmung aufs äußerste verdüstert und Professor Flechsig, nach dem bereits am frühen Morgen geschickt wurde, hielt daher nunmehr meine Unterbringung in seiner Anstalt für geboten, nach der ich denn nun auch in seiner Begleitung sofort in der Droschke abfuhr.

Nach einem warmen Bade wurde ich sofort ins Bett gebracht, das ich nun während der nächsten 4 oder 5 Tage überhaupt nicht wieder verließ. Als Wärter wurde mir ein gewisser R... beigegeben. Meine Krankheit wuchs in den nächsten Tagen rapid; die Nächte verliefen meist schlaflos, da die schwächeren Schlafmittel (Kampfer usw.), mit denen man es zunächst wohl versuchen wollte, um nicht gleich dauernd zum Chloralhydrat überzugehen, ihre Wirkung versagten. Irgendeine Beschäftigung konnte ich nicht treiben; auch von meiner Familie sah ich niemand. Die Tage verliefen daher unendlich traurig; mein Geist war fast nur mit Todesgedanken beschäftigt. Es scheint mir, wenn ich rückblickend an jene Zeit zurückdenke, als ob der Heilplan des Professor Flechsig darin bestanden habe, meine Nervendepression zunächst bis auf einen beliebigen Tiefstand herabzudrücken, um dann durch einen plötzlichen Stimmungsumschwung auf einmal die Heilung herbeizuführen. Nur so wenigstens kann ich mir den folgenden Vorgang erklären, für den ich sonst eine geradezu böswillige Absicht annehmen müßte.Ich kann nicht verschweigen, daß Professor Flechsig bei einer späteren Unterredung den ganzen Vorgang im Billardzimmer und was damit zusammenhängt, in Abrede stellen, als ein Traumbild meiner Phantasie darstellen wollte – nebenbei bemerkt einer der Umstände, die mich von da ab mit einem gewissen Mißtrauen gegen Prof. Flechsig erfüllten. Die Tatsächlichkeit des Vorgangs, bei welchem von einer Sinnestäuschung nicht die Rede sein kann, ist jedoch völlig unzweifelhaft, da sich gar nicht wegleugnen läßt, daß ich an dem der fraglichen Nacht folgenden Morgen in der Dementenzelle mich befunden habe und dort von Dr. Täuscher besucht worden bin. (Fußnote 24 wurde gestrichen, weil sie auf Flechsig verweist. Siehe S. 341 und 425 f. hierzu.)

Etwa in der vierten oder fünften Nacht nach meiner Aufnahme in die Anstalt wurde ich mitten in der Nacht von zwei Pflegern aus dem Bett gerissen und in eine für Demente (Tobsüchtige) eingerichtete Schlafzelle gebracht. Ich befand mich ohnedies schon in aufgeregtester Stimmung, sozusagen in einem Fieberdelirium und wurde natürlich durch diesen Vorgang, dessen Beweggründe ich nicht kannte, aufs äußerste erschreckt. Der Weg führte durch das Billardzimmer, und hier entspann sich, da ich gar nicht wußte, was man mit mir vorhatte, und mich demnach widersetzen zu müssen glaubte, ein Kampf zwischen mir, der ich nur mit dem Hemd bekleidet war, und den beiden Pflegern, wobei ich mich am Billard festzuhalten versuchte, schließlich aber überwältigt und in die obenerwähnte Zelle abgeführt wurde. Hier überließ man mich meinem Schicksal; ich verbrachte den Rest der Nacht in der nur mit einer eisernen Bettstelle und Bettstücken ausgestatteten Zelle wohl größtenteils schlaflos, hielt mich für gänzlich verloren und machte in der Nacht auch einen natürlich mißlungenen Versuch, mich vermittelst des Bettuchs an der Bettstelle aufzuhängen. Der Gedanke, daß einem Menschen, dem mit allen Mitteln der ärztlichen Kunst Schlaf nicht mehr zu verschaffen sei, schließlich nichts weiter übrig bleibe, als sich das Leben zu nehmen, beherrschte mich vollständig. Daß dies in Anstalten nicht geduldet werde, war mir bekannt, ich lebte aber in dem Wahne, daß dann nach Erschöpfung aller Heilversuche eine Entlassung zu erfolgen habe – lediglich zu dem Zwecke, damit der Betreffende in seiner Behausung oder sonstwo seinem Leben ein Ende mache.

Als der nächste Morgen anbrach, war es daher für mich eine große Überraschung, daß ich überhaupt noch ärztlichen Besuch erhielt. Es erschien der Assistenzarzt des Professor Flechsig, Dr. Täuscher, und dessen Mitteilung, daß man gar nicht daran denke, das Heilverfahren aufzugeben, in Verbindung mit der ganzen Art und Weise, wie er mich aufzurichten suchte – ich kann auch ihm die Anerkennung nicht versagen, daß er bei dieser Gelegenheit vorzüglich sprach – hatte wieder einmal einen sehr günstigen Stimmungsumschwung bei mir zur Folge. Ich wurde wieder in das vorher von mir bewohnte Zimmer geführt und verlebte den besten Tag, den ich während meines ganzen (zweiten) Aufenthalts in der Flechsig'schen Anstalt gehabt habe, d. h. den einzigen Tag, an welchem mich eine hoffnungsfreudige Stimmung belebte. Auch der Wärter R. benahm sich äußerst taktvoll und geschickt in seiner ganzen Unterhaltung, so daß ich mich manchmal hinterdrein gefragt habe, ob nicht auch bei ihm (ebenso wie bei Dr. Täuscher) höhere Eingebungen erfolgt seien. Ich spielte am Vormittag sogar etwas Billard mit ihm, nahm am Nachmittag ein warmes Bad und behauptete mich bis zum Abend in der befestigten Stimmung, die ich erlangt hatte. Es sollte der Versuch gemacht werden, ob ich ganz ohne Schlafmittel schlafen könne. Ich ging in der Tat auch verhältnismäßig ruhig zu Bett, aber zum Schlaf kam es nicht. Nach einigen Stunden war es mir auch nicht mehr möglich, meine ruhige Stimmung zu behaupten; der Blutandrang nach dem Herzen schaffte mir wieder Angstzustände. Nach dem Wärterwechsel – an meinem Bett saß stets ein Wärter, der in der Mitte der Nacht von einem anderen abgelöst wurde – wurde wohl schließlich noch etwas Schlafmachendes gewährt – Nekrin oder so ähnlich war der Name – und ich fiel wohl noch in etwas Schlaf, der jedoch irgendwelche nervenstärkende Wirkung nicht hervorbrachte. Vielmehr war ich am nächsten Morgen in der alten Nervenzerrüttung, dieselbe war so arg, daß ich das mir vorgesetzte Frühstück wieder herausbrach. Einen besonders schreckhaften Eindruck gewährten mir die gänzlich verzerrten Gesichtszüge, die ich beim Erwachen an dem Wärter R. wahrzunehmen glaubte.

Von nun ab wurde für die Nacht regelmäßig Chloralhydrat gereicht und es folgte mehrere Wochen lang eine wenigstens äußerlich etwas ruhigere Zeit, da auf diese Weise meistens wenigstens leidlicher Schlaf gemacht wurde. Ich empfing regelmäßige Besuche meiner Frau und verbrachte auch etwa in den letzten beiden Wochen vor Weihnachten immer einen Teil des Tages im Hause meiner Mutter. Dabei blieb jedoch die Nervenüberreizung bestehen und wurde wohl eher schlimmer als besser. In den Wochen nach Weihnachten machte ich auch täglich mit meiner Frau und dem Wärter Spazierfahrten in der Droschke. Jedoch war mein Kräftezustand so herunter, daß ich beim Aussteigen aus der Droschke (im Rosenthal oder im Scheibenholz) jeden kleinen zu Fuß zurückzulegenden Weg von ein paar hundert Schritten als ein Wagnis empfand, zu dem ich mich nicht ohne innere Angst entschloß. Auch sonst war mein ganzes Nervensystem in einem Zustande tiefster Erschlaffung begriffen. Irgendwelche geistige Beschäftigungen, etwa Zeitunglesen oder dergleichen konnte ich entweder gar nicht oder nur in dem allergeringsten Maße vornehmen. Selbst vorwiegend mechanische Beschäftigungen, wie das Zusammensetzen von Geduldspielen, das Legen von Patiencen und dergleichen steigerte meine Nervenerregung so, daß ich meist nach kurzer Zeit davon ablassen mußte; kaum daß ich am Abend eine Zeitlang mit dem Wärter R... ein paar Damenpartien zu spielen vermochte. Essen und Trinken nahm ich in dieser Zeit meist mit gutem Appetit zu mir, auch pflegte ich damals noch täglich einige Zigarren zu rauchen. Die Nervenerschlaffung steigerte sich unter dem gleichzeitigen Wiederhervortreten von Angstzuständen, als man dann ab und zu den Versuch machte, anstatt des die Nerven zwar auf kurze Zeit immerhin etwas stärkenden, auf die Dauer aber doch angreifenden Chloralhydrates schwächere Schlafmittel anzuwenden. Mein Lebensmut war vollständig gebrochen; jede andere Aussicht, als auf einen schließlich etwa durch Selbstmord zu vollziehenden tödlichen Ausgang war in mir entschwunden: zu den Zukunftsplänen, mit denen mich meine Frau hin und wieder aufzurichten versuchte, schüttelte ich ungläubig den Kopf.

Ein weiterer und in meinem Leben einen wichtigen Abschnitt bezeichnenden Nervensturz trat dann etwa gegen den 15. Februar 1894 ein, als meine Frau, die bis dahin täglich einige Stunden mit mir zusammengewesen war und auch die Mittagsmahlzeiten mit mir in der Anstalt eingenommen hatte, eine viertägige Reise nach Berlin zu ihrem Vater unternahm, um sich auch selbst einige Erholung, deren sie dringend bedurfte, zuzuwenden. In diesen vier Tagen war ich soweit heruntergekommen, daß ich nach der Rückkehr meiner Frau sie nur noch ein einziges Mal wiedersah und dann selbst die Erklärung abgab, ich könne nicht wünschen, daß meine Frau mich in dem herabgekommenen Zustande, in dem ich mich befand, überhaupt noch weiter sehe. Die Besuche meiner Frau fielen von dieser Zeit ab weg; als ich sie nach längerer Zeit vereinzelte Male an dem Fenster eines gegenüberliegenden Zimmers wiedersah, waren inzwischen so wichtige Veränderungen in meiner Umgebung und in mir selbst vorgegangen, daß ich in ihr nicht mehr ein lebendes Wesen, sondern nur eine hingewunderte Menschengestalt nach Art der »flüchtig hingemachten Männer« zu erblicken glaubte. Entscheidend für meinen geistigen Zusammenbruch war namentlich eine Nacht, in welcher ich eine ganz ungewöhnliche Anzahl von Pollutionen (wohl ein halbes Dutzend) in dieser einen Nacht hatte.

Von nun an traten die ersten Anzeichen eines Verkehrs mit übersinnlichen Kräften, namentlich eines Nervenanhangs hervor, den Professor Flechsig mit mir in der Weise unterhielt, daß er zu meinen Nerven sprach, ohne persönlich anwesend zu sein. Von dieser Zeit ab gewann ich auch den Eindruck, daß Professor Flechsig nichts Gutes mit mir im Schilde führe; Bestätigung schien mir dieser Eindruck dadurch zu finden, daß Professor Flechsig, als ich einmal bei einem persönlichen Besuche ihn aufs Gewissen fragte, ob er wirklich an die Möglichkeit einer Heilung bei mir glaube, zwar gewisse Vertröstungen abgab, aber – so schien es mir wenigstens – mir dabei nicht mehr in die Augen sehen konnte.

Es ist nun hier der Ort, auf die Natur der bereits mehrfach erwähnten inneren Stimmen einzugehen, welche seitdem unaufhörlich zu mir sprechen, und zugleich auf die nach meinem Urteil der Weltordnung innewohnende Tendenz, nach welcher es unter gewissen Umständen zu einer »Entmannung« (Verwandlung in ein Weib) eines Menschen (»Geistersehers«) kommen muß, der zu göttlichen Nerven (Strahlen) in einen nicht mehr aufzuhebenden Verkehr getreten ist. Der Darlegung dieser Verhältnisse, die allerdings über die Maßen schwierig ist, sei das folgende Kapitel bestimmt.


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