Maximilian Schmidt
Die Schwanjungfrau
Maximilian Schmidt

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XII.

Dei Stief-Bruada is 's gwen!« schrie die alte Rappelleni, als ihr am nächsten Morgen Berchtold selbst die Nachricht vom Tode ihres Enkels brachte. »Oan Vatan habts mitanander g'habt – der Perlacher is 's gwen!«

Und in geradezu wilder Verzweiflung schrie und jammerte sie über das Verhängnis ihres Hauses.

Berchtold war durch diese überraschende Nachricht, daß der Grafenpeter in so naher Beziehung zu ihm stehe, aufs tiefste erschüttert. Er hatte es bis jetzt nicht über sich bringen können, die gestrige Affaire nach ihrem wahren Sachverhalte zu erzählen. So verschwieg er, daß er den Grafenpeter als Wilderer ertappt, er verschwieg auch, daß er dessen Todesopfer werden sollte. Die Größe und Hoheit, welche der Loder in den letzten Augenblicken seines Lebens bewies, machten es Berchtold unmöglich, von ihm als einem Verbrecher zu sprechen. Und jetzt gar, nachdem er erfahren, daß es sein Halbbruder sei. Er wollte von dem Grafenpeter nur auf diesem bekannte Steige geführt worden sein, wobei sie infolge einer Steinlahne abgefallen, und sich beide an einer Felsentanne anklammerten. Was hier geschehen, wie Peter sich für ihn opferte, das verschwieg er 159 nicht der Großmutter, nicht Sabinen, deren thränendes Auge hoch aufleuchtete bei Erzählung dieser That, die alle Schmach und alle Verachtung auslöschte, die auf dem Geliebten haftete und ihn in ihren Augen umgab mit dem Glorienschein eines Helden.

Allerheiligen war es; schon heute wurden die Gräber am Berchtesgadener Friedhofe geschmückt mit Kränzen aus Tannengezweig und Stechpalmen und geziert mit den roten Beeren des Vogelbeerbaumes.

Der Grillersepp besuchte mit seinen beiden Töchtern das frische Grab des Großvaters Weyerzisk, auf welches heute wiederholt die Huld des Fürsten einen Lorbeerkranz gelegt, und welches die Verwandten mit den schönsten Blumen schmückten, die sie besaßen.

Dann begaben sie sich zur Kirche, um dem Himmel zu danken für die glückliche Errettung Berchtolds, der sich ihnen zugesellt und mit tiefer Rührung sie begrüßte.

Von hier aus entfernte sich Sabine von den Ihrigen. Vater und Schwester ließen sie gehen, sie ehrten ihren Schmerz.

Das Mädchen eilte allein nach Hause, sie hatte am Wege Eichenlaub abgeschnitten, und zu Hause beraubte sie alle Blumenstöcke, welche die Fenster ihrer Kammer zierten, ihrer Blüten. Davon wand sie einen Kranz, machte dann aus zwei rohen Ästen ein Kreuz, auf welchem sie den Kranz befestigte, und eilte zum See, um sich in einem Schiffchen zur Kaunerwand, in die Nähe der Saletalp hinzurudern, wo sie an der herabgestürzten Tanne vielleicht die Stelle finden konnte, wo der Grafenpeter abgefallen war. Stille war es heute auf dem See, Kirchhofsruhe herrschte. Der heutige Tag war schon wie der Tag Allerseelen den Toten 160 geweiht, und die Pietät des Landvolks für dieselben entweihte durch keinen freudigen Juhschrei den Ernst des Tages.

Die Thränen flossen fast unaufhörlich aus den Augen der schönen Schifferin, sie ließ sie oft hineinfallen in die grün schimmernde Flut, in deren Tiefe sie den Leichnam des Geliebten wähnte. Die Kaunerwand entlang fahrend, suchte sie bebenden Herzens nach der vom Felsen abgefallenen Tanne, und sie erblickte diese in der That nahe der Saletalpe an dem felsigen Ufer, den Gipfel in die Fluten tauchend, während die mit Erde und Moos bedeckten Wurzeln sich neuerdings an dem Felsen festzuklammern schienen.

Hier landete sie und band an der Tanne den Kahn fest.

Da unten lag der Verunglückte. Sie strengte ihre Augen an und blickte hinab in die greuliche Tiefe, die ihr schwarz entgegendräute. Sie grüßte und küßte hinab, lange – lange. Dann nahm sie das Kreuz mit dem Kranze und stieg zu Land. Sie lehnte es an den Felsen und befestigte es mit mehreren umherliegenden Steinen. Und mit ineinander verschlungenen, nach abwärts gedrückten Händen betete sie dann für die Ruhe des Verunglückten und gab sich ganz dem Eindrucke des Augenblicks hin.

»Mei' armer Bua,« sagte sie, »ruah in Fried da unt im nassen Grab. Mei' Herz hast mit dir gnumma, bhalts in Ewigkeit! Durt ommat wird's dir besser gehn als da herunt! Du hast nöd glückli sei' solln, so weng wiar i, und wenn i kimm zu dir, aft wird's ja dengerst anders wern wia da. Pfüat Gott mei' liawa, liawa Bua, i bleib dir treu in alle Ewigkeit!«

»Sabin, Sabin!« rief es jetzt hinter ihr; »Sabin, 161 Sabin!« rief ein zu ihren Füßen gestürzter Mann, »mei' Deandl, mei' alles!«

»Peter,« schrie das Mädchen entsetzt auf, »bist d' es wirkli, oder is 's dei' Geist?«

»Wirkli bin is,« erwiderte der Bursche aufspringend, und das erblassende, wankende Mädchen in seinen Armen haltend. Er setzte es neben das Kreuz auf einen Felsenstein und brachte es durch seine Küsse wieder zu sich.

»A Wunder hat mi erhalten,« rief er dabei, »und i dakenn's, für di hat's mi dahaltn, aft daß i brav und ehrli werd und bleib, und nur für di därf lebn oder sterbn.«

Und in der That glich es einem Wunder, daß der, wie wir wissen, an der fast senkrechten Kaunerwand abfallende Wilderer sich nochmals an einem Latschengesträuche festzuhalten vermochte, und so zwischen Himmel und Erde schwebend, den sicheren Todessturz verzögerte.

Der närrische Jakoberl war es, welcher ihn in dieser gefährlichen Lage erblickte. Mit fast übermenschlicher Kraft suchte Jakoberl den herabgestürzten Tannenbaum wieder an die Felsenwand zu lehnen, und es so dem Grafenpeter zu ermöglichen, sich nach einem verhältnismäßig noch geringen, aber immerhin noch lebensgefährlichen Abfall an der Tanne festzuhalten, welche infolge der wuchtigen Beschwerung das Gleichgewicht verlor und wiederholt in den See stürzte, aus welchem dann Peter, den Stamm des Baumes festhaltend, und mit Hilfe des Jakoberl gerettet wurde. Jakoberl hatte dann den halb ohnmächtigen und aus vielen Wunden blutenden Freund den schmalen Felsensteig entlang, zur Saletalpe, und in die uns bereits bekannte Almhütte der schönen Burgei gebracht. Diese war aber heute bereits mit ihrem Almvieh abgezogen, niemand war 162 mehr anwesend als die alte Nandl, die sofort alles aufbot, um den Verwundeten, soweit es noch anging, unterzubringen, dessen Kleider zu trocknen und ihn zu verpflegen.

Da erst am morgigen Tage der kleine Lenzl ihr Schiffchen wieder bringen sollte, so konnte sie die Salet nicht verlassen, um einen Doktor oder Bader zu holen. Es ging auch ohne diese, und als Peter bei einbrechender Nacht ruhig eingeschlafen, war auch der Jakoberl zu seinen Füßen und blickte triumphierend nach dem Beschützer, dem er sich dankbar bezeigen, dem er das Leben retten durfte.

Am andern Morgen befand sich der Verwundete bereits wieder so wohl, daß er das Lager verlassen konnte; da aber der kleine Lenzl noch immer nicht mit dem Schiffchen kam, mußte er hier verbleiben.

Die Nandl plauderte gerne, und so erzählte sie dem Peter, daß Burgei nächstens mit dem Holzernazi Hochzeit halten werde, dessen Wunde glücklich wieder durch die Rappelleni, Peters Ahndl, geheilt worden sei. Sie wußte ihm auch von dem Verhältnisse Regerls mit dem neuen Oberjäger zu erzählen und deren baldiger Verbindung, verschwieg ihm auch nicht, daß die beiden Grillerdeandl reich geworden seien, indem sie alles geerbt, was der alte Weyerzisk hinterlassen hätte und wie dieser vom König eine große Summe, für »a paar schöne Marmorschnitzereien,« wie sie sich ausdrückte, noch am letzten Tage seines Lebens erhalten, und daß schon mancher brave Bursche sein Auge auf die schöne Sabina geworfen, diese aber von niemand etwas wissen wolle, als vom Grafenpeter.

»Mei', i bin ihr Liab nöd wert,« sagte Peter seufzend – »iatz hat's an' Fried vor mir, bis 's selber kimmt und sagt: »I halt' di wert!«

163 »Drauf därfst nit lang wartn,« rief Nandl – »täuscht mi 's Gschau nit, so fahrt dort d' Sabin z'naachst da Kaunawand – iatz steigts aus, grad an dem Fleck, wo 's d' a'g'falln bist.«

Peters blasses Gesicht überlief eine sichtliche Röte.

»Sie halt mi für tot,« sagte er, »i därfs nit lang in dem Glaubn lassen. Schnell schaug i ummi zu ihr!«

Und er begab sich, so schleunig er es vermochte, über die Saletalpe hin zu dem Platze an der Kaunerwand, wo eben Sabina ihm ihre Liebe und Treue über das Grab hinaus gelobte. –

Neben ihr auf dem Felsen sitzend, hatte er ihr alles erzählt, er hatte sein Verbrechen nicht verschwiegen, wohl aber seine Großmut dem Perlacher gegenüber. Von dieser aber erzählte ihm Sabina – sie erzählte ihm noch mehr – nämlich daß Berchtold sein Halbbruder sei.

»Barmherziger Gott!« rief Peter, »und an dem wollt' i – Wia muß si der über mi schama!«

»Stolz is er auf di,« versicherte ihm Sabina, »därfst es glaubn, und koa größere Freud wird's für eam gebn, als wenn er hört, daß d' nit z' Grund ganga, daß di der Himmi erhaltn hat für mi – dei' treus Deandl!« Peter hatte in seinem Leben keine solche Glückseligkeit empfunden, als bei dieser Versicherung.

»I will's wert wern,« sagte er, »dei' Liab – dös Glück! Nimmer sollst mi feiern sehgn, arbeitn will i, so lang i leb, freudi und schneidi!«

»Dös sollst,« sagte Sabina, »und a Arbet kriagst, die dir grad am liabstn is. Da Förster von Bartlmä hat mir Hand und Wort gebn, daß er di nimmt als Jagasknecht, da bist in deim Element, im Wald und auf die 164 Berg, und mit der Zeit kannst es aufwärts bringen, dei' Bruader, der Perlacher, sorgt scho' dafür, thuast nur dei' Schuldigkeit.«

Die beiden hatten in ihrem süßen Geplauder gar nicht beachtet, wie ein Kahn mit mehreren Personen dicht an der Kaunerwand entlang näher kam. Es war der Grillersepp, Berchtold und Regerl und die Rappelleni. Die beiden Männer ruderten, die Rappelleni und Regerl saßen auf einem Sitze, jede hatte einen Kranz in der Hand.

Die Alte stierte schmerzbewegt in die Flut. Von Sabinens Fahrt in Kenntnis gesetzt, waren sie sofort bereit, ihr nachzueilen, um so mehr die Rappelleni schon lange auf der Lände auf- und ablief und ein Schifflein verlangte, um, wie sie sagte, zu ihrem Peterl zu fahren.

Perlacher lud sie ein, mit ihm zu fahren, er kaufte ihr einen Kranz, damit sie jene Stelle schmücken könne, wo das Unglück geschehen.

Regerls Blicke hafteten ohne Unterlaß auf ihrem Bräutigam. Ihr Herz bebte bei dem Gedanken, wie nahe er daran war, ihr für immer entrissen zu werden, und sie wurde nicht müde, dem Himmel für seine Rettung zu danken.

»Gestern um die Zeit war's!« sagte Perlacher, »so um vieri rum.«

»Um vieri!« rief die Rappelleni. »No' ja, grad um die Zeit bin i in der Vesper gwen und hon beim Pange lingua mein Peter den Segen zuarigschickt. Nix is 's, nix is 's! I sag's ja, alles is nix!«

»Staad Leni!« rief der Grillersepp. »Es is scho' ebbas! Schau durt hin, sitzt nit der Peter lebendi nebn meiner Sabin?«

165 Alle blickten nach dem jetzt sichtbaren Paare. Freudenrufe erschallten.

»Is er's wirkli?« rief die alte Großmutter. »Is 's koa Traam?«

Und als sie im nächsten Momente aus dem Schifflein ans Land gestiegen und Peter an ihrem Halse weinte, da sagte sie ebenfalls unter Thränen:

»Es is koa' Traam – es giebt ebbas – es giebt ebbas!« Und dankend blickte sie himmelwärts.

»Ja, Muatterl,« sagte jetzt Peter, »i hon's dakennet und gwiß will i mi dera Himmelsgnad würdi zoagn mei' ganz's Leben lang!«

Nun umarmten sich die beiden jungen Männer. Sie sahen sich lange in die Augen und schüttelten sich dann treuherzig die Hände.

»Wie hon i dös denkn kinna, daß du mei' Bruada bist!« versetzte endlich Peter. »I werd dir gwiß koa' Schand mehr macha! Bleib mir gut!«

»I bin dir's und bleib dir's!« versicherte ihm Berchtold gerührt.

»Und i bin seit gestern aa dei' Freund!« sagte der Grillersepp vortretend. »Wer sei' Unrecht einsiehgt und 's Lebn zum Opfer bringa kann, dem is der Himmel gnädi, dem müassens aa die Menschen sei'. Da hast mei' Hand; schlag ein! Von heunt an bist wein Schwiegersuhn! Mach d' Sabin glückli!«

Kein Juhschrei hallte aus der Brust des überglücklichen Grafenpeter. Er war von all dem unerwarteten Glück wie überwältigt. Er drückte Sabinens Vater die Hand und legte die linke wie zum Schwur auf sein Herz.

Dann stiegen sie alle zu Schiffe. Aus den 166 Totenkränzen wurden Guirlanden gemacht und damit das Fahrzeug geschmückt. Sabinens Schiffchen wurde an das größere angehängt.

»Halt!« rief Peter, als sie schon im Abfahren begriffen waren, »der Jakoberl därf nit vergessn wern. Eam verdank i 's, daß i nit in See abgfalln bin.«

Der Genannte war ohnedies nur wenige Schritte entfernt und kam jetzt sofort herbei. Er wußte kaum, wie ihm geschah, da er von allen belobt und beschenkt wurde und man ihm versprach, für ihn sorgen zu wollen.

Ein tiefblauer Himmel wölbte sich über dem felsenumgürteten See. Die Strahlen der schon tief stehenden Sonne schimmerten in dem buntfarbigen Laubwerk der östlichen Wände, während sich über die westlichen bereits die Schatten ausgebreitet hatten. Aber über denselben ragte die Tiara des Watzmanns in weißlich gelbem Lichte hernieder und schien freundlich herabzugrüßen auf die Glücklichen.

Glücklich waren alle, das Alter, wie die Jugend, und wohl kein Nachen mag seit der sagenhaften Schwanjungfrau und Berchtolds Zeiten die dunkelgrüne Flut des Königssees durchfurcht haben, der freudigere Menschen getragen. –

War heute das Glück nur still empfunden und ausgetauscht, bald jubelten es alle freudig hin über den See und die Berge. Regerl war noch vor Weihnachten Berchtolds geliebtes Weib, ihm war der Muttersegen treu geblieben!

Peter hielt, was er versprochen. Als Weidmann war er auf seinem Platz, und der alte, würdige Förster von Bartlmä wußte ihn nicht genug zu rühmen. Im nächsten Frühjahr führte auch er Sabina als Hausfrau heim. Die alte Rappelleni lernte noch am Rande ihres Lebens das Glück kennen und preisen.

167 Berchtold und Peter aber stiegen hoch hinauf zu den schönen Bergen, hinauf zum König Watzmann, um ihre Lust hinaus zu jubeln in die weite Welt, zu den in Morgenrot lodernden Gipfeln, zu dem von Glanz und Glut überfluteten Himmel und in das liebe Berchtesgadenerlandl. Weithin hallte ihr Juhschrei, klang ihr Gesang, dem selbst der alte Felsenkönig freudig lauschen mochte:

»Landl und Leuteln frisch
Is berchtesgadnerisch;
Heidi! Juchhe! Juchhe!
Steign ma' aaf d' Höh!
Auf dur an' Tannawald,
Auf über d'Oxenhalt,
Aft fanga d'Schroffen an,
Wer's dagehn kann.
Drobn aaf 'n höchstn Spitz
Is da schönst' Jagasitz,
Kemma just d'selbin zamm,
Dö a Schneid ham.
Deandln und Almabuam,
Gambsein und Wettersturm,
Drunt glanzt der Künisee,
Heida! Juchhe!
Landl und Leuteln frisch
Is berchtesgadnerisch,
I bin a sölla Bua,
Juchz mir nie gnua!
Juh, juh, juh, juh!
Juchu!«

 

Berchtesgaden, Sommer 1882.

 

 


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