Christoph von Schmid
Der Weihnachtsabend
Christoph von Schmid

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Zweites Kapitel.

Geschichte des armen Anton.

Der Hausvater, in dessen Hause Anton so gut aufgenommen wurde, war ein Förster. Er saß, indessen die Kinder so mit einander plauderten, in seinem Lehnsessel am Ofen, und schien in Gedanken vertieft. Die Försterin setzte sich, mit dem kleinsten Kinde auf dem Arm, neben ihn auf einen Stuhl, und sagte über eine Weile: »Warum bist du so stille, und über was sinnst du nach?«  »Ich sinne den letzten Reimen nach, die wir gesungen haben«, sagte der Förster. »Du hast nun freilich gethan, wie sie lauten, und den armen Knaben gespeiset und erwärmt. Ich denke aber, wir könnten doch noch mehr an ihm thun. Sieh, es ist heute die heilige Nacht. Wir feiern das Andenken jener Nacht, in der das göttliche Kind geboren wurde, das zu unserm und aller Menschen Heil in die Welt gekommen. Und nun schickt Gott uns eben heute Nacht ein Kind her, dem wir zum Heile werden können. – Der Erlöser kam als ein Fremdling in die Welt, und er hatte nicht, wo er sein Haupt hinlege, als wollte er die Gastfreundlichkeit der Menschen auf die Probe stellen. Die Einwohner von Bethlehem bestanden bei dieser Probe schlecht, und verstießen ihn gleich anfangs zu den Tieren des Stalles; sollten wir den Knaben da auch verstoßen? Sag mir aber deine Meinung aufrichtig, Elisabeth, was wir thun sollen!«

»Den Knaben annehmen,« sagte die Försterin freudig und freundlich. »Was ihr einem von diesen Mindesten thut, das habt ihr mir gethan, sagte ja er, der in dieser Nacht geboren ward. Und der Anton scheint mir ein recht guter, sanfter Knabe, der ein edles Gemüt hat. Er sieht so fromm und unschuldig aus, und, obwohl er bettelt, so ist er doch gar nicht keck und verwegen. Gewiß ist er ehrlicher Leute Kind. Er hat so eine feine Aussprache, und obwohl seine rote Jacke etwas abgetragen ist, so ist sie doch von recht gutem Tuche. Wo ihrer fünf essen, essen auch sechs. Wir wollen den Knaben behalten.«

»Du bist doch eine gute, liebe Frau,« sagte der Förster, und drückte ihr die Hand. »Gott wird es dir vergelten, und was du an einem fremden Kinde thust, unsern eigenen Kindern zu gut kommen lassen. Doch müssen wir den Knaben zuvor erst prüfen, ob er der Wohlthat wert ist.«

»Anton, komm einmal daher!« rief der Förster jetzt laut. Anton kam und stellte sich vor ihn hin, gerade und aufrecht, wie ein Soldat vor seinem Offizier steht.

»Dein Vater,« fing der Förster an, »war also ein Soldat, und starb den Tod fürs Vaterland. Nun, das ist wohl traurig für dich, allein für ihn ist es schön und rühmlich. Aber erzähle uns doch mehreres von deinen Eltern. Wo waret ihr vor dem Kriege? Wie kam dein Vater um? Wie starb deine Mutter? Wie kamst du hieher in unsern Wald? Laß einmal hören!«

Anton erzählte: »Meinen Vater, Gott hab ihn selig, nannten die Husaren ihren Herrn Wachtmeister. Unser Regiment lag, so lang ich denke, zu Glatz in Schlesien in Garnison. Meine Mutter nähte immer sehr fleißig und verdiente vieles. Sie war sehr geschickt. Da kam der Vater eines Tages eilig nach Hause und sagte: »Es ist Krieg; wir müssen morgen fort!« Er war ein tapferer Mann und wußte sich gut darein zu schicken. Meine Mutter aber hatte einen großen Schrecken und weinte bitterlich. Sie wollte ihn nicht allein ziehen lassen; der Abschied fiel ihr gar zu schwer. Auf ihr vieles Bitten nahm er uns endlich mit. Wir zogen weit – weit fort. Mit einmal hieß es: Der Feind rückt an. Mein Vater und die Husaren mußten ihm entgegen. Meine Mutter und ich blieben zurück. Da wurde uns nun wohl recht bange, als wir in der Ferne so fürchterlich schießen hörten. »Ach,« sagte die Mutter zu mir, »bei jedem Schuß geht mir ein Stich durchs Herz. Denn ich weiß ja nicht, ob die Kugel nicht das Herz deines Vaters durchbohrt.« Wir weinten und beteten, so lange das Schießen währte. Doch der Vater kam glücklich und unversehrt wieder zurück. So ging es nun öfter. Allein eines Tages kam nach einem Gefechte ein Husar mit des Vaters leerem Pferde in das Dorf gesprengt und sagte, der Vater sei schwer verwundet; er liege eine halbe Stunde vom Dorfe auf der Walstatt und werde wohl sterben. Die Mutter und ich eilten sogleich zu ihm. Er lag unter einem Baume. Ein alter Soldat kniete bei ihm und hielt ihn sanft in den Armen, so, daß der Vater den Kopf an die Brust des wackern Kriegers anlehnen konnte. Noch zwei andere Soldaten standen dabei. Mein armer Vater war durch die Brust geschossen und sah bereits so blaß aus wie ein Sterbender. Wir sahen es ihm an, daß er noch etwas sagen wollte; allein er konnte nicht mehr reden. Da blickte er mich mit seinen sterbenden Augen noch einmal schmerzlich an, dann blickte er auf die Mutter, und dann zum Himmel. Wenige Augenblicke nachher verschied er. Die Mutter und ich weinten uns fast die Augen aus. Die Leiche wurde auf dem nächsten Kirchhofe begraben. Einige Herren Offiziere und viele Soldaten kamen und begleiteten die Leiche. Die Trompete klang mir so seltsam und so traurig, daß mir's ist, ich hörte sie noch immer. Sie erwiesen ihm noch die letzte Ehre, und schossen ihm noch in das Grab. Meine Mutter und ich wurden von dieser traurigen Ehrenbezeugung so erschüttert, als würde auf uns selbst geschossen. Viele Soldaten wischten sich die Augen, als sie vom Grabe zurückkehrten. Ich und meine Mutter aber zerflossen in Thränen.

Die Mutter wollte nun wieder in ihre Heimat zurück kehren. »Ich habe dort freilich keine Verwandten mehr,« sagte sie, »aber doch noch eine gute Bekannte. Sie wird uns wohl in ihr Haus aufnehmen, und ich denke, dort von meiner Arbeit dich und mich zu ernähren.« Allein wir hatten kaum eine Tagesreise zurück gelegt, da wurde die gute Mutter unterwegs krank. Mir Mühe erreichten wir noch einen kleinen Weiler. Man wollte uns nirgends aufnehmen; endlich fanden wir in einer Scheuer ein Unterkommen. »Das ist wohl hart,« sagte meine Mutter; »allein Maria hatte es ja auch nicht besser. Auch sie wurde nirgends hineingelassen und mußte in einem Stalle übernachten.« Meine Mutter wurde indes stündlich kränker. Sie ließ einen Geistlichen rufen und bereitete sich zum Tode. Als es Nacht wurde, kam die Bäuerin, der die Scheuer gehörte, mit ein wenig Suppe in einem irdenen Schüsselein, und sagte zu meiner Mutter: »Ihr seid wohl recht krank; ich muß daher schon noch etwas Übrige thun.« Sie ging, brachte eine alte Stalllaterne, in der ein kleines Öllicht brannte, und hängte die Laterne an einem Balken auf. Das war alles, was sie that. Sie sagte uns nun gute Nacht und kümmerte sich weiter nicht mehr um uns. Ich blieb ganz allein bei der Mutter; ich saß so neben ihr auf einem Bund Stroh und weinte bitterlich. Gegen Mitternacht wurde sie, so viel ich bei dem trüben Scheine der Laterne sehen konnte, immer blässer. Sie seufzte mehrmal sehr tief. Ich weinte immer heftiger. Sie bot mir die Hand und sagte: »Weine nicht, lieber Anton! Bleibe fromm und gut, bete gern, habe Gott vor Auge und thue nichts Böses; so wird dir Gott einen andern Vater und eine andere Mutter geben.« So sprach sie. »Aber lieber Gott,« sagte Anton, und die hellen Zähren floßen ihm über die blühenden Wangen, »eine solche gute Mutter bekomme ich doch nicht mehr.« Nun, fuhr er fort, blickte sie lange zum Himmel, betete in der Stille, segnete mich mit ihren sterbenden Händen und verschied. Ich konnte nichts als weinen. Der Bauer und die Bäuerin hatten wohl meiner Mutter versprochen, sie wollen mich annehmen und mich wie ihr eigenes Kind halten. Sie nahmen das Wenige, was meine Mutter hinterlassen hatte, ihre Kleider und einiges Geld, auch wirklich zu sich; allein ehe drei Wochen vergingen, schickten sie mich fort, und sagten, ich habe schon dreimal so viel verzehrt, als die Verlassenschaft meiner Mutter wert sei. Ich ging und nahm mir vor, nach Glatz zu meinen Schulkameraden zurückzukehren. Allein die Bauern konnten mir nicht sagen, wo der Weg nach Schlesien gehe. Da irre ich nun so im Lande hin und her und bettle; denn was soll ich sonst anfangen?«

Die Försterin war sehr gerührt, und sagte mit Thränen in den Augen zu ihren Kindern: »Seht, meine Kinder, so könnte es euch auch gehen. Auch ihr könnt Vater und Mutter verlieren, und was wollet ihr dann anfangen? Darum bittet Gott doch alle Tage, daß er euch eure Eltern erhalte.«

Der Förster sprach: »Du hattest, so viel ich sehe, sehr rechtschaffene Eltern, lieber Anton. Allein hast du denn gar nichts Schriftliches aufzuweisen?«  »O ja wohl!« sagte Anton, und nahm eine Brieftasche aus seinem Päcklein. »Diese Papiere,« sagte er, »hat mir meine Mutter noch auf ihrem Sterbebette übergeben. Sie befahl mir, wohl darauf achtzuhaben, und sie nicht aus der Hand zu lassen. Euch darf ich sie aber schon sehen lassen.« Es waren der Trauschein seiner Eltern, Antons Taufschein und der Totenschein seines Vaters. Der Totenschein war von dem Feldprediger ausgestellt. Der Oberst des Regiments hatte aber noch eigenhändig ein sehr rühmliches Zeugnis von dem tapfern, edelmütigen Betragen des seligen Wachtmeisters und der tadellosen Aufführung der hinterlassenen Witwe beigefügt.

»Nun wohl,« sprach der Förster, »das ist alles gut. Jetzt sage mir aber, Anton, wie gefällt's dir bei uns?«  »Sehr gut,« sagte Anton freundlich, »so gut, daß mir ist, als sei ich bei euch zu Hause.«  »Möchtest du wohl bei uns bleiben?« fragte der Förster. – »O nirgends in der Welt lieber!« sagte Anton. »Eure Frau ist gerade so freundlich, wie es meine Mutter war, und Ihr seid auch recht brav, und habt gerade einen solchen Schnurrbart, wie ihn mein Vater trug.«

Der Förster lachte, und strich sich den Bart. »Nun Knabe,« sprach er, »so bleibe denn bei uns. Ich will dein Vater sein, und meine Frau wird als Mutter an dir handeln. Sei uns aber auch ein guter Sohn, und habe deine neuen Geschwister lieb und thu' ihnen nichts zu leid. Hörst du – du bist jetzt mein Sohn Anton!« Der Knabe stand sehr betroffen da, und sah den Förster mit großen Augen an, ob das auch sein Ernst sei. Er war der harten Begegnung, die er von vielen Menschen erfahren mußte, so gewöhnt, daß er's kaum glauben konnte, der Förster wolle ihn an Kindesstatt annehmen. »Nun wie, Anton,« sagte der Förster und bot ihm die Hand, »schlägst du nicht ein?« Jetzt brach Anton in Thränen aus, reichte dem Förster die Hand, küßte darauf die Hand der Försterin, und grüßte beide Kinder, ja auch das kleinste, wiewohl es noch nicht wußte, was vorging, als seine neuen Geschwister. Christian und Katharine hatten eine große Freude, daß Anton da bleiben durfte. »Jetzt ist’s erst recht lustig,« sagte Christian; »jetzt sind wir, wenn wir ein Spiel machen, doch unser drei.«

Der Förster fuhr aber ernsthaft fort: »Sieh, Knabe, so sorgt Gott für dich. Der Segen deiner guten Eltern ruht auf dir. Gott erhörte das Gebet deiner sterbenden Mutter und – auch dein Gebet, als du dort im Walde zitternd vor Frost im Schnee knietest. Er lenkte deine Tritte hieher! Er führte dich in unser Haus. Wenn du unsern Gesang nicht gehört hättest, so wärest du auf deinem Bündelein eingeschlafen und erfroren, und ich hätte dich tot im Walde gefunden. Gott rettete dich gerade noch im rechten Augenblick. Er führte dich geraden in dieser heiligen Nacht, da unsere Herzen von der Liebe des Vaters im Himmel, der den Eingeborenen für uns dahin gab, besonders gerührt waren, zu unserer abgelegenen Wohnung im Walde, die du sonst am Tage kaum gefunden hättest. Gott und seinem lieben Sohne, der auch für dich armen Knaben vor bald zweitausend Jahren in der heutigen Nacht geboren ward, und auch für dich gestorben ist, hast du es zu danken, daß du jetzt wieder ein Obdach hast. Darum erkenne es, und vergiß es in deinem Leben nicht, und habe immer ein dankbares Gemüt gegen Gott und deinen Erlöser. Habe Gott dein Leben lang recht vor Augen und führe dich immer christlich auf.«

Anton versprach es mit weinenden Augen. »O du guter Gott,« sagte er, indem er zum Himmel blickte, »du hast die letzten Worte meiner sterbenden Mutter treulich erfüllt und mir wieder Vater und Mutter geschenkt. Ich will aber ihre letzten Worte auch erfüllen, deine heiligen Gebote halten, und besonders das vierte Gebot gegen meine neuen Eltern recht beobachten.«  »Bravo, Anton,« sprach der Förster, das thue und es wird dir wohl gehen.« Die Försterin wies hierauf dem Knaben eine kleine Kammer mit einem reinlichen Bette an, und alle begaben sich vergnügt zur Ruhe.

Am andern Morgen waren die Kinder sogleich wieder um die Vorstellung des Kindes Jesu in der Krippe versammelt. Sie war an dem heiligen Weihnachtsfeste und den darauf folgenden Feiertagen und Festen ihre einzige Freude. Allein diese unschuldige Weihnachtsfreude wäre bald gestört worden. Ein gewisser junger Herr von Schilf, der ein großer Jagdliebhaber war, und den Förster öfter besuchte, kam einmal in die Stube. Er machte über diese Art, den Kindern die Krippe Jesu vorzustellen, allerlei spöttische Anmerkungen und konnte nicht finden, wozu dergleichen dienen sollte.

»Wozu?« sprach der Förster. »Schauen Sie da einmal zum Fenster hinaus, junger Herr! Sehen Sie, tiefer Schnee bedeckt die Erde, und die Bäume des Waldes krachen unter seiner Last. Man sieht keine Blume; nur hier an den gefrorenen Fensterscheiben schimmern Blumen von Eis. An den Obstbäumen, die mein Dach umgeben, hängen keine Äpfel und Birnen mehr, und es ist kein grünes Blatt mehr daran zu sehen; alle Äste und Zweiglein sind weiß angeduftet und ganz mit Reifen überzogen, und an dem Hausdache hängen lange Eiszapfen. Die armen Kinder hier sind in der Stube, gleich Gefangenen, eingesperrt und können kaum einen Tritt vor die Hausthüre thun. Sollte es denn nun so übel sein, wenn liebende Eltern ihren Kindern zur rauhen Winterszeit in der wärmenden Stube gleichsam einen Frühling erschaffen? Wirklich ist diese Frühlingslandschaft im kleinen mit den grünen Wäldern, blumigen Wiesen, weidenden Schafen und deren Hirten fast die einzige Winterfreude der Kinder.«

»Allein das ist noch das Wenigste! Die Hauptsache ist dies: Wir Christen freuen uns zur heiligen Weihnachtszeit, daß uns in Christus die Menschenfreundlichkeit Gottes in Menschengestalt erschienen ist. Und da möchten wir denn auch unsere Kinder, soviel sie es verstehen, an dieser Freude teilnehmen lassen. Nun weiß ich zwar wohl, daß die größten Maler diese heilige Geschichte in Gemälden darstellten, die seit Jahrhunderten die Bewunderung der Welt sind. Ich selbst habe, da ich noch auf Reisen war, jenes berühmte Gemälde der Krippe Jesu zu Dresden, die heilige Nacht genannt, mehrmal bewundert. Allein die Einwendungen, die Sie gegen meine, freilich sehr unvollkommene Darstellung der Krippe Jesu hier machen, ließen sich, den Kunstwert abgerechnet, gegen jenes herrliche Gemälde auch machen, und sie sind deshalb keiner Widerlegung wert. Solche kostbare Gemälde sind übrigens nur für große Herren, und wären bei Kindern gar nicht angewendet. Denn ich wette darauf, meine Kinder würden ihre Krippe gegen jenes berühmte Gemälde zu Dresden sicher nicht vertauschen.«

»Lassen Sie also, mein lieber Herr von Schilf, uns einfältige Leute hier im Walde immer bei der alten Sitte unserer Väter bleiben. Ich erinnere mich noch aus meinen eigenen Kinderjahren, daß die Krippe meine beste Kinderfreude – und nicht ohne Segen für mich war. So möge sie denn auch meinen Kindern zur Freude und zum Segen gereichen.«


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