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Siebentes Kapitel.
Wie Karl hieher gekommen

Karl schwieg eine Weile und trocknete seine Thränen; dann erzählte er weiter. »Der Kaufmann, der mir den leeren Platz in seinem Reisewagen eingeräumt hatte, ist ein sehr rechtschaffener Mann und ein recht fröhlicher Gesellschafter. Er wußte immer etwas Erheiterndes zu sagen, und bemühte sich beständig, mich den traurigen Abschied vergessen zu machen. Bald erzählte er ein artiges Geschichtchen, bald gab er mir Räthsel auf, bald sang er ein munteres Liedchen. Jedes Dorf wußte er mit Namen zu nennen, und in den Städten zeigte er mir die Merkwürdigkeiten, wenn es darin deren einige gab. Etwa drei Meilen von hier mußte ich mich von ihm trennen; denn er mußte einen andern Weg einschlagen. Er wünschte mir nun Glück und Gottes Segen zu meinem Vorhaben, ermahnte mich zum Fleiße und zum Vertrauen auf Gott, sorgte noch dafür, daß mein kleiner Koffer, den er aufgepackt hatte, durch einen Fuhrmann an Ort und Stelle gebracht werde, schenkte mir ein Goldstück, drückte mir zum Abschied kräftig die Hand und fuhr in seiner Kutsche weiter.

Auch dieser Abschied war mir sehr schwer gefallen. Ich war ja nun von allen bekannten Menschen getrennt! Ich setzte indeß meine Reise zu Fuße fort. Gegen Abend wanderte ich durch den Wald, der dieses Schloß umgibt. Ich war von der Hitze des Tages und dem weiten Gehen, das ich nicht gewohnt bin, sehr ermüdet. Ich setzte mich daher, um ein wenig auszuruhen, auf einen Rasensitz, den ich unter einem Buchbaume erblickte. Das alte Schloß, das von der Abendsonne vergoldet aus dem waldigen Berge hervorragte, gewährte hier einen unvergleichlich schönen malerischen Anblick. Ich nahm ein Blatt Papier aus meiner Brieftasche hervor, und fing an das Schloß abzuzeichnen.

Allein ich mußte die angefangene Zeichnung bald wieder weglegen. Der Untergang der Sonne, die Stille des einsamen Waldes und die herannahende Nacht erregten sehr wehmüthige Empfindungen in mir! Ein Gefühl von Verlassenheit wandelte mich an. »Ach«, dachte ich, »die Nacht bricht herein, und ich weiß noch nicht einmal, wo ich übernachten soll! Auf viele Meilen weit rings umher kenne ich keine Seele und komme nun zu lauter fremden Menschen. Mein liebevoller Pflegevater, von dem ich nun schon einige Tagreisen weit entfernt bin, ist bereits sehr alt und vielleicht sehe ich sein ehrwürdiges Angesicht in meinem Leben nicht mehr! Und meine guten Aeltern habe ich kaum gekannt! Ich kann mir meinen Vater nur mehr als Leiche und meine Mutter in schwarzen Trauerkleidern und mit rothgeweinten Augen denken.

Bei diesem Gedanken drangen mir die Thränen in die Augen. Ich nahm den goldenen Ring, den ich nebst dem Blatte mit den schönen Lehren, das mir der gute Pfarrer gegeben hatte, in meiner Brieftasche aufbewahrte, heraus. »Mein Gott«, seufzte ich, »dieser Ring rührt noch von meinen Aeltern her, und er ist das einzige Erbtheil, das ich armer Waise von ihnen habe! Die drei kleinen Buchstaben sind die Anfangsbuchstaben von dem theuren Namen meines Vaters oder meiner Mutter, und ich weiß nicht einmal, wie diese Namen heißen! Diesen Ring trug entweder mein Vater, dessen Hand längst im Grabe modert, oder meine Mutter, die vielleicht doch noch am Leben ist! Ja vielleicht lebte sie einst – vielleicht lebt sie noch in eben diesem Lande, das ich jetzt durchwandere.«

Mein Herz wurde von diesen Gedanken mächtig ergriffen! Ein Gefühl voll der schmerzlichsten Wehmuth und der seligsten Hoffnung bemächtigte sich meiner! Ich fiel auf die Knie nieder, ich rang die Hände, ich flehte mit Inbrunst zum Himmel: »O lieber Gott! Du allein weißt es, ob meine Mutter noch lebe! Du allein kannst, wenn sie noch lebt, mich sie wieder finden lassen! Ach vielleicht ließest Du diesen Ring nicht ohne weise Absicht in meine Hände kommen. Die Buchstaben darauf könnten mich unter deiner Leitung leicht zur Entdeckung meiner Mutter führen. O die liebe gute Mutter! Sie beweint – wenn sie je noch am Leben ist – mich als todt; sie glaubt, ich sey als ein zartes Knäblein in den Fluthen des Rheines ertrunken; o welche Freude würde sie haben, mich jetzt als einen Jüngling in ihre Arme zu schließen! Welche Seligkeit wäre es für mich, ihr freundliches, mütterliches Angesicht zu erblicken, ihr zu danken für all das Gute, das sie an mir gethan hat, als ich ihre Liebe noch nicht zu schätzen wußte und ihr noch nicht dafür danken konnte. Wie unbeschreiblich glücklich würde ich mich schätzen, ihr meinen Dank jetzt zu bezeigen, und die Stütze ihres herannahenden Alters zu werden! O Du guter Gott, Du Vater der Wittwen und Waisen – wenn – wenn sie je noch lebt – o so führe – führe Du mich in ihre Arme! Höre mein kindliches Flehen, und laß mich sie wieder finden!«

Als ich so gebetet hatte, und mit meinen Augen voll Thränen durch die Aeste der Buche noch immer zum blauen Himmel aufblickte, hörte ich in dem nahen Gesträuch ein leises Knistern. Ich sah hin, erblickte das Lamm – und die goldenen Buchstaben auf dem purpurrothen Halsbande strahlten mir im Glanze der untergehenden Sonne hellschimmernd ins Auge. Eine wunderbare, unbeschreibliche Empfindung, ein schauerliches Entzücken bemächtigte sich meiner. Es war mir, als umleuchtete mich ein Licht vom Himmel, als hätte ein Lichtstrahl von oben die Buchstaben erhellt; sie schienen mir wie verklärt. Ich glaubte die Nähe Gottes zu fühlen, und es dünkte mich, die Blätter aller Bäume rings umher zitterten aus Erfurcht vor Ihm. Mir war es, als spreche etwas in meinem Innersten: »Dein Gebet ist erhört!« Und so war es auch. Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Gleich einem Engel des Himmels kam in ihrem weißen Kleide und im Schimmer der Abendsonne meine Schwester auf mich zu, und nannte mir das erste Mal den theuern Namen meiner Mutter. So, beste Mutter, hat Gott mich in Ihre Arme, und in deine Arme, liebste Schwester, wunderbar zurück geführt!«

»Ja, so ist es, meine liebsten Kinder,« sagte die Mutter, indem sie ihre beiden Kinder in die Arme schloß. »Der gütige Gott, der liebevolle Vater im Himmel hat uns alle drei wieder zusammen gebracht. Er hat dich, liebster Karl, als einen zarten Knaben mir genommen und dich einem edlen Manne anvertraut, der dir aus der reinsten Menschenliebe eine Erziehung gab, die ich als Frau und als eine verlassene Wittwe dir unmöglich so gut geben konnte, und die dir keine Fürstin für Gold hätte besser verschaffen können. Er hat dich als einen blühenden Jüngling mir wieder zurück gegeben, und mir die Thränen des Schmerzens, die ich über deinen Verlust weinte, in Freudenthränen verwandelt. Er hat alles wohl gemacht und alle Seine Wege sind die lautere Weisheit und Liebe. O liebste Kinder! laßt uns Ihm danken und Seine heilige Vorsehung in Demuth und mit tiefer Ehrfurcht anbeten!« Alle drei schwiegen mit tief gerührtem Herzen lange still, und nur ihr Hertz sprach mit Gott. Auch Rosalie und Christine saßen mit gefalteten Händen, mit thränenvollen Augen, und mit einem Herzen voll Rührung und Andacht stillschweigend da und athmeten kaum.

»Welche Freude,« sagte Karl nach einiger Zeit, »wird der edle Greis, mein zweiter Vater, empfinden, wenn er diese wunderbare Fügung vernimmt! Diese Nacht noch muß ich ihm diese Freudennachricht schreiben.« Es war bereits Mitternacht, bis Karl auf sein Zimmer kam. Allein es wäre ihm unmöglich gewesen, zu Bette zu gehen. Er setzte sich an den Schreibtisch, der in dem Zimmer stand, und schrieb an seinen theuern Pflegevater, den ehrwürdigen Pfarrer, so ausführlich, so begeistert, daß er noch bei der brennenden Wachskerze saß und schrieb, als die goldene Morgenröthe bereits zum Fenster herein strahlte und das Kerzenlicht, dessen Schimmer kaum mehr zu bemerken war, überflüssig machte.

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