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Fünftes Kapitel.
Ein Fremder tritt auf

An dem goldgestickten Halsbändchen, mit dem das Lämmchen geschmückt war, hatte die Frau von Waldheim entdeckt, daß Rosalie eine sehr geschickte Stickerin sey. Rosalie hatte aber diese Kunst, weil dergleichen Arbeiten in dem Dorfe nicht geschätzt wurden, lange nicht mehr geübt, und sich bloß auf das Stricken und Nähen verlegt. Frau von Waldheim gab ihr nun Manches zu verdienen, und verschaffte ihr auch anderwärts her Bestellungen. Die arme Rosalie fand auf diese Art nicht nur ihr hinreichendes Auskommen, sondern überdieß noch öfteren Zutritt in das Schloß.

Frau von Waldheim hatte Anfangs sich Rosaliens nur aus Mitleid angenommen; allein so wie sie dieselbe näher kennen lernte, verwandelte sich dieses Mitleid nach und nach in Hochachtung. Sie fand an dem Umgange mit der guten, verständigen Frau immer mehr Vergnügen. Man wunderte sich, daß eine adelige Dame, die Gemahlin eines Stabsoffiziers, mit einer armen Soldatenwittwe Freundschaft machen möge. Allein Frau von Waldheim sagte lächelnd: »Nun, Ihr werdet doch nicht behaupten, mein seliger Mann, der tapfere Major, sey kein Soldat gewesen? Doch im Ernste! Eben dieses, daß auch ihr Mann zum Militär gehörte, und wie der Meinige den Tod für das Vaterland starb, diente ihr bei mir zur Empfehlung. Die Aehnlichkeit unserer Schicksale vermehrte meine Zuneigung zu ihr. Sie ist Wittwe wie ich, mußte Vieles leiden wie ich, hat wie ich nur eine einzige Tochter. Unsere Töchter sind von gleichem Alter, und lieben einander herzlich – und wenn meine Emilie so gut und edel ist als Christine, und Emiliens Mutter so gut und edel als Christinens Mutter, so will ich es gern zufrieden seyn. Die äußerlichen Verhältnisse weisen dem Menschen allerdings seinen Rang in der menschlichen Gesellschaft an; allein nur ein wahrhaft gutes, edles Herz macht den wahren Werth des Menschen aus. Diese arme Soldatenwittwe ist so bescheiden, so sanft, so rechtschaffen, so durch Leiden bewährt, so von Herzen fromm, und dabei so vernünftig und gebildet, daß ich dadurch mich geehrt fühle, sie meine Freundin zu nennen.«

Frau von Waldheim zeichnete auch ihre arme Freundin immer mehr aus. Sie kam jeden Sonntag von dem Schlosse in das Dorf herab zur Kirche, und da ging sie nach dem Gottesdienste nie an Rosaliens armer Wohnung vorüber, ohne wenigstens auf einige Augenblicke einzukehren. Sie trug Christinen, die täglich in das Schloß kam, öfter auf, ihre Mutter mitzubringen, und bald mußten Beide alle Tage nach Tische in das Schloß kommen. Die Frau von Waldheim und das Fräulein, Rosalie und Christine saßen dann zusammen an einem Arbeitstische, und beschäftigten sich einige Stunden sehr emsig mit allerlei schönen Arbeiten. Rosalie mußte hierauf mit der gnädigen Frau Thee trinken, und Christine mit Emilien ein Butterbrod essen. Auf den Abend machten sie gewöhnlich alle zusammen noch einen kleinen Spaziergang.

Einmal an einem schönen Sommerabende gingen sie nun mit einander in den Eichwald, der sich am Abhange des Schloßberges herumzog. Mehrere schattige Gänge, die mit reinlichem Kiese bestreut waren, führten durch, den Wald, und hie und da war eine bequeme Bank zum Ausruhen angebracht. Der Tag war sehr heiß gewesen und noch war es ziemlich schwül. Die Frau von Waldheim setzte sich daher mit ihrer Begleiterin Rosalie auf eine steinerne Bank, die in einen Felsen des Berges eingehauen und von einem Paar Eichen beschattet war. Das Plätzchen war, wegen der herrlichen Aussicht, die man hier genoß, ihr Lieblingsplätzchen.

Emilie und Christine gingen noch eine Strecke weiter, und Jede trug ein niedliches Körbchen am Arme. Es war gerade die Zeit der Himbeeren, und Emilie hätte deren schon lange selbst gern im Walde gepflückt. Christine führte sie zu einer ausgehauenen Stelle des Waldes, die beinahe ganz mit Himbeersträuchen bedeckt war. Beide Mädchen pflückten nun sehr geschäftig und ließen sich die duftenden Beeren sehr wohl schmecken. Bald rief diese, bald jene, hier gebe es noch schönere. Die allerschönsten sammelten sie aber in ihre Körbchen, um sie Emiliens Mutter zu bringen. Das Lämmchen, das sie mitgenommen hatten, lief indeß auf dem offenen Platze herum, graste hier ein wenig, nagte dort an den Blättern der Gesträuche, und hatte sich nach und nach ziemlich weit von ihnen entfernt.

Da bemerkte Emilie auf einmal einen fremden Jüngling, der das Lämmchen streichelte und das Halsband desselben sehr aufmerksam betrachtete. Emilie und Christine eilten sogleich hin; denn sie fürchteten, er wolle das Halsband oder gar das Lämmchen mit sich fort nehmen. Der Jüngling blickte, als er sie kommen hörte, auf. Er war schön und blühend von Angesicht und hatte ein dunkelgrünes Sommerkleid an und einen runden Kastorhut auf. Er schien bis zu Thränen gerührt, und blickte Emilien mit einer Art von Erstaunen und Verwunderung an. Endlich nahm er mit seiner Rechten ehrerbietig den Hut ab; in seiner Linken aber hielt er – was Emilien äußerst seltsam vorkam – einen goldenen Ring.

»Verzeihen Sie, mein Fräulein,« sagte er, da er Emiliens Aengstlichkeit bemerkte, »ich wollte dem Lämmchen, das, wie ich sehe, Ihnen gehört, nichts zu Leid thun. Es fielen mir nur die Buchstaben auf, die hier auf das Halsband gestickt sind. Sind das vielleicht die Anfangsbuchstaben Ihres Namens?«

»Ja,« sagte Emilie befremdet, »das sind sie. Die drei goldenen Buchstaben auf dem rothen Atlasse hier heißen E. v. W. Ich aber heiße Emilie von Waldheim.«

»Emilie! Emilie!« rief der Jüngling höchst erstaunt.

Emilie erschrak über seine Heftigkeit. Sie glaubte, er sey nicht recht bei Sinnen und es ward ihr unheimlich. »Komm, da ist nicht gut seyn!« sagte sie zu Christine, nahm sie bei der Hand und wollte mit ihr davon laufen. Der fremde Jüngling aber faßte sich wieder und sagte ganz ruhig: »Ich bitte Sie, bleiben Sie nur noch einen Augenblick! Ich habe da einen goldenen Ring, in dem die drei nämlichen Buchstaben eingegraben sind. Sehen Sie da E. v. W.! Deßhalb betrachtete ich die Buchstaben da auf dem Halsbändchen so aufmerksam und verwundert. Es liegt mir äußerst viel daran, inne zu werden, woher dieser Ring sey. Allein,« fügte er traurig bei, »Ihnen gehört der Ring zuverlässig nicht. Es stehet da, den Buchstaben gegenüber, noch die Jahreszahl 1786. Dieses vereitelt meine Hoffnung. Ach, damals waren Sie noch nicht geboren!«

Emilie sagte: »Meine Mutter hat eben den Namen wie ich; auch sie heißt Emilie von Waldheim.«

»Wie!« rief der Jüngling aufs neue erschüttert. »Wäre es möglich! Ach vielleicht gehört der Ring Ihrer Mutter. Könnten Sie mich nicht zu ihr führen?«

»Mit Vergnügen,« sagte Emilie. »Sie ist kaum ein Paar hundert Schritte von hier. Haben Sie nur die Güte, mir zu folgen.« Sie gingen. Der Jüngling ließ Emilien die rechte Seite, und Christine mit dem Lämmchen begleitete sie.

Als sie zur Felsenbank kamen, blieb der Jüngling in einiger Entfernung schüchtern stehen, und betrachtete die Frau von Waldheim einige Augenblicke stillschweigend. Sein Angesicht war wie vor Schrecken bleich und die Hand, in der er den Ring hielt, zitterte. Indeß ermannte er sich, trat näher, verbeugte sich mit Anstand, erzählte kurz den sonderbaren Zufall mit dem Zusammentreffen der Buchstaben – und überreichte ihr den Ring.

Die Frau von Waldheim nahm den Ring – erblickte die drei Buchstaben – that einen lauten Schrei und wäre umgesunken, wenn Rosalie sie nicht gehalten hätte.

»Gott im Himmel, was ist das?« rief sie, als sie sich von dem Schrecken ein wenig erholt hatte. »Das ist der Ehering meines seligen Gemahls! Sehen Sie, der Ring hier an meinem Finger, den mein Gemahl mir als Bräutigam gab und den ich noch immer zu seinem Andenken trage, ist genau auf die nämliche Art gearbeitet, nur etwas kleiner. O reden Sie, reden Sie doch, wie kamen Sie zu dem Ringe? Wer sind Sie? Wer sind Ihre Aeltern?«

Der Jüngling ward noch bleicher und zitterte an allen Gliedern. »Mein Vater,« sprach er, »ward im Kriege erschossen. Meine Mutter war eine schöne Frau, trug, als ich sie das letzte Mal sah, ein schwarzes Kleid, und weinte immer sehr viel. Ich hatte noch ein kleines Schwesterchen, die Emilie hieß. Die Mutter fuhr mit uns zwei Kindern über den Rhein. Das Schiff ging unter. Ich ward, als ein Kind von etwa vier Jahren, aus dem Wasser gezogen. Von Mutter und Schwester hörte ich seit dieser Zeit nichts mehr. Den Ring fand man, nebst einigen andern Kleinigkeiten, in einem Päckchen, das Kleidungsstücke von mir enthielt und also für mein Eigenthum erklärt wurde. Sonst weiß ich von meinen Aeltern und meinem Vaterlande nichts zu sagen. Mein Name ist Karl.« – –

»O Karl!« rief jetzt Frau von Waldheim und fiel dem Jünglinge um den Hals, »du bist mein Sohn! Wahrhaftig du bist es! Du bist das Ebenbild deines Vaters!« – – »O Gott, o Gott! wie wunderbar bist Du in Deinen Fügungen!« rief sie dann wieder, indem sie mit aufgehobenen Armen weinend zum Himmel blickte. Und dann umfaßte sie wieder ihren Sohn und benetzte sein Angesicht mit Thränen. Der Jüngling war so außer sich, daß er keine andere Worte hervorbringen konnte, als: »Mutter! Mutter! Gott! Gott! O Du guter Gott!«

Emilie stand an Christinen gelehnt – und zitterte und weinte. »Emilie!« rief endlich die Mutter, »Emilie, o sieh da deinen Bruder! Karl, Karl, sieh da deine Schwester! O grüßt euch doch auch!«

Karl schloß seine Schwester weinend in seine Arme, und rief: »O meine liebe, liebe Schwester! O Gott, welche Freude machst Du mir – so unerwartet Mutter und Schwester zu finden!« Und auch Emilie konnte vor Weinen kein Wort vorbringen, als: »Lieber, lieber Bruder!«

Alle Drei aber waren so selig und hatten sich so viel zu fragen und zu sagen, daß sie die ganze Welt um sich her vergaßen. Die Sonne war untergegangen und es wurde bereits dunkel, ohne daß sie darauf achteten. Rosalie erinnerte sie endlich, es sey Zeit, sich nach Hause zu begeben. Frau von Waldheim ging nun, an jedem Arm eines ihrer Kinder führend, auf das Schloß zu, und Rosalie und Christine folgten ihnen.

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