Christoph von Schmid
Wie Heinrich von Eichenfels zur Erkenntnis Gottes kam
Christoph von Schmid

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Elftes Kapitel.

Eine Reise ins Gebirg.

Vater Menrad behielt den Knaben den Sommer über bei sich, um ihn noch mehr zu unterrichten, und ihm manche Ausdrücke und Unarten abzugewöhnen, die er unter jener schlimmen Gesellschaft angenommen hatte. Auch dachte er, hier bei der einfachen Nahrung und der gesunden Bergluft werde der Kleine, den der Aufenthalt in der unterirdischen Wohnung sehr blaß gemacht hatte, sich am besten erholen, und seine Eltern würden dann eine desto größere Freude haben. Heinrich fing auch bald an, wieder aufzublühen, schön und hold wie eine Rose am Strahle der Morgensonne.

Gegen Mitte des Herbstes beschloß Vater Menrad, der ehemals weit umher gekommen war, und viele Städte gesehen hatte, seinen Wanderstab noch einmal zu ergreifen und unter die Menschen zurückzukehren, um die Eltern des Kindes aufzusuchen. Er hatte den Vater jenes Jünglings, der den Knaben zu ihm gebracht hatte, einen frommen und klugen Landmann, der tiefer im Gebirge wohnte, ersucht, den Knaben zu sich zu nehmen, bis er ihn wieder abholen würde. Dahin wollte er den kleinen Heinrich zuerst bringen.

An einem schönen, heitern Herbstmorgen, als kaum der Morgenstern aufgegangen war, weckte er den Kleinen, ging mit ihm zur Kapelle, und verrichtete ein inbrünstiges Gebet, daß Gott diese Reise segnen wolle. Nachdem sie hierauf ein Frühstück genommen, und sich mit Lebensmitteln auf die Reise versehen hatten, machte Menrad sich auf den Weg, und Heinrich begleitete ihn voll Freude. Sie gingen lauter einsame Fußsteige, die nur von Alpenhirten und Gemsjägern besucht wurden. Gegen Mittag kamen sie an eine Felsenwand, an der hoch über ihnen Ziegen kletterten. Hier setzten sie sich in den Schatten, um auszuruhen und ein kleines Mittagsmahl zu halten.

Der Knabe des Ziegenhirten kam herbei, dem ehrwürdigen Vater Menrad die Hand zu küssen. Der kleine Heinrich sprang auf und schrie voll Verwunderung laut: »Je, ein kleiner Mensch, wie ich! O das ist schön! Das hab' ich noch gar nicht gewußt, daß es noch mehrere kleine Menschen gebe; ich glaubte, ich sei der einzige auf Erden. O, nicht wahr, du gehst mit uns?« Der Hirtenknabe erbot sich, dem Vater Menrad die Reisetasche zu tragen. Sie gingen mit einander weiter und Heinrich redete mit dem Hirtenknaben so angelegentlich, daß er beinahe auf sonst nichts mehr achtete.

Hierauf kamen sie in ein kleines grünes Thal zwischen hohen Felsen, wo eine Herde Schafe weidete, die eben dem Manne gehörte, zu dem Menrad reiste. Heinrich hatte über ein paar kleine Lämmchen, die erst einige Tage alt waren, eine ganz unbeschreibliche Freude, und streichelte sie unter allerlei süßen Benennungen.

Indes schaute sich der Greis nach dem Hirten um. Seitwärts unter einem überhängenden Felsen, aus dem eine kleine Quelle hervorbrach, sah er ein Hirtenmädchen sitzen, das in einer Hand den Hirtenstab, und in der andern, zu seiner Verwunderung, ein Buch hielt, und ganz in das Lesen vertieft schien. Er ging zu ihr hin. Sie war weiß gekleidet, und hatte einen grünen Hut auf. Ihre Gesichtsbildung war sehr sanft, und in ihren Mienen bemerkte man eine stille Schwermut. Sie hatte den Vater Menrad noch nie gesehen; allein sie erkannte ihn sogleich aus der Beschreibung, stand auf und grüßte ihn freundlich und mit sichtbarem, freudigem Vertrauen.

Menrad sagte zu ihr: »Du mußt diese Herde noch nicht lange weiden. Als ich den Mann, dem sie gehört, kürzlich sprach, sagte er mir nichts von dir.« Sie antwortete, daß sie schon mehrere Jahre im Gebirge die Schafe hüte; allein in den Dienst dieses guten Mannes sei sie erst vor drei Tagen gekommen. »Woher bist du denn,« fragte er weiter, »und warum bist du so traurig?« Das Mädchen brach sogleich in Thränen aus. »Ach,« sagte sie, »ich bin weit her. Eine jugendliche Unbesonnenheit hat mich in das größte Unglück gestürzt. Ich war bei einer sehr guten Herrschaft im Dienste; aus Leichtsinn ließ ich ihr einziges, liebenswürdiges Kind nur einen Augenblick allein. Da ward es von Räubern entwendet. Vor Jammer und Traurigkeit konnte ich es bei meiner guten Frau nicht mehr aushalten, und ihre Leiden nicht mehr ansehen, und flüchtete mich ins Gebirg. Hier lebe ich nun in dieser Einsamkeit, und bete täglich zu Gott, er wolle das Unheil, das ich anrichtete, wieder gut machen, das Kind wieder an das Tageslicht bringen, und den unbeschreiblichen Jammer der Mutter wieder in Freude verwandeln. Gott wird sich ja doch meiner Thränen erbarmen, die nur er und diese Felsen hier fließen sehen!«

Vater Menrad sagte mit gerührter Stimme: »Ich denke, Gott hat dein Gebet diesen Augenblick erhört.« Er zog das Bildnis von Heinrichs Mutter hervor, das er, um die Mutter leichter zu entdecken, mit auf die Reise genommen hatte, zeigte es dem Mädchen und sprach: »Kennst du dieses Bild?« Das Mädchen schrie vor Schrecken und Freude laut auf: »O Gott! das ist das Bildnis der Gräfin von Eichenfels, der Mutter des geraubten Kindes!«

Auf den Schrei des Mädchens kam der kleine Heinrich herbei gesprungen. Er betrachtete die neue Gestalt mit starren Augen, und sagte voll Mitleids: »Was weinst du und was fehlt dir? Bist du vielleicht hungrig? Sieh, da hast du Brot und zwei Äpfel! Nimm und iß!«

Menrad aber sprach zu dem Mädchen: »Sieh! dieser Kleine ist das Kind, das zugleich mit dem Bildnisse geraubt wurde.« Da war es dem Mädchen nicht anders, als bräche der Freudenschrecken ihr das Herz. Sie sank auf die Kniee und rief mit hoch zum Himmel erhobenen Händen: »Ja, guter, barmherziger Gott, du hast mein Gebet, das ich Tag und Nacht zu dir hinauf schickte, erhört! O sieh jetzt auch meinen Dank gnädig an! Du siehst ihn, obwohl ich ihn nicht aussprechen kann.« Und hierauf umarmte sie den kleinen Heinrich unter heißen Thränen. »O grüß dich Gott, liebster Heinrich,« sagte sie; »so hat dich denn Gott uns wieder geschenkt! O bist du es denn wirklich, oder träume ich nur? – Ja, du bist es; du siehst deinem Vater so ähnlich, wie ein Tautropfen dem andern! O wie wird sich deine Mutter freuen! O freue dich doch auch, sieh, wir gehen jetzt zu deinem Vater und deiner Mutter!«

Vater Menrad wischte sich eine Thräne ab, und sagte: »Sei gepriesen, guter Gott! Deine heilige Vorsicht waltet sichtbar über diesem Kinde. Du trocknest die Thränen dieser armen Jungfrau, die ohne Unterlaß zu dir hinauf weinte. Du schenkest guten Eltern ihr innig geliebtes Kind wieder. Du krönest sogleich meine ersten Tritte mit Segen und ersparest mir altem Manne lange Nachforschungen. Deine Huld und Erbarmung sei ewig gepriesen!«

Menrad ging hierauf mit Heinrich und Margareta zur Hütte des braven Bauern, die nur ein halbes Stündchen entfernt war. Der kleine Ziegenhirt, der Menrads Reisetasche trug, übergab sie Margareta, und übernahm es, einstweilen ihre Schafe zu hüten.

»Ist dies mein Vater und meine Mutter?« fragte Heinrich, als Bauer und Bäuerin ihnen an der Hüttenthüre voll Freundlichkeit entgegen kamen, und es war ihm sehr leid, als er hörte, sie seien es nicht. »Sie sind so freundlich!« sagte er. »Mein Vater und meine Mutter können nicht freundlicher sein. Ich wäre gleich bei ihnen geblieben.« Menrad, Heinrich und Margareta aßen hier einiges Wenige; dann setzten sie, von dem Hirtenjünglinge, dem Sohne des guten Hausvaters, begleitet, ihre Reise weiter fort. Gegen Abend kamen sie aus den Bergen herab in ein weites Thal, und nahmen ihre Nachtherberge in einem großen Dorfe. Mit Anbruch des Morgens fuhren sie auf einem Bauernwagen, den der wackere Jüngling gut zu lenken wußte, ab, in der Hoffnung, etwa in drei Tagen in Eichenfels einzutreffen.


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