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Das Krebsproblem

Haben wir oben die Wirkung der modernen Angriffsmittel des Krebses, die Sprühregen der kleinsten Radiumbomben, die unsichtbaren Splitterpfeilchen des rettenden Lichtgottes Apoll, einer genaueren Betrachtung unterzogen, so soll heute einmal ein Blick gewagt werden in das innere Gefüge des Krebsgewebes. Es hat unsäglich vieler bewaffneter Augen bedurft, ehe einigermaßen Licht drang in das Gefüge der bösartigen Geschwülste, so daß man endlich so etwas wie Gesetzmäßigkeiten in das Chaos der Wucherungen der vielgestaltigen Zellen bringen konnte. Der große Fackelträger war hier allen voran Rudolf Virchow, der zuerst ein Prinzip in Händen hielt, nach dem die anscheinend regellosen Strukturen der Geschwülste (Tumoren) in Klassen eingeteilt werden konnten. Nach ihm haben für das Gefüge namentlich des Krebses Waldeyer und Thiersch unsere Erkenntnis mächtig gefördert. Alles stammt von Zellen, auch die krankhaften Erscheinungen inklusive der Entzündungen und Geschwülste sind Zellenangelegenheiten, das war der Zentralgedanke Virchows, und er ist bis heute unerschüttert, wenn auch durch Koch die Ursächlichkeit dieser Dinge gleichsam noch um einen Schützengraben weiter hinaus ins Feld der Ewigkeit geschoben ist. Virchow sah und inspizierte das Bewegte, Koch das Bewegende. Denn die Zelle, die sich im Körper normalerweise plastisch, nach dem Plane der Organidee gruppiert, folgt einem Reiz, gleichsam der Infektion durch die zeugende Befruchtung; die Neubildungen im späteren Leben folgen einem sehr ähnlichen Vorgang, dem einer Reizung und Infektion durch Zellwesen, die vielleicht sogar bei den Geschwülsten von außen her in den Organismus hineingetragen werden. Diese Frage ist noch unerledigt: wir kennen die Ursachen des Krebses nicht, aber wir haben gesehen in früheren Abhandlungen, daß es nicht anders denkbar ist, als daß beim Krebs die Grundstockzellen des Leibes einen Anstoß erfahren, der sie im Sinne einer krankhaften Zeugung affiziert, so daß die Zellen beginnen, sich auf den Marsch zu einer Art parasitischen, aufgepfropften Embryos zu machen, freilich ohne irgendeine typische, figürliche Form dabei zu erreichen, weil ihm kein rhythmischer, ideenfolgender Plan zugrunde liegt, sondern weil Zufall an der Oberfläche dem Fortwuchern in der Tiefe völlig parallel geht. Nun ist es wohl kaum denkbar, daß die so zahlreichen Formen des Krebses sämtlich dieselbe Ursache haben, und darum ist es wohl auch niemals denkbar, daß alle Krebse mit demselben Mittel behandelt und geheilt werden müssen. Es ist hier ähnlich wie bei der Seekrankheit, die, im Effekt gleich, dennoch ein Dutzend bei verschiedenen Leuten verschiedene Ursachen haben kann. Es gibt relativ sehr gutartige Krebse, die Dutzende von Fahren bestehen, ohne den Träger schwer zu gefährden, und trotzdem weist ihr mikroskopisches Bild echte Krebsstruktur auf. Es gibt andererseits Krebse von solcher Bösartigkeit, daß auch die gleich anfänglich gemachten Radikaloperationen keine Rettung bringen können. Es gibt echte Krebse, die ständig rein örtliche Leiden bleiben und niemals den übrigen Körper attackieren, und es gibt Krebse, die von Anfang an gleich den ganzen Leib übersät haben, also eigentlich von Beginn an nicht örtliche, sondern Allgemeinleiden darstellen. Die ersteren, leider die gutartigen, sind es, bei denen der Mechanismus der Heilkunde, das Messer, das Feuer, die Bestrahlung, die Ätzung ihre oft laut gepriesenen Triumphe feiert, während bei jenen extrem bösartigen und weit ausgesäten bislang kein einigermaßen zuverlässiger Weg zur Heilung besteht. Leider kann nicht einmal die mikroskopische Diagnose mit Sicherheit einem Krebsgewebe ansehen, ob die Geschwulst bösartig ist oder nicht. Die Bösartigkeit oder die relative Gutartigkeit ist eine allein durch den Verlauf des Falles zu beurteilende Angelegenheit, also Sache der klinischen, nicht der anatomischen mikroskopischen Diagnose. Aber stets zeigt das mikroskopische Bild gewisse Regelmäßigkeiten, die den Forscher zwingen, die Allgemeindiagnose Krebs zu stellen. Wie sieht nun solch ein Krebsgewebe unter dem Mikroskop aus?

Wie der gesamte Leib und jedes seiner Organe gleichsam in seinen Weichteilen aufgehängt erscheint in ein vielmaschiges System von Faserzügen, so hängen auch seine pathologischen Produkte in einem Fasernetz von leimhaltigem, fibrigem, fibrösem und elastischem streifigem Filz, in dessen Lücken dort die harmonisch funktionierenden Organzellen, hier beim Krebs die krankhaft wuchernden Zellen eingefügt, eingequetscht, geradezu eingestopft wie in einem regellosen System von wulstartigen Labyrinthen erscheinen. Nur daß sie nicht passiv hineingepreßt werden, sondern sich selbst durch Wucherung zwischen die Faserbalken und Faserlücken hinein entwickeln. Den Menschenkörper stützt und trägt das Knochenskelett, seine Weichteile und Organe sind wiederum getragen von einem mit den Knochen verbundenen Maschennetz von Faserzügen, in dessen Lücken eben die Organe und ihre innersten Zellgruppen hängen wie das goldene Fleisch der Apfelsine in den künstlerisch schonen Faserarkaden ihrer weißen Scheidewände. Man könnte ebensogut von einem Faserskelett wie von einem Knochenskelett des menschlichen Leibes sprechen. Die Kenntnis dieses Faszienskelettes ist die Kenntnis der Organanordnung, die Kenntnis der Gefäß- und Nervenverläufe, die Kenntnis der Eiterstraßen, der Entzündungen, ja der Bahnen des Fortkriechens der Bakterien und der Geschwulstzellen. Leider ist es noch nie beschrieben in der Totalität dieses grandiosen Arkadenbaues, dieses labyrinthischen Gewebsschwammes. Aber es findet sich überall, so auch im Krebs. Denn der Grundstock des Krebses ist eben solch ein mit dem Grundgewebe eng verfilztes Maschennetz von verschmolzenen Fasern. Jeder Krebs enthält solch einen Schwamm von Filzgewebe, und in seinen hohläugigen Lücken befindet sich eben das, was den Krebs ausmacht: ein Zellmaterial völlig anderer Art, ein Zellbrei von unregelmäßigen, sonst im Körper zwar angedeuteten, aber niemals in so phantastischer Vielgestaltigkeit wuchernden kernetragenden Zellsäckchen, die alle von einem bestimmten System der Bausteine des Leibes abstammen: nämlich von den Deckzellen, wie sie jede Haut oder Schleimhaut als einen seinen organischen Trikotüberzug trägt. Das sind die sogenannten Epithelien (Bedeckungszellen), die bald zylindrisch, bald vierwinklig, bald sechseckig, bald blattförmig, bald keilförmig aufgerichtet in jedem mikroskopischen Bilde als Deckschicht der Schleimhäute, der Haut, der Magenhaut, der Darmhaut, des Lippenrotes, des Muttermundes, der Drüsengänge, der Luftröhren usw. zu sehen sind. Und zwar – und das bitte ich besonders zu beachten – normalerweise in einer völlig architektonischen, harmonischen Gleichgestaltung: sie stehen gleichsam in Reih und Glied und uniformiert, je nach der Schutztruppenart ihrer einhüllenden und deckenden Bestimmung. Fuß bei Fuß und Haupt an Haupt, Leib gegen Leib sind sie eingesenkt in den Boden ihres Standortes, der eben aus faserigem Stützgewebe besteht. Der Krebs ist die anarchische Revolution gegen die Harmonie dieser gegenseitigen Ordnung von Deckzellen gegen das stützende, faserige Grundgewebe. Es ist, als wenn hier an einer solchen zunächst winzig kleinen Partie ein Fortfall der harmonischen Regulation von Deckzellenwachstum und Stützfasernbeschränkung eingetreten sei, als wenn eine Hemmung durchbrochen sei, die jedes Gewebe zwingt, sich dem Nachbar und dem Ganzen zur Aufrechterhaltung der Ordnung sein säuberlich einzufügen. Hier beim Krebs kommt über die Deckzellen etwas wie ein Wachstumstaumel, ein Produktionsrausch, ein furibunder Entwicklungstrieb, der die Schranken der von dem Grundfasergewebe gezogenen Grenzen durchbricht. Eine Völkerwanderung befruchteter Zellmütter bricht Hordengleich in den Boden des Gewebes ein. Dieses wehrt sich und wuchert nun auch seinerseits und sucht mit tausendfältigen Armen die einzelnen Ströme der vordringenden Deckzellen abzudämmen, zu umfassen, einzuschnüren und zu umzingeln. Dazu bedarf es selbst der regellosesten Gegenwucherung, und so kommt es, daß der Krebs mikroskopisch aussieht wie ein Kampf zwischen Deckzellen und festen Faserzellen, die beide von Urbeginn der Lebensentwicklung zwei ganz verschiedenen Ahnen entstammen und schon von den ersten Tagen des Mutterleibes an in einem gewissen Rivalismus stehen. Ihre gegenseitige Unterordnung bildet den Zellstaat, den harmonischen Leib, ihr Kampf bedeutet die Anarchie der Zellen: die Geschwulst!

Und nun das Wunderbarste:

Der Krebs wiederholt unter allen Umständen das Bild eines organischen Gebildes, er ist eine Variation über den Typus einer Drüse ohne Ausführungsgang, er ist ein Versuch der Neuerzeugung eines drüsigen Individuums an jeder Stelle, wo es überhaupt Drüsenzelldeckepithel gibt. Alle übrigen Geschwülste erzeugen Gebilde von eindeutigem Zelltypus (Muskel-, Nerven-, Fett-, Knochen-, Bindegewebszellen), aber hier im Krebs wird ein Organ nachgebildet auf krankhaftem Wege, neu aufgepfropft, hier ist Wucherung und Zeugung eng verknüpft; das ist keine Steigerung von Zellbildungen allein, hier ist Neubildung, Umbildung, Nachäffung, Paraphrasierung von Schöpfungsgedanken – das ist es, was den Krebs so mystisch macht.

Der Krieg gegen den Krebs ist nun in ausgedehntestem Maße organisiert, mit großen Geldmitteln wetteifern Kommunen und Private, soviel Truppen wie möglich zu mobilisieren, und die Schlachtpläne sind, bis ins Detail ausgearbeitet, und über allem steht die neue Waffe, das Strahlengeschoß, zur Vernichtung der fremdartigen Invasion durch die unsichtbaren Entladungen des Radiums und des Mesothoriums. Freilich, die Sache hat einen Haken, der den ganzen Kampf ins Problematische hebt: es ist ein Krieg, der gegen einen unbekannten Gegner geführt wird. Wir kennen nämlich trotz der Spürarbeit vieler Tausender gelehrter Geister noch immer nicht die Ursachen des Krebses und die seinen Eintritt begleitenden Umstände, durch welche ein naturgegebenes normales Gewebe »krebsig« wird. Der Feind ist uns nur erkennbar durch die Art, wie sein Kommen das okkupierte Terrain verändert. Es ist, als würden in einem Lande von unsichtbaren Händen Wälle, Hügel, Dämme aufgeworfen, die, für sich unbeständig, in ihrer Konstruktion bald wieder zerfallen, dafür aber das Land um sich herum in ein Stadium des Aufruhrs, der konfusen Lockerung oder Verhärtung des Bodens, des Durcheinanderwerfens der Schichtungen und des Gefüges versetzten, als gäbe es hier so etwas wie eine unterirdische Aufwiegelung, die sich von Scholle zu Scholle überträgt wie ein unsichtbarer Brand in den Erdhüllen. Wir wissen nicht, wer diese Minen legt, was diese elementare Umformung des organischen Bodens veranlaßt, wie sie entsteht und sich einwühlt, aber wir haben mit Hilfe des Mikroskops bis in die feinsten Details sehen gelernt, wie das normale Gewebe sich umbildet zu jener Krankheitsform, die wir Krebs nennen. Ehe ich dem Laien etwas von der Wirkungsweise der Röntgen-, Radium- und Mesothoriumstrahlen (in summa der sogenannten radioaktiven Substanzen) erzählen kann, muß er unbedingt etwas von der Natur des Krebses, ja der Geschwülste überhaupt erfahren. Die immer wiederkehrende Frage des Laien: »Wie entsteht eigentlich so etwas im Leibe?« soll hier einmal klipp und klar beantwortet werden. Geschwülste sind Neubildungen, Wucherungen, Vervielfältigungen von Zellen ins Angemessene, Neubildungen, welche den harmonischen Bestand der Organe durchbrechen. Von der Zeugung an stehen alle unsere hundertfach verschiedenen Gewebs- und Organschichten unter einer sich gegenseitig hemmenden, zum Wohl des Ganzen einengenden Kontrolle: es ist, als ob eine gemeinsame Idee der Harmonie alle Einzelelemente in einen Bewegungsrhythmus zwänge, der keiner Linie, keinem Bogen, keinem Baustein gestattet, sich anders zu lagern, als wie es dem Plane eines unsichtbaren Baumeisters, des großen Konstrukteurs des Lebens, entspricht. Wo etwas im Leibe von außen oder innen diese plastische Idee des Lebens mit all ihren vielgestaltigen Aufgaben dauernd und intensiv stört, da haben wir ja die Krankheit. Wir sehen diese konstruktive Idee durchbrochen z. B. bei der Fettsucht, die man in manchen Formen sicher unter die Geschwulstbildungen zählen kann, weil auch hier ein bestimmtes Gewebe auf eigene Faust gegen das Interesse und die Harmonie des Ganzen ausweicht zu selbständiger, disharmonischer, darum unschöner Liniengebung. Wir sehen ebenso beim Riesenwuchs das Knochensystem das Gesetz der Gewebseintracht durchbrechen und zu phantastischen Formen sich ausbilden, weil die Hemmung und die Regulation fehlt, die die Knochenzellen veranlaßt, nie mehr zu produzieren, als wie es der Harmonie des Ganzen angepaßt ist. Ein andermal weichen alle Lymphdrüsen des Körpers aus dem Grundriß des Körperbaus und bilden enorme Pakete am Hals, in der Achsel, um die Leisten usw. Das sind Beispiele von Neubildungen ganzer Gewebssysteme, gewissermaßen universelle Streikbewegungen ganzer Gewebsklassen. Demgegenüber stehen lokale Ausbrüche einzelner Gewebsgruppen aus dem normalen Getriebe. Solche Neubildungen örtlicher Zellgruppen können an jeder Gewebsart entstehen als Fett-, Bindegewebs-, Muskel-, Nerven-, Drüsen-, Gefäß-, Knochen- und Knorpelgeschwulste. Sie bestehen in der selbständigen, die Idee des Ganzen durchbrechenden Wachstumsenergie einzelner Gewebskeime, und sie haben nur ein Vorbild in der gesamten Lebenslehre: das der Zeugung.

Alle Geschwülste sind Vorgänge der Neuzeugung. Wie bei der natürlichen Befruchtung ein Keim das weibliche Ei zur Bildung unzähliger harmonisch gelagerter Zellen, die nach der plastischen Idee des Lebens zum Individuum führen, anregt, so muß bei jeder Geschwulstbildung etwas geschehen sein, was die Gewebszelle gleich einer Mutterzelle zur Produktion von Tochter- und Enkelzellen veranlaßt. Jede Zelle, die sich gegen das Harmoniegesetz des Bestandes revolutionär zu einer Geschwulst auswächst, muß infiziert, aufgestachelt, befruchtet, keimfähig gemacht sein. Ja, die natürliche Befruchtung selbst ist doch eine Infektion, bei der der männliche Keim die Rolle des anstoßgebenden Bazillus in der Mutterzelle abgibt. Es gibt kein anderes Bild, das Wesen einer Geschwulst zu verstehen, als dieses: Geschwülste sind die Produkte einer pathologischen Befruchtung, einer Bastardehe der Zellen untereinander, eine Folge einer perversen, unnatürlichen, freien Liebe der Zellkerne untereinander. Nur befruchtete Zellen können wuchern. Die mechanischen Mittel, welche dazu führen, daß auch unbefruchtete Eier sich entwickeln, würden immerhin auch als pathologische Befruchtungsvorgänge aufzufassen sein, und das angezogene Bild, daß es Befruchtungsmechanismen sind, die zur Geschwulst führen, höchstens modifizieren, aber nicht umstoßen. Im allgemeinen kann als richtig gelten, daß eine Fettgeschwulst entsteht, wenn zwei Fettzellen abnormerweise sich gegenseitig befruchten, ebenso eine Muskelgeschwulst durch widernatürliche Ehe zweier verschwisterter Muskelzellen. Was aber ist nun eine Krebsgeschwulst, in der eine Anarchie fast sämtlicher Körperelemente zu beobachten ist: Drüsensubstanz, Bindegewebe, Gefäße, Nerven usw.? Ein Chaos von Zellen in einem konfusen System von Schläuchen, Hohlgängen, Drüsenknäueln, Gefäßräumen, mit der Fähigkeit, sich schnell zu entwickeln und ebenso schnell unter bekundeter Lebensunfähigkeit der neugebildeten Gewebe wieder durch Eiterung und Geschwürbildung zu zerfallen. Auf der einen Seite für sich nicht lebensfähig, nicht erhaltbar, auf der anderen Seite enorm ausbreitungsfähig und den ganzen Leib durchwachsend. Das ist ein dem Leibe aufgepfropfter, fragmentarischer, am Stamme zerfallender Embryo, der Versuch eines neuen, anarchisch-phantastischen Lebewesens, ein selbstgeborener fressender Parasit! Jede Zelle dieses pathologischen, zerfallenden, zerbröckelnden Embryos kann, in das Blutgefäßsystem gelangt, zu Vater und Mutter eines neuen Gewebsbalges an jeder Stelle des Leibes werden. Mag der Anfang eines Krebses örtlich sein, eben wegen der Einspülbarkeit der fruchtfähigen Millionen Zellen in das Adersystem wird er sehr bald eine allgemeine, nicht nur örtliche Krankheit. Ist es schon ein schweres Problem, das normale Zeugungsprodukt – den echten Embryo – durch mechanische oder andere Mittel am Keimen mit Sicherheit zu verhindern, wieviel schwerer muß es sein, diese pathologische, anarchische Befruchtung zu verhindern! Und doch hat hier der Menschengeist triumphiert, wenn auch zunächst nur in der Theorie. Man weiß seit langem, daß Röntgenstrahlen und ähnliche Strahlenelemente keimfähige Mutterzellen des Eierstockes ebenso wie Samentiere vollständig sterilisieren, d. h. ihnen die Keimfähigkeit nehmen können. Was lag näher, als diese Strahlen auszusenden gegen die befruchteten Gewebszellen? Daß diese Applikation der unsichtbaren Fackelträger nicht gleich zum Ziele führte, lag daran, daß diese segenspendenden Lichtquellen ein Gemisch von sehr verschiedenen Strahlenbündeln in sich tragen, welche durch mühsame, vieljährige Forscherarbeit erst voneinander gesondert werden mußten, weil einige dieser Strahlenarten sehr unangenehme Wirkungen ausübten, welche den Heileffekt gewissermaßen übertrumpften. Mußten doch Röntgenärzte durch die stetige Anwendung der Strahlen den Forscherheldentod sterben, weil die Begleitstrahlen direkt Krebs erzeugten. Wie in den Sonnenstrahlen Tod und Leben nebeneinander ruht, so auch in diesen dem Auge früher verborgenen Lichtquellen. Nun scheinen die Fehlerquellen gebannt, und allein die Gegenstrahlen können intensiv auf die keimenden Krebszellen abgesandt werden, um sie allein im Leibe zu sterilisieren, d. h. zum Auflösungstode zu bringen.

Freilich noch ist es erst ein Weg, noch nicht das Ziel, was gefunden ist, und gerade die Verbreitbarkeit der Krebszellen über den ganzen Leib setzt dem Verfahren der Radium- oder ihrem Ersatz, der Mesothoriumbestrahlung manch schweres Hindernis. Aber das Prinzip ist gefunden, und die Arbeit Tausender vom Ziel begeisterter Diener der Menschheit wird es wohl zuwege bringen, diesem Leiden erfolgreich zu Leibe zu gehen.

Wir haben uns im vorausgegangenen ein Bild vom Bau der Krebsgeschwulst zu machen versucht mit dem Vergleich eines mit Zellmaterial gewissermaßen farcierten Schwammes und hatten betont, daß diese Füllung der bindegewebigen Strukturlabyrinthe des schwammartigen Grundgewebes durch gewucherte Deckzellen (Epithel) zustande kommt. Dabei war in beiden an der Hervorbringung der Gesamtgeschwulst beteiligten Elementen eine Art anarchischer und chaotischer Raserei der Zellbestandteile, des Bindegewebes und der Randbesätze von Schleimhaut und Außenhaut bemerkt worden. Es sei dem hinzugefügt, daß auch Blutgefäße, ja auch Nervenfasern in mannigfach unregelmäßig geästeter Bildung dem konfusen Gewimmel gleichsam leidenschaftlich nach regelloser, buhlender Neuzeugung entbrannter Grundelemente auch ihrerseits Folge leisten. Der Effekt ist ein gewissermaßen karikiertes, nachgeäfftes Organgewebe. Das hebt den Krebs aus der Reihe anderer Neubildungen scharf hervor. Alle anderen Geschwulstformen, unter denen es auch bösartige gibt, sind Aberbildungen (Hyperplasien) auch im Normalen angelegter Gewebsvorbilder. Eine Fettgeschwulst ist eine an unrichtigem Ort in exzessiver Weise gewucherte Fettdrüse, auch wenn sie mannskopfgroß wird, das Ganze ist Fett und bleibt Fett, genau wie das physiologische Polster unter der Haut. Eine Muskelgeschwulst, eine Knochengeschwulst (reines Myom oder Osteom) hat dieselbe Struktur wie das Muttergewebe, von dem es seinen Ursprung genommen hat. Das Krebsgewebe hat nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Drüsentypus, es variiert ihn zwar in mannigfacher Weise, aber es hat das Kriterium der unheimlichen Nachäffung fast aller Gewebsformen. Es ist, als ob ein bösartiger Zauberlehrling den harmonischen und stillen Strom des vom Meister wohlbedachten Zellgeriesels verstellt und die Formel der segensreichen Bewachung und Beherrschung, daß sich das Gewimmel der Zellen der Idee des Ganzen füge, vergessen hätte. Nun überflutet eigenwillig der giftig gewordene Sturzbach vorstürmender Zellen die gehüteten Dämme, und diese selbst bäumen sich auf zu Wehrschanzen und Schutzgehegen.

Was kann die Ursache solchen Tohuwabohus in irgendeiner Provinz des Zellstaates sein? Was kann solche Revolution im wohlgeordneten Gemeinwesen der Körper, deren Oberhaupt die gestaltende Seele ist, entfachen? Kommt es von innen her, sind vererbte Dispositionen, übertragene Schwächungen des Gewebes der Grund, oder stammt es von außen, ist es ein Eindringling, der die Fackeln des Gewebsbrandes entzündet? Hier ist ein schmerzliches Verstummen, eine hilflose Ohnmacht des Wissens, ein völlig ungelöstes Problem der Forschung aufgezwungen.

Vieles spricht für eine äußere Invasion, eine Infektion wie bei Schwindsucht, Strahlenpilzkrankheit, syphilitischen Geschwülsten und ähnlichem, aber abgesehen davon, daß man nie beweisende Bilder unter dem noch so scharf eingestellten Luchsauge des Mikroskops erhalten konnte, fällt die sogenannte Infektionstheorie des Krebses immer zurück vor der Tatsache, daß wir keine tierischen oder pflanzlichen Parasiten kennen, die auch nur entfernt ähnliche, organisierte, rudimentäre Embryonen nachäffende Wirkungsweisen von Bakterien- oder Protozoeninvasion kennen. Auch die Tatsache, daß Krebse mit Vorliebe dort auftreten, wo an Knickungen, Abbiegungen, Umschlagsfalten einem örtlich angreifenden Feinde gewisse Erleichterungen und mechanische Haftstellen gegeben sind, spricht nicht unbedingt für solche Theorien der äußeren Einverleibung der hypothetischen Krebserreger, denn diese Stellen (Lippenrand, Lidrand, Magenpförtner, Gebärmutterhals, Brustwarzen) sind auch besonders mechanischen Attacken ausgesetzt und könnten ebensogut der direkten Reizung der Gewebe und ihrer Revolte von innen her die Wege ebnen. Das einzige Ebenbild der Krebserzeugung ist eben der Vorgang der Zeugung, und eine Infektion könnte man die Krebsbildung nur dann nennen, wenn man sich entschlösse, auch die Befruchtung von Samen und Ei mit nachfolgender Embryoentwicklung eine Infektion zu nennen, wobei dann die kuriose Schlußfolgerung sich zwingend ergäbe, daß auch der junge Menschensproß eine Art naturnotwendiger Geschwulstbildung sei, wofür bei wohlgebildeten Exemplaren doch keine Veranlassung vorliegt. Aber man kommt nicht darüber hinweg: der Krebs ist ein Zellvorgang, der seine einzige Parallele, sein physiologisches Vorbild in der Zeugung hat, er ist ein Produkt krankhafter Zeugung, und wenn er ein Akt der Infektion ist, so muß ein lebendiges Wesen aufgezeigt werden früher oder später, das es versteht, sich mit der Zelle zu vermählen wie das Samenzellchen mit dem winzigen mütterlichen Ei.

Man denke nun einmal darüber nach, wie schwer es die immer auf Bestand der Art eisern bedachte Natur dem Spürgeiste des Menschen gemacht hat, auf andere als auf roh mechanische Weise (und auch hier ist es nicht so einfach, wie viele gefallene Gretchen glauben) der Natur ein ärztliches Schnippchen zu schlagen, das einmal eingeleitete Leben zu erwürgen. Man bedenke, daß wir auch nicht ein einziges Mittel haben, welches von innen her, etwa durch arzneiliche Gifte, mit Sicherheit ein im Gebärmutterneste oder gar an falscher Stelle im Leibe frei bebrütetes Ei zum Absterben zu bringen vermag. Wirken doch fast alle inneren Abtreibungsmittel durch Erregung von Muskelwehen, bewirken also ihrer Natur nach die Entfaltung mechanischer, wenn auch innerer Gewalten. Nur so vermag der Laie sich ein Bild zu machen von der Schwierigkeit des Problems der Krebsheilung und gewinnt zugleich ein Verständnis für die Frage der möglichen Mittel der Heilbarkeit des Krebses. Wie soll ein inneres Heilmittel gefunden werden, die vielen Millionen Eier der krebsbefruchteten Zellen vom Blute, von den Gewebssäften her abzutöten, ohne zugleich alle anderen lebendigen Zellen des Leibes schwer zu schädigen? Jeder Versuch nach dieser Richtung führt zu einer gefährlichen Konkurrenz zwischen Teufel und Beelzebub.

Und doch hat uns unser Pfadfinder Ehrlich hier eine schwache Hoffnung gegeben, der uns nach langer Pause zur Forschung in dieser Richtung Mut gemacht hat, diese Bahn der Angriffsmöglichkeit des Kranken, ehe das Gesunde in Mitleidenschaft gezogen wird, zu beschreiten. Warum sollte nicht ein Präparat gleich seinem Salvarsan gefunden werden, dessen Arsenikpfeile die Erreger der Syphilis eher treffen als die Zellen, welche sie beherbergen? Auch auf dem Wege der Wassermannschen und Abderhaldenschen genialen Entschleierung von manchen Geheimnissen des Blutes und der Säfte kann wohl eines Tages der Quell gefunden werden, mit dessen Trank dem Krebse sein Stündlein blüht. Freilich sind für die Angreifbarkeit der Krebszellen in der uns nun bekannten Struktur des Krebses selbst schwere Hindernisse gesetzt: nämlich jene faserigen Ringwälle um die Krebsnester, jene schwammartigen Scheidewände, welche der Organismus sich selbst als einen Ausschaltungsversuch gegen die Saatträger auftürmt. Die Vorbedingung für den Angriff gegen die Krebszellen ist hier die Sprengung respektive die Erweichung der Faserfilze um die Brutnester der wuchernden Deckzellen. Der Verfasser versuchte zuerst diesen Ringwällen mittels eines einschmelzenden Medikamentes, dem Thiosinamin respektive dem Fibrolysin, zuvor zu Leibe zu gehen, ehe die Attacke mittels Arsens gegen die Krebszellen selbst erfolgen sollte. Dieses Thiosinamin, ein Präparat, um dessen Wiederbelebung Ernst Schweninger unleugbare Verdienste hat, besitzt die sehr schätzenswerte Eigenschaft, krankhafte Bindegewebszüge und Narben, gleichsam durch Seifenwirkung, laugenartig zu erweichen. Wollte man dies Mittel allein gegen den Krebs zu Felde führen, so würde man wahrscheinlich wenig nützen, vielleicht sogar schaden, aber Verfasser hat geglaubt, daß einer nachfolgenden Arsenkur (es braucht nicht Salvarsan zu sein, obwohl dasselbe in verständigen Dosen den Vorzug großer Ungiftigkeit hat) dann im richtigen Zeitpunkt der Einschmelzung und Lockerung des Krebsfilzes viel größere Aussichten zur Krebszellenvernichtung gegeben sind, als wenn die massigen, dichten Bündel des Krebsgewebes dem Arsenzustrom die Filter sperren. Verfasser hat ganz unzweideutige Abschwellungen des Krebses bei dieser kombinierten Fibrolysin-Arsen-Behandlung erzielt und darüber berichten können. Damit nicht genug, muß einer solchen Behandlung die Bestrahlung mit Radium oder Mesothorium parallel gehen, weil, wie wir schon wissen, dieses Bombardement mit unsichtbaren Strahlen theoretisch und praktisch die einzige Möglichkeit der Vernichtung kranker Zellen gewährt.

Der aufmerksame Leser wird nach unseren obigen Ausführungen begreifen, daß das Erste und Wirksamste, wie auch bei der notwendigen Abtreibung eines befruchteten Eis im Mutterleibe, die mechanische Gewalt, d. h. der Versuch einer möglichst frühzeitigen chirurgischen Radikalentfernung der ersten Herde sein und bleiben muß, solange wir nicht ein Mittel haben, welches die Gnade haben wird, nur Krebszellen, nicht auch die wichtigen Mosaiksteinchen des Lebens, die gesunden Körperzellen, zu erwürgen. Käme doch ein Genius, der dieses Kräutlein fände, diesen Trank braute!


Fassen wir noch einmal alles Orientierungsmaterial zusammen, das wir über das «Krebsproblem« herangezogen haben, so können wir folgende grundlegende Leitsätze aufstellen. Der Krebs ist, wie jede Geschwulstbildung mit Produktion von zelligem Material, ein Produkt einer pathologischen Zeugung, einer Art Inzestes zwischen Zelle und Zelle, die sich befruchten nach dem Vorbild von Samenfaden und Ei. Der Krebs ist eine Art fragmentarischen Embryos, dessen Struktur leicht zerfällt, weil er die Bildung eines Bastardparasiten nicht voll erreicht, und also ebenso lebensunfähig wie lebenzerstörend ist, weil seine Keime weithin verschleppt werden im Leibe. Diese Befruchtung geschieht stets am zelligen Deckteppich der Haut und der Schleimhäute (Epithel), deren Zellen sich dann wie weibliche Eier verhalten, die eben von der zeugungsfähig gewordenen Kernsubstanz einer anderen Zelle befruchtet werden.

Es ist wahrscheinlich, daß diese Befruchtung durch Körperzellen desselben Individuums oder wenigstens durch Zellen derselben Art (Mensch) stattfindet. Sollte sich einst zeigen, daß auch die Nukleinsubstanzen fremder Arten inklusive einer Art Krebsbakteriums die Ursache des Krebses ist, so bleibt bestehen, daß dieses unbekannte Infektionsmaterial die Zelle zur Befruchtung anregt, der Vorgang hätte dann immer noch in dem Ablauf der natürlichen Zeugung sein sogenanntes physiologisches Vorbild, sein normales Schema, sein funktionelles Paradigma. Wie es ja überhaupt – das ist wichtig für Laien zu wissen – keinen Krankheitsvorgang gibt, der nicht im natürlichen Abrollen der Lebensspulen gewissermaßen vorskizziert erscheint. Das Fieber hat seinen physiologischen Typus im Vorgang der normalen Temperatursteigerung nach der Nahrungsaufnahme, die Eiterung hat ihren Typus in der Anhäufung weißer Zellen bei der Wiedererzeugung der Gewebe, bei der Heilung der Wunde, bei der Produktion von Milchzellen usw.

So hat jede Geschwulst ihr physiologisches Vorbild in der Bildung von embryonalem Gewebe, und die Krebsbildung ist eine Karikatur, eine Paraphrase, ein Vexierbild der normalen Zeugung. Nichts scheint diese absonderliche Ansicht so stark zu stützen – außer einer Flut von anderem, allzu gelehrtem Beweismaterial – als die Tatsache, daß die Tiefenwirkung der ultravioletten Strahlen (Röntgenlicht, Radium, Mesothorium) das einzige ist, was in ersten Anfängen (!) so etwas wie ein wirklich rationelles Heilmittel gegen den Krebs und die Geschwülste überhaupt erscheinen läßt. Da alle diese Dinge parasitär nur sehr bescheidene Wirkung haben, da die Urheber des Eiters, der Rose, des Starrkrampfes, der Tuberkulose, des Milzbrandes usw. in den Geweben des Menschen durch die geheimen Pfeile des Apolls sich durchaus nicht in ihrer Zerstörerarbeit aufhalten lassen, so muß es auffallen, daß gerade bei Sterilisationsvorgängen der befruchteten Zellen, bei Aufhebung der Entwicklung lebendiger Keimzellen, die offenbarsten Erfolge zu erzielen sind. Das wäre unverständlich, wenn nicht eben die Krebsbildung im Auftreten von Befruchtungskeimen ihr Vorbild hätte. Es widerspricht ferner das gesamte Erfahrungsmaterial der Ärzte an keiner Stelle dieser weitgreifenden Theorie von dem Krebs als einer pathologischen Verzerrung der Zeugungsvorgänge an falschem Ort, zu falscher Zeit, mit an sich zur Zeugung nicht vorbedachtem Material. Dieser gleichsam sexuellen Anarchie der Zellen, diesem chaotischen Begattungstaumel vestalischer Dienerinnen des stillen, heiligen Lebens kann nur durch die Gewalt des ewigen Lichtes, durch das Veto der Befruchtung ein Halt zugerufen werden. Was hier nicht Messer, nicht Feuer, nicht Arznei noch Antigifte vermögen, leistet der Sterilisationsstrahl geheimer Sendlinge des Lichts, die kleinen Henkerbeile der tiefeinsprühenden Lichtgeister. Ich bin überzeugt, daß nach vorausgegangener chirurgischer Entfernung der groben Schwammdrüsen des Krebsherdes die unmittelbar angeschlossene Bestrahlung, die Bestrahlung gleichsam an breit offengelassener Wundfläche im scheinbar Gesunden, sehr schöne Resultate zeitigen muß und schon mir und anderen gezeitigt hat. Daß daneben auch Krebsnester einschmelzende Wirkung von Fibrolysin plus Arsenik (auch Salvarsan) unverkennbar ist, haben wir schon früher auseinandergesetzt. Diese Theorienentwicklung mag dem Laien vielleicht überflüssig erscheinen, sie ist es aber nicht, denn gerade eine richtige Hypothese hat schon oft den Schlüssel zu einem brauchbaren Arzneikästchen in ihren manchmal phantastischen Gewändern versteckt gehalten.

Wir wollen diese Besprechung der Krebsprobleme abschließen mit der Beantwortung einer Frage, die dem Arzte in der Sprechstunde ebenso oft gestellt wird, wie sie von ihm mit Verlegenheitsphrasen umgangen zu werden pflegt; das ist die Frage: Wie entsteht nun so etwas wie eine Geschwulst? Da wird es gut sein, zunächst einmal etwas schulmeisterlich mit dem Kehrbesen der Definitionen gegen den Staub und Unrat der Alltagssprache heranzugehen. Schwellung, Schwulst, Geschwulst, Beulenbildung, Auftreibungen sind überall gebräuchliche Ausdrücke für Formveränderungen des harmonischen Körperbaus und seiner Teile, die sehr verschiedene Prozesse gemeinsam bezeichnen. Eine Eitergeschwulst, eine eitrige Drüsengeschwulst, eine Gewebsanschwellung ist ganz etwas anderes als eine Geschwulst in echtem Sinne. Eine Drüsengeschwulst kann entstehen, wenn ihre Ausführungsgänge verstopft sind (Gallenblase, Speicheldrüse, Grützbeutel, Hydronephrose, d.h. Wasserblasenbildung im Nierenbecken). Auch das sind keine Geschwulstbildungen im eigentlichen Sinne, weil bei ihnen etwas zurückgehalten wird, was eigentlich abgesondert werden sollte. Das kann geschehen durch einen Stein, durch Verwachsung oder Verengerung der Ausführungsgänge, und solche Geschwülste sind Retentionstumoren. Tumor ist der Name für alle Formen anschwellungsartiger Auftreibungen. Dann bilden Entzündungsvorgänge Anschwellungen, die man als Inflammations- oder Infektionstumoren bezeichnet, zu denen auch die oft ganz kleinen sogenannten Granulationsgeschwülste, z.B. der Tuberkulose, der Perlsucht, des Rotzes usw., gehören. Auch sie haben nichts mit den echten Tumoren, den Gewebe produzierenden Geschwülsten zu tun. Denn das ist das Wesen einer wahren Geschwulst: sie bildet neues Gewebe an unrichtigem Ort und in exzessiver Weise mit dem Resultat einer aus dem Gewebe gleichsam aufsteigenden, auftauchenden, neuen Insel, einer Bildung von isoliertem Gewebshügel, manchmal ganzer Gebirgsketten. Aber auch hier gibt es Unterschiede. Wenn ein Herz in seiner Gesamtheit sich vergrößert, so spricht man von einer Hypertrophie, d.h. einem Überwachstum, einer exzessiven Vergrößerung eines Organs (hypertrophische Lebergeschwulst, Gebrauchshypertrophie der Muskel, der Niere, der Drüsen, Kropf, Magenerweiterung usw.). Wenn aber in einem Muskel eine umfaßbare isolierte Beule entsteht, die ebenfalls Muskelgewebe, aber in isoliert exzessivem Maße enthält, so haben wir eine echte, gleichsinnige (homoplastische) Muskelgeschwulst vor uns: ein Myom. Im Knochen heißen solche gleichsinnigen, aufsprossenden Knochenwülste Osteome, in Drüsen Adenome usw. Tritt aber eine isolierte Schwellung in einem Organ auf, die in seinem Bau einen ganz anderen Gewebstypus repräsentiert als das Muttergewebe, aus welchem es inselartig auftaucht, so bildet sich ein fremdsinniger (heteroplastischer) echter Tumor. So können im Knochen Drüsengeschwülste, im Muskel Lymphknoten, in der Schilddrüse Knochenherde sich bilden: dann sind sie echte Tumoren, die mit der exzessiven Bildung vorhandener Elemente nichts mehr zu tun haben.

Also eine Gefäßgeschwulst, z.B. bestehend aus verschlängelten Gefäßbündeln (Angiom), ist eine homologe Geschwulst; besteht sie aber aus fremdartigem, zelligem Material, so kann es Sarkom, Karzinom, Adenom sein, also eine Geschwulst aus heteroplastischem Material. Diesen Doppelsinn einer Geschwulst findet man nun bei jedem Organ, bei jeder Struktur wieder. Im allgemeinen sind diese Geschwülste um so gefährlicher, je fremdartiger ihr Bau gegen das Muttergewebe kontrastiert. Allen voran an Gefährlichkeit stehen zwei Formen von Geschwulstbildung, weil sie die Neigung haben, sich weitaus im Körper auszusäen. Das ist das Sarkom und das Karzinom. Beide rubrizieren unter dem Begriff der bösartigen Geschwülste. Eine Geschwulst ist bösartig, wenn sie das Leben bedroht durch vielfache Aussaat (Metastasenbildung) oder durch parasitenartige Aushungerung (Kachexie) des Wirtskörpers. Sarkom ist eine Geschwulstbildung mit dem Charakter der Zellbildung aus dem faserigen oder zelligen Bindegewebe (Rundzellen, Spindelzellen, Riesenzellen), das Karzinom eine solche mit Organtypus, nämlich dem einer, man möchte direkt sagen konfus oder wahnsinnig gewordenen Drüse. Alle Drüsen enthalten Epithelzellen, Deckzellen, meist kubische, sechseckige, zylindrische kleine Kämmerchen, winzige Kästchen, Täschchen mit einem eiartigen rundlichen festen Inhalt: dem Kern. Dieser Kern ist ein Herz des Zellebens, zugleich sein Gehirn, seine Seele, seine Betriebszentralstelle und der Funktionär seiner Fortpflanzung. Alle Zeugung, alle Befruchtung, aller Wiederersatz, jedes Wachstum, Werden, Entstehen, Heilen, Fortpflanzen, Dahinsiechen, Vergehen, Sterben – sind gebunden an dieses kleine Wunderknäuel von rätselhaften Ariadnefädchen des Lebens. Man kann sagen, das Geheimnis der Biologie liegt in diesem Fädchengewirr, dessen Größe jenseits von Sonnenstäubchen und Kristalltröpfchen liegt. Der natürliche Befruchtungsvorgang stellt sich dar als ein Dornröschenmärchen. Den Ritterkuß gibt der Nukleinkern des männlichen Saatkorns auf das Mündchen (Pyle) der schlafenden Mutterzelle. Ein winziges Uhrschlüsselein dreht sich im zelligen bräutlichen Gehäuse, und alle Paläste, Gärten und Garküchen des Lebens beginnen ihren Zauberaufbau, bis das neue Lebewesen, dieses Labyrinth geheimer Werkstätten, dieser wandelnde, handelnde, sinnende Korallenstock von Lebensarsenalen neugeboren dasteht, davonfliegt, sich in die Erde einsenkt oder über sie dahinwandert. Und nun muß dieses Werdewunder beim Krebs sich umkehren in eine Brutstatt des Verderbens, derselbe Vorgang der Zeugung muß den Bau zerstören, der unter den gleichen Geschehnissen entstanden ist, das Märchen wird zur Tragödie. Wie und auf welche Veranlassungen kann das geschehen?

Hier ist der Punkt, wo zwei Meinungen sich scharf bekriegen. Nach der einen ist es ein fremder, unbekannter Eindringling, der den Leib von außen anfällt wie die Milliardenschwärme der Tuberkelbazillen. Nach der anderen ist die Krankheit im Leibe selbst erzeugt. Wir wissen jetzt, daß diese Theorien nicht unvereinbar sind: in jedem Falle sind die Teppichauskleidungen der Haut, der Schleimhäute, der Drüsengänge (bestehend aus Schilderhaus neben Schilderhaus von lauter Zellkästchen der Deckepithelien) der Sitz einer krankhaften Befruchtung. Wie aber tritt diese ein? Nun, eine Verletzung, ein stetes Reiben beim Schlucken, beim Nahrungstransport, ein steter Druck, ein ständiges Scheuern, irgendeine mikroskopisch geheime Verwundung einer Zelle könnte schon ihren Leib zertrümmern und ihren Nukleinkern, ihren Zeugungsfaden ausschwärmen lassen. Wehe, wenn eine Nachbarzelle dem Vaganten Heim und Bett gewährt! Der Inzest, die Orestie des Organischen, ist da, und der Unhold wird geboren. Auch kann zufällig ein von der Geburt her versprengter Zeugungskeim durch Überwucherung der Nachbargebilde eingeklemmt sein und erst in späterer Zeit seinen Bildungsanteil am Leben als eine Art posthumer Revolutionär fordern und nun auf eigene Faust sich in rudimentären Lebensgebilden austoben, die sich der Harmonie des Ganzen räumlich und zeitlich und bildungsgehorsam nicht mehr einfügen.

Auch kann die Faust der Hemmung, die über allen organisch-harmonisch sich anpassenden Gewebsarten liegt, diese Fesselung des Einzelnen zugunsten des Ganzen, die jeder Staatenbildung Sinn ist, an irgendeiner winzigen Stelle defekt geworden sein, so daß die Deckzellen chaotisch-burlesk wie Kaskaden hervorstürmen aus dem durchbrochenen Zaun des wohlgefügten Gewebsgartens. Dann kommt es zu jenem Kampf der einschnürenden Bindegewebsgehege gegen das hervorquellende Unkraut der Epithelzellen, wie wir das früher als Charakeristikum der Krebsbildung ausführlich geschildert haben.


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