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Irrenpflege

Vom 3. bis 7. Oktober 1911 tagte in Berlin der Vierte Internationale Kongreß zur Fürsorge für Geisteskranke unter dem Vorsitz des Geheimen Medizinalrats Professor Dr. Moeli. Die öffentlichen Zeitungen haben ausführlicher von den dort gepflogenen Verhandlungen Notiz genommen, als es bei den ersten Kongressen dieser internationalen Vereinigung zum Heile der seelenkranken Mitmenschen der Fall war. Vielleicht in der nicht unberechtigten Hoffnung, daß der Kongreß sich unter anderem auch mit der beinahe brennenden Frage der gehäuften öffentlichen Angriffe gegen Übergriffe, Mißgriffe und forensische Irrtümer der Psychiater befassen würde, daß er vielleicht die Gelegenheit benutzen würde, Stellung zu der nicht abzuleugnenden Beunruhigung des Publikums in betreff der vermeintlichen Unzulänglichkeit unserer öffentlichen und privaten Irrenpflege zu nehmen. Das ist leider nicht geschehen, und über anderen interessanten Erörterungen, so über die Schlafkrankheit, über Ehrlichs Mittel, über Geisteskrankheiten in Heer und Marine usw., ist man wieder einmal nicht dazu gekommen, das vornehme Schweigen über die öffentlichen und geheimen Angriffe gegen die Irrenärzte zu brechen. Es mag an dieser Stelle versucht werden, ganz kurz auf diesen nicht enden wollenden Kampf gegen die Irrenhäuser einzugehen, in der Hoffnung, einiges dazu beitragen zu können, die Sachlage zu klären.

Was ist der eigentliche Grund dieser ewigen, oft sehr gehässigen Angriffe gegen den mühe- und opfervollen, gefährlichen und meist sehr undankbaren Beruf, der doch von Haus aus als eine segensreiche Institution angesehen zu werden vollen Anspruch haben dürfte? Unzweifelhaft ist der eigentliche Grund dieser Antipathie ein ähnlich psychologischer wie bei der des großen Publikums gegen Polizei, Anklagebehörde, Steuerverwaltung, Leichenkommissariate usw. Wer jemals ein Irrenhaus betrat, hat ein doppeltes Gruseln, erstens das der hier etablierten Freiheitsberaubung und zweitens das eines Waltens einer unheimlich dämonischen Macht. Denn leider noch immer wird im Publikum der geistig Kranke ganz anders bewertet als der körperlich Leidende. Die unheimliche, mysteriöse Dämonie einer Krankheit, die unser edelstes Organ befällt, wirkt leider für den Laien selbst im Heilungsfalle wie eine Verringerung seiner Menschenwürde; instinktiver Abscheu, bleibende Unsicherheit, eine gewisse geistige Aussätzigkeit, das sind die Stempel, mit denen die öffentliche Meinung den armen Seelenkranken bedenkt. Man nimmt die Krankheit des Gehirns, nicht wie der geschulte Arzt, als eine seelenmechanische Störung, sondern als etwas geisterhaft Unheimliches, als ein Walten übernatürlicher Mächte. Das wurzelt tief im Volksglauben. Was Wunder, wenn die Irrenärzte von vornherein dem gesunden Volksbewußtsein, dem kraftstrotzenden Freiheitsdrange der Vorwärtsstürmer an sich in der Seele unsympathisch sind, trotzdem sie für jeden Weiterdenkenden ein entsetzlich schweres Liebeswerk auf sich genommen haben. Keine ärztliche oder priesterliche Tätigkeit ist so echt christlich von Haus aus wie die Fürsorge für die Verirrten und Verwirrten im Geiste.

Zu dieser allgemeinen Antipathie kommt die ungeheure Verantwortlichkeit des Psychiaters in Fragen des öffentlichen Rechts. Hat ihm die Religion ein gut Stück ihrer Funktionen aufgebürdet, so hat die Jurisprudenz ihn immer mehr in ihren Frondienst gezogen. Gar zu oft muß der Sachverständige der eigentliche Prügeljunge sein, weil der Richter ihm gern in kritischen Situationen die Verantwortung zuschiebt. Diese moralische Arbeitsteilung ist der noch werdenden, lange noch nicht reifen Seelenkunde sehr schlecht bekommen. Ist ein Gutachten sehr medizinisch, so ist es sehr unjuristisch, und umgekehrt, und die meist sehr kitzlige Frage nach der freien Willensbestimmung ist oft eigentlich gar nicht zu beantworten. Abgesehen von der strittigen Philosophie des freien Willens überhaupt, wo steckt die Wissenschaft von dem freien Willen im Augenblick des Begehens einer Tat? Alles bleibt Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf Grund persönlicher Einzelerfahrungen. Da diese Erfahrungen differieren, fallen (auch nach dem Bildungsgrade des Sachverständigen) die Gutachten so oft widersprechend aus. Das sieht vor dem Publikum wie eine Blamage der Wissenschaft aus, ist aber nur die Folge der Unzulänglichkeit alles Werdenden, die überall menschliches Ereignis wird. Die Psychiatrie müßte sich wehren gegen die bequeme Zumutung, die richterliche Entscheidung zu fundieren. Hier hat gewiß manchmal ein gewisses Selbstbewußtsein, Herren der Situation zu sein, die Psychiater verleitet, Fehler zu machen. Vor Gericht kann ein Sachverständiger gar nicht bescheiden und zurückhaltend genug auftreten, weil der Richter gern die Entscheidung über Menschenschicksale dem klugen Besserwisser zuschiebt.

Ferner haben leichtfertige Preßberichte über skandalöse Vorgänge aller Art in Irrenhäusern dem Ansehen des Standes ihrer ärztlichen Leiter sehr geschadet, trotzdem die hier und da aufgedeckten Übel gar nicht ihnen, sondern fast stets nichtärztlichen Leitern (Kongregationen, Mutterhäusern) zur Last fielen. Auch Übergriffe eines entsetzlich angestrengten und sehr mäßig entlohnten Pflegepersonals werden ihnen in die Schuhe geschoben. Dazu kommt, daß die notorischen Querulanten und ihre von ihnen getäuschten laienhaften Verwandten und Freunde wegen der Sensation in der Presse ein allzu williges Ohr bisher gefunden haben.

Unsere Ansicht geht dahin, daß unsere Irrenhäuser durchaus auf der Höhe aller anderen Krankenanstalten stehen, sowohl in bezug auf Komfort und Technik als auch in bezug auf den in ihnen wohnenden Geist der Milde, Menschenfreundlichkeit und Hingabe an den Beruf, der viel mehr Opfer und Gefahren birgt, als mancher kritisierende Laie auch nur ahnt.

Zweitens ist es Sache des Staates, vermeintliche Gefahren der unrechtmäßigen Internierung und Freiheitsberaubung, der gewaltsamen Entmündigung und bürgerlichen Ächtung durch alle nur erdenklichen Vorschriften zu kompensieren. Noch niemals hat sich irgendein vernünftiger Arzt gegen eine solche Kontrolle gesträubt. Aber schon die bestehenden gesetzlichen Vorschriften (Attest mehrerer Ärzte, Meldesystem, Kontrollbesuche der Bezirksärzte) sichern ja das Publikum gegen ärztliche Fehl- und Übergriffe viel mehr als z.B. gegen diagnostische Irrtümer der Ärzte bei inneren oder chirurgischen Krankheiten. Wo gibt es beispielsweise eine Kontrolle, ob eine Operation, ob eine Aufnahme in ein Sanatorium unbedingt nötig ist?

Wo sind ferner die erwiesenen Fälle der verbrecherischen und gesetzwidrigen Handlungsweise der Psychiater? Viel Geschrei bisher, aber glücklicherweise sehr wenig zweifelsfreie Beweisführung!

Das Publikum kann in der Tat beruhigt sein: die armen Seelenkranken sind in bezug auf ärztliche Fürsorge keineswegs schlechter daran als z.B. die Verletzten in unseren chirurgischen Krankenhäusern. Auch hier wird einst die ärztliche Ehre siegreich aus dem Kampfe der Meinungen hervorgehen: es wäre aber gut, wenn die oft ungerecht angegriffenen Koryphäen der Psychiatrie ihr vornehm verächtliches Schweigen brächen.


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