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Was ist Krankheit?

In den später folgenden Aufsätzen werden wir neben den Vorschriften zur Bekämpfung des Schmerzes uns auch mit seinem physiologischen Wesen (als Kurzschluß sensibler Nervenleitungen) befassen müssen, und werden, seinen biologischen Sinn andeutend, ihn als die durch das Gefühl bemerkbar gemachte Gefahr, als die fühlbare Störung der Harmonie des Organbestandes bezeichnen. Denn wie z. B. ein Meteorstein, dem Rhythmus des Ganzen entfallen, aufleuchtet und sich entzündet, wenn seine Flugbahn die rollende Atmosphäre der Erde kreuzt, so blitzen gleichsam auch alle Schädlichkeiten, die die Harmonie des Körperbestandes stören, an der Schutzschicht der Nervenenden auf, alarmieren das Gehirn – unsere Sternwarte des Lebens – und zwingen uns zur Abwehr. Wir werden den Schmerz einreihen in die große Summe körperlicher Abnormitäten, ins Gebiet des durchaus Pathologischen, Krankhaften. Da liegt die Frage nach einer allgemein annehmbaren Definition des Krankheitsbegriffes nahe. Wollte ein Laie unsere medizinischen Enzyklopädien und Lehrbücher nach dieser Definition zu durchstöbern sich die Mühe machen, so würde er zu seinem Erstaunen sehr selten den Versuch gemacht finden, eine philosophisch propre Deutung dieses uns leider alle angehenden Begriffes zu geben. Lange Zeit hat Rudolf Virchows Ausspruch, daß die Krankheit »Leben unter veränderten Bedingungen« sei, wenn man so sagen darf, den Markt unseres biologischen Denkens beherrscht, bis man dahinterkam, daß damit die Unbekannte: Krankheit definiert werde durch das noch viel unbekanntere X: Leben, und durch ein häufig ebensowenig entschleierbares Y: die neuen oder veränderten Bedingungen.

Diese Definition Virchows, die übrigens einer Zeit entstammt, wo man noch nicht das Leben als einen Daseinskampf aller gegen alle (nach Darwin) ansah, war unzureichend, weil Unbekanntes mit Rätselhaftem erklärt werden sollte. Heute, wo vielfach die Krankheiten aufgelöst sind in Zellkämpfe belebter, freier Zellen (Bakterien) gegen die organisierten, zu Individualverbänden geschlossenen Leibeszellen (Gewebe), hat man die Krankheit wohl besser als eine Form des Kampfes um das Dasein, als einen Konflikt des Erhaltungsprinzips des Lebens mit dem Trieb seiner Vernichtung bezeichnet. Aber auch diese allzu philosophische Definition behagt uns nicht, wegen ihres indifferenten, für das Wohl und Wehe des Menschengeschlechts sich allzu wenig interessierenden Charakters. Wir verlangen instinktiv, aus dem naturgegebenen Sehnsuchtsgefühl der Menschenhoffnung heraus eine Definition des Leidens als eines Entwicklungsprozesses zur aufsteigenden Linie, mit einem Anflug von froher Aussicht, von Zukunftswerten und beseligenden Möglichkeiten! Und sonderbar! Meine von dem genialen Hygieniker Prags, Ferdinand Hueppe akzeptierte, an sich kühle und schlichte Definition der Krankheit – »sie ist eine Antwort der Abwehr auf Schädlichkeiten, für die der Mensch (und alle Lebewesen) nicht oder noch nicht eingestellt ist« – enthält diese frohe Botschaft und Zukunftshoffnung, die der Leidende und der Arzt so wohl vertragen können.

Sehen wir uns daher diese Reaktion des Menschen auf Schädlichkeiten einmal näher an. In der Tat, eingespannt als ein einzelnes, wohl von vornherein etwas begünstigtes Glied in der Kette der Lebenserscheinungen, hätte der Mensch im Kampfe mit Natur und Lebenskonkurrenten es ja ohne weitgehende Einstellung gar nicht »so herrlich weit« bringen können.

Wir können es uns, ausgestattet mit den befruchtenden Methoden Kant-Darwinscher Denkformen, gar nicht anders vorstellen, als daß alle unsere sicheren Bestände: die Konstanz der Körperwärme, das Gleichgewicht zwischen Nahrungs- und Arbeitsleistung, unser Herz- und Atmungsrhythmus, die Chemie unserer Verdauung im Kampfe mit unserem Milieu erworben sind, ja wir müssen zugeben, daß der eigentliche Schöpfer unserer lebenschützenden Handwerkszeugs vom Beil bis zur Büchse – unser Denkapparat – ein modifiziertes Tastorgan ist, das uns orientiert und von der ausweichenden, respektive sich anpassenden Ganglienzelle emporgereift ist zu dem Nervenwunder eines Erfindergehirns oder dem eines Philosophen. Wo die Natur der geformten Materie es ihr versagte, sich den Schädigungen der Umwelt entsprechend umzubilden, sich anzupassen, da gab die konstruktive Idee der geistigen Welt indirekte Kampfmittel – Kleidung, Ortswechsel, Waffe, Schutzwehren, menschliche Gemeinschaften, Trutzverbände – an die Hand. Alles das konnte nicht erreicht werden ohne die direkte (körperliche) oder indirekte (geistige) Einstellung des Menschen auf die bedrohenden Gefahren. Freilich nicht ohne Myriaden von Opfern von Einzelwesen zugunsten der Gesamtheit der Überlebenden und Nachgeborenen. Wenn ein nach vielen Tausenden zählendes Heer der Wanderschnecken einen Bach überschreiten will, so kann das nur geschehen, indem Tausende von Einzelschnecken sich ertränken und durch ihre kleinen Heldenleiber den paar Überlebenden eine Brücke bauen, über die sie siegreich das Leben ihres Stammes an ein Jenseitsufer tragen. Das ist das Bild der auch mit Opfern und durch sie siegenden Menschheit! So ist es nicht nur im Kampf mit den Elementen der Natur, bei Schiffsuntergängen und aeronautischen Katastrophen, wobei die notwendigen Anpassungen an die Gefahren der Umwelt ebenfalls mit unzähligen Opfern erkauft werden, so ist es auch im Kampf mit den kleinen, unsichtbaren Feinden des Lebens, den bekannten sowohl wie den unbekannten, den Seuchen, Epidemien und endemischen Würgengeln.

Wir sehen alle diese Krankheiten in der Geschichte mit einem Rhythmus, einer Wellenkurve, einem Auf und Ab behaftet, die gar keine andere Erklärung zulassen als die eines deutlichen Opfertodes vieler einzelner zum Schutze der Übrigbleibenden. Alle Epidemien erschöpfen sich, wenn die Disponierten durch Erkrankung zu Geschützten geworden sind und so der Seuche kein Angriffsmaterial mehr gegenübersteht. So ist jeder einzelne Leidende ein Schutzwall für seine Artgenossen und jeder Sterbende für sich ein Christus, der für seine Brüder stirbt. So wird jede Krankheit, die heute noch Tausende dahinrafft, für die Zukunft glücklicheren Erben ein unbekanntes Etwas sein: so starben für uns die Pest, die Lepra, der schwarze Tod, der englische Schweiß, so wird für spätere Geschlechter die Lues, die Tuberkulose, die Diphtherie, der Krebs nicht mehr vorhanden sein. Welche Masken alsdann der ewig waltende Sensenmann umnehmen wird, um sich in den Tanzsaal des Lebens einzuschleichen, können wir nicht ahnen.


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