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Toleranz

Der eben besprochenen Überempfindlichkeit gegen Gifte, die teils angeboren, teils erworben sein kann, steht die langsame Gewöhnung des Leibes an bestimmte Giftreize gegenüber, der gesteigerten Intoleranz eine abnorme Toleranz. Während dort eine geheimnisvolle Verwandlung gemeinhin ganz harmloser Nährstoffe (Erdbeeren, Krebse usw.) in lebensfeindliche Eindringlinge statthat, wird bei der erworbenen Toleranz einem echten Giftkörper Schwert und Wehr entrissen durch einen nicht minder schwerverständlichen Umbildungsprozeß. Wir alle kennen die Mär von König Mithridates, der sich in wahrscheinlich sehr mühevollem Training gegen jegliches Giftattentat durch Gewöhnung an alle damals gangbaren Gifte gefeit hatte. Ist es auch ein Märchen, so liegt ihm doch ein guter Kern zugrunde. Wir wissen alle aus den Jahren unseres Kampfes für die Ehre, »als ein Erwachsener« estimiert zu werden, wie nötig es ist, Bier, Branntwein und Tabak gegenüber von diesen Schutzmechanismen der Natur Gebrauch zu machen, und wie schnell sich etwas zum Genuß wandelt, was eben noch Ekel erregte. Aber auch hier stehen wir dem Verständnis des Vorganges in unserem Innern noch ziemlich ratlos gegenüber und sind auf Vermutungen angewiesen. Ein chemisch und organisch durchaus nicht harmloser Körper wird anfangs durchaus ohne Genuß, ja oft mit Widerstreben, sei es durch Suggestion der Mode und des allgemeinen Mißbrauchs oder durch den Machtbefehl eines Arztes, von einem Neuling genommen, und dieser Vorgang wiederholt sich. Dann wandelt sich allmählich die Wirkung: die Unlust wird zur Lust, die stimmungsherabdrückende Beklemmung wird zur lebensgefühlsteigernden Befreiung der Seele, an Stelle der Ohnmacht tritt der Rausch mit himmelstürmendem Tatendrang. Doch die Genußgifte sind wie Teufel, sie fordern durch Pakt und Siegel Leib und Seele. Denn mit ihren Gewährungen von gesteigertem Lust-, Lebens- und Ichgefühl schlagen sie die Tyrannenkrallen immer tiefer in unseren Willen. Mit der Häufigkeit der Genüsse hält die Abhängigkeit von ihnen gleichen Schritt. Genußmittel werden also von Mal zu Mal bis zu einer bestimmten Grenze leichter vertragen, aber halten sich schadlos an dem Raub der freien Selbstbestimmung. Sie hinterlassen dämonische Erinnerungen, die anfangs locken, später gebieterisch befehlen und schließlich gleich Furien und Erinnyen in der Seele toben und nach dem geliebten Teufelsfraß und -trank wie nach Höllenfutter brüllen. Wo Zwang oder heroischer Wille die Gitter wirksam sperrt, ist oft Delirium, Wahnsinn, Zusammenbruch und völlige Erschöpfung die Folge.

Wie haben wir uns diese Erscheinungen vorzustellen, deren rhythmischer Ablauf fast stets der wesensgleiche ist, ob es sich nun um unsere gewissermaßen salonfähigen Genußmittel Bier, Wein, Nikotin, Kaffee oder um die noch geheimeren Gelüste auf Kokain, Morphium, Opium, Haschisch usw. handelt? Ich will dabei vorweg bemerken, daß ich keineswegs den sogenannten »harmloseren« Genußmitteln ihren Wert absprechen will, soweit sie innerhalb der Grenzen der Erhöhung der Daseinsfreude genommen werden unter Ausschluß der Auslösung allerhand sozialfeindlicher Hemmungslosigkeiten. Wer diese Grenze bei sich nicht zu respektieren weiß, wird es immer einmal bitter zu bereuen haben, Bier- oder Weingenuß für harmlos zu erklären. Die Frage der Abstinenz ist nicht generell zu lösen. Es gibt Naturen, für die der Alkohol ein ganz schweres Gift ist. Für andere ist er ein schlechterdings unentbehrlicher Genuß. Aber wir wollen hier von der mehr physiologischen Seite der Aufnahme und Wechselwirkung der Gifte sprechen. Es wäre schön, wenn die Theorie von der Bildung von Gegengiften im Blutserum sich realisieren ließe. Wir würden dem Säufer, dem Morphinisten, dem Ätherfritzen nur alkohol-, morphin-, ätherbindende »Complemente« einzuspritzen brauchen, und er würde in den Zustand des Ekels vor dem Genußgift zurückversetzt werden, wie er ihn im Stadium des ersten Rauchversuchs durchgekostet hat. Diese Versuche sind tatsächlich gemacht, sogenannte Antialkoholsera von künstlich alkoholisierten Tieren zu gewinnen – mit völlig negativem Resultat. Daraus folgt die Notwendigkeit, für diese Art Gifte einen anderen Vorgang als den der Erzeugung von Gegengiftkörpern im Leibe zu vermuten. Denn unsere heutige Giftlehre sagt, alle organischen Gifte, Toxine, Alkaloide, Ptomaine, erzeugen im Serum Antikörper, welche die Giftmoleküle binden und so zu harmlosen und abbaubaren Verbindungen umgruppieren, wobei unter Abbau immer die letzte Auflösung in Wasser, Harn und Kohlensäure zu verstehen ist. Alkohol, Morphium, Nikotin, Koffein sind aber alles Gifte, die ebenfalls von lebenden Wesen stammen. Diese Gifte erzeugen aber kaum, wie z.B. das Schlangengift wahrscheinlich, Antigifte, sondern ihre Bindungsweise ist eine ganz andere, die das Geheimnis aufhellt, warum erstens man sich an Gifte gewöhnt, zweitens warum man immer größere Dosen gebraucht, um die verlangte Wirkung zu erzielen, drittens warum ein Bedürfnis nach gewohnheitsmäßig eingenommenen Giften entsteht.

Da die Gewöhnung eine bestimmte Frist erfordert zu ihrer Ausbildung, so geht man wohl nicht fehl mit der Annahme, daß diese Frist auf ein organisches Wachstum hinweist. Es wird etwas gesiedet, gebraut, gebildet, dessen Aufkeimen den Schutz verleiht. Die Einführung eines Giftstoffes, d.h. eines zum Stoffwechsel nicht im Anpassungsverhältnis stehenden Naturprodukts, ganz gleich, ob es durch den Magen oder durch die Haut ins Getriebe des Leibes gelangt, muß einen Reizzustand hervorrufen. Reize werden außer der augenblicklichen Auslösung erhöhter Nerven- und Blutgefäßtätigkeit durch plastische Reaktionen der Gewebe beantwortet. Die Stelle des Eintritts des Giftreizes wird zur Stätte eines erhöhten Widerstandes, erschwerter Passage, einer Staudammbildung. Dazu hat die Natur nur das Mittel der Gewebsverdichtung. Wo Gifte eindringen, werden die aufsaugenden Filter fester, dichter, engmaschiger auf dem Wege der Entzündung. Die Maschen der Lymphdrüsen, dieser Fangschleusen der schwimmenden, bohrenden Eindringlinge ins Blut, werden schließlich unter wiederholtem Anprall der Giftmoleküle so eng, daß diese aufgehalten, verbarrikadiert, vom Blutstrom abgeschnitten werden. So kommt es, daß zwar die ersten Dosen frei zum Gehirn- und zum Nervenapparat gelangen, daß aber von den folgenden immer nur ein kleiner Bruchteil in die Zirkulation gelangt. Die wiederholten Anspannungen der feinen Nervensaiten zu extremen Klängen völlig neuer Empfindungen lassen in der Erinnerung der Nervenzentren etwas zurück wie nach Tatendurst und zitternder Begier. Für alles einmal exzessiv Bewegte gilt der Satz des Verlangens nach einer Wiederholung. Es ist fast, als kennte die von einer Künstlerhand einst gespielte, liegengelassene Geige eine Art Sehnsucht nach der Hand, die sie gestreichelt, die verstummte Glocke sehnt sich nach den metallischen Erweckern ihrer ehernen Schreie, alles einmal schön Geschwungene oder Erregte stampft nach Aufschwung und Rhythmenrausch, nicht weniger wie ein Renner bei allzulanger Ruhe. Ich glaube an eine Art Gedächtnis selbst der Materie – schon alte Geigen, alte Orgeln legen diesen Glauben nah – wieviel mehr sollte nicht die Ganglienzelle Gedächtnis und damit Sehnsucht besitzen! Die zitternde Wallung, die ein rhythmensteigerndes Gift ihr beigebracht, läßt auch das Verlangen nachklingen, immer wogender, immer tiefer bebend sich zu betätigen. Alles zum Leben Bestimmte zittert nach Funktion und bebt der Erreichung ihres höchsten Auftriebes unaufhaltsam entgegen. So steigert jede neue Gifterregung das Verlangen nach einem Mehr- und Höhergepeitschtwerden, dessen seelischen Zusammenhang die dämonische Gier auslöst.

Wenn nun eben die gleichen Dosen zum Teil in dem Maschenwerk der Stauwerke des Magens oder der Haut abgefangen werden, so erklärt sich leicht, daß immer größere Dosen gegeben werden müssen, nicht weil das Gehirn, die Seele sich an die Steigerung gewöhnt hat, sondern weil immer weniger durch die dichten Schwemmporen der gereizten Lymphfilter hindurchgelassen wird, so daß die sehnsuchtnachzitternden Ganglien nach immer höheren Dosen verlangen, um in die erhoffte rhythmische Steigerung zu geraten.

Ich selbst habe durch Tierexperimente feststellen können, daß ein Tier, dem man Gift unter die Haut spritzt, das anfangs schwere Erscheinungen hervorruft (Hunde mit Alkohol, Nikotin, Morphin), leicht an immer höher gesteigerte Dosen gewöhnt werden kann. Es tritt wie bei König Mithridates schließlich eine Art Immunität ein. Diese Immunität bezieht sich aber nur auf den Hautlymphfilter. Denn legt man den »geschützten« Tieren die Hirnhaut frei, so wirkt wieder, wie im Anfang, die kleinste Dosis giftig. Mein Vater gab einem notorischen Spritzmorphinisten im Vertrauen auf seine Gewöhnung ein ziemlich kräftiges Morphiumzäpfchen. Siehe da! Der Patient war nur von der Haut, nicht vom Darm aus immunisiert: er bekam einen schweren Kollaps. Von Pasteur durch die Haut immunisierte Hammel waren in der Tat von der Haut her immun, als Koch aber bei denselben Tieren Milzbranddosen verfütterte, wurden sie alle milzbrandkrank. Was beweist das? Es beweist, daß es neben der allgemeinen Immunität unbedingt auch so etwas wie eine lokale Giftfestigkeit geben muß, die niemals den ganzen Körper, sondern nur bestimmte Systeme schützt.


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