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V.

Wie das Kind Merlin die Hinrichtung seiner Mutter verhinderte

Als nun der Tag anbrach, an dem sie hingerichtet werden sollte, begaben die Richter sich an den Turm und ließen die Mutter mit den beiden Frauen zu sich herabkommen. Die Mutter trug das Kind auf ihrem Arm. In diesem Augenblick eilte der fromme Einsiedler herzu. Als die Richter ihn gewahr wurden, sagten sie der Jungfrau, sie solle sich zum Tod vorbereiten, denn sie müsse sterben. »Erlaubt«, sagte sie, »daß ich mit diesem frommen Mann in Geheim spreche.« Die Richter erlaubten es ihr, und sie ging mit ihm in ein besonderes Zimmer, das Kind aber ließ sie draußen bei den Richtern. Sie versuchten allerlei, um es zum Sprechen zu bewegen; aber es kümmerte sich nicht um sie und sprach kein Wort.

Als nun die Mutter dem frommen Einsiedler gebeichtet und unter heißen Tränen mit ihm gebetet hatte, ging er wieder hinaus zu den Richtern; sie aber zog ihre Kleider aus und hüllte sich bloß in einen Mantel, weil sie glaubte, zum Tode geführt zu werden. Darauf ging sie wieder hinaus; als sie die Tür öffnete, lief das Kind auf sie zu, sie nahm es auf den Arm und trat zu den Richtern. »Gute Frau«, sagten die Richter, »jetzt gesteht, wer Vater Eures Kindes ist, und gedenkt nicht länger zu leugnen oder uns etwas verbergen zu wollen.« Darauf antwortete sie: »Gestrenge Herren, ich weiß sehr wohl, daß ich schon jetzt zur Todesstrafe verurteilt bin, und so möge Gott sich meiner nicht erbarmen, noch mir Gnade erzeigen, wenn es nicht die Wahrheit ist, daß ich niemals einem Mann beigewohnt habe noch in irgend einer Gemeinschaft mit irgend einem gelebt habe.« – »Ihr seid zum Tode verdammt«, riefen hierauf die Richter, »denn nach dem Zeugnis aller anderen Frauen ist das unmöglich, und es ist weder Sinn noch Wahrheit in Eurer Aussage.«

Da sprang das Kind Merlin seiner erschrockenen Mutter vom Arm und sagte: »Fürchte Dich nicht, Mutter, Du sollst nicht sterben, so lange ich lebe.« Dann wandte er sich zum obersten Richter. »Du hast sie verurteilt, lebendig verbrannt zu werden, aber davor werde ich sie behüten, denn sie hat solches nicht verdient.

Geschähe allen den Männern und Frauen hier, die heimlich sündigten und mit andern als mit ihren Ehemännern und ihren Ehefrauen lebten, Recht, so würden sie von beiden Teilen verbrannt werden müssen. Ich weiß ihre heimlichen Taten so gut als sie sie selber wissen; wollte ich sie nennen, so müßten sie sich in Eurer Gegenwart all dessen schuldig bekennen, wessen Ihr meine Mutter beschuldigt, die in Wahrheit niemals schuldig war. Dieser fromme Mann hier ist auch so davon überzeugt, daß er vor Gott ihre Schuld auf sich lud.«

»Ja«, sagte der Einsiedler, »es ist wahr, sie hat mir gebeichtet, und ich habe sie ihrer Sünde ledig gesprochen. Sie selber hat Euch gestanden, wie sie im Schlafe und ohne Schuld betrogen worden. Da vorher noch nie ein solches Wunder ist gehört worden, so wird auch mir solches zu glauben sehr schwer.«

»Ihr habt«, sagte das Kind zum Einsiedler, »die Stunde und den Tag aufgeschrieben, an welchem sie zu Euch kam, und Euch ihren Fall beichtete, jetzt dürft Ihr nur nachsehen, ob es mit dem, was sie jetzt spricht, übereintrifft.« – »Du sprichst die Wahrheit«, antwortete der Einsiedler, »Du weißt auch wahrlich mehr als wir andern alle.« Hierauf sagten die beiden Frauen, die mit ihr im Turm gesessen hatten, die Stunde und den Tag aus, als sie, wie vorgegeben, betrogen worden sei, und diese stimmte genau mit der zusammen, die der Einsiedler aufgeschrieben hatte. »Dies alles spricht sie nicht los«, sagte der Richter; »sie muß den Vater des Kindes nennen, damit wir ihn bestrafen können.«

Da rief das Kind Merlin ganz erzürnt und heftig: »Herr, ich kenne meinen Vater besser als Ihr den Eurigen; Ihr wißt nicht, wer Euer Vater ist, aber Eure Mutter weiß genauer, wer Euch gezeugt hat, als meine Mutter weiß, wer mich erzeugte.« Da rief der Richter ergrimmt: »Weißt Du etwas über meine Mutter zu sagen, so sprich!« – »Ja«, antwortete das Kind, »wenn Ihr über Eure Mutter ebenso Gericht halten wollt, denn sie hat viel eher den Tod verdient als meine Mutter! Wenn ich Euch etwas über Eure Mutter sagen werde, das sie eingesteht, werdet Ihr alsdenn meine Mutter lossprechen? Denn ich sage Euch noch einmal, sie ist unschuldig und hat den Tod nicht verdient; sie kennt wirklich den, der mich erzeugt hat, nicht.« Der Richter, voll Zorn, seine Mutter vor allem Volke so geschmäht zu sehen, sagte: »Kannst Du das tun, wessen Du Dich rühmst, so soll Deine Mutter frei sein; aber wisse, wenn Du etwas sagst über meine Mutter, das nicht die Wahrheit ist, und sie es nicht bezeugt, so wirst Du samt Deiner Mutter verbrannt.« – »So sende hin, und laß Deine Mutter herholen«, sagte Merlin.

Der Richter sandte hin; Mutter und Kind wurden wieder ins Gefängnis geführt und genau bewacht, nach fünf Tagen sollten sie wieder vor Gericht erscheinen; der Richter selber war unter den Wächtern. Oft wurde während dieser Zeit das Kind von seiner Mutter wie auch von andern ausgefragt, und versucht, es zum Sprechen zu bringen; aber umsonst, es redete nicht ein einziges Wort bis zum fünften Tage, als die Mutter des Richters anlangte. »Hier ist nun meine Mutter«, sagte er zum Knaben Merlin, »von der Du so vieles sagtest, jetzt komm her und sprich; sie wird Dir auf alles, was Du willst, antworten.« Sogleich antwortete Merlin: »Es ist nicht vernünftig von Euch, daß Ihr nicht zuerst mit Eurer Mutter in Geheim redet, und sie selber befragt. Geht und schließt Euch erst mit ihr ein, mit Euren vertrautesten Räten: so wie auch ich die Räte meiner Mutter befragen will, diese sind keine andern als der allwissende Gott und der fromme Einsiedler.«

Alle Anwesende erschraken, als sie das Kind mit so viel Weisheit reden hörten, und der Richter sah wohl ein, daß es recht geredet hatte. Darauf fragte das Kind noch einmal die Richter und alle Anwesende: »Wenn ich meine Mutter diesmal von der gedrohten Strafe und Schande errette, wird sie dann auch auf immer frei sein, und keiner ihr weiter etwas anhaben?« – »Sie soll frei ausgehen«, antworteten alle, »und in Ruhe bleiben.« Darauf entfernte sich der Richter mit seiner Mutter, die Räte und Anverwandte folgten ihm, und sie blieben die ganze Nacht hindurch in ein besonderes Zimmer eingeschlossen.

Den andern Morgen ließ der Richter den Merlin insgeheim zu sich kommen. »Was wollt Ihr von mir?« fragte Merlin. »Höre«, sagte der Richter, »wenn Du eingestehen willst, daß Du nichts von meiner Mutter zu sagen weißt, so soll Deine Mutter frei sein; doch mir insgeheim mußt Du alles erzählen, was Du weißt.« – »Hat Deine Mutter nichts verbrochen«, sagte Merlin, »so werde ich nichts von ihr zu sagen haben, denn ich will weder meine Mutter noch sonst jemand gegen Recht und Gerechtigkeit verteidigen. Meine Mutter hat nie die Strafe verdient, die ihr zuerkannt worden ist von Euch, ich will nichts, als daß ihr Recht geschehe. Folgt mir, laßt sie frei, und wir wollen niemals mehr von dieser Sache reden; es soll dann von Eurer Mutter gar nicht mehr die Rede sein.« – »So kommst Du nicht davon«, sagte der Richter, »Du mußt uns noch ganz andere Dinge entdecken, wenn Du Deine Mutter befreien willst; und wir sind hier dazu versammelt, sie von Dir zu vernehmen.« Da antwortete das Kind und sprach: »Ich sage Euch, meine Mutter weiß nicht, wer mich erzeugte, doch weiß ich es, und kenne meinen Vater sehr wohl. Ihr aber kennt nicht den, der Euch erzeugte, obgleich Eure Mutter ihn sehr wohl kennt. Wenn sie die Wahrheit reden wollte, so könnte sie Euch sagen, wessen Sohn Ihr eigentlich seid; meine Mutter aber kann Euch nicht sagen, wer mich erzeugte, denn sie weiß es nicht.«

»Werte Mutter«, sagte der Richter, indem er sich zu ihr wandte, »bin ich denn nicht der Sohn Eures ehrenwerten Gemahls und Herrn?« – »O Gott, mein lieber Sohn!« antwortete die Mutter, »wessen Sohn könntest Du wohl sein, als der meines teuren Eheherrn, der gestorben ist, Gott sei seiner Seele gnädig.« Hierauf sagte Merlin: »Ich werde mich sicher nur an die Wahrheit halten; wird Euer Sohn mich und meine Mutter losgeben, so sage ich nicht ein Wort, will er aber nicht, so werde ich alles entdecken, sowohl was vorhergegangen, als was nachher geschehen.« – »Ich will nun«, rief der Richter, »daß Du alles sagest, was Du über diese Sache weißt.« – »Besinne Dich wohl«, sagte Merlin, »was Du tust, denn Dein Vater, den ich Dir nennen werde, lebt noch und soll meine Aussage selber bezeugen.« Da die Räte ihn so reden hörten, riefen sie Wunder und machten ein Kreuz über sich. »Nun, Dame«, sagte Merlin zur Mutter des Richters, »bekennt Eurem Sohne die Wahrheit und sagt ihm, wer sein Vater ist, denn ich weiß, wer er ist, und wo er anzutreffen ist.«

»Du Satan, Teufel aus der Hölle«, fing die Dame an, »habe ich es Dir nicht schon einmal gesagt?« – »Ihr wißt es gar wohl, daß er nicht der Sohn des Mannes ist, den er bis jetzt für seinen Vater gehalten.« – »Nun, wessen Sohn ist er denn?« fragte die Dame ganz bestürzt. »Er ist Eures Beichtvaters Sohn, und das wißt Ihr selber recht wohl, denn Ihr selber sagtet ihm, nachdem er das erstemal bei Euch gewesen, Ihr fürchtetet schwanger von ihm zu sein. Er sagte darauf, es könnte nicht sein, schrieb sich aber den Tag und die Stunde auf, in welcher er Euch beigewohnt hatte, damit Ihr ihn nicht betrügen und mit andern zu tun haben könntet, denn damals war Euer Herr und Gemahl unzufrieden mit Euch, und Ihr lebtet lange Zeit in Zwist mit ihm. Als Ihr Euch aber schwanger fühltet, eiltet Ihr, Euch mit ihm zu versöhnen, wozu der Beichtvater Euch verhalf. Ist es nicht so? sagt nein, wenn Ihr dürft; denn wenn Ihr es nicht gestehet, so will ich es den Beichtvater selber gestehen lassen.«

Der Richter geriet in großen Zorn, als er Merlin so mit seiner Mutter reden hörte, und fragte sie, ob es wahr sei. Die Mutter war ganz erschrocken, und sagte: »O Gott, willst Du, mein lieber Sohn, diesem Erbfeind glauben?« – »Werdet Ihr nicht sogleich die Wahrheit eingestehen«, sagte Merlin, »so will ich noch andre Dinge sagen, die Euch auch bekannt sind.« Die Dame schwieg, und Merlin fing wieder an: »Nachdem Ihr Euch mit Hilfe des Beichtvaters mit Eurem Eheherrn ausgesöhnt hattet, so daß er wieder mit Euch lebte und Euren Sohn, mit dem Ihr schwanger wart, für den seinigen halten konnte – und auch wirklich dafür hielt, so wie alle die andern Personen, die Euch kannten –, habt Ihr das Verständnis mit dem Beichtvater und Euer Leben mit ihm fortgeführt, und noch jetzt, noch täglich lebt Ihr mit ihm in Vertraulichkeit. Den Morgen eben, ehe Ihr hierher reistet, hat er Euch umarmt, hat Euch eine gute Strecke weit begleitet, und beim Abschied sagte er lachend: ›Gnädige Frau, tut ja alles, was Euer Sohn von Euch begehrt und was er wünscht.‹ Denn er weiß wohl, daß er für seinen eignen Sohn redete.«

Die Dame erschrak sehr, als das Kind dies erzählte, denn sie fürchtete sich, nun statt der andern verurteilt zu werden. Da redete der Richter sie an und sagte: »Geliebte Mutter, wer auch mein Vater sein mag, so bleibe ich doch immer Euer Sohn, und werde Euch als meine Mutter behandeln.« – »So erbarme Dich meiner um Gotteswillen, mein lieber Sohn«, rief die Dame, »denn ich kann Dir die Wahrheit nicht länger verbergen, dieses Kind weiß alles, und es hat die lautere Wahrheit erzählt.« »Er hat es mir wohl gesagt,« sagte der Richter, »daß er meinen Vater besser kenne als ich; ich kann also von Rechtswegen seine Mutter nicht verurteilen, weil ich die meinige nicht bestrafe. Ich bitte Dich, Merlin«, fuhr er fort, »im Namen Gottes, und um Deiner und Deiner Mutter Ehre willen, nenne mir Deinen Vater, damit ich Deine Mutter vor dem Volke rechtfertigen kann.«

»Gerne will ich ihn Dir entdecken«, antwortete Merlin, »viel lieber freiwillig als gezwungen. So wisse denn, ich bin der Sohn des Teufels, der meine Mutter durch List hinterging, und sie, während sie schlief, bezwang, so daß sie von ihm mit mir schwanger wurde. Wisse auch, daß ich seine Macht besitze, sein Gedächtnis und seinen Geist, wodurch mir denn alle geschehenen Dinge und alles was gesprochen ward, bekannt ist, daher weiß ich auch alles das, was Deine Mutter getan hat. Weil aber meine Mutter gleich gebeichtet, mit Leib und Seele Buße getan und die Absolution ihrer Sünde von dem frommen Einsiedler empfangen hatte, hat Gott um meiner Mutter willen mir die Gabe verliehen, daß ich die Zukunft und die Gegenwart weiß, so daß ich mehr Macht und höhere Gaben besitze, als sonst die Menschen von der Natur empfangen. Auch wirst Du über ein Kurzes von allem, was ich sagte, überzeugt werden.« – »Wie das?« fragte der Richter. Da nahm ihn Merlin beiseite und sagte ihm heimlich: »Deine Mutter wird dem, der Dich erzeugte, alles wieder erzählen, was hier vorgegangen; drauf wird er aus Furcht vor Dir entfliehen, und der böse Geist, der noch immer viel Gewalt über ihn hat, wird ihn zu einem Fluß treiben, da wird er sich hineinstürzen und sich ertränken. Du wirst also erfahren, ob ich nicht alles Zukünftige weiß.« – »Wenn dies wirklich geschieht«, sagte der Richter, »sollst Du und Deine Mutter auf immer von aller Verantwortung frei sein.«

Hierauf kamen Merlin, der Richter, seine Mutter und alle seine Räte heraus zum Volke; und der Richter sprach laut, und vernehmlich, so daß ihn jeder verstehen konnte: »Hört mich, Ihr Männer und Mitbürger, ich hatte die Mutter des Knaben Merlin fälschlich und ohne Recht verurteilt; durch seine große Weisheit und Wissenschaft aber hat er mir die wahren Begebenheiten seiner Mutter entdeckt und sie dadurch von der Todesstrafe befreit. Wegen der Weisheit und der Schuldlosigkeit des Knaben habe ich seine Mutter freigesprochen; auch befehle ich hiermit, daß man die Mutter wie auch ihren Knaben auf immer in Frieden lasse, und verbiete bei harter Strafe einem jeden unter Euch, ihnen etwas zuleide zu tun oder sie zur Verantwortung zu ziehen; meiner Einsicht nach wird man niemals einen weisern Menschen als diesen sehen.« Das versammelte Volk rief einstimmig: »Gott sei Lob und Dank!« Denn die Mutter war beliebt beim ganzen Volke, und sie hatten sie wegen ihres Unglücks sehr beklagt.

Der Richter schickte hierauf seine Mutter wieder zurück und zwei Frauen zu ihrer Begleitung, denen er heimlich Befehl gegeben, auf alles genau achtzugeben und ihm wieder zu sagen, was bei seiner Mutter geschehen würde. Sobald sie bei sich angelangt war, ließ sie den Beichtvater holen, und erzählte ihm Wort für Wort, was sich bei ihrem Sohne zugetragen, und alles was Merlin gesprochen hatte. Darüber entsetzte sich der Beichtvater gewaltig und konnte kein Wort hervorbringen. Er ging auch sogleich, ohne Abschied von ihr zu nehmen, aus der Stadt hinaus und gerade zum Fluß hin, denn er dachte, geblendet vom Satan und verzweifelnd, der Richter würde ihn gefangennehmen und schimpflich hinrichten lassen. Er zog also vor, sich selber den Tod zu geben, stürzte sich in den Fluß und ertrank.

Als der Richter dies von den beiden Frauen erfuhr, war er erstaunt, ging sogleich zu Merlin und sagte ihm, er habe wahr gesagt. »Ich lüge niemals«, erwiderte ihm Merlin, »aber ich bitte Dich, gehe zu dem frommen Einsiedler, Meister Blasius, und teile ihm diese Nachricht mit.« Der Richter tat es sogleich, worauf Merlin, seine Mutter und ihr Beichtvater Meister Blasius sich in Frieden zurück begaben zu ihrer Behausung.


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