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XI.

Die erste Zeit litt Renate bitter unter ihrer Umgebung. Das Variété »Miramare« war ein langgestreckter viereckiger Raum mit schmutzigen Stühlen und Tischen und mangelhaftester Ventilation. Ein Gestank von Fäulnis und Spirituosen, von Knoblauch, Zwiebeln, ranzigem Fett, von Schweiß und Menschenausdünstung, von schimmliger Polenta und kaltem Zigarettenrauch schlug auf sie ein wie ein übelriechendes feuchtes Tuch, wenn sie die Bühne betrat. Noch entsetzlicher war das Publikum! Der Auswurf der Millionenstadt, der sich in dem Bassin des Hafens sammelte, suchte hier sein nächtliches Vergnügen. Matrosen, Steuermänner und dann und wann der Kapitän eines kleinen Fahrzeugs bildeten die Elite.

Es war ein gefährliches Auditorium und eine bange Angst für die Artisten. Zitternd in bösen Ahnungen traten sie vor die Rampe. Nur wenige fanden Gnade. Die meisten waren kläglich handelnde Personen inmitten einer wildbewegten dramatischen Aktion. Sang eine Soubrette mit ausgedienter Stimme ihre überlebten Lieder, dann brüllte alles im Chore mit, überschrie sie, überbot sie an schmelzenden Grimassen, bis die Nummer in wüstem Gelächter ertrank. Erzählte ein Komiker seine abgestandenen Witze, sprang einer auf und rief:

»Mensch, den Witz hat ja schon Kolumbus seinen Matrosen erzählt, als sie ihn in die See schmeißen wollten!«

Alles wieherte und der Komiker kam nicht mehr zu Worte.

Die größte Achtung genossen noch gymnastische Leistungen.

Aber wehe den Parterreakrobaten, wenn ihnen ein Salto, ein Griff, eine Sensation mißlang. Dann war die Luft erfüllt mit schmerzenden Gegenständen, die unbarmherzig auf die Bühne niedersausten.

Renate sank das Herz, als sie am ersten Abende diese peinliche Mitwirkung des Publikums erlebte. Sie stand in der Kulisse. Sie kam erst nach der Pause. Eine feige Furcht kroch kalt an ihren Gliedern empor. Mit bebenden Knien stand sie auf der Weltkugel, erwartete sie das Zeichen ihres Auftrittes.

Doch als der Vorhang sich teilte und sie als »Himmlische Liebe« auf die Bühne rollte, schwieg das dumpfe Summen im Saale. Es war wie abgeschnitten. Fühlbare Stille trat ein. Die Leute dort unten begriffen nicht die Höhe ihrer Kunst, empfanden aber doch triebhaft das Ungewöhnliche ihrer Leistung.

Sie flatterte herein, nur mit den Zehenspitzen auf der Kugel stehend, die Arme weit ausgebreitet, die lang herabhängenden Ärmel ihres weiten Gewandes leise bewegend wie Flügel. Ihr Gesicht war verklärt. Es war im Grunde kein Tanz. Mehr eine Pantomime, ein stummes Spiel ihres ganzen Körpers. Die erstaunliche Kraft ihrer Mimik, das angeborene Gefühl für Rhythmik, die vollkommenste Beherrschung ihrer Glieder meisterte sofort dieses tumultuöse Auditorium, wie es einst das Publikum in Berlin gewonnen und begeistert hatte.

Sie schwebte über die Bühne hin. Die Weltkugel unter ihren Füßen lebte. Sie tanzte nicht nur mit den Füßen. Jede Muskel tanzte. Sie war verwandelt. Ihr Gesicht strahlte wie erleuchtet von einer inneren Flamme, schön, rein, kindlich. Ihre Bewegungen waren ganz langsam, voll von überirdischem Frieden, voll Lindheit, losgelöst von allem Leid der Erde. Das fremde, scheue Lächeln um ihren Mund bezwang jede Roheit. Sie bewegte sich zu einer leisen, innigen Musik, die fern klang, mystisch, nie gehört, wie Sphärenmusik. Ein genialer junger Musiker hatte sie ihr einst in Berlin geschrieben. Es war ihrer musikalischen Begabung eine Leichtigkeit gewesen, die Noten wiederherzustellen.

Als sie von der Bühne schwebte, blieb alles stumm. Nur hier und da puffte einer seinen Nachbar. Und wenn es ein Hamburger Junge war, dann brummte er leise:

»Dunnerlüchting, de Deern kann wat!«

Nach einem raschen Umzug rollte sie wieder als »Satan« herein. Völlig verändert. In einem roten, flammenden Kostüm. Zusammengeduckt sauste sie auf die Bühne. Das Gesicht – das Böse. Der Körper zusammengekauert wie ein schwarzer Gedanke. Dumpf dröhnte unter ihren tanzenden Sohlen die Kugel, wie eine Pauke des jüngsten Gerichtes. Sie streckte die Hände aus. Die Finger waren gespenstige Krallen.

Ein Rauschen rieselte durch den schmierigen Saal. Ein Entsetzen packte diese Männer und Weiber, die selber den Teufel im Leibe hatten. So grausig war es. Unheimlich – ganz hoch – schrie dazu die rasende Musik. Geisterhaft schwebte sie über die Bühne, wuchs immer mehr aus der gekrümmten Haltung empor, wurde immer größer, schien phantastisch riesenhaft zu werden. Ihre Augen waren Feuerbecken. Das Gesicht brutal, unerbittlich, grausam schön. Es war ein infernalischer Tanz.

Als sie diesmal abrollte, wagten schon einige zu klatschen. Aus dem Saal stieg ein dumpfes Murmeln auf. Die Frauen wischten sich mit den Händen den Schweiß von den Gesichtern. Die Männer griffen sich vag ins Haar.

Dann kam sie herein – ganz hell – ganz blau, einen Blumenkranz im Haare. Die »Fröhlichkeit« flatterte über die Erde. Ihr Gesicht lachte. Ihre Hände lachten. Ihr Körper lachte und tollte. Eine nervige Musik trieb sie. Es war wie ein Walzer. Die deutschen und englischen Jungen sahen plötzlich Frühling. Sahen Heimat. Sahen Blumen auf der Flur. Eine Leichtigkeit war im Saale, ein Lächeln vermenschlichte das gemeinste Gesicht. Die Mädchen begannen, sich in der Melodie zu wiegen. Und oben auf der Bühne schwang sich die Kugel im Kreise. Renate stand mit hochgehobenen Armen, liebreich, jung, Licht und Freude.

Während des Tanzes noch donnerte der Beifall los. An der Saaltür stand Pascalato mit einem widerlichen Schmunzeln um die wulstigen Lippen und rieb sich die schwammigen Hände. Er hatte es ja gewußt, das war eine Idee. Das war eine Sensation! Das war ein Fressen für die wilde Bande!

Der Scheinwerfer wechselte die Farbe. Ein grünes, unheilschwangeres Licht fiel auf die Bühne. Die Musik trommelte einen dumpfen Marsch.

Sie kam als »Krieg«.

In einem schwarzen, an ihrem Körper glatt herabfließenden Gewände, den Kopf von einer schwarzen Kapuze umrahmt, gegen die unheimlich bleich das weißgeschminkte Gesicht sich abhob. Ihre Füße stampften auf der dröhnenden Kugel den dumpfen Trauermarsch der Schlacht.

Unwiderstehlich rollte die Kugel heran. Eine unbeugsame finstere Gewalt war in ihrem Körper. In ihren Augen flackerte das Grauen des Mordes. Den Zuschauern ging der Atem schwer. Dann wandelte sich ihr Gesicht. Sie war nicht mehr der Kampf, sie ward zu seinen Opfern. Sie wurde zum Schmerze der Verwundeten, zur erstarrten Qual der Gefallenen. Mit wunderbarer technischer Schulung ihrer Glieder glitt sie mit den Füßen von der Kugel herab, lag über den rollenden Erdball hingestreckt, ein lebendiger Schmerz – erschütternd hingegossen über die weite Erde.

So rollte sie von der Bühne. Keine Hand klatschte. Diese lautlose Ergriffenheit war ihr größter Triumph.

Nun kam das letzte Bild. »Die irdische Liebe.« Sie war kaum bekleidet. Sie war Bacchantin. Jede ihrer Bewegungen war Lust. Ihre Haare wehten mänadisch. Ihre Augen glühten. Ihr Körper war Begehren und Hingabe. Und doch war jede Bewegung von einer Schönheit und einem Adel, daß trotz der Leidenschaft, die von der Tänzerin ausströmte und wie eine Flamme durch den Saal wehte, auch in dem Verrohtesten der Menschen dort unten keine niedrige Sinnlichkeit aufkam. Die Erotik war zu einer solch künstlerischen Höhe emporgetragen, daß sie alles Erdhafte verloren hatte.

Erst als Renate die Bühne verließ, wetterte der Orkan los. Immer wieder mußte sie herauskommen, immer wieder sich verneigen. In allen Sprachen der Welt machte sich die Begeisterung Luft.

Durch ein Spalier verkniffener, neidischer Gesichter der Kollegen ging Renate in ihre »Garderobe«, einen unsauberen, kleinen Verschlag. Sie riß das Gewand vom Körper, der vor Erregung und Ermattung, doch auch vor Freude und Befriedigung zitterte. Seit anderthalb Jahren hatte sie ihre Gewalt über ein Publikum nicht mehr erprobt. Sie hatte Rampenfieber gehabt, wie vor ihrem ersten Auftreten in Deutschland. Jetzt lag ein kleines sieghaftes Lächeln um ihren schönen Mund.

Da wurde die unverschließbare Tür der Bretterbude aufgerissen. Hastig ergriff sie ein Kleidungsstück, ihre Blöße zu bedecken. Pascalato trat ein.

»Was machen Sie da?« fuhr er sie an.

Sie blickte zu ihm auf, sprachlos vor Zorn.

»Ausziehen? Fortgehen? Wo denken Sie hin?!«

»Verlassen Sie sofort meine Garderobe!« rief sie empört.

»Papperlapapp!« machte er. »Hab schon ganz andere Weiber als Sie gesehen. Ganz andere. Sie sind nicht mein Geschmack. Wenn Sie auch ganz tüchtig sind. War recht nett. Aber nun fix, fix! Ziehen Sie das letzte Kostüm wieder an und dann in die Bar!«

»In die Bar?!«

»Ja, Bar. Wissen Sie nicht, was das ist?«

»Was soll ich dort?«

»Was sie dort soll?! Keine Psalmen singen. Animieren sollen Sie. Bißchen für's Geschäft sorgen. Die Herren Kavaliere wollen sich mit den Damen von der Bühne unterhalten. Sekt muß fließen! Oder glauben Sie, ich kann von dem Landwein leben, den die da drin saufen?!«

Mühsam brachte Renate hervor: »Ich soll –?«

»Natürlich sollen Sie! Oder sind Sie dafür etwa zu fein, he? Wie weit Sie nachher gehen, ist Ihre Sache. Das kümmert mich nicht. Aber jammern Sie mir dann nicht vor, die Gage sei zu klein.«

Renate hielt den Rock krampfhaft gegen die Brust gepreßt.

»Dazu bin ich nicht verpflichtet,« sagte sie schroff.

»Oho – ob Sie dazu verpflichtet sind!«

»Wieso?«

»Weil es schwarz auf weiß in Ihrem Kontrakte steht.«

Renate wurde unsicher. Sie hatte den Vertrag damals in der Freude der Rettung kaum gelesen, das Portugiesisch auch nur sehr unvollkommen verstanden.

» Das steht in meinem Vertrage?« fragte sie zögernd.

»Allerdings. Hätten Sie ihn eben besser durchlesen müssen. In § 6 haben Sie sich ausdrücklich verpflichtet, sich nach Ihrer Nummer den Gästen zu widmen.«

Sie schwieg; bezwang sich, ihrer Wallung nicht nachzugeben und diesem Menschen da den heimtückischen Vertrag vor die Füße zu werfen. Sie mußte leben. Sie nickte.

Da sagte Pascalato:

»Mädel, Sie werden doch nicht dumm sein? Wie viele, glauben Sie, haben von hier aus schon ihr Glück gemacht! Da kommt so ein Kerl mit einem dicken Portemonnaie, sieht Sie, verknallt sich, ruft Sie an seinen Tisch. Sie trinken ein paar Flaschen Sekt mit ihm und plötzlich sitzen Sie in einer herrlichen Villa auf dem Corcovado! Signorita, prudentia!!«

Damit wälzte er seinen Körper durch die enge Tür hinaus.

Renate ging in die Bar. Ließ sich umdrängen. Schlürfte den Sekt. Sie mußte ja Geld verdienen, um nach Deutschland zurückzukehren.

Das Heimweh wurde immer übermächtiger. Aber sie erkannte sehr bald, daß sie von ihrer kärglichen Gage keine Ersparnisse machen konnte. Sie ging zu einem Agenten und bat ihn, sich ihre Nummer anzusehen. Er kam. Dann stand er vor ihr und schüttelte den Kopf.

»Wie können Sie in dieser Spelunke tanzen?« fragte er fassungslos.

»Ich muß leben,« erwiderte sie.

Nach drei Tagen brachte er ihr Verträge. Der Trocadero in Rio, die ersten Variétés in Südamerika hatten auf seine enthusiastischen Berichte hin abgeschlossen. Sie lehnte ab. Trotz seines Drängens unterschrieb sie nur den Vertrag des Trocadero. Die Gage, die ihr dort ausbedungen war, würde ihr die Überfahrt ermöglichen.

»Leider müssen Sie die zwei Monate bei Pascalato aushalten,« belehrte sie der Agent, »wenn Sie kontraktbrüchig werden, kann kein anderes Theater in Südamerika Sie beschäftigen.«

Ergeben fügte sie sich in die Unabänderlichkeit.

Eines Abends stürzte sie von der Kugel.

Sie flatterte gerade als »Fröhlichkeit« über die Welt hin, da sah sie, unten in der ersten Reihe der Tische, – Walter Ortner. Eine Sturzwelle von Freude und Glück schwoll über sie hin, schwemmte sie von dem Erdball.

Da regte sich die Bestie in diesem Publikum. Die Mischlinge, die Caboclos, diese grausamsten Kreaturen auf Erden, begannen zu johlen, zu pfeifen, zu höhnen. Besonders die Weiber taten sich hervor. Die Europäer, die deutschen, englischen und amerikanischen Seeleute, sprangen auf, traten ritterlich ein für die gestürzte Frau. Fäuste reckten sich, Drohungen schwirrten durch den Saal.

»Wollt Ihr schweigen, Ihr Makagobrut! Ruhe, da, Ihr verfluchten Cholos! Ich schlag dir die Zähne ein, du Hund von einem Caboclo!«

Ein wildes Handgemenge kriselte. Da hatte Renate sich aufgerafft, stand wieder auf der Erdkugel und flog mit ausgebreiteten Armen, den Mund zu einem gefrorenen Lächeln verzerrt, über die Bühne. Die Sohlen, mit denen sie sich an die Wölbung des Holzes klammerte, gaben ihr kaum Halt. So bebte sie. Ihre Knie schlugen gegen das leichte Gewand. Aber sie hielt aus. Die Augen starr auf den Mann gerichtet, der dort unten saß, das bleiche Gesicht zu ihr emporgehoben, vollendete sie ihren Auftritt.

Immer wieder mußte sie an die Rampe. Die Europäer wollten ihr eine Genugtuung bereiten. Sie siedeten auf, klatschten, trampelten, brachten ihr ein brausendes Hoch. Hipp-hipp-hurra!!

Sie wollten es diesen Mischlingen und Negern schon zeigen, eine weiße Dame zu beleidigen, die ein kleiner Unfall betroffen hatte. Der Saal dröhnte. Hipp-hipp-hurra!

Endlich war sie in der Garderobe. Schleuderte das Kostüm von sich. Ihre Finger konnten kaum die Druckknöpfe lösen.

Ein Taumel hatte sie ergriffen, Rausch der Seligkeit, Überschwang des Glücks. Er war da. Er war gekommen. Alles, was gewesen, war vergessen, war ausgelöscht. Sie hastete in das Straßenkleid. In ihr war das Jauchzen eines Kindes, das sich in einem großen, dunklen Walde verlaufen hat, schon vor Angst erstirbt und plötzlich die Mutter sieht. So war ihr. Mit überstürzter Sorgfalt puderte sie sich, machte sich schön. Er war ja da. Er wartete draußen.

Sie stürmte hinaus.

Pascalato trat ihr in den Weg. Sie lief an ihm vorüber, sah ihn kaum. Hörte nicht seine erstaunte Wut, die in fettigen Tönen schäumte. Kam zum Saal. Vor der Tür wartete Ortner.

Plötzlich stand sie vor ihm. Sie wollte sprechen, fand aber keinen Laut in der Kehle, stieß ihm beide Hände entgegen. Er nahm sie, auch wortlos. Er preßte ihre Finger, daß es sie schmerzte. Und doch war es das höchste Gefühl der Wonne, das sie je empfunden hatte. So standen sie eine Weile dicht vor einander, ihre Blicke ineinander verschmolzen. Beider Atem ging keuchend. Die Kellner, die hin und her rannten, stießen sie an, bedrängten sie. Sie merkten es nicht. Plötzlich sagte sie:

»Komm!« und zog ihn fort.

Sie waren auf der Straße. Gingen wortlos dahin, dicht aneinandergeschmiegt, wanden sich durch das Gewühl der Gassen, deren regstes Leben erst abends erwacht, umwogt von den Gerüchen der Keller und Läden, dem Schwall von Dünsten der heißen Nacht.

Das Treiben der Hafengegend umbrandete sie: Strolche aller Blutmischungen, engumschlungene Liebespaare, torkelnde, singende, vom Cachaca, dem schweren wilden Zuckerrohrbranntweine, benebelte Matrosen. Doch beide sahen nichts, hörten nichts; waren verzaubert.

»Wie hast du mich gefunden?« fragte sie.

»Ich bin aufs Geratewohl gekommen.«

Er sprach zum ersten Male. Seine Stimme war rauh und belegt.

»Ich hatte die Gewißheit, ich würde dich finden. Du konntest Rio noch nicht verlassen haben. Verhandlungen mit der Regierung dauern immer lange. Ich wollte zum deutschen Konsul gehen. Da sah ich die Plakate mit deinem Bilde.«

Wortlos gingen sie wieder durch die schwüle Nacht. Die stehende Luft war fühlbar wie eine Last auf dem Kopfe, auf den Schultern. Doch Renate spürte sie nicht. Ihr war leicht und beflügelt wie nie bisher in dieser unheimlichen, feindlichen Stadt. Im Kopfe und in der Brust war eine luftige Beschwingtheit. Es schien ihr, als habe sie bisher unter einer dumpfen, gläsernen Glocke gelebt, die plötzlich zersprungen war. Und herein strömte Luft und Frische. Sie konnte wieder atmen. Mit leichten, tänzelnden Schritten ging sie neben ihm. Er war ja da. Er war ja endlich wieder da. Alles, was je Böses und Widriges zwischen ihnen geschehen, gehörte einem andern, fernen, längst verklungenen Leben an.

Endlich sagte er:

»Ich muß dich sprechen.«

Sie blickte lächelnd zu ihm auf. Gewiß mußte er sie sprechen. Er mußte doch sagen, daß jetzt alles gut, daß der schwere, böse Traum endlich zerrissen sei. Daß er nun bei ihr bliebe. Sie nie wieder allein lasse in dieser furchtbaren, tückischen, bedrückenden, fremden Stadt. Freilich wußte sie, daß da irgendwo eine Frau war, die zwischen ihnen gestanden hatte. Aber nun war das Wunder geschehen. Und diese Frau stand nicht mehr zwischen ihnen. Denn er war ja da. Er war ja gekommen. Das Wunder war endlich geschehen. Oder nein, kein Wunder. Nein, nein. Es schien ihr plötzlich das Natürlichste, daß der einzige Mensch, den sie auf diesem heißen, brodelnden Erdteile kannte, der zu ihr gehörte, den sie liebte, gekommen war, sie zu erlösen. Aber alles dies dachte sie nicht klar, nicht bewußt. Es durchhuschte sie nur schattenhaft. Sie empfand im Grunde nichts als die jauchzende Freude, daß er da war, greifbar nahe neben ihr ging und zu ihr sprach. Alles andere war nicht von dieser Welt.

Ortner sagte:

»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß du mich verachtest.«

Sie blieb mitten auf der lärmenden Straße stehen und blickte zu ihm auf.

»Ich – dich – verachten?!«

Sie lächelte wie über etwas kindlich Törichtes, Absurdes. Es war ja auch ganz gleichgültig, was er sprach. Er war ja bei ihr.

»Wenn du jetzt auch darüber lächelst, ich weiß, du hast mich verachtet. Du hattest tausendmal recht. Ich habe mich erbärmlich und unwürdig benommen. Ich war krank. Seit du damals in jener Nacht mit deinem –« er zögerte einen Augenblick und sagte dann leise:

»– Manne fortgegangen bist, war ich nicht mehr ich selbst.«

Ein Betrunkener stieß heftig an Renate an. Sie merkte es nicht. Die Erwähnung ihres Mannes hatte sie aus dem Taumel herausgerissen. Der einlullende Freudenrausch, der sie umfangen hielt, zerstob zu jäher Ernüchterung. Sie sah plötzlich die Straße, die Lichter, die Menschen. Sie sah plötzlich Wirklichkeit. Es war wie ein Sturz aus gewaltiger Höhe. Sie schwankte, doch nicht von dem Stoß des Betrunkenen.

»Ja?« fragte sie vag. »Du wolltest mir etwas sagen.«

»Du mußt alles wissen«, sprach er weiter. »Ich will nichts vor dir verbergen. Als du nach Manaos abreistest, war ich zu etwas Furchtbarem entschlossen: ich wollte Anna Iwanowna töten.«

»Nein!« schrie sie auf, daß die Vorbeigehenden starrten, faßte seinen Arm und bohrte die Finger in den Stoff seiner Jacke.

»Doch, ich wollte frei sein. Ich wollte dir den Grund nehmen, vor mir zu fliehen. Aus der meuchelnden Wildnis stieg mir der Gedanke auf. Hinter meinem Hofe liegt ein Hain. Ganz dunkel ist es dort. Da gibt es keine Blumen, keine Büsche.«

Er sprach sinnend in die Nacht hinaus. Seine Augen verloren sich in die Ferne der Gasse.

»Die Luft ist dort mit Untat geladen. Der Boden ist braun von verwesendem Laube. Es riecht nach Mord und Moder. Hier wütet die Feige. Mit ihren Windungen umstrickt sie jede Palme wie mit gigantischen Tintenfischarmen. Mit riesigen Krallenfingern umschlingt sie die Stämme und Zweige und würgt sie zu Tode. In diesem düsteren, bösen Dunkel hab' ich Tag um Tag gesessen, dem fast hörbaren Ersticken gelauscht und über meinen finsteren Plan gesonnen.«

Er schwieg eine Weile. Sie gingen jetzt seltsam rasch, trotz der Hitze der Tropennacht. Ortner trocknete die feuchte Stirn. Dann sprach er leise weiter.

»Die Natur will die Vernichtung. Überall lauert der Totschlag. Der eine muß sterben, damit der andere leben kann. Ich konnte ohne dich nicht leben. Ich habe mich dagegen gewehrt, habe gekämpft, aber es kam immer wieder. In den Fluß wollte ich sie werfen, der von Piranha wimmelt. Und dann fort zu dir – dir sagen: ich bin frei!«

»Furchtbar!« flüsterte sie.

Sie waren in die Rua do Ovidor eingebogen, diese endlos lange Hauptverkehrsader der Stadt. Hier pulsierte fiebernd überhitztes Leben. Die Cafés waren überfüllt. Schmucke Automobile glitten geräuschlos. Auf dem Bürgersteig prunkte übertriebene Eleganz. Die Frau beherrschte die Straße, die geschmeidige, heiße Brasilianerin mit dem schleichenden, weichen Schritte, dem Erbteil ihrer indianischen Ahnen, den schwarzen, feuchtschimmernden Augen, dem wiegenden Gange, den leisen, graziösen, katzenhaften Bewegungen. Die Luft war erfüllt von Parfüms, von Lachen, Stimmengezwitscher, von Liebesgeflüster, vom Lichte der Bogenlampen, vom Benzingeruch der Autos, von warmer Sinnlichkeit und von Geheimnis.

Einsam, losgelöst von den anderen, eingehüllt in die große Beichte, ein Fremdkörper in diesem Strome nächtlichen Vergnügens, trieben Renate und Ortner dahin.

Er ging einige Zeit stumm neben ihr, gebeugt unter der Last der Tat, die er geplant hatte. Dann warf er den blonden Kopf zurück und straffte sich.

»Du hast mich vor diesem Entsetzlichen bewahrt«, sagte er dann fest.

»Ich?«

»Ja. – Deine Kraft und dein Pflichtgefühl gaben mir Rettung und Halt. Am Tage, an dem ich es ausführen wollte, erkannte ich voll Grauen den Abgrund, vor dem ich stand. Ich dachte an dich wie immer. Du warst ja mein einziger Gedanke. Ich dachte daran, wie mutig und wie stark du bist. Wie du, obwohl du mich liebst –« er unterbrach sich, blickte sie zaghaft an und fragte:

»Du liebst mich doch noch?«

»Ja.«

Da ging er minutenlang ganz bleich neben ihr im Lichte der elektrischen Lampen. Dann fuhr er fort:

»Ich bin aus Europa fortgegangen, weil dort alles gegeneinander kämpft und wütet. Das war ein lächerlicher Irrtum. Kampf aller gegen alle ist auch im fernsten Urwalde. Dort grimmiger noch als anderswo. Es strömt aus der nackten Natur. Ja, das war ein Irrtum. – Aber wie ich an dich dachte, an deinen Mut, deine Tapferkeit, da kam mir in zwölfter Stunde die Erkenntnis, daß man leiden und entbehren kann und dennoch stark und reich sein im Besitze einer Idee, einer heiligen Erinnerung. Und das gab mir die Kraft. Ich kam zu mir. Es sollen keine Phrasen sein, was ich damals in jener Nacht zu dir und deinem Manne gesagt habe. Aus meiner Liebe zu dir soll mir eine Liebe zur Menschheit erstehen. Ich will danach ringen, Mensch zu sein. Keine mordende Liane des Urwaldes. Kein reißendes Tier. Mensch! Mensch!«

Er faltete im Gehen die Hände, daß die Knöchel knackten. Um seinen Mund zuckte es.

Sie begriff alles. Sie verstand ihn bis ins Letzte.

Und liebte ihn mehr, als sie ihn jemals geliebt hatte. Und wußte, daß sie ihn verloren hatte. Sie biß die Zähne aufeinander, nicht aufzuschreien.

Mühsam sprach er weiter:

»Ich will versuchen, gut zu der Frau zu sein, die zu dir gut gewesen ist.«

Sie blieb stehen. Sie waren vor ihrem Hotel.

»Ich wohne hier«, sagte sie. Und fühlte selbst, wie lächerlich banal es war, was sie da sagte.

Die Flut der Straße spülte im Kreise um sie herum.

»Ich danke dir, daß du gekommen bist«, preßte sie hervor.

»Ich mußte dich sprechen,« wiederholte er. »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß du mich verachtest. Vielleicht habe ich mich auch nur durchgerungen, damit du mich nicht verachtest.«

»Ja, ja«, flüsterte sie wieder und starrte ihm ins Gesicht. »Was nun?«

»Morgen früh fahre ich zurück. Sie wartet in Angst.«

»Ja – ja.«

Mitten im Strudel der Straße standen sie vor einander, blaß vor Schmerz und Heldenhaftigkeit, starrten sich in die Augen. Da fiel sie gegen ihn. Preßte ihr Gesicht an seine Brust und weinte haltlos.

Die Passanten staunten kurz und schritten vorüber. In dieser südlichen Stadt, in der das Leben eine Öffentlichkeit ist, in der die Liebe mit ihrer Lust und ihrem Leid unverhüllt umgeht, hatte man oft Frauen gesehen, die an der Brust eines Mannes weinten. Die Kreolinnen nickten begreifend und glitten in ahnendem Mitleid vorüber. Die Männer wandten in taktvoller Scheu den Kopf zur Seite.

Dann hob Renate das feuchte Gesicht, faßte seine beiden Hände und schluchzte erstickt:

»Ich danke dir immer wieder, daß du gekommen bist. Ich bin schwach heute abend. Die Hitze und die Vorstellung. Kümmere dich nicht darum. Ich freue mich so, daß du gekommen bist. Daß du wieder so bist, wie ich dich zuerst geliebt habe. Nun geh'.«

Aber sie standen vor einander, ohne sich zu rühren.

»Geh'«, flehte sie.

Doch es war nur ein Stöhnen, eine unwillkürliche Bewegung ihrer Lippen.

»Du kannst nicht in diesem Lokal bleiben, das ist entwürdigend!«

»Das ist bald vorbei. Ich habe ein Engagement im Trocadero.«

Er stand unschlüssig. Hielt ihre Finger zwischen seinen Händen.

»Jetzt soll ich dich hier allein lassen in dieser Fremde! Ich habe es mir nicht so gedacht.«

Mit einem tränenschimmernden Lächeln flüsterte sie:

»Es geht schon – es wird schon gehen.«

Seine Augen wurden feucht. Sie fühlte, jetzt konnte sie ihn halten. Jetzt waren alle Vorsätze zunichte. Jetzt gehörte er nur ihr, nur dem allgewaltigen, packenden, verlangenden Leben. Keinen blassen Vorstellungen, keinen bunten ethischen Seifenblasen, keinen heroischen Gedanken – nur ihr.

Da sagte sie zwischen den Zähnen, die sie krampfhaft zusammenbiß, aus Furcht, unbeherrscht aufzuschreien:

»Gute Nacht, du Lieber. Laß' mich jetzt gehen.«

Er ächzte: »Das ist furchtbar, dies alles.«

»Das ist unser irrsinniger Tanz auf der Weltkugel,« keuchte sie.

»Du mußt mir schreiben«, zwang er hervor. »Nach Manaos. An Senhor Louis Barboso. Dann habe ich Nachricht im Frühling.«

Sie nickte. Tränen tropften von den Wimpern.

»Schreib' du mir auch.«

Dann standen sie wieder vor einander. Verzweiflung glühte in beider Augen.

Plötzlich schlang sie die Arme um seinen Hals, küßte ihn, riß sich von ihm los und eilte in den dunklen Gang des Hauses. Sie stürzte die Treppe hinauf. Aber nach wenigen Schritten knickte sie in den Knieen ein, fiel gegen das Geländer, warf die Arme über die Balustrade, preßte das Gesicht auf die Hände und weinte, daß das Geländer unter der Erschütterung ächzend kreischte.

Nein, nein! Das war ja alles Wahnsinn! Das waren hohle Phrasen! Was nützt erhabenes Menschentum, was nützt alle Seelengröße, wenn man dabei sich gegenseitig zugrunde richtet! Das Wichtigste im Leben war ja doch das Leben. Das Glück! Das konnte kein Gott verlangen, daß man sich zerfleischte. Das war ja auch ein Mord! Nein, nein! Das konnte kein Gott verlangen!

Sie hob den Kopf, blickte sich im Dunkel der Treppe um und raste hinab. Rannte gehetzt durch den finsteren Flur hinaus auf die Straße.

Sie sah ihn durch den fröhlichen Abendkorso gehen, ganz langsam. Den Körper hochgestrafft, den Kopf tief zur Brust niedergebeugt. Da entfiel ihr der Mut. Er geht, dachte sie. Er steht nicht mehr vor der Tür und wartet, daß ich wiederkomme. Er kann gehen, es ist ihm möglich, zu gehen.

Mit zuckendem Gesicht wandte sie sich wieder dem Hause zu, schleppte sich die Treppe hinauf, kam in ihr Zimmer, warf sich angekleidet aufs Bett und starrte mit Augen, die keine Tränen mehr hatten, in die Dunkelheit.

Von draußen herein gellten die verworrenen Schreie der großen, fremden, exotischen Stadt.

Sie starrte in das dunkle Zimmer. Und ihr Leben schien ihr finster und unheimlich und einsam und verloren, wie sie es war in dieser großen, exotischen, fremden Stadt.


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