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IX.

Ja, Ortner hatte geheiratet.

Renates Ablehnung hatte dem Manne in ihm das Rückgrat gebrochen. Er war betäubt, ohne Willen, ohne Energie zum Widerstande. Das einzige Gefühl, das in dieser erschlafften Hülle lebte, war ein lebensmüder Haß gegen die Frau, die mit dem andern gegangen war. Die es über sich brachte, ihn, der in der gleichen Gefahr schwebte, zu verlassen. Er verbiß sich in die Gewißheit, daß sie nur mit ihm gespielt habe. Als sie die Feuerprobe auf ihre Liebe bestehen sollte, versagte sie. Da warf sie die romantische Maske ab, ließ ihn in Todesnot zurück und ging mit dem andern.

Das Leben in ihm war erstorben. Nichts erweckte mehr seine Teilnahme. Das Dasein hatte für ihn Reiz und Farbe verloren. So wurde er bereit für Anna Iwanowna.

Sie war in Rußland verheiratet gewesen. Ihr Mann fiel bei Grodno. Später hatte sie viel Trauriges von den Sowjets erfahren. Nach unendlichen Mühsalen gelang es ihr, mit dem Bruder aus Rußland zu entrinnen. Mit den geretteten Resten ihres Vermögens siedelten sich die Geschwister am oberen Lauf des Aripuanan an.

Beide waren fleißig, zäh, an Entbehrungen gewöhnt. Was dem Bruder an Klugheit und Umsicht fehlte, ersetzte reichlich die Schwester. Die Estanzia blühte. Delessow war mit seinem Schicksal zufrieden.

Nicht die leidenschaftliche Anna Iwanowna.

Als Walter Ortner den Aripuanan hinaufkam, blieb er einige Tage auf der Estanzia, wurde mit russischer Gastfreundschaft bewirtet. Dann wurde er der Nachbar, ließ sich »nur« etwa hundert Kilometer stromauf nieder. Immer wieder erfand Anna Iwanowna wichtige Gründe, ihn mit dem Bruder zu besuchen. Da Ortner der nächste und einzige weiße Mann im weiten Umkreise des Urwaldes war, war er für sie der erste und der beste. Sie wollte ihn erringen.

Doch er blieb ahnungslos, blind für alle Ermunterungen und Verführungskünste. Denn seine Liebe und Sehnsucht war stromauf mit Renate Gedon gezogen, die bald nach seiner Niederlassung in die neue Heimat kam.

Jetzt aber war Walter Ortner reif für Anna Iwanowna. Umstände und Zeitverhältnisse kamen ihr zu Hilfe.

Auf der Hazienda der Geschwister strömten die Siedler vom Strome und aus dem Urwalde zusammen. Es wurde ein gewaltiges Lager. Kaum hatte man es notdürftig befestigt, da erfolgte der Angriff einer starken Bande der Aufständischen. Er wurde blutig zurückgewiesen. Doch mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit durchdrang die Kunde der Niederlage die unwegsame Einöde. Die versprengten, überall zerstreuten Horden der Blau-Grünen sammelten sich gegen das Lager der Ansiedler. Es kam zur förmlichen Belagerung. Die Überzahl der Angreifer schwoll unheilvoll an. Trotz aller tapferen Gegenwehr drangen die vereinigten Banden siegreich vor. Die Siedler wurden vom Flusse und damit vom Wasser abgeschnitten. Ihre Lage schien hoffnungslos, ihr Untergang besiegelt. Rettung von außen zu erwarten, war Utopie und Chimäre.

Da brach in der umzingelten Hazienda die orgiastische Stimmung Todgeweihter aus. Es war wie in den belagerten Städten des Mittelalters, wie in den überfüllten Gefängnissen des Terrors der französischen Revolution. Man sah das nahe, unentrinnbare Ende vor Augen. Die Verzweiflung der Lust packte alle. Man wollte noch einmal genießen, noch einmal die Freuden dieser Erde erraffen, den schalen Rest Wonne, der einem blieb, ausquetschen bis zur Neige. Man wollte noch einmal das Leben an sich reißen, noch einmal auskosten, was das Schicksal einem ließ.

Die Ruhepausen des Kampfes wurden zu Orgien. Ohne Scham, ohne Scheu und Schonung. Denn alle wußten, daß morgen das Ende kam. Die Ausnahmezeit gebar Ausnahmeempfindungen. Prüderie war erloschen, Anstand erdrosselt, Moral war tot. Nur die Lust lebte und die Gewißheit, daß es die letzte war.

Dieser Taumel des Lagers trieb Ortner zu Anna Iwanowna. Er war vielleicht der einzige unter diesen Todbedrängten, der in Freude und Heiterkeit den tragischen Ausgang erharrte. Der Tod war ihm zur Sehnsucht geworden. Was sollte ihm dieses Leben ohne Renate?! Er war stolz und glücklich, es in einem ehrenvollen Kampfe von sich zu schleudern. Er war der Held des Lagers. Er verrichtete Wunder der Tapferkeit. Seine Kriegserfahrungen hatten ihn ohne seinen Willen zum Führer und Strategen der Schar erhoben. Und er war wieder zum Manne geworden.

Seine Feldherrnpflichten und der Kampf hatten das Schlaffe, Energielose von ihm gerissen. Mit dem Manne in ihm erwachte auch die Freude am Weibe. Zynisch, brutal wollte er den letzten Tropfen seines Lebens verprassen. Es war ihm eine ätzende Verhöhnung Renates – eine Wollust seines Hasses.

Ein wildes Bacchanal durchtobte die Nacht. Der nächste Tag mußte die Entscheidung bringen. Es fehlte an Wasser. Es fehlte an Lebensmitteln. Es gebrach an Munition. Mit dem Morgengrauen kam der martervolle Tod. Jeder wußte, was er von den zur Wut gepeitschten Banditen dort draußen zu erwarten hatte. Jeder sparte die letzte Kugel für seine Liebsten und für sich. Nur diesen Folterknechten nicht lebendig in die Hände fallen!

Da, – als von der Tropennacht der junge Morgen wie ein Vorhang hell emporging und alles sich hoffnungslos auf die letzte Abwehr verbissen vorbereitete, ertönte vom Flusse her das Knattern von Maschinengewehren und der bellende Knall von Revolverkanonen. Die Utopie war Wirklichkeit, die Chimäre Wahrheit geworden. Hilfe nahte. Vier Kanonenboote der Regierung waren den Amazonenstrom und den Madeira hinabgekreuzt.

Die Aufständischen gerieten zwischen zwei Feuer. Die Flucht war ihnen abgeschnitten. Sie wurden aufgerieben bis auf geringe Reste, die in die Wildnis zerstoben.

Das war das Ende der Revolution in Zentral-Brasilien.

Es wurde eine bedrückte Siegesfeier. Der Ausnahmezustand war plötzlich vorüber. Der normale Tag brach wieder an. Aus triebhaftem Urzustände der Menschheit wurden die Siedler ohne Übergang zurückverwandelt in Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts. Aus ihrer Verscheuchtheit kehrte unvermutet die Gesittung zurück. Alles, was geschehen war, hatte mit einem Male ein anderes Gesicht. Es war, als fiele in ein dunkles, verschwiegenes Schlafgemach plötzlich grelles Licht. Die Moral erhob ihr Haupt. Der Anstand ging um mit gerunzelter Stirn. Es war allen diesen Männern und Frauen, als stünden sie nackt in einer großen Gemeinde. Sie schämten sich. Scheu und ängstlich suchte jeder, hastig seine Blöße zu bedecken.

Ein Militärgeistlicher begleitete an Bord eines der Kanonenboote die Expedition. Unter den vielen, die in überstürzter Eile vor ihm die Ehe schlossen, waren auch Anna Iwanowna und Ortner.

Es hätte nicht der Aussprache zwischen ihm und ihrem Bruder bedurft. Die Russin hatte den Geliebten schon von der Notwendigkeit der Sühne des Geschehenen überzeugt. Er begriff, daß er die Frau bloßgestellt hatte. Er war bereit, die Folgen auf sich zu nehmen.

Denn mit dem Augenblicke, in dem die Hoffnung auf den Tod erloschen war, brach er wieder zusammen. Er wurde wieder stumpf und teilnahmslos. Warum sollte er die Sühne nicht vollziehen? Warum sollte er diese Frau nicht zu seinem Weibe machen? Wenn der Anstand und die Notwendigkeit es erforderten! Es war ja alles so gleichgültig, so grenzenlos gleichgültig.

Er kehrte mit ihr zu seiner Estanzia zurück. Sein Hof war von Banden verschont geblieben. Hier lebte er mit seinem Weibe, wie ein Mann lebt, dessen Gemüt erstorben ist. Er arbeitete, er aß und trank. Er behandelte Anna Iwanowna mit blutleerer Freundlichkeit. Aber in den schlaflosen Nächten dachte er an Renate. Der Haß war jetzt in ihm verglommen. Er lag wach durch die unbewegte, drückende Tropennacht und zerquälte sich den Sinn mit der Frage, ob sie noch lebe. Ob der Rancho dort oben am Castanho angefallen worden war. Plante eine Fahrt stromauf, sich Gewißheit zu holen. Gab sie schlaff wieder auf und verzweifelte in Sorgen und Ängsten. Lange, lange würde er keine Kunde erhalten. Wer sollte Nachricht bringen aus jener weiten Ferne?!

Dann wehte eines Tages drüben am andern Ufer des Aripuanan die kleine, zerfetzte, schmutzige Fahne.

Nur ganz langsam, während er mit der Bewußtlosen über den Fluß fuhr, dämmerte in ihm die Erkenntnis des Geschehenen. Nur ganz allmählich umkrallte sein Gehirn das Begreifen, daß sie frei geworden und durch den Urwald gekommen war zu ihm. Mit beiden Händen umklammerte er die Schläfen und preßte die Ballen gegen die Schädelwände, als wolle er sie sprengen. Er war ja ein Narr gewesen! Ein Wahnwitziger! Er hatte geglaubt, sie liebe ihn nicht. Sie, die sobald sie für ihn frei geworden war, das Unmögliche tat. Hunderte von Meilen war sie durch nie betretenen Urwald mit blutenden Füßen zu ihm gewandert! Und er hatte geheiratet!

Er starrte mit Augen, in denen ein Licht des Irrsinns flackerte, auf die bewußtlose Frau. Er sah nur eine Möglichkeit des Entrinnens aus diesem Labyrinth des Wahnsinns. Die Frau fassen, solange sie dem Bewußtsein entrückt war, und sich mit ihr hinabstürzen in den Strom dort unten. Diesen blutigen Hohn auf Liebe und Glück in den Fluten begraben!

Er tastete nach ihr, wagte aber nicht, sie zu berühren, aus Scheu vor den Gauchos im Boote, und weil dort drüben am Ufer Anna Iwanowna wachsam nach ihm spähte. In Jammer und Elend letzter Verzweiflung preßte er die gekrümmten Finger zwischen die Zähne und biß tief hinein in das aufblutende Fleisch, das Brüllen der Qual zu ersticken, das in ihm aufgurgelte.

Dann kamen sie ans andere Ufer. Dort stand mit der Dienerschaft in neugieriger Spannung Anna Iwanowna. Denn daß aus dem Urwalde ein einsames menschliches Wesen hervorkroch und mit einer zerschlissenen Fahne über den Strom herüberwinkte, war immerhin keine Alltäglichkeit.

Anna Iwanowna erkannte Renate sofort. Sie hatte viel an diese Frau gedacht, voll Bitterkeit, Angst und Feindschaft. Sie wußte, daß diese Deutsche mit den seltsam belebten Zügen das Unheil ihrer Ehe war. Sie erriet, wie es zwischen der Frau des Nachbarn und ihrem Manne stand. Nie hatte sie von Renate gesprochen. Dazu war sie viel zu klug. Doch sie ahnte mit unbeirrbarem Instinkte die Quelle der Unbeseeltheit Ortners und seiner gespenstischen Erstarrung.

Doch sie hatte in ihrem bewegten Leben so viele tragisch verworrene Dinge sich glätten und entwirren sehen, daß sie die Hoffnung nicht verlor. Sie wollte ihn seinen Erinnerungen abringen. Sie ertrug ohne den leisesten sichtbaren Unmut seine Gleichgültigkeit, seine tote Freundlichkeit, seine Vernachlässigung. Immer spielte ein gewinnendes Lächeln um den energischen, kleinen, sehr hübschen Mund, immer war sie liebenswürdige Geduld und unaufdringliche Zärtlichkeit. Sie wollte ihn halten und gewinnen mit aller Zähigkeit ihres Wesens. Denn sie liebte ihn jetzt, wie man das schwer Errungene und Ertrotzte mit egoistischem Eigensinn schätzt und wertet. Und hoffte, daß diese Frau nie wieder in ihren Lebenskreis treten würde. Wer konnte wissen, welche Tragödie der geheimnisvolle Urwald am Castanho umschloß.

Da brach Renate wieder ein in den Frieden ihrer Estanzia und in ihren mühsam errungenen Erfolg. Die Russin erbebte. Sie sah verhängnisvolle Verwicklungen. Im ersten Augenblicke wurde ihr Gesicht steinern und verzerrt. Ihr schwindelte. Doch gleich hatte sie sich wieder in der Hand. Ihre kühle Klugheit siegte. Sie wußte sofort: Widerstand würde die Gefahr erhöhen. Feindseligkeit gegen Renate würde Ortner und die Fremde zu Bundesgenossen zusammenschweißen – gegen sie. Sie zwang ihre Furcht und ihren Haß nieder, sie spielte meisterhaft die Komödie der Herzlichkeit.

Ohne jede erkennbare Überraschung trat sie an die ohnmächtige Frau heran. Sie ordnete alles an. Ließ Renate in das Zimmer tragen, in dem sie damals mit ihrem Manne genächtigt hatte. Sie wusch samariterhaft die Eiterströme von ihrem Körper. Sie bettete sie weich. Sie plünderte ihren Wäscheschrank für die Kranke, die eine lodernde Gefahr ihrer Ruhe und ihrer Ehe war. Sie opferte der Pflege ihre Nächte. Ratlos, benommen, kopfscheu ließ Ortner sie gewähren.

Nie kam ein Wort der Unlust oder Ermüdung über Anna Iwanownas Lippen. Mit lebhafter Teilnahme und regem Mitgefühle sprach sie von der »Ärmsten«, die so Unmenschliches erlitten hatte, und bekundete Freude und Befriedigung über die »Klugheit« der Schwergeprüften, zu ihnen ihre Zuflucht zu nehmen.

Viele Tage lag Renate in wüsten Fieberphantasien. Noch einmal durchlebte sie den Überfall mit seinem Grauen. Sie schleppte sich in ihren überhitzten Träumen noch einmal durch die Schrecken des Urwaldes. Dann wich die hohe Temperatur unter Anna Iwanownas zielbewußter Fürsorge. Ein krasser Kräfteverfall trat ein. Sie lag Tag um Tag in Schlaf und Dämmerzustand.

Immer wieder schlich Ortner an ihr Lager, kauerte sich neben ihr nieder und brütete über finsteren Plänen. Einmal öffnete sie die Augen und sah ihn lange an. Er sah es nicht. Sie hatte nun schon Stunden denkfähiger Klarheit. Doch das eindringlicher werdende Bewußtsein der unsinnigen Tragikomödie ihrer Liebe schleuderte sie immer wieder zurück in flutende Ohnmächten.

Heute aber war sie wach, wacher als je zuvor. Sie blickte auf den gebeugten Mann neben ihrem Lager, der in Martern der Reue und Selbstanklage stöhnte. Und plötzlich begann sie zu lachen, zu lachen, hysterisch, krampfhaft. Ein unaufhaltsamer Anfall wurde es. Sie schrie und ächzte vor Lachen, daß sie durch den Urwald gegangen war, weil sie es für ihre heilige Pflicht, für ihre Berufung, für ihr Schicksal gehalten, zu diesem Manne zu gehen, der inzwischen geheiratet hatte.

Er war entgeistert aufgesprungen, stand in hilfloser Bestürzung neben ihr. Die kreischende entsetzliche Fröhlichkeit rief Anna Iwanowna herbei. Sie nahm die keuchende Frau mit einer Geste, die mütterlicher, liebreicher Milde täuschend ähnlich sah, in die Arme, streichelte, besänftigte sie. Das Lachen verebbte zu brustsprengendem Weinen, allmählich zu erschütterndem Schluchzen.

Von nun an trug die Russin Sorge, die beiden nicht mehr allein zu lassen. Es gelang ihr leicht unter dem Deckmantel aufmerksamster Pflege. Aber dann, als Renate endlich das Lager verlassen konnte und mit kleinen, gebrochenen Schritten ins Freie ging, wurde die stete Überwachung schwieriger. Da fand Ortner doch hin und wieder die sehnsüchtig erspürte Gelegenheit, Renate allein zu sprechen.

Eines Abends saß sie am Ufer und blickte verloren auf das unhörbar fließende Wasser. Klein, bleich, in sich zusammengesunken, kauerte sie, ohne Gedanken, ohne Träume. Müde und hohl war es hinter der Stirn, matt und neblig von den Strapazen, der Krankheit und dem Leide. Da trat er hastig zu ihr und überfiel sie ohne Einleitung mit der Frage

»Du begreifst nicht, daß ich geheiratet habe?!«

Sie hob den Kopf, sah ihn lange an mit unsicheren, flackernden Augen, als zwinge sie sich mühsam, seine Worte zu fassen. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte »nein«.

»Ich habe dich gehaßt!«

Sie blickte ihn verständnislos an.

»Weil du mit dem andern gegangen bist in der höchsten Not. Wir waren beide in gleicher Gefahr. Aber du bist mit dem andern gegangen.«

Ihre grauen Augen wurden ganz groß, als sie schlicht und erstaunt entgegnete:

»Es war meine Pflicht. Ich war sein Weib.«

Im Banne seiner Pläne und Vorsätze ging er über ihren Einwurf hinweg.

»Ich werde mich scheiden lassen«, flüsterte er. »Ich glaubte, du liebst mich nicht. Und nun bist du zu mir gekommen – durch den Urwald. Ich war in Wahn und Irrtum befangen. Das muß sie einsehen. Unsere Ehe beruht auf trügerischen Voraussetzungen. Sie muß mich freigeben. Oder ich nehme mir meine Freiheit mit Gewalt.«

Sie hatte ihn nicht unterbrochen. Seine heftigen Worte prasselten wie schmerzende Steine auf ihren verwüsteten Kopf. Endlich sprach sie:

»Nein, nein, jetzt ist es zu spät. Jetzt läßt sich nichts mehr ändern.«

Er wollte erwidern. Doch da kam Anna Iwanowna. Sie brachte Renate eine Erfrischung.

Von nun an verfolgte Ortner Renate mit dem Verlangen nach Aussprache. Er bedrängte sie mit seinem Scheidungsplane. Er erniedrigte sich soweit, von dem Zwange zu sprechen, der auf ihn geübt worden war. Er erzählte die Geschichte der Belagerung. Doch Renate schüttelte nur wieder den Kopf.

»Ehe ist etwas Feierliches«, sagte sie mit blutleeren, bebenden Lippen. »Man kann sie nicht abziehen wie einen Handschuh und fortwerfen, weil man einen andern sieht, der einem besser gefällt.«

Er knirschte vor Verzweiflung mit den Zähnen.

»Darum handelt es sich hier nicht,« schrie er unterdrückt. »Das trifft doch gar nicht unsern Fall! Siehst du das nicht ein? Es handelt sich darum, daß wir uns längst gehört haben, ehe ich jene Frau nahm. Unsere Rechte sind älter und tausendmal heiliger. Denn wir beide lieben uns, wie Menschen sich vielleicht nie geliebt haben.«

Sie verzog wehmütig den Mund.

»Das denken wohl alle Liebende.«

»Dann weißt du nicht, wie ich dich liebe. Jeder liebt anders. Jedem ist die Liebe etwas anderes. Mir ist sie Atem und Pulsschlag und Lebensfähigkeit. Ich kann ohne dich nicht leben! Siehst du denn nicht, daß ich Anna Iwanowna nur aus Liebe zu dir geheiratet habe?!«

Sie sah ihn verdutzt an.

»Alles, was zu dieser Ehe geführt hat, war nur möglich in meinem selbstzerstörerischen Haß gegen dich! Aber dieser Haß war nur Liebe. Nur das zweite Gesicht meiner Liebe. Begreifst du das nicht?«

»Ich begreife alles«, nickte sie leise, »doch alles schmerzliche Begreifen ändert nichts an der grotesken Tragik unseres Lebens. Im Grunde ist alles, wie es damals war in jener Nacht. Nur mit vertauschten Rollen. Jetzt bist du gebunden. Und ich bin frei.«

»Ich werde mich frei machen«, empörte er sich.

»Quäle mich nicht«, bat sie und senkte müde das Haupt.

Lange stand er stumm. Dann klagte er bitter:

»Ich weiß sehr wohl, was es ist. Du kannst es nicht mehr fassen, daß du mich einmal geliebt hast. Du wunderst dich über deine Liebe von damals. Ich habe mich geändert. Ich fühle es selbst. Ich erscheine dir feig und unmännlich. Meine Schlaffheit, die Kopflosigkeit, der Irrgang, in dem ich geheiratet habe, sind dir verächtlich. Das ist es.«

»Oh nein,« wehrte sie wund. »Ich wundere mich über nichts. Ich verachte dich nicht. Ich weiß nur, daß Menschen und Leben unerforschlich sind. Und füge mich ohnmächtig und ergeben.«

Immer wieder versuchte er, sie zu überreden. Immer wieder führte er mit fanatischer Logik seine Liebe und ihre älteren Rechte ins Treffen. Immer wieder zerschellte sein Ansturm an dem Panzer ihres Charakters. Es war ihr nicht gegeben, über einen anderen Menschen hinweg zu ihrem Glücke zu schreiten.

Die Feindschaft, die sie einst gegen Anna Iwanowna empfunden hatte, hatte sich in Dankbarkeit gewandelt. Ihre ehrliche Gradheit durchschaute nicht das kühn gewagte Spiel der Russin. Diese Frau hatte sie ohne Gegenwehr in ihr Haus aufgenommen. Hatte Nacht um Nacht an ihrem Lager gesessen. Hatte sie wie eine Schwester betreut. Jetzt sollte sie ihr zum Dank für alle Opferwilligkeit den Mann rauben? Das lag außerhalb ihrer Möglichkeiten.

Schon in den Tagen, als sie noch kaum zu denken vermochte, hatte ihr umflortes Sinnen die Notwendigkeit schleuniger Abreise umtastet. Kaum hatte sie sich soweit erholt, daß sie hoffen durfte, die lange Reise zu überstehen, sprach sie vom Abschied. Es war bei Tisch. Ortner stand rasch auf, sich nicht zu verraten. Und verriet sich nur um so untrüglicher. Doch Anna Iwanowna lernte nichts Neues aus seiner törichten Flucht. Sie hatte viele Gespräche belauscht. Sie blickte ihm kurz und mitleidig-spöttisch nach und bat mit liebenswürdigem Lächeln den Gast, noch einige Zeit zu bleiben. Sie wußte, sie konnte auf Renates Takt bauen. Sie täuschte sich nicht. Renate lehnte ab.

Eine Pein noch stand ihr bevor. Sie war völlig mittellos. In Rio de Janeiro zwar hoffte sie, von der Brasilianischen Regierung eine Entschädigung für den Verlust der Estanzia zu erlangen. Doch der Weg bis Rio war weit. Sie überwand ihre Scham und bat Anna Iwanowna um das Reisegeld. Sie würde es ihr zurücksenden, sobald sie könne.

Sie sehnte sich nach Deutschland. Ein unwiderstehliches Heimweh war in ihr erwacht. Nur dieses grausame Land verlassen, in dem sie so Furchtbares erlebt und verursacht hatte! Nur wieder in Deutschland sein! Unter deutschen Menschen. Unter deutschem Himmel. Ein kindlicher Glaube glomm in ihr, daß sie dann das Leben vielleicht doch weiter tragen könne.

Mit überströmender Gefälligkeit – hier hätte sie sich fast verraten – gab Anna Iwanowna ihr das Geld, überglücklich, die Gefahr von ihrer Schwelle zu scheuchen. Sie hatte selbst nicht viel. Doch was Renate erhielt, reichte zur Reise bis Rio.

Renate bestimmte den folgenden Tag für ihre Abfahrt. Die Qual seiner Nähe war unerträglich.

Als Ortner erkannte, daß er sie nicht zu halten vermochte, bestand er darauf, sie bis Manaos zu begleiten. Sie wies sein Geleit zurück und blieb fest. Sie wußte, er würde dann nie wieder zurückkehren.

Anna Iwanowna gab ihr ihre zuverlässigsten Vaqueiros als Bootsbemannung. Bis zum letzten Augenblicke fürchtete sie eine Verzweiflungstat Ortners. Doch er beherrschte sich mit aller Kraft und Energie, die ihm geblieben war. Denn er wußte, daß Renates Willen durch keinen Gewaltstreich zu beugen war. Als sie bereits im Boote saß, sprang er noch einmal hinein, als wolle er etwas am Ruderwerk ordnen. Dabei flüsterte er ihr zu:

»Ich werde dir beweisen, daß ich ein Mann bin.«

Sie verstand ihn nicht.

Das Boot glitt hinaus in die Mitte des Stromes. Kräftig legten die Gauchos sich in die Ruder. Am Ufer stand neben der sieghaft lächelnden, fröhlich winkenden Frau bewegungslos ein Mann, kalkweiß, mit heraustretenden Backenknochen, die Zähne verbissen in brutaler Entschlossenheit.


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