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VII.

Ein Weib geht durch den Urwald.

Sie taumelt vorwärts, haut sich den wildverwachsenen, nie betretenen Pfad mit der Machete. Der Schritt wird langsam, schleppend, die Beilhiebe matter, aber sie geht und geht. In ihrem Herzen ist keine Hoffnung, daß sie ihr Ziel erreicht. Sie geht automatisch, wie im Rausche, Stunde um Stunde, Tag für Tag, stürzt, rafft sich auf, geht, geht.

Denn am Ende des unendlichen Weges ist einer, den sie liebt. –

Renate war bei ihrem Sturze von dem Geschling der Urwaldschmarotzer aufgefangen worden wie auf einer federnden Matratze. Lange lag sie in tiefer Ohnmacht, dann in flatterndem Dämmerzustand tödlichster Erschöpfung. Als sie zu benommenem Bewußtsein erwachte, sah sie über sich, im Dunkel des Himmels, zwischen den düsteren Schatten der Bäume die Sterne des Südens glühen. Lange lag sie starr auf dem Rücken, ohne klare Gedanken und fühlte sich wund in den steifen Gliedern. Kein Staunen war in ihr, keine Furcht und keine Frage.

Dann plötzlich fiel die Erinnerung und das Wissen über sie her. Es kam nicht aus dem schweren Gehirn. Es war, als bräche es aus dem Herzen hervor. Wie eine Flamme lohte jählings ein unerträglicher Schmerz auf in der Brust. Alles wußte sie wieder. Ein eisiges Entsetzen riß sie empor. Die Lianen unter ihr schaukelten und wippten. Sie griff ins Dunkel und klammerte sich angstvoll an eine dicke Rebe, die sie tastend fand und packte.

Die hastige Bewegung scheuchte das schlafende Leben der Bäume in ihrer Nähe. Vögel kreischten erschreckt auf, Insekten schwirrten mit wütendem Gesumme, Vierfüßler fauchten und krochen leise von dannen. Blätter und Zweige rieselten nieder wie leiser Regen.

Renate saß zusammengekauert, vor Angst und Grauen zusammengeschnürt, sacht hin und her gewiegt, brennend von dem grausamen Bewußtsein: mein Mann ist tot – mein Mann ist tot! Ohne die Gefahr des Absturzes in die schwarze Tiefe zu achten, warf sie sich wieder zurück auf den Rücken, zog krampfhaft die Knie zur Brust hinauf, lag mit zuckenden geschlossenen Lidern, zitterte in Schauern des Grauens und zwischen ihren fest verbissenen Zähnen quoll zischend das Stöhnen ihres Jammers hervor.

Verängstigt horchten ringsum die Tiere des Urwaldes auf die verwirrenden, nie gehörten Laute.

Und dann – inmitten ihres vernichtenden Wehs – öffnete sie weit die Augen und blickte starr in den dunklen Himmel über sich. Sie fühlte plötzlich, geisterhaft schaurig, tief ernst, erschüttert, daß sie nun frei war. Frei für ihn!

Sie erbebte bei dieser Erkenntnis so heftig, daß sie sich wieder anklammern mußte, um nicht abzustürzen. Sie schlotterte wie im Schüttelfroste bei diesem einstürmenden Gedanken.

Bebend, zähneklappernd lag sie, bis der Tropenmorgen kam.

Da erst dachte sie an Einzelheiten, richtete sich vorsichtig auf und blickte hinab auf die Lichtung der Estanzia.

Die beiden Häuser schwelten noch mit einem durchsichtig dünnen bläulichen Rauche, der kerzengrade stieg in die unbewegte Hitze des Tages. Die Tore der Ernteschuppen standen weit auf; schwarz gähnte ihre Tiefe.

Kein Mensch war zu sehen.

Renate überlegte. War die Bande abgezogen? Hatte Joao es aufgegeben, sie zu finden? Sie versuchte zu denken. Doch es war wie Nebel hinter ihrer Stirn. Mechanisch kletterte sie hinab. Es war weit schwieriger als der Aufstieg gestern auf der Leiter der tödlichen Furcht. Oft sah sie keine Möglichkeit, oft weinte sie vor Zermürbtheit und Schwäche. Aber es gelang. Sie fand den Boden. Sie blickte sich um. Rings umher waren neue Wege in das Gestrüpp des Unterholzes geschlagen, deutliche Weisungen, wie ergrimmt man sie gesucht hatte. Da sie keinen Laut vernahm, wagte sie sich weiter vor, auf den Hof. Sie schlich zu den Trümmern des Wohnhauses. Es war völlig niedergebrannt. Nur einige verkohlte Stümpfe ragten noch schwarz aus dem Boden. Zwischen ihnen war alles dampfende Schlacke.

Tiefgebeugten Hauptes stand sie, im Gedanken, daß dort drinnen, in dieser kohligen Masse, der Mann lag, der sie aus Europa herübergeführt hatte, der immer Güte und Liebe zu ihr gewesen war. Sie brach hart auf die Knie nieder, von Schmerz und Schicksal gerüttelt. Und plötzlich lag sie, das Gesicht gegen die Erde gepreßt, und winselte wie ein gepeinigtes Tier. So lag sie lange.

Dann raffte sie sich auf, wischte mit der Hand den Sand von Stirn und Mund und strich das vorgebauschte Haar zurück. Ihre Züge wurden hart.

»Ich muß handeln«, dachte sie und ging zu den Schuppen. Eine dunkle Schar grauer Aasgeier erhob sich wütend kreischend in die Luft. Überall lagen die verkrampften Leichen, schon angefressen von den gierigen Schnäbeln. Ein süßlicher, brechreizender Verwesungshauch war in der Luft. Dort war Simplizios Ebenholzkörper, blank und glänzend. Hier die anderen Diener in Reihen, wie die Salve sie hingemäht hatte. Dazwischen zerlumpte Gestalten, das blau-grüne Band am Arm.

Sie schlich, Übelkeiten niederzwingend, um dunkle Blutlachen.

Die Schuppen waren leer. Alle Bestände geraubt. Der Hühnerstall verödet. In panischem Schrecken wandte sie sich plötzlich um, stürzte zum Ufer.

Die Boote waren fort.

Sie stand betäubt. Und aus dieser vernichtenden Bestürzung wuchs ihr die Gewißheit, daß sie den Weg zu Fuß machen müßte, den Weg nach Norden, zu ihm. Zu ihm mußte sie. Er war ihre Zuflucht. Er war ihre Rettung.

Sie wurde ganz klar und hellsichtig. Sie wußte, was sie unternahm. Ihr blieb keine Wahl. Hier konnte sie nicht bleiben, an dieser Stätte des Untergangs und der Verwesung.

Am Boden blinkte vergessen eine Machete. Alle Waffen hatten die Räuber mitgenommen. Sie mußte gehen, wie sie da stand. Alle Kleidung war verbrannt.

Sie ging wieder zu den Ruinen des Hauses. Stand lange dort in Tränen und Gedenken. Dann wandte sie sich entschlossen um, überquerte den Hof nach links, stand an den Feldern – sie waren verwüstet, zertrampelt, alles Reife herausgezerrt, abgerissen – blickte noch einmal zurück, biß die Zähne fest zusammen, nicht aufzuschluchzen, und rannte, gehetzt von Entsetzen und Erinnerung, dem Urwalde zu, stromab.


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