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20

»John, bist du es?« rief ihr metallischer Alt.

Taumelnde Freude und Überraschung schnürten ihm die Kehle zu.

»Ich wollte eben das Haus verlassen, zu dir nach Ventnor zu kommen.«

»Ich bin in London. Albert-Hotel. Komm bitte sofort zu mir. Ich habe dir sehr Wichtiges mitzuteilen. Frage nach Mrs. Oybin.«

»Ich bin in zehn Minuten bei dir.«

Er hängte den Hörer an die Gabel und starrte sekundenlang vor sich hin, mystisch umraunt. Wie Fügung war das! Wie heilige, heimlich-unheimliche Mächte, die den Menschen führten und leiteten. Wenige Augenblicke später wäre er fortgewesen – auf dem Wege zu ihr, die in London war. Schicksalswalten!

Dann riß es ihn von dem Fernsprecher. Er lief in die Halle, rief dem verdutzten Wisdom zu: »Ich fahre heute nicht!« raffte den Hut vom Garderobenständer und eilte hinaus.

An der Ecke warf er sich in eine Taxe.

Während der Wagen sich durch das Nachmittagsgewühl von Piccadilly und Oxford Street viel zu langsam für seine fiebernde Ungeduld hindurchwand, sprudelten Fragen und Überlegungen flüchtig und jagend in ihm auf.

Sie war in London und nicht in ihrem Hause? In einem Hotel? Nicht in einem erstklassigen. Unter fremdem Namen! Was bedeutete das? War sie von ihrem Manne gegangen? Streit? Bruch? War irgendein Unglück geschehen? War sie in Sorge? In Not? Ihre Stimme hatte aufgewühlt und zerrissen geklungen. Ihr war doch nichts Arges zugestoßen!

Endlich bog das Auto in Mortimer-Street ein. Hielt vor dem Hotel. Er riß die Tür so ungestüm auf, daß er dem Boy, der diensteifrig herbeieilte, einen heftigen Schlag gegen die Brust hieb. Hastig zahlte er die Taxi, rasch dem Boy ein Schmerzensgeld, dann eilte er zur Office.

»Bitte, melden Sie mich Mrs. Oybin. Rutland.«

»Yes, Sir John«, ereiferte sich der Herr an der Rezeption mit einer kleinen Verbeugung gegen den berühmten Mann.

Während er hinauf in Angelitas Zimmer telephonierte, blickten die anderen Herren am Tische sich heimlich vieldeutig an. Rutland in seiner beklommenen Sorge bemerkte es nicht.

»Mrs. Oybin läßt Sir John in ihren Parlour hinaufbitten«, meldete der Herr am Telephon, winkte einem Boy und befahl: »Führen Sie Sir John nach 127.«

Als Rutland im Lift verschwunden war, steckten die jungen Leute in der Office die Köpfe zusammen. Wenn nicht alles täuschte, war das Hotel Mittelpunkt einer spannenden Liebesaffäre des High life von London geworden.

Zuerst, als sie die Zimmer nahm, hatten die diensttuenden Herren Angelita nicht erkannt. Doch Tommy Stubs, der Liftjunge, der sie hinauffuhr, kam gleich darauf in höchster Ekstase herangestürmt und stürzte hervor:

»Das ist doch die Herzogin Breton de Los Herreros, die spanische Botschafterin.«

»Wer?«

»Nu, die Dame von 127 bis 129.«

»Unsinn! Das ist eine Mrs. Oybin aus Mülheim in Deutschland«, belehrte der Aufnahmechef mit einem Blick auf das ausgefüllte Formular. »Geh auf deinen Posten, Tommy.«

»Aber ich weiß es doch genau«, beharrte der Knirps in der feschen roten Uniform. »Ich stand doch im Winter vor Chamberlains Haus, wie die Auffahrt war.«

»Na – und?« fragte interessiert ein anderer der Herren hinter dem Tische.

»Da fuhr sie vor mit ihrem Manne, so'n großer Dünner. Und weil sie die Schönste von allen war, fragte ich den Copper, wer sie ist.«

»Und was sagte der Polizist?«

»Die Herzogin Breton de Los Herreros von der spanischen Botschaft«, hat er gesagt, »Mr. Simpson. Und weil ich noch nie 'ne lebendige Herzogin gesehen hatte, habe ich mir's gemerkt.«

»Unsinn«, brummte wieder der Chef der Rezeption, »geh auf deinen Posten, Tommy.«

»Und ich wette mit Ihnen einen Anzug, daß sie es ist«, maulte Tommy und trottete zu seinem Lift, sehr erzürnt, daß seine sensationelle Entdeckung so wenig Begeisterung gefunden hatte.

Die Herren an dem Tische aber schlugen in einem offiziellen Führer durch die Londoner Missionen nach und fanden als Ersten Botschaftsrat der spanischen Vertretung den Herzog Breton de Los Herreros. Das wollte noch nicht viel heißen. Doch oben im Lesezimmer lagen die gesammelten Hefte der »Ladies Pictorial«. Mr. Simpson erinnerte sich genau, daß darin vor einiger Zeit die schönsten fremden Damen der Londoner Gesellschaft abgebildet worden waren. Er eilte hinauf und brachte heimlich die Nummer herunter. Die Liftboys brauchten nicht alles zu wissen. Mrs. Oybin auf Nummer 127 bis 129 sah der Herzogin allerdings verdächtig ähnlich.

Kaum war diese spannende Feststellung getroffen, erschien Sir John Rutland und wünschte diese interessante Dame zu sprechen. Sehr merkwürdig. Ziemlich unwahrscheinlich, daß der vielbeschäftigte Präsident von Killick & Ewarts sofort nach ihrer Ankunft eine simple Mrs. Oybin aus Mülheim besuchen würde.

»Jedenfalls, meine Herren«, schärfte der Empfangschef seinen Gehilfen nachdrücklichst ein, »strengstes Geheimnis! Wir sehen und wissen nichts. Für uns ist es Mrs. Oybin aus Mülheim in Deutschland.«

Alle nickten diskret lächelnd und verstehend. – – Angelita wartete inmitten des Salons, als Rutland eintrat. Er blieb an der Tür stehen. Sie sahen sich an, stumm und atemlos vor Glück. Sie waren beide schmäler geworden, ausgebrannt von der Sehnsucht. Sie war schöner als je zuvor. Das sah er. Ihr Gesicht hatte den durchsichtigen Schimmer von Alabaster. Ihre dunklen Augen flammten in der Blässe. Das Haar schien schwärzer, glänzender, die Figur biegsamer, schlanker, irgendwie schmerzlicher.

Sekunden standen sie sich bewegungslos gegenüber. Dann eilte er auf sie zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie. Küßte sie. Sie war heiß und fiebrig.

Doch sie fielen sich nicht, vom Sturm ihrer Gefühle gepeitscht, in die Arme, wie an jenem Abend in Rutlands Haus. Etwas Stilles, Leidgeprüftes war in dieser Begegnung, etwas Würdevolles, trotz des Aufruhrs und der Gespanntheit in ihren Herzen.

»Du wolltest zu mir nach Ventnor fahren?« fragte sie mit einem Klang des Dankes und der Zärtlichkeit.

Auch ihre Stimme schien ihm schöner, voller, reicher.

Er nickte nur.

»Dann brauche ich dich nicht mehr zu fragen«, lächelte sie weich. »Ich fürchtete, daß du mir vielleicht doch noch zürnst.«

»Nein, nein –«, sprengte es aus seiner Brust, »schon lange nicht mehr. Im Gegenteil – ich – doch wozu davon sprechen? Du hast mich ja gerufen.«

Einen Augenblick standen sie sich wieder ohne Worte, seltsam verlegen, gegenüber. Dann zog sie sich sichtbar zusammen, strich mit ihrer gewohnten Geste das Haar hinter das rechte Ohr, seufzte aus den Tiefen und setzte sich. Ihr Blick wies ihm einen nahen Sessel.

»Jetzt höre erst alles«, begann sie. In ihrer Stimme war plötzlich sprunghafte Hast. »Ich muß dir alles der Reihe nach erzählen, damit du begreifst.«

Er nickte und rückte seinen Stuhl näher an sie heran.

»Ich wollte hierbleiben, als mein Mann seine Urlaubsreise nach der Isle of Wight antrat, wollte in London bleiben –, weil – du – hier warst.«

Sie sagte es ganz schlicht, selbstverständlich.

»Angelita!« flüsterte er und atmete schwer.

Als habe sie seinen unterdrückten Schrei des Glückes nicht gehört, fuhr sie abgerissen fort:

»Man zwang mich. Drohte. Ich war zu müde, zu kämpfen. Du verließest damals auch gerade London. Gingst nach Genf. Da war Auflehnung zwecklos. Du hast Großes dort unten geleistet.«

Ihre Augen strahlten ihm zu.

Er machte eine wegwerfende Bewegung. Das alles war jetzt ohne Sinn und Bedeutung.

»Dann kamst du zurück. Da hielt ich es nicht mehr aus.«

»Auch du nicht?!«

»Nein.«

»Es scheint«, sprach er leise, »daß wir beide Zeit brauchten, zu reifen füreinander und für unser Glück.«

Sie nickte versonnen. »Ja, John, jetzt bin ich reif und schwer von Glück wie eine Traube meiner engeren Heimat. Doch höre erst alles.« Sie blickte sich um, als suche sie die Anknüpfung an ihre Erzählung. Dann trieb sie sich weiter. »Von dem Augenblicke an, da ich wußte, daß du wieder in England bist, litt es mich nicht mehr in Ventnor. Ich wollte zu dir fliehen, ich wollte unser Leben nicht mehr vergeuden.«

»Angelita!« raunte er wieder und dachte: »Meine Worte, meine Gedanken!!«

»Mein Entschluß stand fest, da – gestern morgen – kam ein Telegramm der hiesigen Botschaft. Mein Mann sei zum Botschafter in Tokio ernannt.«

»Angelita!« Ein Schreckensruf.

Sie nickte voller Bedeutung.

»Er solle sofort nach Madrid kommen, der Minister des Auswärtigen gehe auf Urlaub und wolle Breton noch vor seiner Ausreise nach Japan sprechen.«

Rutland nickte erwartungsvoll.

»Wir reisten sofort ab. Auf der Eisenbahnfahrt hierher versuchte ich ein Letztes. Ich bat meinen Mann, mich in London zu lassen, stellte ihm vor, daß diese überstürzte Reise nach Madrid eine unnötige Strapaze für mich sei, schlug ihm vor, ihn in Genua zu treffen oder in Neapel oder von wo er nach Ostasien fahren wolle. Er schlug es mir rundweg ab. Du weißt, wie töricht irrig er eifersüchtig ist, – und bestand auf meiner Begleitung.«

Sie machte eine Pause des Atemschöpfens. Er schwieg lauschend vorgebeugt.

»Als wir in unserer Wohnung ankamen, gab er alle Befehle zur Abreise nach Madrid und eilte zur Botschaft. Wir sollten heute um sieben abfahren. Sicher hat er von der Botschaft aus dem Minister seine Ankunft für übermorgen gemeldet.«

Wieder hielt sie inne. Dann brach sie heftig aus.

»Da habe ich gehandelt, endlich. Meine Koffer standen noch in der Halle. Blitzschnell habe ich gehandelt. Ohne mich um die verblüfften Mienen der Dienerschaft zu kümmern.«

Ihr bleiches Gesicht rötete sich.

»Ich ließ einen Taxameter holen. Meine Koffer aufladen. Ohne dem Kammerdiener des Herzogs und den anderen ein Wort der Erklärung zu sagen, fuhr ich davon, sagte dem Chauffeur nur: ›Fahren Sie.‹ Erst unterwegs, als wir außer Sehweite waren, gab ich ihm die Adresse des Hotels. Dann habe ich dich angerufen.«

Sie ließ die Stimme sinken und legte mit einer kindlichen, vertrauenden Bewegung die gefalteten Hände in den Schoß.

Er schwieg. Seine Halsmuskeln arbeiteten. Endlich brachte er heiser, aber glücksgeladen die Worte hervor: »Angelita, das – hast – du – für – mich getan!«

»Für dich und für mich«, erwiderte sie schlicht. Da lag er zu ihren Füßen, umklammerte ihre Schenkel, ihre Hüften, küßte ihre Knie, ihre Brust, die Hände in ihrem Schoße. Sie beugte den Kopf zu ihm nieder, bot ihm ihr Gesicht, brachte ihm ihre Lippen dar. Er küßte ihren Mund, ihre Augen, ihren duftenden Scheitel, ihre Schläfen, die leidenschaftlich pochten.

Und beide raunten und flüsterten die Inbrunst ihrer Liebe.

»Nie wieder voneinander gehen – immer zusammen leben – endlich – er muß dich freigeben – mag er tun, was er will, ich bleibe bei dir – zu dir gehöre ich. Du mußt mein Weib werden vor aller Welt – ich zwinge ihn – wenn es sein muß, gehe ich nach Rom zum Papst, werfe mich ihm zu Füßen, er wird meine Ehe lösen – und wenn nicht, trotze ich der ganzen Welt – nur du – nur du – nie wieder von dir gehen – nie wieder!« Und küßten sich und tranken lechzend den Hauch des andern und umklammerten sich, sich nie wieder zu lassen.

Plötzlich standen sie, eng ineinander verrankt. Ihr Blut rauschte zusammen, in den Adern brauste das zurückgedämmte Verlangen über alle Wehre, sang sein hohes Lied der Vereinigung, übertäubte die Vergangenheit und ihre Schreckensbilder, überschwemmte Vernunft und Bedenken. Nur die Liebe triumphierte, jauchzte und forderte. Die verpaßten Jahre des Harrens und Entsagens ballten sich zusammen wie Gewitterwolken, die ihren Schrei nach Entladung über die Welten donnern. Urgewalt trieb sie zusammen, fegte und riß sie zueinander.

Mit einem gurgelnden Laut der Erlösung hob er sie empor, trug sie in das Schlafzimmer.

Da klopfte es hart gegen die Verbindungstür, die in ein fremdes Zimmer führte. Ehe sie noch aus ihrer Verlorenheit emporkommen, ehe sie einen abwehrenden Schreckensruf ausstoßen konnten, wurde die Tür geöffnet und drei Herren traten herein.

Triebhaft, instinktiv frauenhaft, floh Angelita in das Bett, raffte die Betten über sich.

Rutland starrte, sprachlos vor Wut und Pein, auf die Eindringlinge.

Einer der Herren trat auf ihn zu. Es war Watson, der hervorragende Kriminalist aus Neuyork. In der Hand hielt er ein Papier.

»Verzeihen Sie die Störung, die uns selbst mehr als peinlich ist«, begann er liebenswürdig und fest. »Ich bitte Sie, mir eine Frage zu beantworten: Sind Sie der frühere amerikanische Oberleutnant zur See George Paterson?«

Dabei bohrten sich seine Pupillen durch die scharfen Gläser seiner Hornbrille hindurch in Rutlands Augen.

Unter anderen Umständen hätte Rutland vielleicht geleugnet. Doch jetzt war er jeder Besinnung beraubt durch das Entsetzliche, das er über Angelita gebracht hatte. Er war so entmannt durch den schmählichen unausdenkbaren Schimpf dieses Überfalls, daß er, halb bewußtlos vor Scham, Zorn, Zerschlagenheit, nickte.

Und dann stürzte noch etwas anderes, etwas Entscheidendes, zermalmend über ihn her, das jede Kraft und Entschlußfähigkeit aus ihm herauslaugte: das Tor zur Vergangenheit war jählings mit betäubendem Kreischen aufgesprungen.

In dem Augenblicke, in dem er die fremde Ehe zerstören wollte, war er niedergeschlagen worden. Genau wie einst. Alles eine grausige gespenstische Wiederholung. Genau in dieser Lage hatte er damals Stephen Jerram bei seinem Weibe überrascht und ihn erschossen. Ein dumpfes Gefühl, wie ein schweres schwarzes Tuch, senkte sich erstickend auf sein Gehirn. Ahnungen von Rache, Sühne, Vergeltung, Verhängnis, Fluch des Getöteten umkrallten seine Denkfähigkeit. Eine eisige geisterhafte Faust zerrte an seinem Rückenmark.

Er fiel haltlos zusammen. Und nickte.

Da sagte Watson höflich und entscheidend: »George Paterson, in meinen Händen ist ein Haftbefehl von Scotland Yard wegen Mordes. Ich bin gezwungen, Sie zu verhaften.«

Rutland stand und sah die drei Männer an. Seine Lider waren plötzlich entzündet und gerötet. Dann begann er mit irren fehlgreifenden Bewegungen an seiner Kleidung umherzufingern. Da warf Angelita die Decke von ihrem Kopfe. Sie hatte alles vernommen.

»John?!« Ein Schrei, weiß wie sausender Stahl.

Seine Blicke flatterten ohnmächtig. »Verzeih mir!« stöhnte er.

»Kommen Sie!« drängte Watson. Und mit einer lautlosen, beruflichen, fixen Behendigkeit, die viel rascher war als sein Begreifen, hatten die drei Männer Rutland aus dem Zimmer hinausgezwungen. Es blieb ihm kaum ein letzter hilflos flackernder Blick auf Angelita.

Sie bog sich aufrecht im Bette vor. Ihre Augen hafteten irr und wirr auf der Tür, durch die sie ihn abgeführt hatten. Dann ächzte ein versagender tierischer Laut aus ihrer Kehle. Erst jetzt dämmerte in ihr die im Hirn quirlende Erkenntnis auf, daß man den Geliebten als Mörder aus ihrem Zimmer geschleift hatte – aus ihrem Leben.

Sie hob langsam, automatisch hölzern beide Arme und glitt steif zurück in die Kissen.

Lange lag sie so, von einer Ohnmacht begnadet.


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